Kommunalwahlen 2014. Gefälscht, verzerrt, frisiert?
- Elektronisches Auszählungssystem bricht zusammen.
- Stimmzettel auf Halden.
- Wer will kann sich ins Auszählungssystem einloggen.
- Wahlzettel: Drucken ohne Kontrolle.
- Eine Stimme kostet 100 g Wodka.
- Wunder an den Urnen: der „Wahlerfolg“ der Bauern.
- Knapp 3 Mio. ungültige Stimmen.
- Oberste Richter: „Alles in Ordnung“.
- Regierende gewinnen und sind glücklich.
- Deutsche Medien schauen weg und sind zufrieden.
- OSZE-Wahlkriterien nicht erfüllt.
Am Sonntag, dem 16. November 2014 fanden in Polen die siebten Kommunalwahlen nach dem Ende des Kommunismus 1989 statt. Wahlberechtigt waren gut 30,5 Mio. Bürger. Gewählt wurden fast 40.000 Mitglieder in 2.479 Gemeinderäte, 6.276 Mitglieder in 380 Kreistage und 555 Mitglieder für die 16 Bürgervertretungen der Woiwodschaften, den Regionalparlamenten (Sejmik). Des Weiteren wurden in direkter Wahl gewählt: 1.565 Gemeindebürgermeister, 806 Bürgermeister und 106 Oberbürgermeister (Stadtpräsidenten). Hierbei kam es in 890 Ortschaften am 30. November zu Stichwahlen, überall dort hatte keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit auf sich vereinigen können. Die Wahlbeteiligung war, wieder einmal, nicht hoch. Sie lag bei 47,4 % im ersten Wahlgang und bei 39,97 % im zweiten Wahlgang. Ähnlich war es im Jahr 2010, als die Wahlbeteiligung 47,32 % bzw. 35,31 % betrug.
Die Wahl am 16. November mündete in einem organisatorischen Desaster und stürzte das Land in eine schwere politische Krise.
1. Ausgangspunkt war der
Zusammenbruch des Auszählungssystems für die abgegebenen Wäherstimmen,
dass das Zentrale Wahlamt (Krajowe Biuro Wyborcze) bei einer wenig bekannten Firma namens Nabino in Auftrag gegeben hatte. Trotz vieler Pannen bei den Testläufen hielt das Amt am einmal erteilten Auftrag fest, lieβ sich von den Beteuerungen der Programmierer überzeugen, alles werde sich „rechtzeitig einrenken“.
Doch die elektronische Übermittlung der Wahlergebnisse aus den Regionalen Wahlämtern nach Warschau funktionierte nicht. Anstatt sofort eine manuelle Auszählung anzuordnen, vertrösteten die Mitglieder der Staatlichen Wahlkommission, der das Zentrale Wahlbüro untersteht, die zunehmend aufgebrachte Öffentlichkeit mit immer neuen Beteuerungen, dass es bald Ergebnisse geben werde. Am Ende dauerte die Auszählung sechs Tage lang!
2. Die Staatliche Wahlkommission (SWK) besteht aus neun Obersten Richtern oder Obersten Richtern im Ruhestand. Jeweils drei von ihnen werden durch den Präsidenten des Obersten Gerichts, den Präsidenten des Verfassungsgerichts sowie den Präsidenten des Obersten Verwaltungsgerichts ernannt, und anschließend vom Staatspräsidenten berufen. Mit Vollendung des 70. Lebensjahres müssen sie aus der SWK ausscheiden. Ihr zumeist hohes Alter, ihre Betulichkeit und die unerschütterliche Zuversicht, mit der sie die Pannen nach der Europawahl vom Mai 2013 ignorierten und alle späteren Warnungen in den Wind schlugen, gepaart mit offensichtlicher Hilfslosigkeit angesichts der sich türmenden Probleme, handelten ihnen im Internet den Spitznamen „leśne dziadki“ ein –
„die Waldopas“.
Fast alle von ihnen sind einst tief ins kommunistische Justizwesen verstrickt gewesen, zwei haben gar in den 80er Jahren an Verurteilungen von Solidarność-Aktivisten mitgewirkt. Anders als im vereinigten Deutschland (DDR), wurde in Polen, im Rahmen der „nationalen Aussöhnung“ am Runden Tisch von 1989, praktisch die gesamte Richterschaft aus der kommunistischen Zeit übernommen.
Aufsehen erregten zuletzt die engen Kontakte der polnischen SWK mit der Zentralen Wahlkommission Russlands. So besuchte der russische Wahlleiter Wladimir Tschurow, der sich als „Putins Zauberer“ einen Namen gemacht hatte, am 14. bis zum 16. Juni 2012 Warschau.
In der Zeit vom 26. bis 27. Mai 2013 fand der Gegenbesuch einer 12-köpfigen polnischen SWK-Delegation „zu Schulungszwecken“ in Moskau statt. Unter Tschurows Aufsicht überstieg u. a. in manchen Gegenden Russlands die Wahlbeteiligung, immer wieder mal, die Einhundertprozent-Marke.
Angesichts des Chaos nach der Wahl, hat das komplette Gremium der Wahlkommission seinen Rücktritt eingereicht, dieser wurde nach den Kommunalen Stichwahlen am 30. November 2014 wirksam.
3. Wie sah
das Chaos konkret
aus? Die Wochenzeitung „Gazeta Polska“ („Polnische Zeitung“) vom 19.11.2014 zitierte ein Mitglied des Wahlvorstands eines Wahllokals in einem Stadtteil von Warschau so:
„Mitten in der Nacht (die Wahllokale schlossen um 21 Uhr – Anm. RdP) haben wir erfahren, dass das Auszählungssystem „nicht funktioniert“ und die ausgedruckten Wahlprotokolle einige Parteien und Kandidaten nicht enthalten würden. (…) Um 5.30 Uhr sagte man uns, dass wir auf den Transport der ausgezählten Wahlzettel von unserem Wahllokal ins zuständige Wahlamt des Stadtbezirkes noch zwei Stunden warten müssten, alternativ könnten wir die ausgezählten Stimmzettel selbst dorthin bringen, aber wie lange das alles insgesamt dauern würde, das wisse keiner, weil auch das Amt mit der Organisation überfordert sei. Die Wahlprotokolle konnten wir somit an der Eingangstür des Wahllokals nicht aushängen, da es keine gab.
Vor dem Wahlamt des Stadtbezirks standen hunderte entnervter Mitglieder der einzelner Wahlvorstände und Tausende von Kartons voller Stimmzettel, die mit privaten Pkws herangeschafft worden waren, anstatt, wie vorgeschrieben, mit Polizeieskorte. Die Kartons und Säcke mit den Stimmzetteln, manche schon beschädigt, befahl man in die Eingangshalle zu bringen, wo sie alle auf einen Haufen geworfen wurden. Dort warteten wir bis acht Uhr früh und gingen dann nach Hause.“
4. Solche Szenen spielten sich in ganz Polen ab. Die Stimmenauszählung wurde unterbrochen. Wahllokale, zumeist in Schulen untergebracht, mussten wieder zugänglich gemacht werden. Die Wahlhelfer mussten irgendwann nach Hause und zur Arbeit, die Massen von Kartons und Säcken mit den Stimmzetteln waren oft unzureichend gesichert. Das war der erste Grund für Vorwürfe, die Wahlergebnisse seien manipuliert oder gar gefälscht worden.
5. Das elektronische Auszählungssystem für die abgegebenen Wählerstimmen wurde in den folgenden Tagen wiederholt instandgesetzt, kollabierte jedoch immer wieder aufs Neue. Schnell stellte sich zu dem heraus, dass es
überhaupt nicht gesichert
war. Der Informatiker Marek Małachowski entdeckte zwei Tage nach der Wahl, dass man sich problemlos in das System einloggen und die eingegebenen Protokolle und Tabellen nach Gusto ändern konnte. Das war der zweite Grund für Vorwürfe.
6. Das Chaos und die Übermüdung der Wahlhelfer vergröβerte erheblich die Möglichkeiten von
Fälschungen,
und damit ist der dritte Grund für Vorwürfe angesprochen. Wie das geht, schilderte in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ („Die Republik“) vom 25.11.2014 der Anwalt Jacek Kędzierski, der oft Mitglied von Wahlvorständen gewesen ist:
„Das Übel des Systems liegt darin, dass der Wähler, nachdem er vom Wahlvorstand die Wahlzettel ausgehändigt bekommen hat, nur bei einem einzigen Namen ein “X“-Zeichen machen darf. Der Wahlhelfer, der denselben Kugelschreiber oder Filzstift wie der Wähler zur Verfügung hat, kann die Stimme ohne weiteres ungültig machen, in dem es ein weiteres „X“-Zeichen bei irgend einem anderen Namen hinzufügt. Das System schafft eine solche Möglichkeit, also führt es in Versuchung…
Diese Versuchung wird durch die Verhältnisse, die in den Wahllokalen nach Beendigung der Wahl herrschen, verstärkt. Kugelschreiber und Filzstifte, die in den Wahlkabinen auslagen, werden nicht eingesammelt und gesichert, obwohl es eigentlich so sein sollte, und die Mitglieder des Wahlvorstands bei ihrer Arbeit ausschließlich rote oder graue Bleistifte verwenden sollten. Oft kommt es vor, dass die Wahlzettel nicht von allen Mitgliedern gemeinsam an einem Tisch, sondern, da es schneller geht, von einzelnen Wahlhelfern an mehreren separaten Tischen gesichtet und ausgewertet werden. Dort kann man dann ungehindert machen was man will.
Einmal als ich in einem Wahlvorstand Mitglied war und sah was sich abspielte, musste ich Krach schlagen. Ich war gezwungen den anderen Mitgliedern die Filzstifte, die die Wähler zur Stimmabgabe benutzt hatten, zu entreiβen, und das Zusammenstellen der Tische anzuordnen, damit beim Auszählen jeder jedem auf die Finger schauen konnte. Mein Eindruck war, einige meiner Kollegen führten etwas im Schilde…“,
soweit Anwalt Kędzierski.
7. Ungültig sind auch „saubere“ Stimmzettel, auf denen der Wähler kein „X“-Zeichen gemacht hat. Gibt es eine Möglichkeit „saubere“ Wahlzettel gegen gültige, mit einem „X“-Zeichen versehene, im Nachhinein auszutauschen? Ja.
Wie das Nachrichtenmagazin „W Sieci“ („Im Netzwerk“) vom 1.12.2014 herausfand, wurden die Stimmzettel in jeder der 16 Woiwodschaften im Auftrag des jeweiligen Woiwodschaftsamtes (vergl. mit einer deutschen Bezirksregierung) separat gedruckt. Dies geschah meistens, unter Berufung auf die kurzen Fristen, ohne Ausschreibung, oft von „befreundeten“ Druckereien. Die Stimmzettel wurden nicht als streng verrechenbare amtliche Drucksachen behandelt. Die gesamte Auflage sollte auf die einzelnen Bezirkswahlbüros verteilt werden. Doch niemand hatte den Überblick, wie hoch die Auflage war und ob nicht doch einige Dutzend, Hundert oder Tausend Wahlzettel „übrig geblieben“ sind. Eine solch unübersichtliche Situation gab es u. a. in den Woiwodschaften Masowien (mit Warschau), Lublin, Lodz, Kleinpolen (Kraków) u. e. a. m.
8. Ein ernsthaftes Problem scheint in Polen weiterhin der Stimmenkauf zu sein. Dabei lauert eine Person in der Nähe des Wahllokals und übergibt einem Stimmberechtigten einen entsprechend ausgefüllten Wahlzettel. Empfänger sind Alkoholiker, Rentner, sehr arme Leute u. ä. Personen. Sie werfen den erhaltenen Stimmzettel in die Wahlurne ein und übergeben ihren „sauberen“ Wahlzettel drauβen dem „Organisator“, der ihn, entsprechend ausgefüllt, an den nächsten „Kunden“ weitergibt. Der „Lohn“ sind meistens 10 Zloty (ca. 2,50 Euro) oder eine Hundertgramm-Flasche Wodka. Solche Szenen wurden an vielen Orten in der Woiwodschaft Lodz beobachtet. Bei der Kommunalwahl 2010 hat man ein solches Vorgehen in Wałbrzych/Waldenburg in groβem Umfang nachgewiesen.
9. Berichtet wurde auch von Wahlunterlagen, die nicht alle Parteilisten enthielten; von Stimmzetteln und Wahlunterlagen ohne das Siegel der Wahlkommission; Stimmzettel für nicht anwesende Familienmitglieder wurden ausgegeben; Wahlunterlagen mit bereits eingesetzten „X“-Zeichen ausgehändigt.
10. Die Kommunalwahl gilt als ein wichtiges
Barometer politischer Stimmungen
in Polen. Aussagekräftig sind vor allem zwei Messergebnisse:
Zum einen die Oberbürgermeisterwahlen in Groβstädten, wie Gdańsk, Katowice, Kraków, Poznań, Wrocław und natürlich Warschau, den Hochburgen der seit acht Jahren regierenden Bürgerplattform (PO). Gelingt es Jarosłw Kaczyńskis Recht und Gerechtigkeit (PiS) sie zu erobern? Es gelang nicht, jedoch mussten sich die PO-Kandidaten und Amtsinhaber einer Stichwahl stellen und gewannen eher knapp, während sie noch 2010 gleich in der ersten Runde spielend die absolute Mehrheit auf sich vereinigen konnten.
Als ein noch wichtigerer Wert gelten die Wahlergebnisse zu den Regionalparlamenten (Sejmik) in den 16 Provinzen Polens, den Woiwodschaften. Zu vergeben waren dort insgesamt 555 Mandate. Auf Grund der Komplexität einer Kommunalwahl, bei der auf Gemeinde- und Kreisebene viele freie Wählerverbände teilnehmen, wurde in der Nachwahlbefragung vor den Wahllokalen (engl. exit poll) nur nach der Wahlentscheidung in Bezug auf die Regionalparlamente gefragt.
Am Wahlabend kurz nach 21.00 Uhr war die
Sensation perfekt.
Gemäß den ersten Hochrechnungen ging Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit 31,5% der Stimmen zum ersten Mal seit 2005 als klarer Sieger aus einer Wahl hervor. Die Bürgerplattform (PO) unterlag mit 27,3%. An dritter Stelle, mit einem ungeahnt guten Ergebnis, die Bauernpartei (PSL), die mit der PO seit 2007 die Regierungskoalition in Warschau bildet – sie gewann 17% der Stimmen. Die Postkommunisten (SLD) landeten weit abgeschlagen bei 8,8%.
Nach sechs Tagen des Hin-und Her der Stimmenauszählung unter den bereits geschilderten Umständen, sahen die Ergebnisse schon ganz anders aus, aber nur für den Gewinner der Wahl. Kaczyńskis PiS hatte plötzlich nur noch 26,85% (minus 4,56%) der Stimmen gewonnen. Frau Kopaczs PO mit 26,36% blieb in etwa gleich (minus 0,94%). Die Postkommunisten hatten 8,78% (minus 0,2%) erreicht. Die sonst eher ein Schattendasein führende Bauernpartei (PSL) verzeichnete dagegen einen grandiosen Zuwachs – 23,68% (plus 6,68% gegenüber der Wahlprognose). Bei der letzten Europawahl in Polen im Mai 2013 hatte die PSL 6,8%, bei der letzten Parlamentswahl von 2011 – 8,4% der Stimmen bekommen. Über Nacht haben die Bauern also ihren Besitzstand verdreifacht, bzw. sogar vervierfacht! In der Stadt Gdynia/Gdingen verbesserte die PSL im Vergleich zu 2010 ihr Ergebnis gar um 1100%, von 800 auf 8800 Stimmen.
Hinzu kam noch ein weiterer Rekord. Bei der Abstimmung zu den Regionalparlamenten wurden, sage und schreibe, knapp 18% ungültige Stimmen abgegeben: das bedeutet 2,85 Millionen Stimmen! Diese Epidemie wütete ganz besonders stark u.a. in den Landkreisen Malbork/Marienburg (23%), Wejherowo/ Weyersfrey (23%) und Koszalin/Köslin (35%).
Kaczyńskis PiS gewann in den 16 Regionalparlamenten insgesamt 30 Mandate hinzu. Die Bürgerplattform büßte 43 ein, doch die gewaltigen Zugewinne (64 Mandate) des PO-Koalitionspartners Bauernpartei (PSL) machte die PO-Einbuβen mehr als wett. Das Resultat: die in Warschau regierende Koalition aus Bürgerplattform und Bauernpartei wird ihr Machtmonopol auch auf der Provinzebene behalten. Sie regiert künftig in 15 Woiwodschaften, der Wahlgewinner, Kaczyńskis PiS – nur in einer, in der Vorkarpaten-Woiwodschaft (Rzeszów).
Der groβe Unterschied zwischen der ansonsten immer recht zutreffenden Nachwahlbefragung und den Endergebnissen ging ,ausschließlich, zu Lasten der Opposition, das seltsam anmutende “Traumergebnis“ der Bauern und die gigantische Zahl ungültiger Stimmen waren der vierte, fünfte und sechste Grund für Vorwürfe.
11. In der Nacht vom 20. auf den 21. November kam es daraufhin vor dem Sitz der Staatlichen Wahlkommission in Warschau zu einer
Protestdemonstration
von Vertretern kleiner radikalnationaler Gruppierungen (Nationale Bewegung, Kongreβ der Neuen Rechten, Die Solidarischen 2010). Die Losung hieß: „Stopp den Wahlmanipulationen“. Einige Demonstranten drangen in das Gebäude ein, besetzten für kurze Zeit den Konferenzsaal. Der Raum wurde bald darauf von der Polizei geräumt.
Proteste rief die Festnahme von zwei Journalisten hervor, die als Berichterstatter vor Ort waren: des Reporters des konservativen Fernsehsenders Republika und des Fotoreporters der Polnischen Presseagentur PAP. Ein bisher nie dagewesener Vorfall. Beide wurden 24 Stunden lang in Polizeigewahrsam festgehalten, wegen Hausfriedensbruchs vor Gericht gestellt und nach zwei Verhandlungsterminen freigesprochen. Proteste wurden auch aus einigen anderen Groβstädten gemeldet.
12. Am 26. November fand im Sejm eine Debatte zu dem Thema statt. Oppositionschef Jarosław Kaczyński sagte: „Von dieser wichtigsten Tribüne in Polen müssen die
Worte der Wahrheit
fallen: diese Wahlen wurden gefälscht“. Er kündigte für den 13. Dezember 2014, dem Jahrestag der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981, eine Protestdemonstration in Warschau an. An ihr nahmen etwa 80.000 Menschen teil. Kaczyński legte dort seine Sicht der Dinge dar:
„Diese Wahlen wurden gefälscht. Eine Fälschung findet statt, wenn die Staatsmacht weiβ, dass die rechtlichen Bestimmungen in Bezug auf Wahlen unvollkommen sind, wenn sie weiß, dass es bereits verschiedene zweifelhafte Vorfälle gab, und sie lehnt dennoch im Vorfeld Änderungsvorschläge ab. So war es in diesem Fall. Es gab Änderungsvorschläge und sie wurden abgelehnt. Eine Fälschung findet statt, wenn die Staatsmacht, sowie sie erfährt, dass die Wahlen in einer Katastrophe münden, dass das Ergebnis ungewiss ist, sie sofort eine Kampagne startet, um diese Tatsachen zu vertuschen. Man kann sagen, die Staatsmacht terrorisiert die Gerichte (siehe dazu Pkt. 14 – Anm. RdP) und das unter Beteiligung des Präsidenten der Republik und der Vorsitzenden der drei höchsten Gerichte. Und sie startet eine Medienkampagne gegen alle, die sagen, dass gefälscht wurde.“
13. Bereits am 19. November trafen sich Kaczyński und der Chef der Postkommunisten, Leszek Miller. Beide, ansonsten politisch scharf verfeindet, forderten, der Sejm solle die Verkürzung der Wahlperiode der Regionalparlamente verabschieden, die Wahlen zu den Regionalparlamenten sollten wiederholt werden. Recht und Gerechtigkeit (PiS) brachte auch unverzüglich einen entsprechenden Gesetzentwurf ein.
Der Gesetzentwurf wurde von der Koalitionsmehrheit abgelehnt. Niedergestimmt wurde auch der PiS-Vorschlag, bei den für 2015 anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, durchsichtige Wahlurnen aus Plexiglas zu verwenden und Kameras in den Wahllokalen zu installieren.
Kaczyński und Miller sprachen von einer „Bedrohung für die Demokratie“. Das Treffen wurde vom Regierungslager und seinen Medien als ein neues politisches Bündnis an die Wand gemalt, doch nichts deutet bis jetzt darauf hin.
14. Das Regierungslager und die ihm nahestehenden Medien (vor allem die Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ („Wahlzeitung“), das Staatsfernsehen TVP, die privaten Fernsehsender TVN, Polsat, Superstacja) schlugen die höchsten Alarmtöne an. Staatspräsident Komorowski sagte, die Forderungen nach einer Wahlwiederholung seien
„Abgründe des Wahnsinns“.
Ministerpräsidentin Ewa Kopacz sagte, sie schlieβe eine Wahlwiederholung aus und behauptete anschlieβend in ihren Wahlaufruf vor der zweiten Runde der Kommunalwahlen „die polnische Demokratie sei stabil und ungefährdet“. Die Präsidenten der drei höchsten Gerichte (Oberstes, Verfassung, Verwaltung) beeilten sich sofort in einer gemeinsamen Erklärung zu beteuern, dass es keine ernstzunehmenden Unregelmäβigkeiten während der Wahl gab. Der Präsident des Verfassungsgerichts, Prof. Andrzej Rzepliński fügte in einem Fernsehinterview hinzu: „Polen befinde sich nicht in einer Krise, sondern die Politiker (der Opposition – Anm. RdP) geben den Staat der Anarchie preis, weil sie »Blut geleckt« haben“.
Die Warschauer Protestdemonstration am 13. Dezember 2014, zu der Recht und Gerechtigkeit aufgerufen hatte, wurde im Regierungslager und seinen Medien einhellig als „ein Versuch Polen in Brand zu setzten“ gewertet.
15. Die für das Regierungslager in kritischen Situationen typische Abwehrhaltung („ist ja nicht weiter schlimm“), verleitete den Kommentator der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ am 20. November zu der Feststellung: „Es ist ein Fehler, diejenigen die Fragen nach dem Verlauf der Wahlen stellen als »Wahnsinnige« zu bezeichnen, während aus dem ganzen Land Berichte eintreffen, nicht nur über Fehler im Stimmauszählungssystem, sondern auch, und das wiegt schwerer, über eine groβe Zahl ungültiger Stimmen. (…) Anstatt die Zweifelnden des Wahnsinns zu bezichtigen, sollte der Staatspräsident alles unternehmen, damit ihre Zweifel schnellst möglich zerstreut werden“.
16. Über die Rechtmäβigkeit und Richtigkeit von Einsprüchen gegen ein Wahlergebnis befinden in Polen die zuständigen
Gerichte
der zweiten Instanz (Bezirksgerichte). Einsprüche können bis 14 Tage nach der Wahl vorgebracht werden. Da die amtlichen Endergebnisse aber erst sechs Tage nach der Wahl bekannt wurde, hatte sich diese Frist auf 7 Tage verkürzt. Das Gericht muss innerhalb von 30 Tagen ein Urteil fällen. Stellt es gravierende Verstöβe fest, kann die Wahl in einem Wahlkreis wiederholt werden. Etwa 2000 Beschwerden wurden im ganzen Land eingebracht.
17. Die Opposition versuchte ebenfalls
das Interesse des Europäischen Parlaments
für die Miβstände zu wecken. Das gelang nur bedingt. Die Fraktion der Europäischen Volkspartei, in der die in Polen regierende Bürgerplattform Mitglied ist, hat zusammen mit den Sozialisten eine Debatte über die polnische Wahlkatastrophe abgelehnt. Die Mehrheit folgte dem Argument, der hinter den Kulissen aufs heftigste agierenden polnischen Regierungsvertreter, „es sei ein Versuch die innerpolnische politische Debatte auf die europäische Ebene zu verlagern“. Die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (FEKR), der Recht und Gerechtigkeit angehört, hat daraufhin am 11. Dezember in Brüssel eine öffentliche Anhörung veranstaltet. Der britische Konservative und FEKR-Chef Syed Kamall, schloss die Anhörung mit den Worten: „Die Ereignisse in Polen geben Anlass zur Sorge. Ich kann mich an keine Unstimmigkeiten dieses Ausmaβes in einem anderen EU-Land erinnern“.
18. Es wird viel spekuliert über
mögliche Gründe
für den „Wahlerfolg“ der Bauern und für die vielen ungültigen Stimmen. Plausibel klingt folgende Theorie:
Schuld seien zum einen, die für die Wahlen zu den Regionalparlamenten zu kleinen Broschüren zusammengehefteten Wahllisten der Parteien. In so einem „Büchlein“ im DIN A4-Format, musste der Wähler die Seite mit der gewünschten Wahlliste finden, und auf dieser Seite bei nur einem Namen ein „X“-Zeichen setzen.
Diese Broschüren hatten kein Inhaltsverzeichnis und enthielten auf der ersten Seite keine Instruktion, über den korrekten Wahlvorgang. Auf der ersten Seite befand sich (entsprechend einer Auslosung) die Liste Nr. 1 der Bauernpartei. In der Fernsehwahlwerbung der Staatlichen Wahlkommission hieβ es, dass „auf einer Liste nur ein Name angekreuzt werden darf“. Viele Wähler schlussfolgerten daraus, dass sie auf jeder Liste ein „X“-Zeichen machen sollen, und taten dies auch. Viele legten gleich vorne los und merkten zu spät, dass sie gar nicht die Bauernpartei wählen wollten, und machten dann noch ein Kreuz auf der „richtigen“ Liste, was die Stimmabgabe automatisch ungültig machte. Manche belieβen es bei dem Kreuz auf der ersten Seite und warfen die Broschüre in die Urne. Bei früheren Wahlen zu den Regionalparlamenten wurden plakatgroβe Wahlzettel ausgegeben. In diesem Fall war die Direktive: ein „X“-Zeichen auf dem Wahlzettel offensichtlich einleuchtender und einfacher zu befolgen.
Diese Verwirrung soll den Bauern zu ihrem „Traumergebnis“ verholfen haben, hieβ es. Am 20. Januar 2015 veröffentlichte Jarosław Flis, Soziologe an der Jagiellonen-Universität in Kraków, seine Studie zu der Frage „Wahlbroschüre“. Seinen Berechnungen zufolge, hat die Bauernpartei dank der geschilderten Umstände zusätzlich 700.000 Stimmen bekommen.
Offen bleibt die Frage: wie kam es dazu, dass in einem Wahlkreis bis zu 40% der Stimmen ungültig gewesen sind, und im Nachbar-Wahlkreis nur 3%?
Das durch die Wahl- Broschüren verursachte Chaos belastet die Staatliche Wahlkommission und das ihr unterstehende Zentrale Wahlamt genauso schwer, wie der Zusammenbruch der Rechner. Und die Frage steht im Raum : war das alles Zufall oder vielleicht doch gewollt?
19. Führende konservative polnische Kommentatoren haben mit Ironie und Sarkasmus auf die
Reaktion deutscher Medien
auf das polnische Wahlchaos hingewiesen. Nachstehend zwei Beispiele.
Unter dem Titel „Deutsche Medien drücken ein Auge bei Wahlungereimtheiten in Polen zu. Für Berlin ist es am wichtigsten, Recht und Gerechtigkeit fern von der Macht zu halten“ schrieb Sławomir Sieradzki am 23.11.2014 im Internetportal „wPolityce.pl“ („inderPoiltik.pl“) u.a.:
„Sind die Medien in unsrem Nachbarland sehr beunruhigt gewesen über die Verspätungen bei Bekanntgabe der Ergebnisse der Kommunalwahlen und über Ungereimtheiten, die eher typisch sind für Dritte-Welt-Staaten? Nein, sie haben es sehr gelassen zur Kenntnis genommen. Hat sie etwas beunruhigt? Ja, der Sieg von Recht und Gerechtigkeit (PiS), wie er am Wahlabend aus der Nachwahlbefragung hervorging. Die deutschen Medien haben den Akzent nicht auf die vielen Regelwidrigkeiten gesetzt. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die „rechten Krawallen“ vor dem Sitz der Staatlichen Wahlkommission“
– schreibt Sieradzki.
Am weitesten ging, seiner Meinung nach, der Warschauer ZDF-Korrespondent Armin Coerper, der „ein Phantom“ zurückkehren sah.
Jarosław Kaczyńskis Foto lieβ keine Zweifel offen, so Sieradzki, „mit wem die Deutschen ihren Kindern Angst machen“. „Das Phantom“ beschreibt Coerper wie üblich: es hat (2005 bis 2007 – Anm. RdP) mit seinem Bruder eine „Zwillingsrepublik“ gebildet, es sei eine Zeit gewesen „der anti-deutschen Ressentiments, der Hatz auf Andersdenkende und der Rückbesinnung auf nationale Werte“. Seinen Bericht beschlieβt Coerper, so Sieradzki, mit der Schlussfolgerung, dass nach der Kommunalwahl für Ewa Kopacz, der Nachfolgerin Donald Tusks als Regierungschefin, die Zeit des Weckrufs angebrochen sei, wenn sie ein modernes Polen wolle, und nicht etwa den Sieg Kaczyńskis mit seinen Ängsten und Feindbildern.
„Welche Schlussfolgerung kann man aus Coerpers Bericht ziehen?“, fragt Sieradzki und antwortet: „Eine sehr gefährliche, für Polen und unsere zerbrechliche Demokratie. Die Deutschen werden der regierenden Bürgerplattform freie Hand lassen für Aktionen, die um jeden Preis eine Partei von der Macht fernhalten soll, die Berlin nicht genehm ist. Und sie werden, wie jetzt, ein Auge bei jeder Niederträchtigkeit zudrücken, die zu diesem Ziel führt“,
so sein Fazit.
Nicht anders sieht es Marek Magierowski im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 24.11.2014. Er schreibt unter dem Titel
„Das Betonschema der deutschen Medien“:
„Als ganz Polen sich Gedanken darüber machte, ob wir schon in eine schwere Verfassungskrise geraten sind oder noch nicht, echauffierte sich der deutsche „Spiegel“ darüber, dass der Homosexuelle Robert Biedroń in die Stichwahl um das Amt des Oberbürgermeisters von Słupsk/Stolp gehen muss. Als die Staatliche Wahlkommission sich von Stunde zu Stunde mehr blamierte, als sich herausstellte, dass sich jeder ins elektronische Stimmenauszählungssystem einloggen kann, als an den Wahlurnen Wunder geschahen, schrieb das deutsche Nachrichtenmagazin vom „ernsthaften Test für die Toleranz“ an der Weichsel. Das wär’s dann auch, wenn es um die Redlichkeit bei der Beschreibung der polnischen Realität in den deutschen Medien geht“,
so Magierowski.
„Deutsche Medien beschreiben Polen seit Jahren nach dem Betonschema: die Bürgerplattform – gut, Kaczyński – sehr schlecht. Alles, was in dieses Schema nicht passt, wird von vorneherein als uninteressant und unwichtig angesehen. (…) Käme es zu einem solchen Skandal in Orbans Ungarn, würde dann „Der Spiegel“ nur über den homosexuellen Bürgermeister von Debrecen schreiben? Ich denke nein“,
beschlieβt Magierowski seinen Kommentar. © RdP
Polnische Kommunalwahlen
37 OSZE-Kriterien (und somit gut 54%) nicht erfüllt
Vorbereitung, Verlauf und Auszählung der Wahlen vom 16. November 2014 lieβen auβerordentlich viel zu wünschen übrig. Bei einer ernsthaften Überprüfung durch EU-, bzw. OSZE-Beobachter hätten sie den Test wahrscheinlich nicht bestanden. Jedenfalls wurden, nach Ansicht der Opposition, bei den polnischen Kommunalwahlen 2014 von den 68 Kriterien der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) 37 OSZE-Kriterien (und somit gut 54%) nicht erfüllt.
Zu den wichtigsten gehören:
Confusion and disorganization at polling stations – Durcheinander und Desorganisation in den Wahllokalen;
Failure by polling officialls to follow required procedures – die Nichteinhaltung von vorgeschriebenen Abläufen durch amtliche Wahlhelfer ;
Ballot-box stuffing – zu viele Stimmzettel in den Wahlurnen;
The presence of pre-marked ballots – Auftauchen von vorher ausgefüllten Stimmzetteln;
Excessive delays in administering the voting – erhebliche Verspätungen beim Verwalten der Wahl;
Adding marked ballots after the opening of the box – Hinzufügen von markierten Stimmzetteln nach dem Öffnen der Wahlurne;
Attempts to invalidate ballot papers – Versuche Stimmzettel ungültig zu machen;
Disorderly counting procedures – Fehlen geordneter Auszählungsprozesse;
Discrepancies in the reconciliation figures, such as a higher number of ballot papers found in the ballot box than the number of signatures on the voter list – Unstimmigkeiten beim Abgleich der Zahlen nach der Auszählung, wie z. B. mehr Stimmzettel in der Wahlurne als Unterschriften im Wählerverzeichnis;
Inadequate numbers of counting staff and supervisors – nicht ausreichende Anzahl von Stimmenzählern und Überwachungspersonal;
Dishonest counting or reporting of the ballots – unredliches Zählen oder Auswerten der Stimmzettel;
Insecure storage of unused ballots – nicht gesicherte Aufbewahrung von unbenutzten Stimmzetteln;
Polling-station results protocol not completed in the polling station das Protokolle des Wahlergebnisses eines Wahllokals wurden nicht im Wahllokal selbst angefertigt;
Failure to post official results at the polling station – das Protokoll mit den Wahlergebnissen wurde nicht im Wahllokal ausgehängt;
Insecure transport of polling materials to the tabulation centre – ungesichertes Transportieren von Wahlunterlagen zu den zentralen Auswertungsstellen;
Unreasonable delays in transfering results to the tabulation centre – unangemessene Verspätungen in der Weitergabe von Ergebnissen an die zentrale Auswertungsstellen;
Inadequate premises, leading to overcrowding and chaotic tabulation process – ungeiegnete Bedingungen, die zu einer Ballung und zu chaotischen Zuständen bei der Stimmenauswertung führten;
Falsifying or switching result protocols – Fälschen oder Austauschen von Ergebnisprotokollen;
Lack of transparency or irregular procedures at tabulation centres – Fehlen von Transparenz oder irreguläre Verfahrensweise in den zentralen Auswertungsstellen;
Unreasonable delays in the announcement of results – unangemessene Verspätungen bei der Bekanntgabe der Wahlresultate;
Unbalanced or insufficient supervision of the tabulation of final results – unausgewogene oder ungenügende Überwachung bei der Auswertung des Endergebnisses;
Failure to publish detailed results down to district and polling-station level – fehlende Veröffentlichung von detaillierten Endergebnissen bis hinunter zu den einzelnen Wahlkreisen und Wahllokalen;
Discrepancies between election-day records of results and the final results at any level of the election administration – Unterschiede zwischen den am Wahltag festgestellten Ergebnissen und den Endergebnissen, auf jeder Ebene der Wahlverwaltung ;
Complaints that are ruled inadmissible or dismissed on technical grounds – Beschwerden, die als unzulässig erklärt oder aus technischen Gründen abgewiesen wurden;
Refusals by election commissions to preform recounts – Wahlvorstände lehnen eine Wiederholung der Stimmauszählung ab;
Irregularities or confusion in selecting which persons on party lists will be awarded seats – Unregelmäßigkeiten oder Verwirrung bei der Festlegung, welche Personen auf den Parteilisten ein Mandat erlangt haben.
RdP