Am 24. Dezember 2014 starb Krzysztof Krauze.
„Wenn im Filmgeschäft des Westens das Kulturgut aus dem Osten vergleichbare Startchancen hätte wie umgekehrt, hätte „Plac Zbawiciela“ („Erlöserplatz“) aus Polen alle Chancen, auch in Deutschland ein Kassenschlager zu werden“, schrieb im Januar 2007 die deutsche Tageszeitung „Die Welt“. Der Mann, dessen Film damals so gelobt wurde, ist leider von uns gegangen, die Einseitigkeit des Kulturaustausches zwischen West und Ost bedauerlicherweise nicht.
Im Namen der Schwachen
Sein Talent reifte langsam, erst im letzten Lebensjahrzehnt lief er zur künstlerischen Höchstform auf. Krauze starb auf dem Höhepunkt seiner schöpferischen Leistung: populär, gefeiert, mit Auszeichnungen überhäuft, und dennoch stets bescheiden, zurückhaltend, zaudernd. Er stellte sich nur dann hinter die Kamera, wenn er meinte etwas Wichtiges zu sagen zu haben, meistens im Namen der Schwachen, die keine Kraft hatten zu schreien.
Krauze vertrat die Ansicht, Filme mache man, um Menschen in Schutz zu nehmen, um Werte zu bewahren, um für existenzielle Anliegen und Belange Partei zu ergreifen. Aus scheinbar banalen Situationen gelang es ihm auf der Leinwand immer wieder eine zutiefst beklemmende Stimmung zu erschaffen, um so die Ausweglosigkeit von Lebenssituationen zu veranschaulichen. Menschen: naiv, gutwillig, bemüht, motiviert, erfolgsgläubig und konsumhungrig, die unter die Räder des hemdsärmeligen, nachkommunistischen Graswurzel-Kapitalismus geraten sind, waren seine Charaktere.
Krzysztof Krauze wurde 1953 in Warschau geboren. Der Sohn eines renommierten Rechtsanwalts und der bekannten Filmschauspielerin Krystyna Karkowska studierte Kameramann an der angesehenen Filmhochschule in Łódź, aber er wollte nicht Bilder in Szene setzen, sondern Filme machen. Unmittelbar nach dem Studium, nach 1976, versuchte er sich als Kurzfilme-Regisseur.
Dann das Aus aller Hoffnungen auf Freiheit, die im Spätsommer 1980 mit dem erfolgreichen Ende der großen Streiks aufkamen. Das Verbot der Solidarność, die Rückkehr der stumpfsinnigen, trist-grauen kommunistischen Wirklichkeit nach der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981… Das zu ertragen überstieg seine Kräfte bei weitem. Er ging nach Wien, dann nach Paris, und merkte bald, wie überflüssig, wie fehl am Platze er dort war.
„Die Schuld“
Die Rückkehr nach Polen Mitte der 80er Jahre, war der Beginn seines lang andauernden schöpferischen Reifens, das 1999 mit dem Film „Die Schuld“ („Dług“) ein Meisterwerk hervorgebracht hat. Der Film wurde im Winter gedreht. Kühle, glatte Fassaden neuerrichteter Banken sind die Kulisse der Geschichte. In dieser Kälte drohen die Träume zweier junger Männer zu platzen. Die Warschauer Stefan, ein Volkswirt, und Adam, Architekt, wollen eine Firma gründen, doch die Banken weisen sie ab. Sie geraten an Gerard Nowak, einen ehemaligen Schulkameraden, inzwischen ein Geldeintreiber mit Mafiaverbindungen, der sich auf Erpressung spezialisiert hat. Der Businessman mit kurzem Haarschnitt und starrem Blick verspricht schnelle Hilfe.
Schon kurz darauf, ohne eine Miene zu verziehen, fordert er von ihnen die Rückzahlung absurder Schulden, die sie nie eingegangen sind. Als erster wird der Architekt vor seinem Haus verprügelt. Die Schuld würde ab jetzt täglich um 1000 Dollar anwachsen, teilt Nowak ihm mit. Beim nächsten Mal kündigt der Schuldeneintreiber dem Opfer seine Hinrichtung an, dann wirft er es in den Kofferraum seines Autos. Eine halbe Stunde später steht der Wagen vor einer Polizeidienststelle in Warschau. Der Gangster plaudert mit einem Beamten. Sie duzen sich. „Wen hast du da im Auto?“, fragt der Beamte. „Einen, der mir Geld schuldet“, antwortet der Entführer. Der Polizist beugt sich über den Gefesselten. „Schulden muss man pünktlich zahlen“, sagt er.
Die Musik des bekannten Jazzkomponisten Michal Urbaniak und die klaustrophobische Kameraführung lassen den Zuschauer die Angst der Opfer bildhaft spüren. Die jungen Leute werden misshandelt und erniedrigt. Als der Architekt versucht die Polizei zu verständigen, schlägt eine Schmollmund-Lolita in Uniform dem verängstigten Mann vor, seinen Verfolger amtlich „zu ermahnen“.
Irgendwann überwältigen Stefan und Adam in ihrer Verzweiflung den Psychopaten und seinen Leibwächter, schlachten die beiden nachts am Weichselufer ab. Die Köpfe trennen sie von den Leichen und werfen sie ins Wasser. Der Mord soll wie eine Hinrichtung der Russen-Mafia aussehen. Dem Film lag ein echter Kriminalfall zugrunde. Die wahren Täter-Opfer, obwohl sie sich gestellt haben, wurden von einer Richterin, die sich im Kriegsrecht mit drakonischen Strafen einen Namen gemacht hatte, zu lebenslänglich verurteilt. Der Sadist war ein V-Mann der Polizei. Es war das unvorstellbare Versagen der Polizei und der Justiz, sowie das unter vielen Polen verbreitete Gefühl, im Raubtier-Kapitalismus zu leben, die Krauzes Film zu einem ungewöhnlichen Kinoerfolg gemacht haben.
„Erlöserplatz“
Ein solcher Erfolg war auch „Plac Zbawiciela“ („Erlöserplatz“) von 2006. Der Film spielt am gleichnamigen Platz, mitten in Warschau. Ein rundes Stück Asphalt und Gras, über das die Straßenbahn rumpelt. Eine hoch aufragende Kirche gab dem Platz den Namen. Hier wohnt Teresa, die Mutter. Ihr Sohn Bartek ist mit Beata verheiratet, einem recht hübschen Mädel vom Lande, zwei Kinder sind auch schon da. Das junge Paar hat in einer entstehenden Siedlung bereits eine Wohnung gekauft, dafür einen horrenden Kredit aufgenommen. Doch die Baufirma geht Pleite. Die frühkapitalistische Variante der aus sozialistischer Zeit gut bekannten Wohnungsnot zwingt die junge Familie, bei Teresa einzuziehen. Auf engem Raum reibt man sich aneinander, ein böser Blick gibt ein böses Wort, ein Wort gibt das andere.
Mutter Teresa giftet Schwiegertochter Beata an, während Bartek fremdgeht. Am Ende zieht Bartek aus; seine Frau will ihn festhalten, doch er tritt und schlägt sich den Weg frei. Dann gibt Beata den Kindern Tabletten und schlitzt sich selbst die Pulsadern auf. Alle drei überleben. Im Gerichtssaal führt Bartek in letzter Minute eine Wende herbei: Er bekennt seine Schuld an Beatas Verzweiflung, worauf er verurteilt und seine körperlich gezeichnete Frau freigesprochen wird.
Es sind großartige schauspielerische Leistungen. Kameramann Wojciech Staron sitzt den Charakteren dicht im Nacken, um die Enge der Wohnung durch die Kameraführung noch zu unterstreichen. Schuldenlast und Angst um den Arbeitsplatz treiben eine Familie in Ratlosigkeit und Selbstzerstörung.
„Papusza“
Den „Erlöserplatz“ drehte Krauze zusammen mit seiner vierten Ehefrau Joanna Kos-Krauze. Sie waren zu Beginn des 21. Jahrhunderts das mit Abstand kreativste Duo der polnischen Filmszene. Einen beeindruckenden Beweis dafür lieferte Krauzes letzter Spielfilm „Papusza“ von 2013. Entstanden ist ein poetisches, in betörenden Schwarz-Weiβ-Bildern gehaltenes Drama, das tief unter die Haut geht. Es erzählt das Leben der Roma-Dichterin Bronisława Wajs, von ihrer Mutter liebevoll Papusza – Puppe genannt.
Den Trailer mit deutschen Untertiteln kann man hier sehen.
Schon bei ihrer Geburt, 1910, im damaligen Russisch-Polen sagten die Roma-Frauen voraus, dass sie ihrem Volk „großen Stolz oder große Scham“ bringen wird. Das wissbegierige Mädchen ließ sich heimlich von einer jüdischen Buchhändlerin Lesen und Schreiben beibringen, entdeckte so die Welt der Poesie. Ihre Gedichte erzählen vom Leben der Roma, ihrer Sehnsucht nach dem gemeinsamen Umherziehen, ihrer unermesslichen Naturverbundenheit.
Papuszas Clan wird vom Unglück verfolgt: Nirgends sind die Roma gern gesehen, werden mit Diebstahl und Betrug in Verbindung gebracht. Doch die Krauzes verklären nicht, entsagen der „Zigeunerromantik“, zeigen auch die Feindseligkeit und Ignoranz der Roma gegenüber anderen Kulturen und dem Fortschritt. Während der Besatzungszeit verfolgen und drangsalieren die Deutschen die Zigeuner gnadenlos, bringen sie zu Zehntausenden barbarisch um. Papusza überlebt.
Als kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, 1950, ihre Gedichte ins Polnische übersetzt und veröffentlicht werden, ist dies eine Sensation und schlagartig wird die Dichterin berühmt – doch der Ruhm hat auch Schattenseiten. Ihr Clan wirft ihr vor, sie habe Geheimnisse ihres Volkes preisgegeben und brandmarkt sie als Verräterin…
Begleitet von der melancholischen Musik der Roma entfaltet „Papusza“ eine enorme dramatische Kraft, lässt die archaische und brutale, zugleich wunderschöne und naturverbundene Welt der Roma lebendig werden. Krzysztof Krauze hat sich mit einem Meisterwerk ins Jenseits verabschiedet.
Krzysztof Krauze verlor einen schweren, neun Jahre andauernden Kampf gegen den Prostatakrebs. Mit seinem Tod büβte das polnische Kino einen Regisseur ein, der schon zu Lebzeiten in einem Atemzug mit dem groβen Moralisten der polnischen Leinwand, dem 1996 verstorbenen Krzysztof Kieślowski („Dekalog“, „Drei Farben: blau, weiβ, rot“) genannt wurde.
Krzysztof Krauze wurde, auf seinen ausdrücklichen Wunsch, ohne Beisein eines Priesters, in Kazimierz Dolny an der Weichsel bestattet. Staatspräsident Komorowski verlieh ihm posthum den Komturstern des Ordens der Wiedergeburt Polens (Polonia Restituta).
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