Auch in Warschaus ältester und schönster Grünanlge, dem Łazienki (Bäder)-Park mit seinem Wasserschloss und dem schwungvollen Chopin-Denkmal, an dem im Sommer jeden Sonntag Pianisten die Musik des Meisters darbieten, hat der Krieg im Osten seine Spuren hinterlassen. Man trifft hier keine Japaner mehr, die, wie alle ausländischen Touristen in diesem Jahr, Polen wegen seiner Nähe zu den Kriegsschauplätzen meiden. Sattdessen wird der Park bevorzugt von ukrainischen Müttern besucht, die mit ihren Kindern im Schatten der alten Bäume Abkühlung finden. Sie füttern Eichhörnchen, bewundern die Schwäne, begleitet von Großmüttern, Tanten, älteren Geschwistern, eher selten von Männern, die zumeist in der Heimat, oft an der Front, geblieben sind. Es geht familiär und fröhlich zu.
Man denkt sofort an Kommentatoren, die sich selbst als „Realisten“ bezeichnen, und die im März, April, Mai stirnrunzelnd vorrechneten, „wie viel uns die Flüchtlinge kosten“, und warnten, dass „selbst das reiche Amerika sich nicht Millionen von Migranten leisten kann“. Sie sollten ihre ominösen Berechnungen bei Seite legen und einen Moment lang darüber nachdenken, wieviel Gutes, angesichts der offensichtlichen demografischen Krise, in der Polen steckt, dieser Zustrom junger Menschen aus einem uns nahen Land bewirken kann.
Die Bevölkerungszahl Polens ist im letzten halben Jahr von knapp 38 Millionen auf fast 42 Millionen angestiegen. Düsteren Prognosen zufolge würde der plötzliche Zustrom von Flüchtlingen nach dem 24. Februar 2022 unser Sozialsystem, in das sie aufgenommen wurden, überfordern. Die Plage der Massenarbeitslosigkeit würde aufleben. Schulen und Kindergärten würden überlastet sein. Der Wohnungsmarkt sollte zusammenbrechen und das nach der Pandemie schwer gestörte Gesundheitssystem würde einen tödlichen Schlag erleiden. Am Ende sollte sich unsere Hilfsbereitschaft verflüchtigen und das Land im Chaos versinken. Nichts dergleichen ist geschehen, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass es geschehen wird.
Auf den Straßen der polnischen Städte hört man heute Russisch und Ukrainisch fast so oft wie Polnisch, aber die Sonne scheint wie früher, die Straßenbahnen fahren und die Lehrer und Krankenschwestern sind so unzufrieden wie immer. Die Ukrainer leben sich gut ein. Massenkonflikte bleiben aus. Es gibt Probleme, aber das ist nicht der Weltuntergang.
Zur Überraschung der Skeptiker besteht Polen den Praxistest der sozialen und institutionellen Improvisations- und Anpassungsfähigkeit außerordentlich gut. Das ist eine ermutigende Nachricht, denn die Fähigkeit, neue Mitglieder in die Gesellschaft zu integrieren, kann sich auf das Wirtschafts- und Wohlstandswachstum nur positiv auswirken.
RdP