Krimineller Export spült Arzneien fort

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Polens Patienten sind die Leidtragenden.

Auch in Polen quellen die Apothekenregale über. Wenn jedoch Patienten die eine oder andere Arznei kaufen wollen, lautet die Auskunft oftmals: „Haben wir nicht“. Die Medikamentenmafia war, wieder einmal, schneller. Endlich soll es den Ganoven nun an den Kragen gehen.

Die Liste der Präparate, die schwer oder gar nicht zu bekommen sind, wies im Spätherbst 2018 knapp zweihundert Produkte aus. So läuft es seit Jahren, lediglich die einzelnen Arzneien im Verzeichnis variieren.

Mangelware in Polen, bei Veröffentlichung der letzten Übersicht, waren zum Beispiel: Diprophos – ein Hormonpräparat gegen starkes Rheuma. Rudotel – gegen Angstzustände. Elin – ein Verhütungsmittel neuester Generation. Die Liste umfasst auch Medikamente gegen Lungenerkrankungen (z.B. Berodual), Insuline (zwanzig Posten), Gerinnungshemmer (z. B. Clexane), Arzneien gegen Schizophrenie und Epilepsie, zudem Impfstoffe für Kinder und Milchersatzpräparate.

Fachleute sprechen von einer „umgekehrten Lieferkette“. Medikamente aus dem Groβhandel und aus Apotheken werden gesetzeswidrig nach Westeuropa verbracht, wo die Preise deutlich höher sind. Beispielsweise kostet der Gerinnungshemmer Clexane in Polen umgerechnet knapp 25 Euro, in Deutschland das Vierfache pro Packung und Neulasta gegen Folgen der Chemotherapie 715 Euro, in Deutschland hingegen 1.740 Euro. Wem es gelingt eine gröβere Partie über die Grenze zu bringen, der hat schnell einige Zehntausend Euro verdient.

Umgekehrte Lieferkette.

 

Polen – Westeuropa. Woher rühren solche Preisunterschiede?

Um die bis dahin extrem hohen Apothekenpreise bestimmter Medikamente zu drücken, wurde für diese verschreibungspflichtigen Arzneimittel in Polen 2012 eine Preisbremse eingeführt. Man findet diese Produkte im so genannten „Verzeichnis erstattungsfähiger Arzneimittel“, das seit September 2018 gut 4.300 Präparate umfasst (2012 waren es etwas mehr als 3.300).

Darunter befinden sich so genannte Grundarzneimittel, für die ein Pauschalbetrag von 3,20 Zloty (ca. 0,80 Euro) gezahlt wird, und so genannte ergänzende Arzneimittel, für die der Patient 30 beziehungsweise 50 Prozent des Preises zu entrichten hat. Für Medikamente auβerhalb des Verzeichnisses zahlen Patienten den vollen Marktpreis.

Das „Verzeichnis erstattungsfähiger Arzneimittel“ wird sechsmal im Jahr neu festgelegt und das Gesundheitsministerium verhandelt jedes Mal die Preise mit den Herstellern neu. Diese gewähren erhebliche Preisnachlässe, denn sie wollen unbedingt mit ihren Produkten in das „Verzeichnis erstattungsfähiger Arzneimittel“ aufgenommen werden, da ihre Medikamente auf dem freien Apothekenmarkt für die meisten polnischen Normalverbraucher, oft Rentner, schlicht unerschwinglich sind.

Die Preise sind genau festgelegt, die Gewinnmargen begrenzt, und zwar EU-weit auf das, nach Litauen (14 Prozent), zweitniedrigste Niveau in Höhe von 16 Prozent. Zum Vergleich: Deutschland 24, Griechenland 35, Luxemburg 48 Prozent.

Dementsprechend kosten in Polen Medikamente, wie Atrovent und Berodual (gegen Bronchitis) im Durchschnitt 42, beziehungsweise 50 Prozent weniger als in Deutschland. Fragmin und Fraxiparine (gegen tiefe Venenthrombose) 43, beziehungsweise 33 Prozent weniger. Vesicare (gegen häufigen Harndrang) 46 Prozent, Xarelto (gegen Venenthrombose) 40 Prozent weniger usw., usf.

Das Ergebnis: die Medikamentenpreise sind im EU-Vergleich niedrig, aber manche Arzneien kann man, wegen krimineller Machenschaften, nur schwer bekommen. Wobei gesagt werden muss: für die meisten polnischen Patienten sind die Preise vieler Medikamente aus dem „Verzeichnis erstattungsfähiger Arzneimittel“ immer noch sehr hoch. Für das besagte Vesicare müssen sie umgerechnet 25 Euro bezahlen, für Xarelto ca. 35 Euro pro Packung. Dabei betrug der in Polen statistisch am häufigsten gezahlte Lohn 2018 ca. 610 Euro brutto.

Deswegen wurde das Programm Medikamente 75 +, wie im Wahlkampf 2015 versprochen, noch von der Regierung Beata Szydło eingeführt. Knapp 1.200 Arzneimittel, die vor allem im hohen Alter benötigt werden, bekommen Rentner über 75 Jahre kostenlos verschrieben.

Lesenswert: „Wieviel verdienen die Polen 2018“

Der Dreh

Im Mai 2018 ist der polnischen Polizei eine siebenköpfige Bande ins Netz gegangen, die 2017 und Anfang 2018 landesweit Medikamente im Wert von umgerechnet 25 Millionen Euro zusammengetragen und auβer Landes geschafft hat. Der Fall ist exemplarisch für das Vorgehen der Betrüger.
Unter den Festgenommenen waren mehrere Apotheker, ein Arzt, der Eigentümer eines Pharma-Groβhandelsunternehmens und seine Mitarbeiter. Einige hundert Apotheken fungierten als Zulieferer.

Der Groβhandelsunternehmer gründete in einem heruntergekommenen Gewerbegebiet bei Lublin eine GmbH für Arztdienstleistungen. Sie bestand aus einem Zimmer. Einmal in der Woche, laut Info-Tafel an der Tür, war Sprechstunde zu der jedoch nie ein Patient erschien.

Statt Patienten zu behandeln war ein Arzt damit beschäftigt Blankorezepte zur Bestellung von Medikamenten für die „Praxis“ im Gewerbegebiet auszustellen. In „befreundeten“ Apotheken, die Abgesandte des Groβhändlers regelmäβig aufsuchten, wurden dann, gegen Vorlage der Rezepte, die Bestellscheine ausgefüllt, abhängig davon, was es gerade Interessantes im Angebot gab: Krebsmedikamente, Arzneien gegen Diabetes, Depressionen und ADHS, Impfpräparate. Die Polizei hat etwa 1.500 solcher Blankobestellscheine sichergestellt.

Die Kuriere bezahlten, lieβen einen satten „Aufpreis“ zurück, brachten die Ware ins Gewerbegebiet. In einer der „Praxis“ benachbarten Baracke wurde die Ausbeute für den Weitertransport nach Deutschland, Holland, Groβbritannien umgepackt und mit entsprechenden Aufklebern versehen. Immer wieder fuhren Kleintransporter vor.

Um den Schein von Legalität zu wahren, betrieben manche Apotheken eine betrügerische doppelte Buchführung. Andere täuschten die Entsorgung von Medikamenten vor oder hatten zusätzlich einen kleinen, befreundeten Ärzte- und Patientenring aufgebaut, der ihnen Rezepte beschaffte, damit sie den kriminellen Groβhandel beliefern konnten. Mit solchen Gefälligkeiten kann sich mancher Arzt und Patient scheinbar problemlos ein gutes Zubrot verdienen.

Untersuchungen gehen davon aus, dass etwa jede zehnte Apotheke in solche Machenschaften verwickelt ist. Der Wert des kriminellen Exportes wird auf umgerechnet 350 bis 500 Millionen Euro jährlich geschätzt. Derweil wurden noch 2016 eine halbe Million Patienten beim ersten Apothekenbesuch ohne die ihnen verschriebenen Gerinnungshemmer abgewiesen, eine Million ohne Mittel gegen Pankreatitis, so das polnische Justizministerium.

Bis 2015 standen auf Medikamentenschieberei bis zu zwei Jahre Gefängnis. Lange Zeit jedoch sahen Behörden und Gerichte meistens weg, genauso wie bei den riesigen Betrügereien mit der Mehrwertsteuererstattung. Zu Zeiten der Tusk-Regierung (2007 – 2015) galt beides als ein Kavaliersdelikt des aufstrebenden Kapitalismus. Kleine Geldstrafen wurden verhängt oder die Verfahren wurden wegen Geringfügigkeit eingestellt. Wie 2014 im Falle eines Apothekers, der illegal Medikamente im Wert von umgerechnet knapp 10 Millionen Euro auβer Landes gebracht hatte.

Was kann man tun

Die heimischen und ausländischen Hersteller der „gefragten“ Medikamente wollen ihre Lieferungen auf den polnischen Markt nicht erhöhen. Zum einen lässt sich die komplizierte und hochempfindliche Arzneimittelherstellung nicht so einfach von heute auf morgen hochschrauben. Zum anderen ist die Gewinnmarge in Polen, in Höhe von 16 Prozent, niedrig. Als Drittes machen ihnen die aus Polen „exportierten“ Arzneien Konkurrenz auf dem westeuropäischen Markt.

Der Markt wird’s nicht richten

Am einfachsten wäre es, das „Verzeichnis erstattungsfähiger Arzneimittel“ zu verwerfen, damit sich die polnischen Preise denen im Westen angleichen. Die Patienten müssten es nicht zu spüren bekommen, wenn der polnische Staat die gigantischen Zuzahlungen übernähme. Das jedoch ist nicht machbar.

Bewirtschaftung

Die Hersteller und der legale Pharmagroβhandel haben jetzt die Initiative ergriffen. Eigentlich müssen sie jede von den Apotheken bestellte Menge liefern. Mittlerweile wurden die Apotheker aber verpflichtet die Rezepte für „besonders nachgefragte“ Arzneien zu scannen und an den Groβhandel zu schicken.

Als zweite Variante wurden Limits eingeführt, bei denen höchstens drei bis vier Dutzend Packungen pro Monat geliefert werden. Will die Apotheke mehr bestellen, wird nur zum Marktpreis geliefert, und der ist sowohl für die Patienten, wie für die Schieber uninteressant.

Pharmaaufsicht. Der zahnlose Tiger

Lange Zeit war der Pharma-Kontrollmechanismus in Polen so angelegt, dass die kriminellen Exporteure fast unbehelligt agieren konnten. Drei Jahre lang, zwischen 2012 als das „Verzeichnis erstattungsfähiger Arzneimittel“ eingeführt wurde, und Ende 2015, bis zu ihrer Abwahl, hat die Tusk-Regierung diesen Zustand hingenommen. Manche sprechen gar von einem Schutzschirm, der über dem illegalen Prozedere aufgespannt wurde.

Der Haupt-Pharmainspekteur und seine Behörde in Warschau waren ausschließlich für die Kontrolle des Pharmagroβhandels zuständig. Er war nicht weisungsbefugt gegenüber den Woiwodschafts-Pharmainspekteuren und deren Behörden in den sechzehn polnischen Teilprovinzen. Letztere durften nur die Apotheken kontrollieren und mussten die Finger vom Pharmagroβhandel lassen.

Eine Bande, die unter ein und demselben Firmenschild Apotheken und Groβhandel betrieb, was sehr oft vorkam, konnte sich so getrost ins Fäustchen lachen. Bis sich die Behörde in Warschau und die im fernen Rzeszów auf eine gemeinsame Gegenkontrolle einigen konnten und wollten, vergingen Ewigkeiten. Bis dahin hatten die Ganoven längst ihre Zelte abgebrochen.

Wenn man noch hinzufügt, dass die Kontrolleure oft gar nicht in die Firmen reingelassen wurden, dass sie keine Amtshilfe der Polizei in Anspruch nehmen konnten, dass die Kontrolle nur stattfinden durfte wenn der Eigentümer anwesend war, dann hat man das komplette Bild der Machtlosigkeit des damaligen polnischen Staates im Kampf gegen eine straff organisierte Unterwelt vor Augen.

Ein strenges Strafrecht muss her

Erst kurz vor ihrer Abwahl, im April 2015, hatte die Regierung der Tusk-Nachfolgerin Ewa Kopacz ein Pharma-Antiausfuhrgesetz mit ihrer damaligen Parlamentsmehrheit beschlossen. Das Delikt wurde präzise umschrieben, der Apothekenverkauf an den Groβhandel verboten, eine laufend geführte Liste der fehlenden Medikamente eingerichtet. Gleichzeitig jedoch verschwand die bis zu zweijährige Freiheitsstrafe zugunsten von Geldstrafen. Die Pharmaunterwelt, in der Millionen von Euro umgesetzt werden, konnte erneut aufatmen.

Ein neues Pharma-Antiausfuhrgesetz ist seit Sommer 2018 im Parlament und soll bis Anfang 2019 verabschiedet werden. Erst jetzt kann es für die Ganoven eng werden, denn:

● strafbar macht sich jeder, der in irgendeiner Weise an dem Prozess beteiligt ist,

● die Strafen bewegen sich zwischen drei Monaten und fünf Jahren Haft. In besonders schweren Fällen beträgt die Spanne sechs Monate bis zehn Jahre Freiheitsentzug,

● auch Medikamentenverschiebungen aus Apotheken in den Groβhandel innerhalb einer Firma sind nicht erlaubt,

● ein umfassender Umbau der Pharmaaufsicht ist vorgesehen mit dem Ziel ein koordiniertes Kontrollsystem von oben nach unten zu errichten,

● Widerstand und das Erschweren von Kontrollen, Beseitigung von Beweisen, das Vorenthalten von Akten – soll mit einer Geldstrafe bis zu siebzigtausend Euro oder bis zu drei Jahre Gefängnis bestraft werden,

● die Kontrolleure haben freien Zugang zu allen Gebäuden, bekommen bei Bedarf Amtshilfe von der Polizei, die Anwesenheit des Eigentümers ist bei Kontrollen nicht mehr erforderlich,

● Medikamententransporte unterliegen, neben Alkohol, Zigaretten und Kraftstoffen, verschärften Kontrollverfahren der Polizei, des Grenzschutzes und der neuen integrierten Finanzverwaltung, die Zoll-, Finanzämter und die Steuerfahndung in einer Behörde vereint.

Es ist höchste Zeit, denn längst sind kriminelle Banden in das „Geschäft“ eingestiegen, die sonst Rauschgift-, Waffen- oder Menschenschmuggel betreiben. Und sie betreiben es brutal und skrupellos.

© RdP