Seit einiger Zeit genehmigt die Europäische Kommission am laufenden Band nationale Hilfsprogramme, die Unternehmen und Bürgern bei der Bewältigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie und der Energiekrise helfen sollen. Diese für Brüssel unüblich unbürokratische Vorgehensweise ist erfreulich, wäre da nicht das gigantische Ungleichgwicht zugunsten Deutschlands, das den Europäischen Binnenmarkt zu sprengen droht.
Nach Artikel 107 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, darf die Europäische Kommission staatliche Beihilfen genehmigen. Sie sind mit dem gemeinsamen Binnenmarkt vereinbar, wenn sie zur Beseitigung von Schäden dienen, die durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche Ereignisse in den Mitgliedsstaaten entstanden sind. Es handelt sich um Lohnkostenzuschüsse, die Aussetzung von Steuern bzw. Sozialversicherungsbeiträgen oder direkte Beihilfen für Firmen und Verbraucher.
So erreichte Warschau in diesen Tagen die freudige Nachricht, dass Brüssel einen großen Teil des Finanzschirms in Höhe von umgerechnet gut 15 Milliarden Euro bewilligt hat, mit denen die polnischen Behörden Kleinst-, Klein- und mittleren Unternehmen in der Pandemie unter die Arme gegriffen haben. Auf die Freigabe aus Brüssel wartet noch der Teil für Großunternehmen mit mehr als 249 Beschäftigten.
Alles in allem hat Polen in Brüssel drei große nationale Hilfsprogramme zur Akzeptanz vorgelegt. Sie belaufen sich insgesamt auf umgerechnet gut 67 Milliarden Euro. Das macht in etwa 12 Prozent des polnischen Bruttoinlandproduktes (BIP) aus.
Das ist für polnische Verhältnisse sehr viel, aber geradezu ein Klacks im Vergleich zu dem was Deutschland auffährt. Die bisher genehmigten staatlichen deutschen Corona- und Energiebeihilfen belaufen sich auf 990 Milliarden Euro (28 Prozent des BIP). Jetzt soll noch ein weiterer deutscher 200-Milliarden-Schutzschirm für Verbraucher und Firmen, „Doppel-Wumms“ genannt, hinzukommen.
Zum Vergleich: In Frankreich belaufen sich die von der EU genehmigten staatlichen Beihilfen auf 319 Milliarden Euro (13 Prozent des BIP), in Italien auf 204 MIliarden Euro (11,5 Prozent des BIP), in Belgien auf 53 Milliarden Euro (10,5 Prozent des BIP,) in Österreich auf 24 Milliarden Euro (6 Prozent des BIP) und in Spanien ebenfalls auf 24 Milliarden Euro (2 Prozent des BIP).
Das zeigt, was sich die einzelnen Mitgliedstaaten, je nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit und dem Spielraum für eine Erhöhung der Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, leisten können und wollen.
Schon jetzt macht das deutsche Paket 50 Prozent aller von der Kommission genehmigten EU-Beihilfen aus, das französische Paket 19 Prozent, das italienische Paket 12 Prozent, das polnische 4 Prozent, das belgische 3 Prozent und die übrigen Pakete belaufen sich jeweils auf nicht mehr als 1,5 Prozent.
Wenn die Kommission bereits jetzt so große Unterschiede in der Höhe der von den einzelnen Mitgliedsstaaten gewährten staatlichen Beihilfen zulässt, stellt sich die Frage, wie es dann mit dem Europäischen Binnenmarkt weitergeht, auf dem die so großzügig geförderten deutschen Unternehmen mit denjenigen konkurrieren werden, die sehr viel weniger oder überhaupt keine staatliche Unterstützung erhalten haben.
Das reiche Deutschland versucht seine Haushalte und Firmen vor den steigenden Energiepreisen zu schützen, offensichtlich ohne sich darum zu scheren, dass staatliche Beihilfen in solch riesigem Umfang gegen die Wettbewerbsbedingungen im gemeinsamen Markt der EU verstoßen. Wie ist das möglich?
Ganz einfach. Ebenso diskret wie wirksam macht Deutschland seinen gewaltigen Einfluss in Brüssel geltend, um sich die eigene Vorgehensweise als „europäisch“ absegnen zu lassen. Derweil geben sich die deutsche Politik und die deutschen Medien nach Außen überrascht und ahnungslos. Kritik wird generell als „Neid“ abgetan und wenn sie aus Warschau kommt, ist das, wieder einmal, nur „nationalistische antideutsche Propaganda“.
Die Berliner Parole des Tages lautet: „Rette sich wer kann“. Solidarität als europäische Tugend ist dieses Mal nicht gefragt. In der Stunde der Not ist das deutsche Hemd viel näher als die üblicherweise so gern zur Schau getragene europäische Tracht. Ein gemeinsames Europa? Gerne, aber bitte nur à la carte.
RdP