Acht Jahre lang, als die Nationalkonservativen an der Macht waren, wurden die deutschen Medien in ihrer Polen-Berichterstattung nicht müde, „die Einhaltung demokratischer Spielregeln“ an der Weichsel anzumahnen. Doch plötzlich, nach den am 15. Oktober 2023 abgehaltenen Parlamentswahlen, hat der sattsam bekannte Einstimmen-Chor der deutschen Polen-Berichterstatter einen radikalen Repertoirewechsel vollzogen und schmettert nun die Kantate vom „Willen des Souveräns”, der durch nichts eingeschränkt werden darf.
Das hat damit zu tun, dass Staatspräsident Andrzej Duda dem bisherigen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki den Vortritt bei der Bildung einer neuen Regierung gelassen hat. Die Morawiecki-Partei Recht und Gerechtigkeit hat die Wahlen gewonnen, bildet die größte Fraktion im Sejm, hat aber die absolute Mehrheit verfehlt. Morawiecki hat nun zwei Wochen Zeit, um eine Koalitionsregierung auf die Beine zu stellen. Es ist ein wahrlich schwieriges Unterfangen, denn drei andere Parteien signalisieren den festen Willen, gemeinsam ein Kabinett mit dem deutschen Publikumsliebling Donald Tusk an der Spitze zu bilden, und sie verfügen über eine klare Mehrheit.
Ohne mit der Wimper zu zucken haben, in Anbetracht von Dudas Entscheidung, TAZ und FAZ, Bild und Welt, Spiegel, Tagesspiegel, Tagesschau und alle anderen, von heute auf morgen, eine völlige Umkehr der Rhetorik vollzogen, und niemand stört sich daran.
In den letzten acht Jahren nämlich haben sie unermüdlich darauf hingewiesen, dass, obwohl Recht und Gerechtigkeit zweimal (2015 und 2019) klar die Parlamentswahlen gewonnen hat und ihr Kandidat zweimal (2015 und 2020) ins Staatspräsidentenamt gewählt wurde, das Urteil der Mehrheit der Bürger keine absolute Instanz sei. Das Gegenteil sei der Fall. In einer gesunden Demokratie müsse es „Sicherungen” geben, die diesen „Willen des Souveräns” begrenzen. Man müsse darauf achten, dass das Urteil der Mehrheit nicht in „Autoritarismus“ ausartet und dass es „nicht die Rechte von Minderheiten verletzt“.
Und jedes Mal wenn einer der führenden Politiker von Recht und Gerechtigkeit es wagte, auf den „Willen des Souveräns“ oder auf das „Urteil der Mehrheit“ hinzuweisen, bekamen die deutschen Hüter der polnischen Demokratie Anfälle von Hysterie mit Komplikationen, in Form von düsteren Visionen vom Aufkommen des Faschismus oder Autoritarismus in Polen. Seit dem 15. Oktober 2023 jedoch sagen sie das genaue Gegenteil von alldem. Nun ist der „Wille der Mehrheit“ für sie unantastbar und darf nicht infrage gestellt werden.
So kommt es, dass die Entscheidung des Staatspräsidenten, den Vertreter der größten Partei im Sejm, des Wahlsiegers, als ersten mit der Regierungsbildung zu betrauen, als „ein Anschlag auf den Willen der Wähler“ dargestellt werden kann. Eine Entscheidung, die dem Buchstaben und dem Geist der polnischen Verfassung und den parlamentarischen Gepflogenheiten der Polnischen Republik entspricht. Wo, bitte schön, bleibt hier der Respekt vor den, bis vor Kurzem angeblich noch so wichtigen, „Sicherungen der Demokratie“ (hier in Form der Befugnisse des Präsidenten der Republik)? Wo bleibt die Sorge um die „demokratischen Spielregeln“? Wo die Aufforderung, die demokratischen Gepflogenheiten zu wahren und Brachialitäten zu vermeiden?
Stattdessen überschüttet der deutsche mediale Polen-Chor das polnische Staatsoberhaupt mit Hohn und Boshaftigkeiten. Doch was Wunder, wenn man sieht, wie wenig es braucht, um in den deutschen Medien Polen-Fachfrau oder Polen-Fachmann zu werden. Der streng erhobene Zeigefinger an genehmer Stelle genügt.
RdP