Wie mutig sind die Polen

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Was würden Sie tun, wenn Russland Polen, so wie die Ukraine, überfallen würde?

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sieht sich Polen zum ersten Mal seit Jahrzehnten einer unmittelbaren Kriegsbedrohung ausgesetzt. Eine schnelle und umfangreiche Aufrüstung, gepaart mit einer merklichen Aufstockung des Personalbestandes der Armee haben inzwischen oberste Priorität bei den Regierungsvorhaben. In diesem Fall kann sich die Regierung einer breiten Unterstützung der Bevölkerung sicher sein. Doch wie steht es um den Kampfeswillen der Polen?

Die Frage ist wichtig, denn wie das ukrainische Beispiel zeigt, ist die allgemeine Bereitschaft, das eigene Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, ausschlaggebend für eine erfolgreiche Verteidigung. Wie fatal sich die fehlende Motivation der kämpfenden Truppe auswirken kann, sieht man andererseits am Beispiel der russischen Angreifer. Welchem Beispiel würden die Polen im Ernstfall folgen?

Im Vergleich mit anderen

In den sozialen Medien werden von Zeit zu Zeit Studien veröffentlicht, die zeigen, inwieweit verschiedene Nationen bereit sind, ihre Staaten zu verteidigen. Im Vergleich zu anderen Europäern sind die Polen durchaus kampfbereit. Während bei den Deutschen die Bereitschaft, die Heimat zu verteidigen, nur bei 18 Prozent liegt, beläuft sie sich bei den Polen auf 47 Prozent.

Polnische Aufständische werden nach Sibirien getrieben. Bild von Artur Grottger aus dem Jahr 1867.
Am Ural. Deportierte Polen nehmen Abschied von Europa. Bild von Aleksander Sochaczewski aus dem Jahr 1890.

Hier zeigt sich ein charakteristisches Muster: Je mehr schlechte historische Erfahrungen es mit Russland gibt, desto größer ist der Ansporn, sich dem Angreifer aus dem Osten entgegenzustellen. Fast ebenso motiviert wie die Polen sind die Letten (41 Prozent), noch deutlich motivierter die Finnen (74 Prozent). Andererseits scheinen die Tschechen, die viel weniger Erfahrung mit Russland haben, oder die Bulgaren, die historisch gesehen weit mehr Angst vor der türkischen Bedrohung empfinden, weniger mutig zu sein. Dort sind nur ein Viertel der Befragten bereit, ihr Land gegen Russland zu verteidigen.

Entdeckte Massengräber von den Sowjets ermordeter polnischer Offiziere. Katyn bei Smolensk 1943.
Von den Sowjets deportierte und „begnadigte“ Polen melden sich 1941 zur Anders-Armee.

Das historische Gedächtnis beeinflusst also die Wahrnehmung der Bedrohung und formt die Verhaltensweisen. Im Laufe der Zeit verblasst jedoch oft die Erinnerung, was gemeinsam mit der allgemeinen Verbesserung des Lebensstandards dazu führt, dass das Materielle immer mehr in den Vordergrund tritt. Das gilt für viele, aber beileibe nicht für alle Länder. Das einst von Francis Fukuyama versprochene „Ende der Geschichte“ durch den Siegeszug der Demokratie ist jedenfalls leider nicht eingetreten. Ein Beleg dafür ist die aggressive Politik Russlands, das den gerade beschriebenen Prozess offenbar verpasst hat. Der naive, von Wunschträumen geprägte Umgang mit Russland als einem normalen europäischen Staat hat letztendlich zu dem jetzigen Krieg geführt.

Heißt das, dass wir in Polen Angst vor Russland haben sollten? Lieber nicht, denn Angst behindert das rationale Denken und führt zu Fehlern. Nicht Angst, sondern ein ständiges Bewusstsein für die Bedrohung ist gefragt. Für die polnische Regierung bedeutet das, dass sie eine Politik verfolgen muss, die dieser Bedrohung ständig und in jeder Hinsicht Rechnung trägt. Und die Gesellschaft ihrerseits muss bereit sein, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Furcht und Mut

In der Vergangenheit fürchteten die Polen Russland, überschätzten gleichzeitig jedoch nicht dessen Macht. Daher waren sie nicht durch Angst gelähmt und konnten, wenn nötig, wirksamen Widerstand leisten während der antirussischen nationalen Aufstände von 1768, 1794, 1830 und 1863 oder im polnisch-bolschewistischen Krieg von 1920.

Sowjetisch-polnischer Krieg 1920. Von polnischen Einheiten eroberte sowjetrussische Truppenfahnen.

Eine ähnliche Haltung ist heute bei den Ukrainern zu beobachten, die, obwohl sie zahlenmäßig und militärisch schwächer als Moskau sind, die Aggression erfolgreich abwehren. Die Ukrainer erinnern an die Polen von 1920, nicht nur, weil sie wie die Polen damals für den Erhalt ihres Staates kämpfen, sondern auch, weil sie bis vor Kurzem Teil des Moskauer Imperiums waren und sich dessen innerer Schwächen bewusst sind.

Im Jahr 1920 war die Erinnerung an die russische Herrschaft in Polen ebenfalls noch frisch. Das hat sich inzwischen geändert. 1990 aus dem sowjetrussischen Machtbereich ausgebrochen, blicken die Polen seither zunehmend mit den ängstlichen Augen des Westens auf Moskau. Diese Haltung ist noch nicht vorherrschend, aber ihr Einfluss ist vor allem bei der jüngeren Generation (18-29 Jahre) spürbar. Laut einer Studie hat diese Gruppe die größte Angst vor einem russischen Angriff auf Polen (65 Prozent der Befragten in einer IBRiS-Umfrage für Onet vom 25. Februar 2022).

Das ist nicht überraschend. Sie wurden nach dem Ende des Kommunismus geboren, kennen Russland nicht und sind mit der Überzeugung aufgewachsen, in einer sicheren Welt zu leben. Ihnen fehlen die Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern. Zugleich trennen die Popkultur und die sozialen Medien sie von der Realität und oft auch vom Wissen ab. Kein Wunder also, dass sie über den plötzlichen Zusammenbruch der bestehenden Ordnung so entsetzt waren.

Von Social Changes im Auftrag des Portals wPolityce.pl im September 2022 durchgeführte Umfrage. Ggf, bitte vergrößern.

Doch auch wenn sie von einer Angst befallen sind, so sind sie keineswegs durch sie gelähmt. Junge Polen legen die größte Bereitschaft an den Tag, für die Verteidigung des Landes zu kämpfen. In einer anderen Umfrage, die kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine durchgeführt wurde (Umfrage für das Warsaw Enterprise Institute vom 3. März 2022), gehörte fast ein Viertel (24 Prozent) derjenigen, die im Ernstfall zur Verteidigung ihres Landes an die Front gehen wollten, zu den jüngsten Befragten (im Alter von 18 bis 24 Jahren). In anderen Altersgruppen war der Prozentsatz niedriger.

Allerdings muss das alles im richtigen Verhältnis gesehen werden. Die oben zitierte Umfrage zeigt, dass insgesamt nur 17 Prozent der Befragten (d. h. aus allen Altersgruppen) bereit sind, an die Front zu gehen. Wie verhält sich dies nun zu der zuvor erwähnten Umfrage, die besagt, dass sogar 47 Prozent der Polen bereit sind, ihr Heimatland zu verteidigen?

Die Hälfte ist bereit

Die erklärte Bereitschaft, das eigene Land zu verteidigen, ist ein recht weit gefasster Begriff. In der jüngsten Umfrage, die von Social Changes im Auftrag des Portals wPolityce.pl im September 2022 durchgeführt wurde, erklärten sich beispielsweise 44 Prozent der Befragten bereit, gegen einen Aggressor zu kämpfen, aber nur 13 Prozent von ihnen sind bereit, an die Front zu gehen, 12 Prozent würden sich an Partisanen- und Sabotageaktionen beteiligen, und 19 Prozent würden nicht direkt kämpfen, aber die Kämpfenden auf andere Weise unterstützen. Das Ergebnis der Umfrage, wonach fast die Hälfte der Polen bereit ist, ihr Heimatland zu verteidigen, bedeutet also nicht automatisch, dass alle zu den Waffen greifen wollen.

Zum Vergleich: In der Ukraine mit ihren 44 Millionen Einwohnern sind nach einer Erklärung von Wolodymyr Selenskyj vom Mai 2022 mehr als 700 000 Menschen direkt in den Krieg mit Russland verwickelt, was etwa 3 Prozent der kampffähigen Bevölkerung des Landes (26,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 64 Jahren) entspricht. Diese knapp 3 Prozent leisten tatsächlich Widerstand gegen den Angreifer.

Soldaten der Territorialverteidigung beim Manöver.

So gesehen sind die 13 Prozent der Polen in der September-Umfrage oder die 17 Prozent in der März-Umfrage für das WEI ziemlich viel. Dies zeigt sich auch an der relativ hohen Popularität der Territorialen Verteidigungskräfte, deren Stärke von 7.000 Soldaten im Jahr 2017 auf 32.000 Ende 2021 gestiegen ist. Letztendlich werden sie realistischen Annahmen zufolge voraussichtlich noch auf 50.000 Mann ansteigen.

Im Übrigen muss nicht jeder Soldat sein, und nicht jeder ist dafür geeignet. Durch ungeeignete Soldaten gibt es nur Ärger und Probleme, wie die russischen Angreifer in der Ukraine schmerzlich erfahren mussten. Hilfsdienste wie das Sanitätswesen, die Versorgung mit Munition, Lebensmitteln und Kleidung, spielen im Krieg eine ebenso wichtige Rolle wie die kämpfende Truppe. Selbst der besttrainierte Soldat ist ohne diese Unterstützung hilflos.

Auch ohne Waffe in der Hand kann man einen Beitrag zur Landesverteidigung leisten. Ein Helfer der polnischen Caritas nimmt ukrainische Flüchtlinge an der Grenze in Empfang.

Daher sind die Erklärungen derjenigen zu begrüßen, die zwar nicht mit dem Gewehr kämpfen wollen (weil sie eine schwache Gesundheit oder Angst haben), aber bereit sind, die Armee auf andere Weise zu unterstützen. So funktioniert es in der Ukraine. Ohne das große gesellschaftliche Engagement im Rücken wären die ukrainischen Soldaten nicht so erfolgreich gewesen. Jeder sollte so viel helfen, wie er kann.

Das macht den Unterschied zu einer mehr oder weniger strikten Verweigerungshaltung aus. Die zitierte Umfrage für das Portal wPolityce.pl zeigt, dass 17 Prozent der Befragten im Falle einer Bedrohung das Land verlassen würden, 5 Prozent würden in Polen untertauchen und 7 Prozent würden tatenlos die Entwicklung der Ereignisse abwarten. Diese Antworten machen insgesamt 29 Prozent aus, was im Vergleich zu den 47 Prozent, die bereit sind, sich in unterschiedlicher Form an der Verteidigung des Landes zu beteiligen, darauf hindeutet, dass die polnische Fähigkeit zur sozialen Mobilisierung im Falle eines Krieges sich durchaus sehen lassen kann.

Aber auch in diesem Fall ist es ratsam, von voreiligen Vorverurteilungen abzusehen und sich erneut dem ukrainischen Beispiel zuzuwenden. Nach dem Moskauer Angriff wurden Millionen von Menschen, vor allem Frauen und Kinder, aus der Ukraine evakuiert. Das wirkte sich sehr positiv auf die Moral der an der Front kämpfenden Soldaten aus, die sich um das Schicksal ihrer Familien nicht sorgen müssen. Der Schutz der Familie ist schließlich ein natürlicher Reflex eines jeden Menschen. Nicht jeder, der den Wunsch äußert, das Land zu verlassen, ist daher ein national Abtrünniger. Im Gegenteil, die Flucht der Schwächsten an sichere Orte wirkt sich insgesamt ausgesprochen positiv auf die Verteidigungsfähigkeit eines Landes aus.

Die Flucht der Schwächsten an sichere Orte wirkt sich insgesamt ausgesprochen positiv auf die Verteidigungsfähigkeit eines Landes aus.

Auch lohnt es sich, ehrlich darüber nachzudenken, ob wir bereit wären, das Wohlergehen unserer eigenen Familie in einer Notsituation zu opfern, wenn wir die Möglichkeit hätten, alle gemeinsam das Land zu verlassen. Sicherlich wird es solche Menschen geben, aber es ist nicht zu erwarten, dass sie die überwältigende Mehrheit ausmachen. Umso wichtiger ist es, denjenigen Anerkennung zu zollen, die bereit sind, sich in irgendeiner Form für ihr Land einzusetzen. Und das ist, Umfragen zufolge, fast die Hälfte. Ausreichend also für einen potenziellen Angreifer, um auf der Hut zu sein.

Geist und Gemüt

Die einzige Haltung, die man im Angesicht der Gefahr wirklich fürchten sollte, ist die Dummheit, die Polen in der Vergangenheit bereits mehr als einmal in die Katastrophe geführt hat. Sie kann zwei Formen annehmen. Die ideologisch geprägte Variante geht davon aus, dass der polnische Staat keinen Wert darstellt, den es zu verteidigen gilt, und dass die polnische nationale Identität ein schädliches Relikt ist. Die andere Form besteht darin, die Bedrohung aus Eigennutz zynisch zu verdrängen. Beides geht oft Hand in Hand miteinander und beides lähmt den Widerstandswillen der Gesellschaft.

Die Gefahr, der Polen heute ausgesetzt ist, betrifft also nicht nur das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum, sondern auch den Geist, den Verstand, das Gemüt. Die militärische Bedrohung kann, wie das Beispiel der Ukraine zeigt, nur dann bewältigt werden, wenn eine Mobilmachung auch das richtige Denken beinhaltet.

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