Am 16. Oktober 2022 jährt sich die Ermordung der Enthüllungsjournalistin Daphne Caruana Galizia auf Malta zum fünften Mal. Das Europäische Parlament widmete diesem Mord bisher nur eine Debatte. Eine zweite soll in diesen Tagen, am Jahrestag des Todes von Galizia, stattfinden. In einem anderen EU-Land, der Slowakei, wurden im Februar 2018 der Enthüllungsjournalist Jan Kuciak und seine Verlobte ermordet. Auch diese Tat war dem Europaparlament nur eine einzige Debatte wert.
Derweil widmete sich dieselbe Institution zwischen Januar 2016 und Dezember 2021 in 27 Debatten Polen. Hinzu kommen unzählige Ausschusssitzungen. Im Durchschnitt also wurde Polen in dieser Zeit alle zwölf Wochen von der linken Mehrheit im EP-Plenum durch Resolutionen an den Pranger gestellt. Länder, in denen politische Morde begangen werden, wurden dagegen mit Einzeldebatten „bestraft“.
Und da ist da noch Bulgarien, das seit seinem EU-Beitritt vor 15 Jahren die Liste der Länder mit der höchsten Korruption und einer gigantischen Verschwendung von EU-Geldern anführt. Zudem handelt es sich um ein Land, das so instabil ist, dass es dort innerhalb von eineinhalb Jahren bereits vier Parlamentswahlen gab. Und das alles ist lediglich einmal im Jahr, jeweils im Herbst, Thema einer EP-Debatte, die völlig folgenlos bleibt. Von Sanktionen gegen Bulgarien redet niemand.
Für Brüssel ist Polen das Problem schlechthin, und die Folgen sind gravierend. Was auf den ersten Blick wie ein groteskes Paradoxon aussieht, ist in Wirklichkeit die brutale Realität der europäischen Politik.
Und die sieht so aus, dass Russland, das in sein Nachbarland einmarschiert ist und dessen Bevölkerung tötet, und Polen, das riesige Anstrengungen zugunsten der Ukraine unternimmt, von Brüssel mit vergleichbar großen Sanktionen belegt werden. Polen wird die Auszahlung von knapp 36 Milliarden Euro aus dem sogenannten Wiederaufbaufonds verweigert, der im Februar 2021 aufgelegt wurde, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in den Mitgliedsstaaten einzudämmen und zu mildern. Der Wert der bisher von der EU geschnürten russischen Sanktionspakete beläuft sich in etwa auf dieselbe Summe.
Auch der Mechanismus, mit dem die EU Druck auf Moskau und Warschau ausübt, ist recht ähnlich. Ihre Institutionen wiederholen: Erfüllt unsere Forderungen und wir werden die Sanktionen aufheben. Nur dass es im Falle Russlands darum geht, Aggression und Mord zu stoppen, während es sich im Falle Polens, im Kern, längst nicht mehr um die Justizreform, sondern um die Erzwingung eines Machtwechsels an der Weichsel handelt.
Zudem gibt Brüssel der Opposition bewusst das Wahlargument in die Hand: „Wählt uns, dann kommt das EU-Geld!“
Im Herbst 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Die Nichtauszahlung der riesigen Summen aus dem Wiederaufbaufonds kann Ratingagenturen leicht dazu veranlassen, die Kreditwürdigkeit des Landes herabzustufen. Heute befindet sie sich auf dem erfreulichen Niveau „A-“ (stabil). In Zeiten der Hochinflation und Energiekrise könnte eine Herabstufung an den Grundfesten der Wirtschaft rütteln, die Unzufriedenheit schüren und der EU-ergebenen Opposition, angeführt von Brüssels Liebling, dem deutschlandhörigen Donald Tusk, zum Wahlsieg verhelfen.
Das weite Entgegenkommen Warschaus in Sachen Justizreform im Frühjahr 2022, zuerst akzeptiert und gelobt, wurde jedenfalls sehr schnell als „unzureichend“ abgelehnt. Neue Forderungen kamen hinzu, deren Erfüllung das polnische Justizwesen vollends ins Chaos stürzen würde. So sollten die vor der Reform ernannten Richter in zweiter Instanz Urteile von Richtern, die nach der Reform berufen wurden (und derer gibt es inzwischen etwa eintausend), nur aufgrund ihres Ernennungsdatums aufheben dürfen. Letztere seien „keine Richter“. Das wäre ein Zustand, in dem sich niemand in Polen mehr eines Gerichtsurteils sicher sein kann.
Die Forderung ist so gefährlich und zugleich absurd, dass sich Brüssel und Berlin gewiss sein können, dass die jetzige polnische Regierung sie auf keinen Fall akzeptieren kann. Und darum geht es auch. Das verspricht eine langwierige Pattsituation und die provokative Verhängung immer höherer Geldstrafen gegen Polen, deren Summe jetzt bereits 250 Millionen Euro übersteigt und sich immer weiter erhöht. Der Sanktionsdruck soll bis zu den polnischen Wahlen im nächsten Herbst wachsen. Nicht von ungefähr sprach die SPD-EU-Politikerin Katharina Barley vom „Aushungern“ Polens, während „Der Spiegel“ zum „Daumenschrauben anlegen“ riet.
Vor allem für Berlin, das hinter den Kulissen diese Vorhaben anregt und steuert, steht viel auf dem Spiel. Endlich, nach acht Jahren, eine ungehorsame und undankbare osteuropäische Regierung loszuwerden, die sich vehement der von Olaf Scholz geforderten „Führungsrolle“ Deutschlands in der EU widersetzt. Die kein zentralisiertes Europa, sondern ein Europa der Nationalstaaten will. Die Reparationen von Deutschland fordert. Die durch die Zusammenarbeit der ostmitteleuropäischen Staaten ein Gegengewicht zu Deutschland aufbauen möchte. Die, die, die…
Während im Falle der russischen Sanktionen Krieg, Tod und Zerstörung auf dem Spiel stehen, geht es bei den polnischen Sanktionen um nackte Macht.
RdP