Gut aufgestellt, aber mit 32.000 Mann zu klein.
Der Verteidigungskrieg in der Ukraine hat bewiesen, wie falsch es war, mathematischen Modellen zu vertrauen, die die Potenziale der Gegner berechnen und so den Verlauf eines Konflikts in Computersimulationen vorhersagen, sagt General Wiesław Kukuła, Kommandeur der Territorialen Verteidigungskräfte.
Oberst Wiesław Kukuła (Jahrgang 1972) wurde am 23. September 2016 zum Kommandeur der Territorialen Verteidigungskräfte berufen und nachfolgend im November 2016 zum Brigadegeneral, im August 2018 zum Divisionsgeneral und im November 2021 zum Waffengeneral befördert. Damit bekleidet Kukuła den zweithöchsten (nach dem Armeegeneral) Dienstgrad, zu dem ein Offizier der polnischen Armee in Friedenszeiten befördert werden kann. Der Rang ist mit dem Generalleutnant in anderen Nato-Staaten vergleichbar.
Kukuła ist Diplomingenieur für Fernmeldewesen (Studium an der Warschauer Militärtechnischen Akademie WAT) und stieg zwischen 1996 und 2016 vom Zugführer zum Kommandeur des Fallschirmjägerregiments 4101 auf. Während dieser Zeit leistete er Dienst beim polnischen Truppenkontingent im Irak (2003 – 2004), des Weiteren absolvierte er Nato- und US-Schulungen für Kommandeure von Spezialeinheiten.
Frage: Wie lauten Ihre wichtigsten Schlussfolgerungen mit Blick auf den Krieg in der Ukraine?
General Wiesław Kukuła: Die erste, für mich sehr naheliegende, lautet: Wir konnten die Art und Weise, wie die Russische Föderation den Krieg führen wird, weitgehend vorhersagen. Die Annahmen, die dem Aufbau der Territorialen Verteidigungskräfte (TV) zugrunde lagen, haben sich somit als richtig erwiesen. Wir sehen in der Ukraine, dass ein solcher militärischer Verband, wie die TV, zusammen mit den operativen Truppen, den Feind wirksam abschrecken und zerstören kann, und zwar dadurch, dass er die Geländebedingungen genau kennt sowie spezifische Waffen, wie Panzerabwehrlenkraketen, schultergestützte Boden-Luft-Raketen oder Artillerie, nutzt.
Werden die Territorialen Verteidigungskräfte ihre eigene Artillerie haben?
Wir arbeiten in den Territorialen Verteidigungsbrigaden an der Platzierung von Untereinheiten geschult für hochmobile Haubitzen Kaliber 105 Millimeter mit einer Schussweite von bis zu 20 Kilometern. Ebenso wichtig ist es jedoch, mit der Ausbildung von vorgeschobenen Beobachtern in den leichten Infanteriekompanien zu beginnen. Diese Soldaten werden in der Lage sein, nicht nur das Feuer der eigenen Einheiten, sondern auch die Artillerie der Einsatzkräfte zu lenken.
Unsere Möglichkeiten in diesem Bereich werden durch Aufklärungsdrohnen erweitert, die wir heute schon recht intensiv nutzen, und durch Kurzstrecken-Kampfdrohnen, die ebenfalls zu unserer Ausrüstung gehören. Nach der Bildung von Panzerjägergruppen ist das ein weiteres Vorhaben in unserem Verband.
Wie lauten die weiteren Schlussfolgerungen aus dem Ukraine-Krieg?
Die zweite, eher strategische Schlussfolgerung ist die Bestätigung, dass sich die sogenannte allgemeine Verteidigung als Modell der Verteidigung des Staates bewährt hat, und die Territorialen Verteidigungskräfte als deren Bestandteil spielen eine wichtige Rolle. Die TV aktivieren durch ihre Bürgernähe den Widerstandswillen lokaler Gruppen und prägen die positive Einstellung der Bürger zur Verteidigung.
Drittens. Der Ukraine-Krieg hat uns drastisch vor Augen geführt, dass die Territorialen Verteidigungskräfte lernen müssen, die Selbstverteidigung lokaler Gruppen in vorübergehend verloren gegangenen Gebieten zu unterstützen. Egal welches Verteidigungsmodell wir wählen, es besteht immer die Gefahr, dass der Gegner vorübergehend auf unser Territorium vordringt. Es wäre naiv, an die Einhaltung des Kriegsvölkerrechts durch einen solchen Aggressor in den besetzten Gebieten zu glauben. Deshalb ist es so wichtig, Strukturen des Widerstands vorzubereiten.
Die in den ersten Kriegstagen aufgekommenen Behauptungen, dass die leichte Infanterie die gesamte Verteidigungsarbeit geleistet hat, haben sich als unwahr erwiesen?
Seit dem ersten Tag des Verteidigungskrieges wird die Ukraine von den operativen Streitkräften die dem Verteidigungsministerium unterstehen und den Territorialen Verteidigungskräften, die in der Ukraine dem Innenministerium unterstellt sind, verteidigt. Die leichten Infanterieformationen der TV waren am Anfang, insbesondere in den Städten, sehr sichtbar. Sie und ihre Aktionen wurden mit Handys gefilmt und ins Netz gestellt, die Bilder gingen um die Welt.
Die TV haben die operativen Kräfte, also die reguläre Armee, die sich für einen „Guerillakrieg“ nicht besonders eignet, hervorragend ergänzt. In der Anfangsphase der Operationen, als russische Panzerverbände, ohne Infanteriebegleitung, weit ins ukrainische Gebiet vorstießen und sich in Ortschaften Angriffen aus dem Hinterhalt aussetzten, verkörperten ukrainische Infanteristen der Territorialen Verteidigungskräfte mit Javelin- oder Thunderbird-Flugabwehrraketen in den Augen der Öffentlichkeit den Widerstand.
Einer der größten Nachteile der leichten Infanterie ist jedoch ihre begrenzte Manövrierfähigkeit in größeren Verbänden. Ihre Mobilität ist gering, und sie ist auch nicht in der Lage, sich allein länger in einem zur Verteidigung vorbereiteten Gelände zu halten. Angesichts der Masse der russischen Panzer mussten sich die Verteidigungsoperationen auf massive Truppenbewegungen von Großkampfverbänden stützen. Mechanisierte oder gepanzerte Einheiten und auch die Artillerie begannen auf der ukrainischen Seite eine entscheidende Rolle zu spielen.
Ist die Artillerie immer noch die Königin des Krieges?
Die Kriegsführung ist ein Zusammenspiel von Systemen, von technisch und verfahrenstechnisch miteinander verbundenen Messwertgebern. Es sind viele Umstände, vor allem nichtmaterielle, die ihre Wirkung bestimmen: Kompetenz, Moral, Führungsstärke. In diesem Verständnis gibt es keinen Platz für „Königinnen“. Jeder Soldat hat eine Aufgabe zu erfüllen. Für einen wirksamen Artilleriebeschuss sind beispielsweise gute Aufklärungssysteme und Systeme zum Datenaustausch in Echtzeit unerlässlich. Doch all diese Technologien müssen vom Willen zum Kampf und dem Glauben an den Sieg getragen werden.
Der Verteidigungskrieg in der Ukraine hat bereits bewiesen, wie falsch es war, grenzenloses Vertrauen in mathematische Modelle zu setzen, die die Potenziale beider Seiten berechnen und einen Verlauf in Computersimulationen vorhersagen. Thesen über einen „Drei-Tage-Krieg“ sind genau anhand solch oberflächlicher Berechnungen entstanden.
Auch in Polen hat wahrscheinlich die Mehrheit der Militärs und der Experten so gedacht
Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich davon überzeugt werden sollte, dass ein Verband wie die Territorialen Verteidigungskräfte von den russischen „Speznas“-Elitekommandos vernichtet werden würde. Es gab noch vor Kurzem eine große Zahl von Leuten in Polen, die deren Unbesiegbarkeit priesen.
Als ich zusammen mit meinen Untergebenen beschrieb, wie die afghanischen Mudschahedin in den 1980er Jahren die sowjetischen Spezialeinheiten bekämpften, wurde das nicht zur Kenntnis genommen. Als ich sagte, dass Panzerabteilungen ein härterer Gegner für die leichte Infanterie sind als „Speznas“, wurde das als ein Scherz gewertet. Erfahrung und Gespür von Soldaten, die viele Jahre im Irak oder in Afghanistan gedient hatten und so viel Kampferfahrung angehäuft hatten, sie wurden ignoriert .
Heute empfinde ich deswegen keine Genugtuung. Was zählt ist die Vorbereitung auf einen bevorstehenden Krieg. Ihn durch Abschreckung zu verhindern und wenn das nicht hilft, bereit zu sein, siegreich zu kämpfen. Sicherlich wird unser Gegner Lehren aus dem gegenwärtigen Ukraine-Krieg ziehen. Wichtig ist, dass wir ihm immer einen Schritt voraus sind. Die Absichten der Russischen Föderation sind inzwischen wahrscheinlich für jeden offensichtlich.
Zu Beginn des Krieges zählte die ukrainische Territorialverteidigung einige tausend Soldaten, jetzt sind es über einhunderttausend.
Das unterscheidet uns, denn die Ukrainer begannen mit dem Aufbau ihrer Territorialen Verteidigungskräfte, so wie wir sie verstehen, erst sehr spät, kurz vor Kriegsbeginn. Der zweite Unterschied besteht darin, dass sehr viele Soldaten der ukrainischen TV Reservisten sind, die über Erfahrungen aus dem Grundwehrdienst und sogar aus den Kämpfen im Donbass verfügen. Das begünstigt natürlich eine schnelle Rekrutierung ungemein.
Diese Soldaten wissen bereits, dass nicht jede Kugel, die in ihre Richtung abgefeuert wird, trifft, und sie kennen auch die Wirkung ihres eigenen Feuers. Wir haben kaum so erfahrene Reservisten, und der Unterschied zwischen einem guten und einem sehr guten Soldaten macht eben die Erfahrung aus.
Die Ukrainer haben in wenigen Wochen über einhunderttausend Freiwillige aufgenommen. Wie hoch ist das Aufnahmepotenzial in Polen? Wenn fünfzigtausend Menschen über Nacht zu Ihnen kommen und sagen: Wir wollen dienen, werden Sie sie aufnehmen?
Das ist auch in Polen möglich. In unseren TV haben wir eine große Anzahl von Ausbildern, die wir noch ständig vergrößern. Aber es geht darum, vor dem Krieg zu trainieren, um zu verhindern, dass unvorbereitete Menschen in den Krieg ziehen oder Kriegsaufgaben von heute auf morgen übernehmen müssen. Deshalb wollen wir uns jetzt stärker der allgemeinen Kampfausbildung widmen. Das neue Landesverteidigungsgesetz macht das möglich.
Dank dieses Gesetzes können wir das Potenzial der Streitkräfte erweitern, die positive Einstellung zur Landesverteidigung besser gestalten und die Bürger für eine neue Form des Militärdienstes, die aktive Reserve gewinnen. Sie macht die Vermittlung grundlegender Kampftechniken und deren Beibehaltung mit minimalen Auswirkungen auf das Familien- und Berufsleben des Reservisten möglich.
In der Ukraine gibt es genügend sehr taugliche Reservisten, und schließlich konnte man auch die Ausrüstung für sie auftreiben, vor allem dank der Hilfe aus dem Westen. Haben wir in Polen genügend Ausrüstung?
Es gibt nie genug Ausrüstung. Jeder Krieg ist ein Beweis dafür. Die Fähigkeit, sie nicht nur aus eigenen Vorräten und nationaler Herstellung aufzufüllen, ist einer der am meisten unterschätzten Vorteile unserer Nato-Mitgliedschaft. Ich möchte das Beispiel der berühmten Javelin, einer tragbaren Fire-and-Forget-Panzerabwehrlenkwaffe, anführen.
Viele Fachleute waren überrascht, dass wir bei der ersten Beschaffung vor einigen Jahren viel Simulationsausrüstung und verhältnismäßig wenige Raketen gekauft haben. Schon die Tatsache, dass gerade diese Panzerabwehrlenkwaffe gewählt wurde, war für sie überraschend. Doch das ist die am häufigsten verwendete Panzerabwehrwaffe in der Nato. Im Kriegsfall ist sie am schnellsten lieferbar. Deswegen werden Ende 2022 mehr als tausend polnische Soldaten in der Lage sein, Panzer mit diesem Gerät zu zerstören. Wir werden ihre Zahl jedes Jahr vervielfachen. Ich möchte nochmals betonen, dass es am wichtigsten ist, Kampffähigkeiten vor dem Kriegsausbruch zu vermitteln.
Seit Beginn des Ukraine-Krieges rennen euch die Freiwilligen die Türen ein.
Ja, die Zahl der Interessenten ist siebenmal höher als früher, aber wir beobachten auch eine neue Erscheinung. Nicht jeder Interessierte will Soldat werden. Viele Freiwillige wollen lernen, wie man kämpft, ohne in Friedenszeiten dauerhaft an die Streitkräfte gebunden zu sein. Wir spüren auch einen zunehmenden Druck, die Wartezeit für die Einberufung zur Ausbildung so kurz wie möglich zu halten. Das ist heute eine ziemliche Herausforderung, denn die Ausbildungsstätten befinden sich noch im Aufbau.
Derzeit befinden sich zweitausend Soldaten der Territorialen Verteidigungskräfte an der Grenze zu Weißrussland, aber das ist nur ein kleiner Teil der polnischen Streitkräfte, die dort im Einsatz sind. Ist es nicht ein Versagen, dass die TV nicht in der Lage sind, dort die regulären Soldaten vollständig zu ersetzen?
Das ist eine falsche These. Die Territorialen Verteidigungskräfte sollen weder die regulären Truppen ersetzen, noch sind sie deren Reserve, wie einige Experten immer noch fälschlicherweise glauben. Die TV und die Einsatzkräfte sind nicht identisch, sondern ergänzen sich vielmehr.
Der Dienst in den TV ist territorialer Natur. Soldaten sollten dort dienen, wo sie leben und arbeiten. Es ist ein sehr spezifischer Dienst, weil er mit dem Familien- und Berufsleben verbunden ist. Viele unserer Soldaten sind Abiturienten und Studenten, und wenn wir sie jetzt an die polnisch-weißrussische Grenze schicken, dann haben sie Probleme mit der Vorbereitung auf Prüfungen.
Das ist ein banales Problem, aber ein wichtiges, denn im Mittelpunkt der Ausbildung steht der Soldat. Für uns ist das eine gute Lehre, um die Verwaltung der Personalressourcen zu verbessern. Interessanterweise gab es während der COVID-19-Pandemie weniger Behinderungen, weil damals viele Arbeitgeber die Tätigkeit ihrer Firmen einschränkten.
Die Leute hatten keine Arbeit, also wollten sie zum Militär gehen?
In gewisser Weise, ja. Ich erinnere mich, dass auch schon behauptet wurde, die Territorialen Verteidigungskräfte seien eine Arbeitslosenarmee, was sich als unwahr erwies. Etwa 90 Prozent unserer Soldaten studieren oder arbeiten, was ihre Verfügbarkeit für einen langfristigen Dienst in Friedenszeiten einschränkt.
Aus nachvollziehbaren Gründen akzeptieren einige Arbeitgeber eine so lange Abwesenheit ihrer Mitarbeiter nicht. Andererseits gibt es erste Arbeitgeber, die beschließen, Programme zur Unterstützung von Mitarbeitern, die Soldaten der Territorialen Verteidigungskräfte sind, zu starten. Dabei nutzen die Firmen ihre eigene Leistungskraft, um in der Arbeitnehmerschaft verteidigungsfreundliche Einstellungen und Kompetenzen zu fördern. Gute Beispiele sind die Polnische Post oder die Staatswälder.
In unserer Gesellschaft steckt ein sehr großes Potenzial, und wir sollten die Voraussetzungen für die Entwicklung der Verteidigungskompetenzen aller interessierten Bürger schaffen. Auf diese Weise bauen wir das Fundament für die allgemeine Verteidigung. Ein solches Modell der Selbstbehauptung gewährleistet nicht nur die Abschreckung, sondern auch eine siegreiche Verteidigung.
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RdP
Das Gespräch erschien am 24. April 2022 in der Tageszeitung „Dziennik Gazeta Prawna“ (Tagblatt Juristenblatt“).