Der Kanal durch die Frische Nehrung wurde Wirklichkeit.
Polen baggerte am Frischen Haff, dicht an der Grenze zu Russland, einen Zugang zu seinem bis dahin weitgehend abgeschnittenen Hafen in Elbląg und beseitigte mit der Eröffnung des Durchstichs am 17. September 2022 die seit 1945 andauernde russische Blockade.
Auf den ersten Blick – die Frische Nehrung und das Frische Haff
Die Frische Nehrung (polnisch Mierzeja Wiślana, fonetisch Mescheja Wislana – „Weichsel-Nehrung“, russisch Baltijskaja Kossa – „Baltische Nehrung“) ist eine schmale, sandige Landzunge von rund 70 Kilometern Länge und einigen hundert Metern Breite (maximal 1,8 Kilometer). Sie verläuft in nordöstlicher Richtung und trennt das Frische Haff von der offenen Ostsee (Danziger Bucht) ab.
Quer über die Frische Nehrung und das Frische Haff führt die Grenze zwischen Polen und Russland (Kaliningrader Gebiet). Alle Siedlungen auf der polnischen Seite waren einst Fischerdörfer. Heute sind es Erholungsorte.
Mit einer Fläche von 838 Quadratkilometern ist das Frische Haff etwa anderthalbmal so groß wie der Bodensee. Zu Polen gehören 328, zu Russland 510 Quadratkilometer des Haffs. Bei 90 Kilometern Länge ist das Haff 7 bis 15 Kilometer breit und nur 3 bis 6 Meter tief (tiefste Stelle auf polnischem Gebiet: 4,40 Meter).
Das Pillauer Seetief, die einzige Verbindung zwischen dem Frischen Haff und der offenen Ostsee, befindet sich auf der russischen Seite der Frischen Nehrung. Das Pillauer Seetief ist 2 Kilometer lang, zwischen 450 und 750 Meter breit und 12 Meter tief. Über den Kaliningrader/ Königsberger Seekanal mit einer Fahrrinnentiefe von ungefähr 9 Metern gelangen die Schiffe nach einer knapp 45 Kilometer langen Fahrt nach Kaliningrad. Die Entfernung nach Elbląg durch die Pillauer Rinne beträgt knapp 85 Kilometer.
Vor allem bei Stürmen über der Ostsee dringt durch das Pillauer Seetief Meerwasser ins Frische Haff ein. Salzwasser macht zwei Drittel der gesamten Wasserzufuhr ins Haff aus. Der Rest wird gespeist durch die ins Haff mündenden Flüsse. Zu den gröβten zählen Szkarpawa/Elbinger Weichsel, Nogat, Elbląg/Elbing, Pasłęka/Passarge in Polen und der Pregel in Russland.
Das Brackwasser im Haff weist bei Baltijsk/Pillau einen Salzgehalt von 5,5 Promille aus. Auf der polnischen Seite, bei Frombork/Frauenburg und Krynica Morska/Kahlberg, sind es nur noch 2,2 Promille. Im Haff leben sowohl Süß- als auch Salzwasserfische: u. a. Aale, Barsche, Brassen, Dorsche, Heringe, Lachse, Meerforellen, Rotaugen, Stichlinge und Zander.
Im Jahr 2017 waren im polnischen Teil 123 Fischerboote zugelassen, mit denen gut 1.850 Tonnen Fisch gefangen wurden. Entsprechende Angaben aus dem russischen Teil des Haffs sind lückenhaft und oft widersprüchlich. Zwar legt jedes Jahr die Gemischte Polnisch-Russische Fischwirtschaftskommission Fangquoten im Haff fest, Russland weigert sich jedoch, gegenseitige Kontrollen zuzulassen.
Im polnischen Teil des Haffs spielt die Fischerei mittlerweile eine dem Fremdenverkehr untergeordnete Rolle. Die Versorgung mit frischem Fisch gehört jedoch zweifelsohne zu den regionalen touristischen Hauptattraktionen. Die gesamte Ausbeute wird direkt am Haff verspeist.
Die Ausschreibung
Zum Bau eines Kanals reichten 2018 sieben Unternehmen Angebote ein. Dabei sprengten sie jedoch die 2016 kalkulierten Kosten von insgesamt 205 Millionen Euro, denn die Baupreise waren inzwischen deutlich gestiegen. Der Urząd (fonetisch Uschond) Morski w Gdyni (Seeamt in Gdingen) öffnete am 22. Mai 2019 die eingereichten Offerten, von denen er sechs in Betracht zog. Sie bezogen sich auf die erste Bauphase, für die 167 Millionen Euro angesetzt waren.
Am kostengünstigsten waren mit je 231 Millionen Euro die Angebote der belgischen Gesellschaft BESIX gemeinsam mit zwei polnischen Firmen aus der NDI-Gruppe und das Angebot des polnischen Bauunternehmens Budimex S.A. gemeinsam mit der spanischen Ferrovial Agroman SA. Die teuerste Offerte stammte mit 267 Millionen Euro von einem Konsortium bestehend aus der polnischen Firma Polbud-Pomorze Sp. z o.o. und zwei chinesischen Gesellschaften. Zu den übrigen Bietern zählten weitere chinesische Akteure und Energopol-Szczecin S.A. aus Szczecin/Stettin.
Den Zuschlag bekam das belgisch-polnische Konsortium. Die Bauarbeiten begannen im Herbst 2019 und wurden im Sommer 2022 planmäßig beendet.
Das Bauvorhaben in toto
Neben dem Kanal mit einer Schleuse beinhaltete die Projektplanung den Bau eines zur Ostseeseite hin durch weit ausholende Wellenbrecher gesicherten Hafens, sowie Ankerplätze für wartende Schiffe an beiden Enden des Kanals und eine künstliche Insel (→ Insel) im Frischen Haff.
Die zweite Bauphase sieht Arbeiten an den Ufern des Flusses Elbląg auf dem Gebiet der gleichnamigen Stadt sowie am sechs Kilometer weiter im Landesinneren liegenden Elbinger Hafen vor. Eine entsprechende Ausschreibung fand 2019 statt. Diese Arbeiten sollen bis Ende 2023 verwirklicht sein.
Bisher hat das Hafenbecken von Elbląg eine Tiefe von 2,5 Metern, was Schiffen mit einem Tiefgang von maximal 2 Metern das Anlegen erlaubt. Die fünf Kaianlagen, gut ausgerüstet und gepflegt, haben eine Gesamtlänge von 2,5 Kilometern.
Der dritte und letzte Projektabschnitt beinhaltet die Aushebung einer 10 Kilometer langen, 100 Meter breiten und 5 Meter tiefen Fahrrinne vom Kanal zum Hafen in Elbląg. Die Ausschreibung dafür hat im ersten Halbjahr 2021 stattgefunden. Diese Arbeiten sollen bis Mitte 2024 dauern. Erst dann ist das gesamte Vorhaben voll funktionsfähig.
Das Bauwerk nach Fertigstellung
Der Kanal hat eine Länge von 1,3 Kilometern, eine Breite von 40 Metern am Grund und 80 Metern an der Oberfläche, die Tiefe beträgt 5 Meter. Ihn können Schiffe von und nach Elbląg mit einem Tiefgang von bis zu 4 Metern, einer Länge von 100 Metern und einer Breite von 20 Metern durchqueren . Die Durchfahrt dauert maximal zwanzig Minuten.
Das verkürzt den Wasserweg von Gdańsk/Danzig und Gdynia/Gdingen nach Elbląg um über 90 Kilometer und die Transportzeit um zwölf Stunden . (→ Chancen für Elbląg)
Bernstein am Bau
Die deutliche Beschleunigung der Vorbereitungsmaβnahmen für den Kanalbau ab 2016 wurde immer wieder von Sensationsmeldungen begleitet. Angeblich sollten riesige Mengen an Bernstein beim Ausheben der Kanaltrasse zum Vorschein gekommen sein. Damit könne man einen erheblichen Teil des Vorhabens finanzieren, hieβ es damals.
Die im Sommer 2019 bekanntgegebenen Untersuchungsergebnisse jedoch waren mehr als ernüchternd. Ausgemacht wurden nur zwei Vorkommen mit jeweils 900 und 500 Kilogramm Bernstein. Ihr Wert insgesamt: umgerechnet etwa 350.000 Euro. Das waren etwa 0,17 Prozent der ursprünglich auf 205 Millionen Euro veranschlagten und zwischenzeitlich um bis zu 50 Prozent nach oben korrigierten Baukosten.
Blockade durch Russland. Die Fakten
Das Schicksal des Hafens in Elbląg war von 1945 bis zur Eröffnung des neuen Kanals auf Gedeih und Verderb von Russland abhängig.
Ob und wie viel Schiffsverkehr es auf dem Haff von Elbląg nach Kaliningrad gab, das entschieden russische Behörden willkürlich . Lang war die Liste polnischer Unternehmen, die sich auf eine regelmäβige Beförderung von Passagieren und Waren zwischen den beiden Häfen eingerichtet hatten und dann über Nacht aus Kaliningrad erfuhren, dass das nicht mehr geht.
Noch rigoroser schnitten die Russen Elbląg von der offenen See ab.
Schon am 16. August 1945 unterschrieben die Sowjets und die von ihnen in Warschau eingesetzte kommunistische Vasallenregierung ein Zusatzprotokoll zum Abkommen über den Verlauf der neuen sowjetisch-polnischen Grenze. Das Abkommen sanktionierte die Abtrennung von etwa 45 Prozent des polnischen Vorkriegsterritoriums zugunsten der UdSSR. Es waren weitgehend jene Gebiete, die Moskau infolge des Hitler-Stalin-Paktes beim Überfall auf Polen am 17. September 1939 erobert hatte und nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR am 22. Juni 1941 vorläufig räumen musste.
Das Zusatzprotokoll legte in Artikel 1 fest: „In Friedenszeiten bleibt das Pillauer Seetief offen für Handelsschiffe unter polnischer Flagge, von und nach Elbląg.“ Entgegen dieser sowjetischen Verpflichtung blieb das Pillauer Seetief zwischen 1945 und 1990 für polnische Handelsschiffe ausnahmslos gesperrt.
Über das Pillauer Seetief gelangte in diesen 45 Jahren kein einziges Schiff nach Elbląg. Nach Kaliningrad lieβen die Sowjets in diesem Zeitraum ausschließlich eigene Handelsschiffe, aber kein einziges ausländisches durfte dort einlaufen. Das gesamte Gebiet Kaliningrad war eine für Ausländer unzugängliche Militärzone. Auch Sowjets aus anderen Teilen der UdSSR durften nur in Ausnahmefällen in das Gebiet reisen. In Baltijsk/Pillau errichteten die Sowjets die U-Boot-Basis ihrer Baltischen Kriegsflotte.
Ab 1991 begannen russische Behörden polnische Schiffe durch das Pillauer Seetief durchzulassen. Da sie jedoch zuvor jahrzehntelang die Pillauer Seerinne in Richtung Elbląg hatten versanden lassen, war und bleibt das bis heute ein riskantes Unterfangen. Hinzu kommt, dass es auf der russischen Seite der Haffgrenze keinen Winterdienst gibt, der mit Eisbrechern die Fahrrinne nach Elbląg offen hält.
Polnische Reeder oder Kapitäne mussten zudem mindestens 15 Tage im Voraus einen Antrag auf Durchfahrt beim Hafenamt Kaliningrad stellen. Die Erlaubnis wurde erst einen Tag vor der Durchfahrt erteilt oder auch nicht: „aus Gründen der nationalen Sicherheit, des Umweltschutzes oder sonstiger.“
Die Einschränkung, dass nur Handelsschiffe unter polnischer Flagge das Pillauer Seetief von und nach Elbląg passieren dürften, traf Polen in doppelter Hinsicht schmerzhaft. Zum einen fuhren seit 1990 die meisten polnischen Handelsschiffe unter den Billigflaggen der Bahamas, Zyperns usw. Zum anderen waren ausländische Handelsschiffe, darunter die anderer EU-Staaten, von der Durchfahrt ausgeschlossen. Es sei denn, sie unterzogen sich noch komplizierteren Einreiseprozeduren als polnische Handelsschiffe.
Schiffe der polnischen Marine und des Grenzschutzes hatten bis zur Eröffnung des Durchstichs im September 2022 keinen Zugang zum polnischen Hafen in Elbląg.
Zudem schlossen die Russen erneut nach Gutdünken die Durchfahrt durch das Pillauer Seetief für polnische Handelsschiffe. In den Jahren 2003 und 2004 wurde der Durchgang von heute auf morgen für mehrere Monate gesperrt. Eine im Mai 2006 verkündete Schlieβung dauerte bis Juli 2009.
Am 1. September 2009 wurde im Beisein von Polens Ministerpräsident Donald Tusk und Wladimir Putin (damals gerade russischer Regierungschef) in Sopot/Zoppot, am Rande der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs, ein polnisch-russisches Abkommen über den Seeverkehr auf dem Frischen Haff unterzeichnet. Das Abkommen schrieb im Grunde die existierende Willkür fest, an der Handhabung der russischen Seite änderte sich nichts.
Aus heutiger, polnischer Sicht gibt es keinen Zweifel daran, dass die Russen das Abkommen von 2009 und die mit ihm verbundenen polnischen Hoffnungen nur dazu benutzt haben, den immer wieder in Betracht gezogenen Kanalbau zu verzögern oder ihn am besten zu stoppen. (→ Völkerrecht)
Chancen für Elbląg
Die Stadt Elbląg verspricht sich von der Verwirklichung des Projekts eine Vervierfachung oder sogar Verfünffachung des bisherigen Güterumschlags ihres Hafens. Dieser war, nach Angaben der Hafenverwaltung, zwischen 2014 von 358.300 Tonnen auf nur noch 99.100 Tonnen im Jahr 2017 drastisch gesunken. Zwei Drittel dieses Umschlags machte russische Steinkohle aus, die aus Kaliningrad kam.
Von den 660 Schiffen, die 2017 in den Hafen von Elbląg eingelaufen sind, gehörten 470 zur Weiβen Flotte (Sommerfahrten nach Krynica Morska/Kahlberg auf der polnischen Seite der Frischen Nehrung und zurück, mit insgesamt ca. 40.000 Passagieren). Nur 190 Schiffe transportierten Güter. Von ihnen gelangten nicht einmal zehn von der Ostsee über das russische Pillauer Seetief nach Elbląg.
Der Hafen von Elbląg führte bis September 2022 ein Schattendasein. Nicht einmal zwanzig Prozent seiner Kapazität wurden genutzt. Vor dem Zweiten Weltkrieg, zur deutschen Zeit, mit uneingeschränktem Zugang, betrug der Warenumschlag im Elbinger Hafen mehr als 500.000 Tonnen (1936). Dabei beschränkte sich damals sein Hinterland, das er sich zudem mit Königsberg teilte, lediglich auf das vom Reich abgetrennte Ostpreuβen.
Diese Zahl wurde nach dem Krieg nur einmal, 1997, überboten, als der Hafen von Elbląg einen Rekordumschlag von 641.000 Tonnen bekannt gab, dank des Imports russischer Steinkohle aus Kaliningrad über das Frische Haff. Es war ein einmaliger Ausreiβer. Um die oberschlesische Kohleförderung nicht zu gefährden, wurden diese Einfuhren schon im Jahr darauf mit Zöllen und Kontingenten belegt. Die Russen antworteten mit ähnlichen Maβnahmen für polnische Baustoffe. Der Warenumschlag stürzte im Folgejahr 1998 auf knapp 50.000 Tonnen ab.
Nach der Fertigstellung des Kanals soll der Elbinger Port, nun uneingeschränkt zugänglich, als ein Feederhafen fungieren, der Zulieferdienste für die beiden großen Meereshäfen von Gdansk und Gdynia leistet und diese entlastet. Das erfordert weitere Investitionen, was zum Beispiel auch deutschen Anbietern von Hafentechnik Zulieferchancen eröffnet.
Die Ausbaumaßnahmen werden der gesamten Region Auftrieb geben, zumal viele Firmen wie Speditionen, Verladebetriebe, die Bahn, Tankstellen oder direkt im Hafen von Elbląg angesiedelte Akteure davon profitieren werden.
Zu den im Hafen bereits vertretenen Firmen, denen der Kanal einen neuen Verkehrsweg direkt vor ihren Toren eröffnet, zählt General Electric. Ihr Werk in Elbląg (die einstigen Schichau-Werke) produziert Groβturbinen und groβe Stahlkonstruktionen, u. a. Brückenpfeiler, die bis zur Eröffnung des Kanals die Stadt umständlich auf dem Landweg verlassen mussten.
Auch der Tourismus soll durch die Nehrungsdurchfahrt neuen Auftrieb erhalten. Sie soll schwedische Jachtbesitzer locken, ihre Boote preiswert in Polen zu überwintern.
Deutsche Kanalpläne vor 1945
Als Erster hatte Friedrich II. den Kanalbau erwogen. Nach der ersten polnischen Teilung 1772 kam Elbing zu Preuβen, während Gdańsk bei Polen blieb. Der König wollte Elbing zu einem gewichtigen Konkurrenten der Stadt an der Motlau machen. Friedrich II. starb 1786, und 1793, nach der zweiten polnischen Teilung, kam auch Danzig zu Preuβen. Ein Kanalbau wurde überflüssig.
Im Jahre 1874 machte der damals sehr einflussreiche Danziger Stadtarchitekt Julius Albert Licht den Vorschlag, das Frische Haff weitgehend trockenzulegen und als fruchtbares Polderland landwirtschaftlich zu nutzen. Diesen Gedanken griff Ende der zwanziger Jahre der Elbinger Stadtrat auf und stellte 1932 eine „Denkschrift über die Trockenlegung des Frischen Haffs und den Durchstich durch die Frische Nehrung bei Kahlberg“ vor.
Etwa 65 Prozent des Haffs sollten trockengelegt werden. Auf rund 540.000 Hektar Neuland könnten anschlieβend bis zu 13.000 angeworbene Siedlerfamilien wirtschaften, geschützt durch Deiche, Pumpwerke und Meliorationsgräben. Bestehen bleiben sollten nur die Gewässer am Pillauer Seetief mit der Fahrrinne nach Königsberg. Elbing würde ein 6 Meter tiefer Kanal zum Nehrungsdurchstich bei Kahlberg mit der Ostsee verbinden. Ein zweiter Kanal durch die trockengelegte Nehrung war nach Königsberg geplant. Nach Hitlers Machtübernahme 1933 geriet der Plan schnell in Vergessenheit.
Die Eröffnung
Der Durchstich wurde feierlich am 17. September 2022 freigegeben. Das Datum wurde mit Bedacht gewählt. Genau 83 Jahre zuvor, am 17. September 1939, hatte die Sowjetunion das seit dem 1. September 1939 gegen den deutschen Überfall kämpfende Polen vom Osten her angegriffen. Die vierte Teilung Polens war vollbracht.
An dem Festakt nahmen die Spitzen aus Politik, Militär und Wirtschaft teil. Die Ansprachen hielten u. a. Staatspräsident Andrzej Duda, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und der Vorsitzende der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit Jarosław Kaczyński, einer der wichtigsten Befürworter des Kanalbaus (—> Kaczyński, Tusk, der Kanal und die polnische Politik).
Als erstes passierte das Flaggschiff des Seeamtes Gdynia „Zodiak II“ den Kanal. Einige Zehntausend Menschen beobachteten das Eröffnungsgeschehen.
Die EU und der Kanal
Anfang März 2019 meldeten polnische Medien, die EU-Kommission habe Polen aufgefordert, alle Arbeiten am Kanalbau so lange einzustellen, bis man sich in Brüssel eine endgültige Meinung über die Zweckmäβigkeit der Investition gemacht habe, die ja auf einem Natura 2000-Gebiet vorgenommen würde.
Ausgelöst wurde die angebliche Brüsseler Unmutsäuβerung seinerzeit dadurch, dass am 15. Februar 2019, kurz vor Beginn der Vogelbrutzeit (am 1. März), die Behörden die Erlaubnis erteilt hatten, den zum Bau vorgesehenen Streifen zu roden. In der 200 Meter breiten Schneise wurden knapp 25 Hektar Wald (0,5 Prozent der Waldfläche auf dem polnischen Teil der Nehrung) gefällt und dabei 6.500 Kubikmeter Holz gewonnen.
Der mediale Wirbel um den „EU-Baustopp“ rief Anfang April 2019 Marek Gróbarczyk, den polnischen Minister für Seewirtschaft und Binnenschifffahrt, auf den Plan, der in einer längeren Erklärung eine Klarstellung vornahm und die Wogen glätten konnte.
Gróbarczyks damalige Äuβerungen kann man wie folgt zusammenfassen:
1. Die EU-Kommission erwägt keinen Baustopp, sondern bat um Beantwortung einiger Detailfragen zum Bau im Rahmen eines Dialogs, der seit längerer Zeit zwischen Warschau und der EU-Kommission geführt wird. Anlass war der Vorstoβ des russischen stellvertretenden Landwirtschaftsministers Ilja Schestakow, der in Brüssel um einen Baustopp nachgesucht hatte.
2. Polen finanziert den Kanal ausschlieβlich aus eigenen Mitteln.
3. Polen beruft sich bei dieser Investition auf Art. 4 des Vertrages über die Europäische Union: „Die Union achtet … die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedsstaaten.“ Die Schaffung eines ungehinderten Zugangs zu einem Teil seines Staatsgebietes wird eindeutig durch die Bestimmungen des Art. 4. abgedeckt. Die EU-Kommission teilt diese Meinung.
4. Obwohl es dazu in diesem Fall nicht verpflichtet sei, wendet Polen bei der Planung und Vorbereitung des Kanalbaus alle im EU-Recht vorgesehenen restriktiven Bestimmungen an. Das gilt insbesondere für die Umweltverträglichkeitsprüfung. Die EU-Kommission nimmt das anerkennend zur Kenntnis, so Gróbarczyk.
Gdańsk und Gdynia
Der Güterumschlag der polnischen Meereshäfen nimmt rasant zu. Polen, im Zentrum Europas gelegen, wird zu einer zunehmend wichtigen Logistikdrehscheibe. Allein der Tiefwasser Container Terminal (TCT) in Gdańsk hat 2019 erstmals über 2 Millionen Standard-Container TEU (Twenty Foot Equivalent Unit) verladen. Diese Anzahl stieg 2021 auf bis zu 3 Millionen Stück an.
Mittelfristig könnte der TCT seine Kapazität auf 4 Millionen Container pro Jahr erhöhen. Den Terminal übernahmen im Mai 2019 der zu einem Investment Fonds in Singapur gehörende globale Hafenbetreiber PSA, der Polski Fundusz Rozwoju (PFR, Polnischer Entwicklungsfonds) und der australische IFM Global Infrastructure Fund.
Gdynia will einen Außenhafen bauen mit einer jährlichen Verladekapazität von 2 Millionen Containern, die noch um weitere 500 Tausend Stück aufgestockt werden könnte. Ende 2018 wurde ein sogenannter technischer Dialog mit am Bau dieses Außenhafens interessierten Firmen abgeschlossen.
Eine schnelle Verbindung über den geplanten Durchstich nach Elbląg ist beiden Häfen sehr willkommen. Sie wird den Einzeltransport von Containern nach Elbląg und dessen Umland von der Straβe nehmen, bündeln und beschleunigen.
Die Insel
Eine 2 Kilometer lange und 1,2 Kilometer breite künstliche Insel ist aus dem Schlick und Sand entstanden, die beim Ausheben des Kanals gewonnen wurden. Sie liegt etwa 2 bis 3 Meter über dem Meeresspiegel und hat eine Fläche von 181 Hektar. Diese Insel dient als Vogelreservat und ist unzugänglich für Touristen. Sie entstand im Frischen Haff, in linker Fahrtrichtung nach Elbląg.
Kaczyński, Tusk, der Kanal und die polnische Politik
Als erster polnischer Politiker wollte König Stefan Bathory 1576 den Kanalbau durch die Frische Nehrung in Angriff nehmen. Bathory führte zu jener Zeit Krieg gegen Danzig. Die mächtige und reiche Stadtrepublik, die im polnischen Staatsverband über erhebliche Autonomierechte verfügte, wollte die durch Bathory beabsichtigte Einschränkung nicht hinnehmen. Der Kanal sollte Elbing wirtschaftlich aufwerten und Danzig schwächen. Nach einem Jahr war der Konflikt beigelegt, die Idee des Kanalbaus wurde verworfen.
Nachdem sich Preuβen während der ersten polnischen Teilung 1772 Elbląg genommen hatte, geriet der Kanal bis 1945, bis zum Ende der deutschen Herrschaft, völlig aus dem Blickwinkel der polnischen Politik. Nach 1945 brachten polnische kommunistische Vertreter einige Male den Gedanken zaghaft ins Gespräch, dem setzte jedoch jedes Mal ein schroffes sowjetisches „Njet“ ein Ende.
Nach 1989 wurde Jarosław Kaczyński zum führenden polnischen Verfechter des Kanalbaus. Das begann bereits mit den ersten halbfreien Wahlen im Frühjahr 1989. Der damals vierzigjährige konservative Bürgerrechtler und enge Mitarbeiter Lech Wałęsas, deren Wege sich bald trennen sollten, kandidierte für Solidarność in den Senat, die obere Parlamentskammer. Sein Wahlkreis: Elbląg.
Der Warschauer Jarosław Kaczyński kam so mit der russischen Blockade Elblągs in Berührung. Der Gedanke, sie mittels eines Kanalbaus zu durchbrechen, lieβ ihn seither nicht mehr los. Als seine Partei, Recht und Gerechtigkeit, im Herbst 2005 zum ersten Mal die Parlamentswahl gewann, leitete er als Ministerpräsident den Bau in die Wege. Der vorzeitige Sturz seiner Koalitionsregierung im Sommer 2007 und die in der Folge vorgezogenen Wahlen im Herbst desselben Jahres, die er verlor, setzten dem Vorhaben für die acht folgenden Jahre ein Ende.
Der kühne Plan wurde damals von den anderen Akteuren der polnischen Politik entweder ignoriert oder abgelehnt. Die bis 2005 einflussreichen Postkommunisten, die Polen 1993 bis 1997 sowie 2001 bis 2005 regiert hatten, wie auch ihr Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski (1995 bis 2005) wollten sich mit Moskau nicht anlegen.
Ebenso wie Ministerpräsident Donald Tusk (2007 bis 2014). Dessen Karriere-Traumziel, mit Hilfe seiner politischen Ziehmutter Angela Merkel, Präsident des Europäischen Rates zu werden, wäre unerreichbar geblieben , wäre ihm der Ruf vorausgeeilt, er sei ein antirussischer Politiker. Daher die zahlreichen Versuche Tusks, sich Wladimir Putin geradezu anzudienen, bis hin zu der Entscheidung. den Russen die Untersuchung der Smolensk-Flugzeugkatastrophe zu überlassen.
Lange Zeit versuchte Tusk als Regierungschef dem Thema Kanal so gut es ging aus dem Wege zu gehen, behauptete, man müsse „prüfen“, „untersuchen“, „nachdenken“, „dürfe nichts überstürzen“. Als aber das Finale seiner EU-Karrierebemühungen nahte, bezog Tusk im Juni 2013 bei einem Besuch in Elbląg klar Stellung:
„Wir haben heute in Polen eine riesige Zahl vorrangiger Investitionen zu tätigen. Bei einem solchen sehr teuren Kanalvorhaben von zweifelhaftem ökonomischen Nutzen handelt es sich nur um einen wahltaktischen Trick. Es graust einem geradezu, wenn man überlegt, was alles unsere Opponenten (gemeint sind Kaczyński und seine Partei Recht und Gerechtigkeit – Anm. RdP) noch alles durchgraben werden, welchen Fluss sie in die umgekehrte Richtung fließen lassen werden, welches Meer sie trockenlegen wollen, um Wahlen zu gewinnen. Ich empfehle ihnen, ein Bad im Haff zu nehmen. Das Wasser ist noch recht frisch und könnte vielleicht diese Ideen ein wenig abkühlen.“
Es wäre interessant zu erfahren, ob Donald Tusk diese Worte, beispielsweise in den Niederlanden, offiziell wiederholen würde.
Nach den gewonnen Parlamentswahlen im Herbst 2015 begann die nationalkonservative Regierung das Vorhaben mit Nachdruck umzusetzen. Am 24. Februar 2017 verabschiedete der Sejm mit 401 Stimmen, bei 9 Gegenstimmen und 18 Enthaltungen das Kanalbau-Gesetz. Beinahe die gesamte Opposition war damals dafür. Danach, vor allem im Wahlkampf vor den für den 13. Oktober 2019 angesetzten Parlamentswahlen, wetterten sie wiederum heftig dagegen.
Konsultationen mit Russland nicht erforderlich
Russische Politiker forderten Polen immer wieder auf, über russische Bedenken zum Kanalbau zu diskutieren. Polen sei als Unterzeichnerstaat der „Konvention zur grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung“ (UVP), die 1991 im finnischen Espoo ausgehandelt worden war, dazu verpflichtet.
Die Konvention sieht vor, dass Vorhaben, die voraussichtlich erhebliche grenzüberschreitende Auswirkungen zum Nachteil der Umwelt haben werden, den betroffenen Vertragsparteien angekündigt werden müssen. Es sei zudem eine UVP durchzuführen und eine UVP-Dokumentation zu erstellen. Auch die Öffentlichkeit des möglicherweise betroffenen Gebietes muss über das geplante Projekt informiert werden. Sie soll eine Möglichkeit zur Stellungnahme im selben Umfang haben, wie die Öffentlichkeit des Urheberstaates.
Polen lehnte das ab und verwies darauf, dass Russland als einziger Ostseeanrainer die Espoo-Konvention nicht ratifiziert hat. Das erlaubte den Russen seinerzeit, jegliche ernsthaften Konsultationen über den Bau der Nord Stream 2-Gasleitung von Russland nach Deutschland unter der Ostsee abzulehnen. Genauso verhält es sich mit dem gerade stattfindenden Bau eines Kernkraftwerkes nordöstlich von Kaliningrad.
Des Weiteren lehnt Russland jegliche Gespräche über die ständige Verschmutzung des Frischen Haffs durch schlecht funktionierende Kläranlagen in der Fünfhundertausend-Einwohner-Stadt Kaliningrad ab.
Die Kosten
Als 2016 die ersten Bauvorbereitungen getroffen wurden, hieß es, die Errichtung des Kanals werde umgerechnet 205 Millionen Euro kosten. Anfang 2021 waren die Kosten bei umgerechnet knapp 450 Millionen Euro angelangt. Schuld daran waren die zwischen 2016 und 2021 um etwa 30 Prozent gestiegenen Arbeits- und Materialkosten. Zudem wurde das Projekt erweitert.
Hinzugekommen ist der Bau einer neuen Brücke über dem Elbing-Fluss in Nowakowo, auf der Zufahrt vom Haff zum Hafen von Elbląg. Außerdem sind über dem Kanal, anstelle von zwei Hebebrücken zwei funktionellere, aber auch teurere Drehbrücken entstanden. Teurer, weil, wie es sich erwies, notgedrungen aufwendiger, wird auch die Befestigung der Ufer des Elbing-Flusses auf der Zufahrt vom Haff in den Elbinger Hafen werden.
Proteste
Der gröβte Widerstand regte sich in Krynica Morska/Kahlberg, einem 1.300 Einwohner zählenden Ort am Ende des polnischen Teils der Frischen Nehrung, direkt an der russischen Grenze. Der schöne Ort lebt vom Tourismus. Immer wieder kam dort die Befürchtung zur Sprache, der Kanal werde den Ort in eine Insellage versetzen, die Zufahrt erschweren, Touristen wegen Staubildung verprellen.
Ein Film des Seeamtes in Gdynia zeigt jedoch, dass der Autoverkehr durch die Nehrung nach und von Krynica Morska, dank des Drehbrückensystems, zu keiner Zeit unterbrochen sein wird.
Der Link befindet sich am Ende des Beitrags.
Immer wieder wurde auch hervorgehoben, der Durchstich werde eine höhere Versalzung des Haffwassers im polnischen Teil verursachen. Das Gegenargument: Eine Schleuse im Kanal soll dauerhaft das Ökosystem des Haffs vom Ökosystem der offenen Ostsee trennen, so wie es jetzt auch umgesetzt wurde.
Völkerrecht
Im internationalen Seerecht existiert das verbriefte Prinzip der friedlichen Durchfahrt, das insbesondere für Meerengen gilt, wo unter Umständen das weitergehende Recht der Transitdurchfahrt Anwendung findet. Dieses Prinzip greift auch, wenn innerstaatliche Gewässer eines anderen Landes durchquert werden müssen, um eigene Gewässer zu erreichen. Beides trifft auf die polnische Situation im Frischen Haff zu. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Küstenmeer darf hier, so die Bestimmungen, das Recht der friedlichen Durchfahrt auch nicht zeitweise eingeschränkt werden.
Das Konzept der freien Nutzung der Meere durch die Schiffe aller Staaten, häufig unter dem Schlagwort „Freiheit der Meere“ zusammengefasst, erwähnte 1609 erstmals Hugo Grotius als anerkanntes Prinzip des internationalen Rechts. 1958 hat man das Recht der friedlichen Durchfahrt im „Übereinkommen über das Küstenmeer und die Anschlusszone“ erstmals kodifiziert und 1982 im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen weiter ausgestaltet.
Dieses Prinzip wird zum Beispiel zwischen Belgien und den Niederlanden angewandt. Der Zugang zum belgischen Hafen Antwerpen an der Schelde führt teilweise über holländisches Gebiet, was völlig problemlos abläuft. Doch so verhielt es sich nicht im Frischen Haff.
Zum Schluss
Der Kanal ist nicht nur ein wichtiges wirtschaftliches Projekt. Es ist auch ein durch und durch politisches Vorhaben. Es soll, so der Ansatz seiner Befürworter, eine Maβnahme sein, die eine viel zu lange andauernde, konfliktträchtige und von Russland gewollte Unwägbarkeit endlich beheben soll.
Sehenswert:
Der Kanalbau in der Animation des Seeamtes in Gdynia
Lesenswert: Kaliningrads Probleme mit Kläranlagen.
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