Arme weichen den Reichen

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Gas abgestellt, Wasser gesperrt, Mieter vertrieben.

Wie aus heiterem Himmel werden Warschauer Mieter aus ihren Wohnungen gejagt. Schuld daran sind Nazibarberei, kommunistische Enteignungen und die Rücksichtslosigkeit der alten und neuen Hauseigentümer.

Stalowastrasse, inmitten des sogenannten Warschauer „Bermudadreiecks“, der verwahrlosesten und gefährlichsten Gegend der polnischen Hauptstadt. Das Haus sieht wie eine Bruchbude aus. In der Wohnung kein flieβendes Wasser, kein Gas. „Solange das Mietshaus der Stadt gehörte, war es auszuhalten“, sagt Agnieszka Murati, Mieterin, Mutter von drei Kindern und arbeitslos. „Seit über sechzig Jahren wohnt meine Familie in diesen zwei Zimmern. Vor zwei Jahren stellte sich plötzlich heraus, dass das Haus wieder in privaten Händen ist“.

Sie holt aus der Schublade ein buntes Faltblatt heraus. Auf den Bildern sieht man anstelle der Bruchbude ein elegantes Appartement-Hochhaus. „Das wollen die neuen Besitzer hier bauen. Sie müssen bloß uns, die Mieter, loswerden“, erklärt Murati. Zwangsräumung ist verboten, also greifen die Besitzer zu anderen Mitteln. Unter dem Vorwand einer notwendigen Renovierung stellen sie das Gas ab, sperren das Wasser und warten bis die Leute von alleine ausziehen.

Dieses Problem betrifft nicht nur die Stalowastrasse. Anna Kutyńska, Akitvistin des Warschauer Mietervereins schätzt, dass sich bis zu zwanzigtausend Bewohner der Stadt in ähnlicher Lage befinden und weitere fünfzigtausend davon bedroht sind. Es handelt sich überwiegend um ärmere Warschauer, die sich oft ihrer Rechte nicht bewusst sind. „Ihre Situation ist umso schwieriger, weil die meisten Häuser in die Hände von großen Firmen geraten“, sagt Kutyńska. „Die können sich viel bessere Anwälte leisten als die Mieter“.

Wie ist das überhaupt möglich, dass so viele kommunale Immobilien privatisiert werden? Die Wurzeln des Problems reichen bis in den Zweiten Weltkrieg.

Warschau wurde während des Krieges Stück für Stück zerstört. Zunächst während der Belagerung der Stadt durch deutsche Truppen vom 8. bis zum 28. September 1939. Flächenbombardierungen der Luftwaffe und schwerer Artilleriebeschuss vernichteten damals etwa zehn Prozent der Stadtfläche.

Im April 1943 brach dann der Aufstand im Warschauer Ghetto aus. Nach seiner Niederschlagung haben Deutsche das Ghetto-Gelände (etwa fünf Prozent der Stadtfläche), nach eigenen Worten, in eine „Ziegelsteinwüste“ verwandelt, so lange das Zerstörungswerk fortgesetzt, bis nur Schutthalden übrig geblieben sind.

Während des Warschauer Aufstandes im August-September 1944 wüteten fast auf dem ganzen Stadtgebiet Straßenkämpfe deren Intensität nur mit der Wucht der Kämpfe in Stalingrad vergleichbar war. Die Aufständischen kapitulierten am 3. Oktober 1944. Die noch verbliebene Zivilbevölkerung wurde aus der Stadt vertrieben. Es begann die planmäβige Ausplünderung und Zerstörung der menschenleeren Hauptstadt. Das systematische Abbrennen der Häuser und die Sprengung der Ruinen hielt dreieinhalb Monate an, von Oktober 1944 bis Mitte Januar 1945, bis die Sowjets einrückten.

Nach dem Krieg kam dann die neue kommunistische Regierung zu dem Schluss, dass der Wiederaufbau der Hauptstadt erst nach der Enteignung aller Immobilien durch den Staat möglich sei. Ein großer Teil der Hausbesitzer war tot oder vermisst. Die Überlebenden unter ihnen waren im neuen System die Klassenfeinde. Die erhalten gebliebenen Wohnungen wurden zu Sozialwohnungen umfunktioniert, auf die man die Massen der neuen Einwohner Warschaus verteilte.

Nach 45 Jahren folgte der freie Markt. Eine umfassende Reprivatisierung jedoch war auch von den neuen Behörden nicht gewünscht. Die Kriegsverluste in Polen waren kolossal. Es überwog die Meinung, dass die verarmte polnische Gesellschaft nicht die Kosten von Schäden tragen solle, die mehr als vierzig Jahre zuvor von fremden und einheimischen Untätern angerichtet worden waren.

Dann aber stellte sich heraus, dass die Nachkriegsverstaatlichung in Warschau, in den meisten Fällen, unter Verletzung sogar des kommunistischen (Un)Rechtes verlaufen war. Wer also einen guten Anwalt bezahlen kann und die Zeit für langwierige Prozesse besitzt, hat gute Chancen sein Eigentum zurückzubekommen. Den ehemaligen Besitzern fehlt aber meistens das erforderliche Geld. Für geringe Summen verkaufen sie also ihre Ansprüche an Immobilien an Unternehmer, die schnell und effektiv die Häuser aus staatlichem Besitz zurückgewinnen und anschlieβend ebenso effektiv die Mieter vertreiben.

Die Beamten im Warschauer Magistrat klagen, dass ihre Möglichkeiten begrenzt sind. In Übereinstimmung mit der aktuellen Gesetzeslage, muss, wenn alle erforderlichen Papiere vorgelegt werden können, die Stadt die Häuser zurückgeben. Da es an neuen Sozialwohnungen fehlt, werden die Mieter im Stich gelassen. Letztendlich also zahlen doch die Armen. Und große Teile der Stadt gehen, statt an die ehemaligen Besitzer, an gewinnhungrige Unternehmer.

„Die einzige gerechte Lösung wäre, die Kosten zu teilen“, sagt Anna Kutyńska. „Wir brauchen dringend ein Reprivatisierungsgesetz, dass Teilentschädigungen für die ehemaligen Besitzer einführt. Wenn die Regierung sich weiter weigert Geld dafür aufzutreiben, droht uns eine soziale Krise.“

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