Am 26. Dezember 2014 starb Stanisław Barańczak.
Er hat sich einen groβen Namen in vierlei Hinsicht gemacht: als Dichter, als Dissident, als Literaturkritiker und als Übersetzter. Er war ohne Zweifel eine Koryphäe der modernen polnischen Literatur.
Bürgerrechtler
1946 in Poznań/Posen, in einer gutbürgerlichen Arztfamilie geboren, war er ein Kind der Volksrepublik Polen, gegen die er seit seinen Jugendjahren stets rebellierte. Begabt und belesen studierte Barańczak Polonistik an der Poznaner Adam-Mickiewicz-Universität. Die geistige Enge des Kommunismus war ihm zutiefst zuwider. Die letzten Illusionen in Bezug auf das System raubten ihm die Ereignisse des Frühjahrs 1968, als in allen polnischen Universitätsstädten Studentenunruhen ausbrachen. Beim Auseinandertreiben der Studentendemonstration in Poznań kassierte er einige schmerzhafte Schlagstockhiebe. Kurz darauf, als er als Mitglied einer Studentendelegation die Forderungen der Protestierenden nach mehr Freiheit in Forschung und Lehre im Uni-Rektorat vorbringen wollte, wurde er Zeuge äußerster Arroganz und Verachtung der Apparatschiks.
Barańczak setzte viel aufs Spiel, denn mit seinen unkonventionellen Gedichten hatte er bereits auf sich aufmerksam gemacht, bekam erste Auszeichnungen. Es war gewiss: ihm stand eine groβe literarische Karriere bevor. Schon als Student war er Chefdramaturg des Poznaner experimentellen „Theaters des Achten Tages“. Noch wurde er geduldet. Sein erstes Gedichtband „Przyczyny zgonu“ („Todesursachen“) durfte 1968 erscheinen. 1971 erhielt er den Doktortitel und bekam eine Stelle an der Poznaner Universität, obwohl er bereits 1969, nach wenigen Jahren der Mitgliedschaft, aus der herrschenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgetreten war.
Im Jahr 1977 trat Barańczak dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) bei. KOR war eine Gruppe der polnischen Bürgerrechtsbewegung. Mitglieder waren namhafte Intellektuelle. Sie entstand als Reaktion auf zahllose Drangsalierungen, Schikanen und brutale Übergriffe (Verhaftungen, bestialische Misshandlungen auf Polizeistationen, Entlassungen, Verhängung hoher Haftstrafen in fingierten Strafprozessen usw.) auf Teilnehmer an Arbeiterprotesten gegen die Lebensmittelpreiserhöhungen im Juni 1976 in der Stadt Radom. Das Hauptziel war die finanzielle Unterstützung und die Bereitstellung eines Rechtsbeistands für verfolgte Arbeiter. KOR war eine der Keimzellen der späteren Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“.
Barańczak wurde daraufhin entlassen und im Februar 1977, aufgrund eines von der Staatssicherheit konstruierten Vorwurfs der Korruption, zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Er bekam Schreib- und Veröffentlichungsverbot. Nicht der geringste Hinweis auf ihn, keine Gedichte oder andere Texte von ihm durften erscheinen.
Der Dichter lehrte ab diesem Zeitpunkt an der sog. Fliegenden Universität, deren Vorlesungen in Privatwohnungen stattfanden, nahm im Mai 1977 am Hungerstreik in der Warschauer Hl. Martin-Kirche zugunsten politischer Häftlinge teil, unterschrieb Protestaufrufe an die Behörden, war Redaktionsmitglied der illegal gedruckten Literaturzeitschrift „Zapis“ („Niederschrift“). In Poznań, wo die demokratische Opposition sehr schwach war, war Barańczak lange Zeit ihr wichtigster Brückenkopf.
Nach Gründung der „Solidarność“ im September 1980 engagierte er sich für die Arbeit der Bewegung und bekam seine Stelle an der Universität wieder. Im Januar 1981 erreichte ihn ein Angebot, so verlockend, dass er es nicht ausschlagen konnte. Er sollte die Leitung des (in Amerika einzigen) Instituts der Polnischen Literatur an der Harvard-Universität übernehmen. Aus den geplanten drei Jahren Aufenthalt wurde „lebenslänglich“, vor allem da am 13. Dezember 1981 in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde.
Barańczak und sein Schaffen wurden nun zu einem Teil der polnischen Exilkultur. Sie ist seit dem Ende des 18. Jh., aufgrund der stets wiederkehrenden Massenauswanderungen auf der Suche nach Freiheit und Brot, der „zweiter Lungenflügel“ der polnischen Nationalkultur geworden. Barańczaks Gedichte und Essays erschienen in Exilverlagen und gelangten bis 1989 auf illegalen Wegen nach Polen.
Nicht zu unterschätzen sind seine Verdienste darum, der polnischen Literatur den Weg in die Verlage, die Bibliotheken Amerikas und die Köpfe der Amerikaner gebahnt zu haben.
Dichter, Literaturkritiker, Essayist
Ein Teil seines Widerstandes bestand aus seinen scharfsinnigen Analysen der sozialistischen Massenkultur. In Essays und wissenschaftlichen Texten nahm er Krimis, Abenteuerromane und andere im Parteiauftrag entstandene Arten der Populärliteratur, ihre Feind- und Leitbilder unter die Lupe. Barańczak beschrieb die Funktionsweise der Manipulation, Menschen, die kritiklos Propagandainhalte übernahmen, gab seiner Angst Ausdruck vor der stumpfsinnigen, manipulierten Masse.
Sein moralischer Standpunkt hinsichtlich der Dichtung war klar umschrieben: „Misstrauen. Kritizismus. Bloβtellung. Das alles sollte sie sein, so lange bis die letzte Lüge, der letzte Rest der Demagogie, die letzte Gewalttat von dieser Welt verschwinden“. Sein moralisch-dichterisches Manifest legte Barańczak 1971 in einem Essay mit dem bezeichnenden Titel „Nieufni i zadufani“ („Misstrauisch und eingebildet“) dar.
Ein Merkmal seiner Gedichte war die Gestaltung des sprachlichen Ausdrucks: Satzfetzen, scheinbar chaotisch aneinandergereiht, dieselben Worte, die in immer neuen Verbindungen wiederkehren. Es ging ihm darum, feste Wortverbindungen, eingeprägte Redewendungen und mit ihnen Denkschemata zu zerschlagen.
Bezeichnend in dieser Hinsicht ist das Gedicht „Blicken wir der Wahrheit ins Auge“ von 1970, in dem er, von der Redewendung ausgehend, die Überzeugung äuβert, dass die Wahrheit zu sagen, eine moralische Pflicht des Dichters sei, gegenüber den anonymen Beobachtern, der Öffentlichkeit:
„…zeigen wir uns auf der Höhe/ des Auges, wie die Kreideschrift an der Mauer, wagen wir es/ der Wahrheit ins Auge zu sehen, das nicht abläβt von uns/ das überall ist, festgetreten im Pflaster unter den Füβen/ festgeklebt im Plakat, versunken in Wolken…“
(übersetzt von Karl Dedecius).
Die Dichtung war für Barańczak vor allem ein Instrument der Verteidigung gegen die alles überflutende Propagandasprache, eine Sprache der Lüge, die es zu entlarven, zu hinterfragen, bloβzustellen galt, um Menschen zum Nachdenken zu bringen, zu zwingen sich selbst Fragen zu stellen. Eine schwere Aufgabe, wie er es in seinem Gedicht „N.N. fängt an sich Fragen zu stellen“ formulierte, in einer Zeit, in der man:
„…beim Wort „Sicherheit“/ Gänsehaut bekommt, in der das Wort „Wahrheit“1)/ ein Zeitungstitel ist, in der Wörter „Freiheit“/ und „Demokratie“ in den Dienstbereich/ eines Polizeigenerals2) fallen…“
(übersetzt von Peter Lachmann).
Die politische Komponente in seiner Dichtung verlor mit der Zeit an Bedeutung, anderes: Liebe, menschliches Verhalten in Zeiten des Überflusses, das Verhältnis zur Natur rückten in den Vordergrund.
Übersetzter
Stanisław Barańczak wird auch als ein begnadeter Übersetzter englischsprachiger Literatur in die Geschichte der polnischen Kultur eingehen. In den 90er Jahren hat er zwanzig Shakespeare-Dramen neu ins Polnische übertragen. Diesen Übersetzungen wird allerhöchste Qualität bescheinigt.
Nicht anders beurteilt werden seine Übersetzungen der Gedichte von Emily Dickinson, Elizabeth Bishop, Edgar Allan Poe, Seamus Heaney, Joseph Brodsky, Thomas Campion, John Donne, Robert Herrick, George Herbert, Henry Vaughan, John Keats, Thomas Hardy, aber auch der Liedertexte der Beatles. Barańczak wurde in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens zu einem unermüdlichen Mittler vor allem zwischen der amerikanischen Dichtung und der polnischen Sprache.
1999 hat man bei ihm die Parkinson-Krankheit festgestellt. Seit dem zog sich Barańczak immer mehr in die Privatsphäre zurück. Er starb in den USA im Alter von 68 Jahren und wurde auf dem Mount-Auburn-Friedhof in Cambridge bei Boston begraben.
Anmerkungen:
1) Gemeint ist „Prawda“, das poln. und russ. Wort für Freiheit. „Prawda“ hieβ das Zentralorgan der sowjetischen KP.
2) Gemeint ist Mieczysław Moczar (1913-1986), kommunistischer Partisan, General der Staatssicherheit und hoher Parteifunktionär, bekannt für sein autoritäres Auftreten. „Freiheit“ und „Demokratie“ waren Bestandteile der offiziellen Bezeichnung des einzigen zugelassenen Veteranenverbandes: „Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie“, dem Moczar vorstand und der ein wichtiger Bestandteil seiner Machtgrundlage war.
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