Es ist eine der Binsenwahrheiten unserer Tage: Der russische Überfall auf die Ukraine hat sich faktisch in einen Krieg verwandelt zwischen Russland und der westlichen Welt, wie sie am Ende des Kalten Krieges vor dreißig Jahren entstanden ist. Die bisher akademisch geführten Debatten des Westens über den Zusammenprall der Kulturen oder das globale Ringen zwischen Staaten wie den USA, China und Russland, haben plötzlich die greifbare Form blutiger militärischer Schlachten und russischer Kriegsgräuel, begangen bei Kiew oder im Donbass, angenommen.
Es sei jedoch daran erinnert, dass seit geraumer Zeit niemand den Westen so sehr bekämpft hat wie der Westen sich selbst. Er hat irgendwann begonnen, sich selbst aufrichtig zu hassen und so seine Daseinsberechtigung grundsätzlich zu verneinen. Diese Selbstaggression zergliedert die westliche Welt, schwächt ihre Position fortwährend und stellt die Aussicht auf ihren Fortbestand infrage.
Die Fähigkeit, sich selbst kritisch zu hinterfragen, war schon immer ein wesentliches Merkmal der westlichen Zivilisation, die sie vor dem Erstarren bewahrt hat. Sie war eine wesentliche Triebkraft für die anhaltende Erneuerung, die dem Westen im Laufe der Zeit einen Vorsprung in der Welt verschafft hat.
Was sich jedoch inzwischen in den westlichen Gesellschaften durch die kulturelle Linke und Rechte entwickelt hat, hat nichts mehr mit gesunder Selbstkritik zu tun, sondern gleicht einem hirnlosen Drang zur vollkommenen Selbstverneinung und Selbstzerstörung. Es stellt sich nämlich heraus, dass der Westen der einzig Schuldige für alles Böse in der Welt war und ist.
Es ist der Westen, der die Sklaverei, den Rassismus, die Ausbeutung und die Kriege erfunden hat, es ist der Westen, der die Welt ausplündert und vernichtet. Niemand sonst in der Geschichte hat so etwas getan. Alle anderen waren Opfer. Wenn sich der Westen also in sein Schneckenhaus zurückziehen (die extrem rechte Sichtweise) oder einfach aufhören würde zu existieren (der Traum der extremen Linken), würde die Welt unvergleichlich besser dastehen.
Das sehen Putin und seinesgleichen genauso. Russische Politik und Propaganda pflichteten jahrelang westlichen Politikern, Intellektuellen und Aktivisten, die das behaupten, eifrig bei. Putin&Co. hofierten sie im Kreml, umgarnen mit Komplimenten, Dialogangeboten, Stipendien und diskreten finanziellen Zuwendungen.
Die Energieabhängigkeit des Westens von Russland war das Eine. Das Andere war ein in schwere Selbstzweifel verstrickter Westen, der nicht an sich glaubt, sich geistig zerfleischt. Beides zusammen schuf die Überzeugung, dass sich die westliche Welt den russischen Kriegsabenteuern nicht oder nur schwach widersetzen wird.
Gewiss, Putin hat sich verrechnet, doch den Toten des Ukraine-Krieges bringt das nichts.
RdP