Was essen die Polen

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Suppen, Soßen, polski Kebap. Neue und alte polnische Ernährungsvorlieben in Zeiten der Globalisierung.

Gibt es noch so etwas wie die polnische Nationalküche? Oder gab es sie vielleicht früher, aber die Globalisierung hat sie inzwischen verdrängt?

Nicht erst seit heute unterliegen das Essen und die damit verbundenen Rituale einerseits einem enormen Druck von außen, zeichnen sich jedoch zugleich durch ein ausgesprochenes Maß an Beständigkeit aus. Letzteres hat vor allem mit dem Klima, dem Lebenswandel und dem Erbe der materiellen Kultur einzelner Bevölkerungsgruppen zu tun. An der so umschriebenen Beständigkeit prallen viele Moden und Einflüsse ab oder sie werden den vorhandenen Vorlieben und Gewohnheiten angepasst.

Paweł Bravo, der die Fragen beantwortet, Jahrgang 1967, ist einer der führenden polnischen Journalisten, die sich auf Essen und Gastronomie spezialisiert haben. Er arbeitete bei den Zeitungen „Gazeta Wyborcza” und „Rzeczpospolita” („Republik“), der Zeitschrift „Forum”, dem Sender Radio ZET und ist jetzt Redaktionsmitglied bei der Krakauer „Tygodnik Powszechny” („Allgemeine Wochenzeitung”).

Ein gutes Beispiel dafür sind die Polen. Alle Befragungen und Forschungen der letzten Jahre enden immer wieder mit derselben Feststellung: Die Polen lehnen mehrheitlich, bewusst oder unbewusst, einen beachtlichen Teil neuer Ernährungstrends, die ihnen von globalen Konzernen oder von der Agrarindustrie aufgedrängt werden, ab. Alternativ passen sie diese Neuerungen ihrem Geschmack an.

Wie äußert sich das?

Das wichtigste Bollwerk der kulinarischen Tradition bleibt in Polen das Mittagessen. Es wird in der Regel am späteren Nachmittag eingenommen. Es muss unbedingt warm serviert werden und aus einer Suppe und einem Hauptgericht bestehen.

Die erste Verteidigungslinie des Althergebrachten bilden offensichtlich die Suppen.

Die polnische Vorliebe für Suppen ist unverwüstlich. Ein Pole, ob Kind, Erwachsener oder Greis, löffelt im Jahr (Angaben von 2020) bis zu 110 Liter Suppe aus. Das platziert ihn, neben den Asiaten, an der Weltspitze, so die Ernährungsstatistiker. Die vielen altbewährten, saisonal variierenden, Suppen werden immer noch ganz selbstverständlich, sowohl in den Haushalten als auch in Kantinen und Mensen sowie in der gehobenen Gastronomie, tagtäglich gereicht.

Suppe muss sein, auch im Wahlkampf. Bauernpartei-Chef Władysław Kosiniak-Kamysz (i. d. M.) beim Stimmenfang auf dem Land.

Dazu gehören barszcz (Rote-Bete-Suppe), żurek (fonetisch: schurek, Sauermehlsuppe), rosół (Hühnersuppe polnische Art), zupa grzybowa (fonetisch: gschibowa, Pilzsuppe), pomidorowa (Tomatensuppe polnische Art), ogórkowa (fonetisch: ogurkowa, Saure-Gurken-Suppe), szczawiowa (fonetisch: schtschawiowa, Sauerampfersuppe), grochowa (Erbsensuppe polnische Art), pokrzywowa (fonetisch; pokschiwowa, Brennnesselsuppe), kapuśniak (Sauerkrautsuppe), krupnik (Graupensuppe), botwina (Suppe aus jungen Rote-Bete-Pflanzen), gramatka oder farmuszka (Biersuppe aus der Fastentradition).

Polnische Suppen sind selten vegetarisch. Zumeist nehmen die Köche als Grundlage Rindfleisch, Geflügel oder Schweinefleisch (Speck, geräucherte Schweinerippchen).

Ungebrochen ist auch die Beliebtheit der kalten Sommersuppen. Vor allem erfreuen sich Fruchtsuppen großen Zuspruchs, wie etwa die traditionelle zupa jagodowa (Heidelbeersuppe mit kleinen, selbstgemachten Nudeln) oder die chłodnik, eine geeiste Cremesuppe aus Roter Bete mit eingerührtem Sauerrahm und gekochten Eihälften als Einlage.

Und das Hauptgericht?

Die meisten Polen sind nach wie vor davon überzeugt, dass eine ordentliche, vollwertige Mahlzeit eine gehörige Portion Fleisch beinhalten muss.

Mit Soße.

Mit viel Soße. Wobei die traditionelle polnische Küche zu jedem Fleischgericht eine eigene Soße vorsieht, die den Geschmack hervorragend abrundet. Hier kommt oft der Koriander zur Anwendung, der inzwischen in Polen angebaut wird. Die hohe Kunst des Soßenzubereitens ist mittlerweile jedoch, leider, immer weniger verbreitet.

Dazu Kartoffeln.

Unbedingt. Die Polen verschmähen zwar weder Reis noch Nudeln, aber Kartoffeln und Buchweizengrütze sind bis dato die beliebtesten Beilagen.

Kartoffeln, die mit Abstand beliebteste Beilage.

Der eigentümliche Geschmack vieler als typisch polnisch geltender Gerichte wird durch das Würzen erzielt.

Wie anderswo auch. Wobei man unterstreichen muss, dass die polnische Küche Extreme vermeidet. Diese erlebt man eher in Ungarn und auf dem Balkan, wo der Mund beim Essen dermaßen stark brennen kann, dass man am liebsten die Feuerwehr rufen möchte.

Am polnischen Herd wird Salz in Maßen verwendet, damit der eigentliche Geschmack der verarbeiteten Produkte voll zur Geltung kommt. Viele Deutsche etwa, die nach Polen kommen, wissen das nicht zu schätzen und greifen sofort zum Salzstreuer. Hauptgewürze, neben dem Pfeffer, den man ebenso sparsam einsetzt wie das Salz, sind Dill, Petersilienwurzel, Majoran, Wacholder, Lorbeerblatt und Kümmel. Sie machen den Reiz der polnischen Küche aus.

Wie weit verbreitet ist die polnische Küche in Reinkultur noch?

Um ihre ganze Reichhaltigkeit kennenzulernen, muss man schon etwas länger im Land bleiben. Aber auch wer nur ein paar Tage hier verbringt und sich nicht durch Vorurteile davon abhalten lässt, kann schnell auf den Geschmack der polnischen Küche kommen.

Bei meinen Reisen durch Polen staune ich oft selbst, wie viele, ganz gewöhnliche Restaurants und sogar Betriebskantinen gute polnische Kost anbieten. Sehr von Vorteil erweist sich dabei, dass offensichtlich fast nirgendwo Halbfertigprodukte verwendet werden. Nein, da stellt sich das Personal jeden Morgen hin und schält die Kartoffeln, putzt das Gemüse, kocht frisch drei, vier typisch polnische Suppen, wickelt die Kohlrouladen, bereitet das Fleisch zu und würzt das alles wie es sich gehört.

Viele Menschen aus dem deutschsprachigen europäischen Raum, die zu uns kommen, das hört man immer wieder, begegnen der polnischen Küche mit erheblichen Vorbehalten.

Man sollte nicht allzu sehr verallgemeinern, aber viele von ihnen sind tatsächlich an das Essen von Suppen nicht gewöhnt. Ihre Mittagessen bestehen meistens nur aus dem Hauptgericht. Zudem lehnen viele Fleisch ab und begreifen den Vegetarismus als eine Mission, die viel mehr beinhaltet als nur den Fleischverzicht. Ihre Feindseligkeit gegenüber der heutigen Landwirtschaft stößt in Polen, wo fast jeder noch Verwandte auf dem Land hat, auf viel Unverständnis.

Die Generationenlücke zwischen der Zeit als das Gros der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeitete und der allgemeinen Industrialisierung ist in Polen kleiner als im Westen. Wenn jemand bei uns auf die Idee kommt aufs Land zurückzukehren und einen Bauernhof zu gründen, dann findet er zumeist in seiner Familie jemanden, bei dem er sich praktischen Rat holen kann. In Norditalien dagegen erstreckt sich diese Lücke oft auf vier Generationen. Da muss man bei Null anfangen.

Jedenfalls haben sich die Essgewohnheiten gerade im deutschsprachigen Raum, denn in Frankreich, Italien, Spanien ist das bei Weitem nicht so ausgeprägt, in den letzten Jahrzehnten sehr geändert. Die traditionelle deutsche Küche, die in manchem der polnischen ähnelt, ist auf Anhieb kaum mehr zu finden und außerdem in Verruf geraten.

Wer, wie viele in Deutschland, täglich von Müsli, Obstsalaten, Joghurt, Blattsalat mit Feta oder Thunfisch und gedünstetem Gemüse lebt, der wird beim Anblick von bigos oder zrazy, den vorzüglichen Rindfleischwickeln mit kleingehackten Salzgurken, Zwiebeln und Speck, nur die Augen verdrehen. Schon mancher Pole, der in seiner spontanen Gastlichkeit seinen deutschen Gästen etwas Gutes tun wollte, hat diese traurige Erfahrung gemacht,.

Wir schwärmen hier von der polnischen Küche so vor uns hin, aber auch in Polen gibt es zur Genüge McDonald’s- und KFC-Restaurants.

Warschau im Juni 1992. Anstehen vor dem ersten polnischen McDonald’s.

Ja, das ist der Druck von außen auf unsere traditionelle Esskultur, von dem ich eingangs gesprochen habe. Als im Juni 1992 der erste McDonald’s in Polen eröffnet wurde hieß es, es sei nur eine Frage von wenigen Jahren, schnell würden die alten Essgewohnheiten in Vergessenheit geraten. Das ist nicht passiert.

McDonald’s, KFC & Co. ziehen vor allem Kinder und Jugendliche magnetisch an. Doch irgendwann kommt die Ernüchterung, und mit ihr zumeist die erneute Hinwendung zu dem was Oma und Mama gekocht haben.

Vegetarisches, Veganes, die minimalistische japanische Küche, Griechisches, Koreanisches, Chinesisches, Italienisches, Indisches und vieles mehr. Schaut man sich um in Warschau, fällt der Vormarsch der neuen kulinarischen Trends sofort ins Auge.

Es besteht kein Anlass zur Sorge, solange die eigene traditionelle Kochkunst hochgehalten wird. Sie ist ein wichtiger Bestandteil unserer Identität, aber die Leute wollen natürlich auch etwas anderes ausprobieren, und sie haben jetzt eine Vielzahl an zusätzlichen Möglichkeiten.

Mancher kommt dauerhaft auf einen neuen Geschmack, andere wiederum merken erst durch den Vergleich, was sie an der polnischen Küche haben. Wobei ich gleich hinzufügen muss, dass, statistisch gesehen, Vegetarier, Veganer und leidenschaftliche Sushi-Esser bei uns immer noch eine sehr kleine Gruppe sind, die sich zumeist aus der gut situierten, großstädtischen Oberschicht rekrutiert. Solches Essen widerspricht deutlich der gängigen polnischen Vorstellung von einer ordentlichen, vollwertigen Mahlzeit.

Sie haben davon gesprochen, dass viele gastronomische Trends und Einflüsse den vorhandenen Vorlieben und Gewohnheiten angepasst werden. Wie äußert sich das in Polen?

Ich bin viel unterwegs im Land und stoße in der Provinz immer wieder auf die Ergebnisse einer solchen Anpassung. Oft müssen dafür die Pizzen herhalten. Einige Zusammenstellungen muten geradezu skurril an: Pizza mit Wurst, dünnen Kartoffelscheiben und saurer Gurke, Pizza mit bigos belegt, Pizza mit Gehacktem, Zwiebeln und Speck sind mir noch gut in Erinnerung, nicht selten mit Dill, Kümmel oder Majoran bestreut. Sie schmeckten nicht schlecht aber vor allem sehr vertraut und darum geht es ja vor allem.

„Echter Kebap beim echten Polen“ in Lublin.

Da sind noch die unzähligen „bary orientalne”: Buden und Kioske, in denen vietnamesisches Essen, zumeist als „chinesisch” bezeichnet, und Kebap serviert werden.

Dabei sind es inzwischen oft Ukrainer, die sie betreiben.

„Echt polnisches“ Kebap-Lokal in Częstochowa/Tschenstochau. Werbung.

Ein gutes Beispiel für gastronomisches Multi-Kulti, könnte man meinen.

Vordergründig ja, aber bei genauerem Hinschauen erweist sich das als ein Trugschluss. Was dort gereicht wird, sind Mittagsgerichte nach polnischem Geschmack, die Orientalisches vortäuschen: Schnell sättigende, warme Fleischmahlzeiten mit viel Soße. In China, Vietnam und in der Türkei würde man sich sehr wundern.

Polens König Johann III. Sobieski, Bezwinger der Türken vor Wien 1683 als Schirmherr einer „Echt polnischen“ Kebap-Bude.

Es gibt natürlich auch hier Ausnahmen: ein Paar Schickimicki Orient-Bars hie und da, einige Kebap-Kultbuden in Warschau, allgemein bekannte „Geheimtipps” in einigen Großstädten, wo man sich an die Originalrezepte hält. Der Rest steht vor dem Dilemma: sich polonisieren oder pleitegehen.

Bleibt noch die Frage, inwieweit das Essen in Polen dazu dient sich satt zu essen und inwiefern es ein Wert an sich ist, wie beispielsweise im europäischen Mittelmeerraum?

Ersteres trifft eher zu. Die polnische Küche kann man getrost genießen ohne in Völlerei zu verfallen. Und wenn man dazu noch in Maßen die guten polnischen Wodkas trinkt, ist das ein kulinarisches Gedicht.

Wir sind Erben einer Kultur, die vielfach von Armut und Hunger geprägt war, obwohl natürlich inzwischen der Abstand zu diesen Zeiten größer wird.

Hinzu kam das ungünstige Klima, in dem es viele Monate lang kalt ist und die Vegetationszyklen kurz sind. Zwischen Oktober und April musste man sich davon ernähren, was lange Zeit aufbewahrt werden konnte ohne seinen Nährwert zu verlieren. Um die harten Winter zu überleben, galt es möglichst viele Kalorien aufzunehmen. Daran schlossen sich die Kriegszeit und der Kommunismus mit seiner Mangelwirtschaft an.

Deswegen wird bei uns bis heute viel und kalorienreich gegessen. Unsere Ernährungsgewohnheiten sind auf Umstände wie Kälte und Hunger programmiert, die es so nicht mehr gibt. Damit sich das ändert, muss offensichtlich noch viel mehr Zeit vergehen.

Das Gespräch erschien in der Vierteljahreszeitschrift „Nowy Obywatel” („Der Neue Staatsbürger”), Winterausgabe 2020/2021.

RdP

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