12.06.2022. Der Ukraine-Krieg und die polnische Seele

image_pdfimage_print

Wir haben es schwarz auf weiß: Die Polen sind das pro-amerikanischste und am stärksten Russland ablehnende Volk der Welt.

Das geht aus einer von der Stiftung Alliance of Democracies zyklisch durchgeführten Erhebung hervor. Bürger aus 52 Ländern beantworten dabei Fragen zu ihrer Einstellung gegenüber den Großmächten der Welt. Die neueste Umfrage wurde im April und Mai 2022 abgehalten, also bereits nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine. Die Ergebnisse zeigen, dass knapp 90 Prozent der Polen eine negative Einstellung gegenüber Russlands Handeln haben. Gleichzeitig loben sie die Vereinigten Staaten mehr, als es die Amerikaner selbst tun.

Diese Ergebnisse spiegeln treffend die polnischen Befindlichkeiten. Und sie erklären, weshalb es die Realisten in Polen so schwer haben, d.h. jene Politiker und Kommentatoren, die die Politik als einen nicht enden wollenden Wettstreit von Kräften und Interessen umschreiben, und nicht als einen Katalog von Werten, Hoffnungen und Wünschen.

Die antirussische Haltung der Polen ist zu einem großen Teil das Ergebnis historischer Erfahrungen. Der polnischen Teilungen sowie der sowjetischen Besetzung und der Unterwerfung durch Moskau im 20. Jahrhundert. Aus dieser Perspektive nehmen die Polen den russischen Überfall auf die Ukraine wahr, schätzen seine Folgen ein und fühlen sich ganz und gar bestätigt. „So kennen wir die Russen, so sind sie: brutal, primitiv, grausam.“

Kein Wunder also, dass die polnische Öffentlichkeit dazu neigt, sich allen aus Moskauer Sicht ungünstigen Berichten anzuschließen und solche zu verdrängen, die die Situation in einem anderen Licht zeigen. Daher werden Schilderungen, dass die russische Armee zusammenbricht, dass deren Angriffe erfolglos sind und sie nur Verluste erleidet, als wahr akzeptiert. Kurzum: Russland steht unmittelbar vor dem Zusammenbruch, ist ein Koloss auf tönernen Füßen. Ist das wirklich so und nur so? Realisten melden da ihre Zweifel an. Dass die polnischen Medien die Invasion als eine Kette von russischen Katastrophen darstellen, ist eine Form der Befriedigung der emotionalen Bedürfnisse des Publikums.

Die sehr starke Abneigung gegenüber Russland hilft auch ein anderes Rätsel zu lösen. Dieselben Leute, die glauben, dass Russland zerfällt, erwarten gleichzeitig, dass es jeden Moment in Polen einmarschieren wird. Da der Krieg mit Polen unvermeidlich ist, ist es für Polen umso besser, je länger die Kämpfe in der Ukraine andauern. Nur so kann ein Einmarsch russischer Truppen in Polen verhindert werden.

Doch wie kann man gleichzeitig an extreme Schwäche und totale Stärke glauben? Und: Sollte man nicht fragen, welche Kosten Polen bereit ist, auf sich zu nehmen, um Moskau zu schwächen? Wie viele ukrainische Kriegsflüchtlinge kann es noch aufnehmen? Wie viel kriegsbedingte Inflation kann es verkraften?

Es gibt Fragen über Fragen, aber sie werden zumeist ausgeblendet. Emotionen lassen sich nicht von Logik leiten. Übertriebene Zuversicht und übermäßige Angst, das Kippen von einem Extrem ins andere, sind psychologisch gesehen keine Seltenheit.

Eine weitere prägende polnische Befindlichkeit ist das fast blinde Vertrauen in die Fähigkeiten Amerikas und das nicht minder merkwürdige und starke Vertrauen in seine guten Absichten. Die Polen lieben Amerika, mehr als die Amerikaner selbst, so das Fazit der eingangs erwähnten Umfrage. Sie idealisieren es. Sie wollen es nicht wahrhaben, dass die USA, auch wenn sie die einzige demokratische Großmacht sind, oft nur ihre eigenen Interessen verfolgen und um Geltung für sich kämpfen. Mit diesem emotionalen Vorteil und dem Wissen um die polnische Liebe ist es für Amerika ein Leichtes, sich in Polen durchzusetzen.


Das wiederum hängt mit einem weiteren Merkmal der polnischen Mentalität zusammen, einem Erbe der Romantik. Die Politik wird nicht in den Kategorien von Stärke und Schwäche wahrgenommen. Was sie prägen soll sind Werte. Folglich ist der Kampf um mehr Einflussnahme und Vorteile in den Augen der Polen vor allem ein Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen den Mächten des Lichts und den Mächten der Finsternis.

Deshalb können polnische Politiker nicht das tun, was die Politiker woanders seit Jahrhunderten praktizieren: auf Zeit spielen, ausweichen, Bündnisse schließen und wechseln, andere zynisch hinters Licht führen. Die polnische Öffentlichkeit weigert sich in ihrer Mehrheit zur Kenntnis zu nehmen, dass sich das Gute und das Böse nur selten, vielleicht sogar nie, in Reinkultur offenbaren. Selbst während des Zweiten Weltkriegs ging, wer Hitlers Bösem ein Ende setzen wollte, ein Bündnis mit Stalins nicht weniger Bösem ein. Das freie Polen bot beiden die Stirn.

Man paktiert nicht mit dem Bösen, das Gute muss unterstützt werden. Dieser Grundsatz, übertragen auf den Bereich der konkreten Politik, bedeutet, dass die meisten Polen, wie Untersuchungen erneut zeigen, radikalste Sanktionen gegen Russland wollen, auch wenn das ihren Interessen drastisch zuwiderläuft. Diese Haltung wiederum befreit die Regierung von der Notwendigkeit, sich für die steigenden Lebenshaltungskosten und andere kriegsbedingte Unwägbarkeiten zu erklären, solange sie auf der Seite des Guten steht.

Eigentlich heißt es zu Recht, dass Emotionen keine guten Ratgeber in der Politik sind. Aber vielleicht leben wir inzwischen doch in einer besseren Welt und die alten Wahrheiten sind nicht mehr gültig?

RdP