Summen, Daten, Fakten. Polnischer Reparationsbericht, deutsche Einschätzung

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„Keine einzige Passage, die dazu berechtigen könnte, den Inhalt in Zweifel zu ziehen“.

Deutsche Medien und die deutsche Politik sind sich darin einig: Polen hat, weder juristisch noch moralisch, ein Recht, für die Verwüstung des Landes im Zweiten Weltkrieg Reparationen von Deutschland zu fordern. Am 1. September 2022 wurde in Warschau der lang angekündigte dreibändige Bericht über die polnischen Kriegsverluste vorgestellt. Er soll die Grundlage der polnischen Forderungen sein.

Karl Heinz Roth.

Als einer der wenigen in Deutschland vertritt Dr. Karl Heinz Roth (geb. 1942), ein deutscher Arzt und anerkannter Historiker, der sich mit den Reparationsfragen seit langem beschäftigt, eine andere Meinung. Er ist Mitautor der Buches „Verdrängt – Vertagt – Zurückgewiesen. Die deutsche Reparationsschuld am Beispiel Polens und Griechenlands“ und hat den polnischen Bericht genau gelesen.

Offizielle Vorstellung des Berichtes über die polnischen Kriegsverluste am 1. September 2022 im Warschauer Königsschloss. V. l. n. r.: Jarosław Kaczyński, Parlamentspräsidentin Elżbieta Witek, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und Arkadiusz Mularczyk, Vors. der Parlamentarischen Arbeitsgruppe zur Schätzung der Polen von Deutschland zustehenden Reparationen.

Wir sprechen wenige Tage nach der Veröffentlichung des Berichts über die polnischen Kriegsverluste. Sie haben die englischsprachige Fassung bereits gelesen. Was sind Ihre ersten Eindrücke als Historiker, aber auch als Mitautor eines Buches über deutsche Kriegsreparationen für Polen und Griechenland?

Ich habe ungeduldig auf diesen Bericht gewartet und habe nun den ersten Band in zwei Tagen gelesen und analysiert. Ich muss zugeben, dass ich eine so gute Studie nicht erwartet hatte. Ich bin beeindruckt von dem Bericht und seinem abgeklärten, methodischen Ansatz. Die Autoren entschieden sich für die Anwendung des allumfassenden Konzepts der Wiedergutmachung, was keineswegs typisch ist, d.h. sie berücksichtigten: menschliche Verluste, die schwere Traumatisierung der Bevölkerung, die Folgen körperlicher Gesundheitsschäden, dann die materiellen Verluste, solche im kulturellen Bereich, den finanziellen Raub, die Zwangsarbeit. All diese Bestandteile wurden unter einem Dach zusammengefasst, um eine Ausgangsposition für die Schätzung der Verluste zu schaffen. Das ist eine beeindruckende Methode; auch ich hätte sie gewählt. Und das ist der erste Punkt.

Warschau 1945.

Das zweite betrifft die Struktur des Berichts selbst, sie ist sehr gut und systematisch. Zunächst wird ein Bild der im besetzten Polen begangenen Verbrechen gezeichnet. Danach folgt eine sehr gute Analyse von Professor Konrad Wnęk über die Bevölkerungsverluste. Sie beinhaltet hochqualifizierte Berechnungen, vor allem Basisdaten und deren Umrechnung in aktuelle Werte. Dann haben wir eine Berechnung der materiellen Verluste, der kulturellen Verluste, des finanziellen Raubes. Es folgt ein methodisch hochqualifiziertes Kapitel, das die Teilergebnisse zusammenfasst und die Summe aller Verluste am damaligen Bruttoinlandsprodukt Polens in die heutige Zeit überträgt und entsprechend berechnet.

Von der deutschen Besatzungsverwaltung angeordnete Zerstörung katholischer Kirchen. Hier  in Bydgoszcz (1940) und in Siedlce (1941).

Die Autoren haben die gesamte verfügbare Literatur zu diesem Thema ausgeschöpft, angefangen bei den Werken polnischer Autoren, z. B. Prof. Czesław Łuczaks, Prof. Czesław Madajczyks und vieler anderer, bis hin zu internationalen Quellen wie des U.S. Bureau of Labor Statistics der Weltbank. Der Bericht schließt mit einer Schätzung der Kriegsverluste in Euro ab, und der Betrag ist sehr überzeugend: 1,3 Billionen Euro. Es ist eine Summe, die auf den ersten Blick horrend erscheinen mag. Ich habe etwas weniger berechnet, aber es ist eine völlig legitime Summe. Alles in allem: die Autoren haben sehr gute Arbeit geleistet.

Erschossene polnische Kriegsgefangene am 9. September 1939 bei Ciepielów südlich von Warschau.

Hinzu kommt, dass der Anhang des Berichts eine Kurzstudie von Dr. Robert Jastrzębski enthält. Sie legt die Hauptthesen von Rechtsgutachten über die Möglichkeit Polens dar, von Deutschland Reparationen für die im Zweiten Weltkrieg verursachten Schäden in Verbindung mit internationalen Abkommen zu fordern. Sie beschäftigt sich auch mit dem angeblichen Verzicht der Volksrepublik Polen auf Reparationsforderungen gegenüber Deutschland im Jahr 1953. Im Anhang findet man den Wortlaut der Erklärung der Regierung der Volksrepublik Polen an die UNO aus dem Jahr 1969.

Polnischen Zivilisten wird das Todesurteil vorgelesen am 21. Oktober 1939 in Szubin unweit von Bydgoszcz

Ich fand es sehr positiv, dass Dr. Jastrzębski, der bereits 2017 in seiner Studie für den Sejm zu diesem Thema Stellung genommen hat, auch in diesem Bericht die Kernpunkte anspricht, die die Falschheit der These belegen, dass Polen 1953 auf Reparationen von Deutschland verzichtet hat. Das stand schon immer im Mittelpunkt meiner eigenen Forschung, und die Widerlegung der These vom polnischen Verzicht halte ich für grundlegend in dieser Angelegenheit.

Haben Sie, als Sie den ersten Band des Berichts lasen, seinen Inhalt mit Ihren eigenen Erkenntnissen zum Thema Kriegsentschädigungen verglichen?

Ja, das war unausweichlich. Allerdings war meine Arbeit weniger detailliert. Ich habe mich von einem globalen Ansatz leiten lassen. Polen trat in dieser Untersuchung als Fallstudie im Zusammenhang mit griechischen Reparationsforderungen auf. Der am 1. September 2022 in Warschau vorgestellte Bericht über die Kriegsverluste ist ein Meilenstein in der historischen Forschung zur Frage der Reparationen. Deshalb sollte man ihn nicht auf die aktuelle Situation beziehen. Umso mehr stören mich die negativen Kommentare deutscher Historiker und Politiker, die dieses Werk von vornherein ablehnen. Ich finde es geradezu beschämend. Ihre Meinung beruht nicht auf der Lektüre des ersten Bandes; sie urteilten, ohne den Inhalt zu kennen.

Gruppenfoto vor der Hinrichtung. In Palmiry bei Warschau wurden zwischen Dezember 1939 und Juli 1941 etwa 2.000 polnische  Politiker, Künstler, Sportler, Geistliche, Wissenschaftler aus Warschau, im Rahmen der Auslöschung (Aktion AB) der polnischen intellektuellen Elite ermordet.

Wir haben diese Kommentare verfolgt. Die meisten waren sehr oberflächlich.

Auch mich haben diese Stellungnahmen erbittert. Aber lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Das Deutschlandradio Berlin hat eine Umfrage zum Thema Reparationen durchgeführt. Wenn früher das Thema Wiedergutmachung in den Medien auftauchte, wurde ich in der Regel um einen Kommentar gebeten. Dieses Mal rief niemand an. Ich wurde von der Debatte über diesen Bericht ausgeschlossen.

Vertreibung der polnischen Bevölkerung aus Żywiec im Herbst 1940 (Aktion Saybusch), um deutschen Siedlern Platz zu machen.

Das alles bringt mich in Verlegenheit und ich schäme mich sogar dafür, dass ich einen deutschen Pass besitze. Es gibt nämlich in Deutschland eine unglaubliche Selbstgefälligkeit, Anmaßung und Dummheit, wenn es um Reparationen geht. Historiker, die sofort negativ auf den polnischen Bericht reagierten, hatten es offensichtlich eilig damit, denn sie konnten sich kaum innerhalb von zwei oder drei Stunden mit dem Inhalt vertraut gemacht haben. Zumal es in den ersten Stunden Probleme mit dem Herunterladen der englischen Version gab. Ich musste mich ziemlich beeilen, um in zwei Tagen den Bericht aufmerksam zu Ende zu lesen. Es ist unverantwortlich und absurd, wenn Wissenschaftler ein Dokument ablehnen, bevor sie es überhaupt gelesen haben.

Ich für meinen Teil kann mit voller Überzeugung sagen, dass es in dem polnischen Bericht, einschließlich der Einleitung von Herrn Arkadiusz Mularczyk (Vorsitzender der Parlamentarischen Arbeitsgruppe zur Schätzung der Polen von Deutschland zustehenden Reparationen – Anm. RdP), keine einzige Passage gibt, die dazu berechtigen könnte, dessen Inhalt in Zweifel zu ziehen.

Raub von Kunstgegenständen aus Warschauer Museen.

Ich bin ein Linker, das ist kein Geheimnis, und ich schäme mich, dass sich keine linke polnische Regierung die Mühe gemacht hat, einen solchen Bericht zu erstellen, sondern eine nationalkonservative Regierung. Über alle politischen Grenzen hinweg wurde, objektiv betrachtet, eine große und notwendige Arbeit geleistet. Im Laufe meiner akademischen Laufbahn habe ich mich mehrere Jahre lang mit dem Thema Wiedergutmachung befasst, sodass ich wirklich in der Lage bin, die Qualität des polnischen Berichtes zu beurteilen.

Woher kommt Ihr Interesse an Kriegsreparationen?

Das Thema hat zu einem bestimmten Zeitpunkt in meinem Leben eine gewisse existenzielle Dimension angenommen. Jahrelang hatte ich beobachtet, wie die Ansprüche verschiedener Staaten auf Wiedergutmachung von Deutschland abgelehnt wurden. Das hat mich berührt, aber auch dazu veranlasst, selbst Nachforschungen anzustellen.

Was sollte Warschau Ihrer Meinung nach jetzt tun?

Am 11. Februar 1944 hingerichtete polnische Geiseln am Balkon eines bei der Belagerung Warschaus 1939 ausgebrannten Hauses in der Lesznostraße.

Zunächst sollte der Bericht Gegenstand einer parlamentarischen Debatte im Sejm werden und ein Mandat der Abgeordneten erhalten. Dann kann die polnische Regierung eine diplomatische Note mit der offiziellen Aufforderung zur Aufnahme von Gesprächen über Reparationen vorlegen. Ich würde zu einer Argumentation raten, die aus zwei grundlegenden Punkten besteht: dass Polen nie auf seine Reparationsansprüche gegenüber Deutschland verzichtet hat, und dass der volle Umfang der entstandenen Schäden und deren Bewertung, d. h. der gerade veröffentlichte Bericht, der Note beigefügt werden. Die Ablehnung dieser Forderung durch die Bundesregierung ist natürlich zu erwarten.

In den letzten Jahren habe ich das Thema Reparationen mehrfach in Gesprächen mit deutschen Politikern angesprochen. Daher weiß ich, dass es eine Gruppe bei den Grünen gibt, die sich für das Thema interessiert und die sogar mit den Reparationsforderungen Griechenlands sympathisiert. Doch die Reaktion auf die Bemerkung, dass in erster Linie Polen in die Reparationsdebatte einbezogen werden sollte, war von Unverständnis geprägt. Solche Gespräche wurden sehr schnell abgebrochen.

Nach der Bundestagsdebatte über Reparationen an Griechenland am 25. März 2021 haben wir uns an Politiker der Grünen gewandt, die höflich, aber bestimmt ausschlossen, über Reparationen an Polen zu sprechen. Man konnte spüren, dass selbst die Politiker, die mit den Forderungen Griechenlands sympathisierten, eine völlig andere Haltung gegenüber Polen einnahmen. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

Es ist schlicht und einfach absurd. Zugleich ist das ein Hinweis für die polnische Regierung, dass ihre Forderungen höchstwahrscheinlich auf Ablehnung stoßen werden. Wichtig in der ganzen Angelegenheit ist die klare Position Warschaus, ohne Zweifel und Missverständnisse. Sobald die polnischen Forderungen von Deutschland abgelehnt werden, sollte Warschau den internationalen Weg einschlagen. Und das bedeutet nicht, dass man gleich Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verklagt.

Zerstörung des Adam-Mickiewicz-Denkmals auf dem Krakauer Hauptmarkt (Adolf-Hitler-Platz) am 17. August 1940.

Zunächst einmal sollte die Angelegenheit vor die UNO gebracht werden, und dann gibt es auch noch die OECD, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament. Ich würde mich nicht scheuen, die Frage der Wiedergutmachung auf mehreren internationalen Ebenen vorzubringen. Zumal Polen Verbündete gewinnen konnte. Ich habe vor einigen Tagen mit einem griechischen Diplomaten gesprochen, dem ich eine englischsprachige Version des polnischen Berichts über die Kriegsverluste geschickt habe, und ich stelle ein reges Interesse an den polnischen Berechnungen fest. 

Überreste des Chopin-Denkmals aus dem Warschauer Łazienki-Park vor dem Abtransport zur Einschmelzung in Deutschland. Es wurde am 31. Mai 1940 gesprengt.

Angenommen, Polen und Griechenland würden ihre Kräfte bündeln und gemeinsam ihre Rechte einfordern, sogar vor EU-Institutionen, um dem Thema auch die notwendige Öffentlichkeit zu verschaffen. In einem solchen Bündnis könnte man viel mehr erreichen als im Alleingang. Natürlich spielt Polen die wichtigere Rolle, weil es am meisten unter der deutschen Besatzung und der deutschen Zerstörungspolitik gelitten hat. Deshalb ist es gut, dass nach dem ersten offiziellen Bericht von 1947 („Bericht über Polens Kriegsverluste und- Schäden 1939-1945“. Die letzte Ausgabe mit einem Kommentar von Prof. Dr. Krzysztof Miszczak wurde 2017 veröffentlicht – Anm. RdP) endlich ein neuer Rapport, versehen mit der Summe der Forderungen, 2022 erschienen ist.

Es würde auch nicht schaden, die Aufmerksamkeit der Juristen in der ganzen Welt, die sich auf das Völkerrecht spezialisiert haben, auf dieses Thema zu lenken. Auch in den Vereinigten Staaten, wo ja eine zwar nicht sehr lautstarke, aber immerhin, eine Debatte über die Entschädigung der Familien von Opfern der Sklaverei geführt wird. Das mag alles heute abstrakt klingen, aber solche Diskussionen finden in mehreren Teilen der Welt statt, und ihre Teilnehmer interessieren sich dafür, was diesbezüglich in Polen geschieht.

Die Warschauer Altstadt 1945.

Einige Kommentatoren sowohl in Polen als auch in Deutschland haben gesagt, dass Polen sich in Sachen Reparationen an Moskau statt an Berlin wenden sollte. Verstehen Sie diese Argumentation?

Auch das ist absurd. Die Sowjets haben zahlreiche Verbrechen an den Polen begangen, daran besteht kein Zweifel, und auch die sowjetischen Verbrechen dürfen nicht vergessen werden, aber der Hauptakteur des Zweiten Weltkriegs war Nazideutschland, und deshalb ist Berlin der Hauptadressat in Bezug auf die Forderungen.

Es wird viel über die deutsche Erinnerungskultur gesprochen, aber über die im besetzten Polen begangenen Verbrechen weiß man in Deutschland sehr wenig. Kann der Bericht das ändern?

Ja, so ist es in der Tat. Beim Lesen des Berichts fiel mir auf, dass die Autoren auch Beispiele anführten, die auf den Aussagen der Zeitschrift „Medical Review“ beruhen. In den 1980er Jahren beschäftigte ich mich intensiv mit medizinischen Experimenten an Menschen während des Zweiten Weltkriegs und den Nachkriegstraumata. Damals arbeitete ich noch nicht als Historiker, sondern als Arzt mit polnischen Wissenschaftlern zusammen, darunter Professor Józef Bogusz aus Krakau. Jahrzehntelang hatten ich und andere Wissenschaftler versucht, den Deutschen von den polnischen Opfern deutscher Verbrechen zu erzählen, aber diese Geschichte war nicht auf fruchtbaren Boden gefallen.

Die Erinnerungskultur in Deutschland wird sozusagen administrativ gesteuert. Sie ist zudem so konstruiert, dass das Thema der Wiedergutmachung vermieden wird und die Opfer zu Bittstellern degradiert werden. Das ist inakzeptabel. Ich möchte aber zusätzlich auf drei Aspekte der Erinnerungskultur in Deutschland aufmerksam machen.

Es ist, erstens, die Nichtaufarbeitung der deutschen Kriegsverbrechen im besetzten Polen.

Zweitens, Polen ist aus der Erinnerungskultur weitgehend gelöscht, trotz Initiativen wie der Schaffung eines Dokumentationszentrums für Verbrechen an Polen in Berlin. Die Umstände, unter denen dieses Zentrum entsteht, der endlose, kleinliche innerdeutsche Streit um den Sinn der Einrichtung, den Ort, an dem sie entstehen soll, über die Inhalte. Das alles ist sehr bezeichnend und geradezu beschämend.

Drittens die Heuchelei der Erinnerungskultur als solcher, weil sie instrumentalisiert wird. Einerseits Erklärungen über die Scham und das Bewusstsein der Verantwortung für begangene Verbrechen, andererseits die strikte Weigerung, finanzielle Wiedergutmachung für die begangenen Taten zu leisten.

Sowjets zwingen deutsche Kriegsgefangene, die Krematorien des Vernichtungslagers Majdanek in Lublin zu besichtigen.

Ein deutscher Kommentator erklärte, man könne nicht verlangen, dass Generationen, die nach dem Krieg geboren wurden, für die Verbrechen anderer aufkommen, das sei moralisch inakzeptabel. Wie verhält sich das zu der viel beschworenen deutschen Kultur des Erinnerns?

Eine Erinnerungskultur setzt voraus, dass den folgenden Generationen die Ausmaße der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs bewusst gemacht werden. So etwas wie ein „kollektives Vergessen“ gibt es nicht. Das kann es nicht geben. Während wir uns mit der Frage der Wiedergutmachung beschäftigten, stellten meine Mitarbeiter und ich uns gleichzeitig die Frage nach der Aufrechterhaltung dieser Erinnerungskultur. Das eine hängt mit dem anderen zusammen.

Außerdem sollten wir von der Tatsache ausgehen, dass weder Reparationen noch Reparationsforderungen verjährt sind. In den letzten Wochen habe ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit an einem neuen Projekt viele Dokumente aus den Archiven des Auswärtigen Amtes und des Bundeskanzleramtes gelesen, in denen führende deutsche Politiker, darunter Willy Brandt, in Gesprächen mit ihren polnischen Kollegen immer sagten: „Was erwarten Sie? Unsere junge Generation interessiert sich nicht mehr für den Krieg, man muss die Vergangenheit von der Gegenwart mit einem dicken Strich trennen und in die Zukunft schauen“. Schon damals, in den 1970er Jahren, war das schlicht eine Lüge. Schließlich hat meine Generation Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, begonnen die Geschichte Deutschlands, in der wir die Kinder der Täter waren, für sich zu entdecken. So haben wir uns selbst gesehen. Um Ihre Frage zu beantworten: Das Argument der Generationen ist heute mehr als unangebracht.

Appell im Kinder-KZ (Polen-Jugendverwahrlager der Sicherheitspolizei Litzmannstadt) in Łódź.

Und was halten Sie von dem „Antiversöhnungsargument“? Es sind Stimmen laut geworden, dass die polnischen Forderungen die mühsam errungene polnisch-deutsche Aussöhnung dauerhaft stören werden. Andererseits wurde argumentiert, dass die schwierige Diskussion über Reparationen am Ende vielleicht eine Heilung der polnisch-deutschen Beziehungen nach sich ziehen, eine echte Versöhnung einleiten wird und nicht eine kitschige und überzuckerte, wie sie seit Jahren oft praktiziert wird. Wie reagieren Sie auf diese beiden, doch sehr extremen Meinungen?

Ohne deutsche Verhandlungsbereitschaft wird die deutsch-polnische Versöhnung eine Fassade bleiben. Es war eine Fiktion, aber jetzt hat sie die Chance, etwas Dauerhaftes und Reales zu werden. Versöhnung ist möglich, wenn die Nation, die Unrecht getan hat, diejenigen, die sie gedemütigt hat, nicht als Bittsteller betrachtet. Nur gleichberechtigte Partner können sich wirklich versöhnen. Und ich freue mich, zu diesem Prozess beizutragen, indem ich eine englischsprachige Version des Berichts auf der Website der Stiftung, in der ich tätig bin, veröffentliche, und zu gegebener Zeit – sobald eine deutsche Übersetzung vorliegt – auch diese Version veröffentlichen werde. Bisher hat noch keine deutsche Institution dieses Dokument auf ihre Website gestellt. 

RdP

Das Interview erschien in der „Gazeta Polska Codziennie“ („Polnische Zeitung Täglich“) am 7.09.2022. 

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