Lage der Polen in Groβbritannien gibt Anlass zur Sorge.
„Noch ein groβer Erfolg eines polnischen Models. Marta Dyks ist das Gesicht der neuesten Werbekampagne der britischen Einzelhandelskette Marks & Spencer. Die Briten loben die Polin, mehr noch: sie wurde nicht zusammengeschlagen.” Diese Art von schwarzem Humor, wie ihn kürzlich die Zeitschrift „Polityka“ an den Tag legte, hat gerade Hochkonjunktur in Polen, denn die Polen in Groβbritannien leben seit einiger Zeit gefährlich.
Etwa achthunderttausend von ihnen sind in den letzten zehn Jahren nach Groβbritannien ausgewandert. Seit dem Sommer 2016 vergeht kaum ein Tag, an dem nicht aus irgendeiner Gegend des Landes ein Überfall auf einen Polen gemeldet wird.
Am schlimmsten traf es den 40-jährigen Arkadiusz Jóźwik (fon.: Juschwick). Mitten in Harlow prügelte ihn am Samstagabend des 27. August 2016 eine Bande von Halbstarken zu Tode. Sein Kollege erlitt lebensgefährliche Verletzungen.
Warschauer Behörden nehmen die Lage ernst. Der polnische Botschafter in London legte Blumen am Tatort nieder. Gleich zwei polnische Minister, für Auswärtiges und für Inneres, sind, zusammen mit dem Chef der polnischen Polizei, Anfang September an der Themse vorstellig geworden.
Polnische Medien versuchen derweil die Ursachen des Gewaltanstiegs zu ergründen, bringen Reportagen, in denen das Befinden der Polen in Groβbritannien geschildert wird.
„Zwar werden sie von den britischen Arbeitgebern und Ökonomen hochgelobt, weil sie emsig arbeiten, eigene Firmen gründen, viel Steuern zahlen, sich schnell integrieren und den britischen Wohlstand vermehren.“, schreibt die Tageszeitung „Nasz Dziennik“ („Unser Tagblatt“) vom 24./ 25.09.2016.
„Anders als Zuwanderer aus Afrika oder Nahost fallen sie dem Sozialsystem nicht übermäβig zur Last. In den britischen Kriminalitätsstatistiken rangieren sie eher im Mittelfeld. Doch gerade nach dem Brexit-Referendum im Juni 2016 werden sie mit den »Problem-Migranten« aus fernen Kontinenten in einen Topf geworfen, fallen der wachsenden Fremdenfeindlichkeit zum Opfer.“
Die meisten Polen auf den Inseln arbeiten in der Industrie (25 Prozent), im Hotel- und Gaststättengewerbe (20 Prozent), auf dem Bau (8 Prozent) sowie im Gesundheitswesen und in der Pflege (7 Prozent). Etwa 40 Prozent sind Gewerbetreibende. Polnische Arbeitsemigranten überweisen pro Jahr umgerechnet gut 3 Mrd. Euro nach Hause, Tendenz steigend. Die nächste Bevölkerungsgruppe auf der Liste, die Inder, schicken nur knapp die Hälfte davon in ihre Heimat.
Fucking Polish
„Grafschaft Essex, 30 Meilen nordöstlich von London. Klobig-moderne Nachkriegsarchitektur, die Straβen mit rotem Klinker gepflastert. Der nüchtern bescheidene Baustil spiegelt die kurze Geschichte Harlows wieder. Es ist unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, für diejenigen, die die deutschen Bombenangriffe auf London obdachlos gemacht haben.“, so beginnt der Bericht aus Harlow in Polens auflagenstärkstem Wochenmagazin „Gość Niedzielny“ („Der Sonntagsgast“) vom 18.09.2016.
„Auch hierher kamen einige dutzend Jahre später Polen, um ihren Traum vom bescheidenen Wohlstand zu verwirklichen. Sie haben schnell Anschluss gefunden, Firmen gegründet, eine eigne Schule eingerichtet, machten den Einheimischen polnisches Brot und polnische Wurstwaren schmackhaft. In der achtzigtausend Einwohner zählenden Stadt sind die zweitausend Polen nicht zu übersehen. (…)
»Ich habe hier zwei Läden und viel Kontakt zu anderen Polen. Nach dem Brexit-Referendum sind etwa zehn Familien nach Polen zurückgekehrt«, berichtet Sebastian Chudy. Er kam 2005 nach Harlow, verdingte sich zuerst in Gewächshäusern, arbeitete sich unter vielen Entbehrungen hoch, zum Gabelstaplerfahrer, Busfahrer, Handwerker. Die Kunden berichten ihm immer wieder von unangenehmen Zwischenfällen: zerkratzen Autos, nächtlichem Hämmern gegen Wohnungstüren, Beschimpfungen auf der Straβe. Chudy selbst musste vor kurzem ein „Fucking-polish-back-to-your-country“ von der Schaufensterscheibe wischen.
Der Tatort befindet sich in der kleinen Fuβgängerzone, eingezwängt zwischen den parallel verlaufenden Straβen The Stow und Orchard Croft, nur etwa einhundert Meter entfernt von der katholischen Kirche Our Lady of Fatima. Die Sitzbank in der Mitte ist kaum mehr auszumachen unter einem Berg von Blumen. Grablichter brennen.
Die Horde von 14 bis 16-Jährigen, die Arkadiusz Jóźwik und seinen Begleiter umzingelt und niedergetrampelt haben, zählte gut zwanzig Mann. Sechs von ihnen nahm die Polizei fest, fünf sind sogleich wieder auf Kaution freigekommen. Auch der Haupttäter befindet sich inzwischen wieder auf freiem Fuβ.
Die Polen in Harlow, mit denen wir reden“, schreibt „Gość Niedzielny“, „sind entsetzt über die rasant zunehmende Verwahrlosung der englischen Jugendlichen in der Stadt und in England überhaupt. Auf Schritt und Tritt begegnet man Gruppen und Grüppchen pöbelnder, grölender, offensichtlich stets angetrunkener junger Leute, oft bis zur Unkenntlichkeit übersät mit Tätowierungen und Piercings. Ihre Kenntnisse über das Ausland beschränken sich auf Spanien, eventuell noch Griechenland, wo sie mal in den Ferien waren. Bis nach Polen reicht ihr Horizont jedoch nicht.
Bloody Poles
Beinahe ganz Südengland hat am 23. Juni 2016 für den EU-Austritt gestimmt. Die Immigranten waren ein wichtiges Argument für den Brexit, weil sie alle, ohne Ausnahme, so hieβ es, nur gekommen sind, um sich durch das britische Sozialsystem zu nassauern.
Der Anfeindungen im Vorfeld des Referendums überdrüssig, riefen die polnischen Verbände in Groβbritannien unter der Parole „Bloody Poles“ zu einem einzigartigen Streik auf. Polnische Arbeiter und Angestellte, so der Aufruf, sollten die gesetzliche Möglichkeit nutzen und sich ein paar Stunden fürs Blutspenden freinehmen. Einige Tausend Polen veröffentlichten daraufhin ihre Fotos vom Blutspenden auf Facebook.
Im stattlichen Gebäude der Passmores Academy in Harlow hat die Polnische Schule der Heimatfächer (Polska Szkoła Przedmiotów Ojczystych) einige Klassenräume angemietet. Zweihundert polnische Kinder kommen jeden Samstag für einige Stunden hierher. Unterrichtet werden die polnische Sprache und Literatur, polnische Geschichte sowie Erdkunde. Die Lehrer arbeiten hier ehrenamtlich. Die Kinder, so das Anliegen, sollen in der Multi-Kulti-Welt ihre Identität bewahren können.
»Als es zu dem Mord kam, war ich gerade in Polen«, berichtet die Lehrerin Agnieszka Kozłowska, hauptberuflich bei der Saint Alban’s Catholic Academy angestellt. »Ich war entsetzt als ich den Fernsehbericht sah. Mein Gott, das ist ja unweit unserer Schule passiert. Etwas später kam die Einsicht: nicht nur in Harlow ist es nachts gefährlich.«
Der Mord hat alle Polen in Groβbritannien aufgerüttelt, aber Harlow, so die dort lebenden Polen, war nie eine gemütliche Stadt. Hier muss man nun einmal aufpassen.
Mehr Sorge bereiten ihnen indes die Brexit-Folgen. Agnieszka Kozłowska gibt zu, dass niemand in ihrer polnischen Umgebung auch nur im Geringsten daran gezweifelt hat, dass das Referendum gegen einen EU-Verbleib ausgehen würde. Trotz des entgegengesetzten Entscheides der Briten, kündigen nun nur 5 Prozent der polnischen Emigranten an auf jeden Fall in die Heimat zurückkehren zu wollen.
»Wir haben hier unsere Wohnungen und Häuser, Arbeit, Kinder, die hier zur Schule gehen. Wir haben uns hier dank harter Arbeit eingerichtet. Nur aufgrund eines solchen Zwischenfalls und einiger Pöbeleien werden wir nicht die Flucht ergreifen. Noch leben wir weitgehend normal. Erst wenn es tatsächlich zum Brexit kommt, werden wir sehen wie sich unsere Lage entwickelt.«
Poles forgive us
Die Polen in Harlow sind erfreut darüber, wieviel Anteilnahme, Zustimmung und Unterstützung sie in der letzten Zeit erfahren haben. Bogusław Kot, der polnische Pfarrer an der Our-Lady-of-Fatima Kirche berichtet von vielen Anrufen und Hilfsangeboten, die er von anglikanischen Organisationen bekommen hat. Sebastian Chudy erzählt von englischen Kunden, die ihn um Vergebung für ihre Landsleute gebeten haben. Die Lehrerin Agnieszka Kozłowska war beeindruckt von den vielen Engländern, die sich dem Schweigemarsch zu Ehren des ermordeten Polen angeschlossen haben.
Pfarrer Kot sprach am Ende des Schweigemarsches das Gebet. Er warnte vor Sensationshascherei und zu vielen Emotionen. Aber auch er, das gibt er offen zu, konnte nicht die Tränen unterdrücken, als Arkadiuszs Mutter heimlich zu ihm kam. Sie scheut die Öffentlichkeit. »Es gibt keine Worte, die sie trösten könnten. Nur Gott kann ihr die Kraft geben das durchzustehen. Dafür bete ich.«“
Poor leave, other stay
Knapp vierhundert Kilometer nordwestlich von Harlow, in Blackburn, bestätigt Pfarrer Robert Pytel, mit dem die Zeitung „Nasz Dziennik“ sprach, dass auch in seiner Gegend die Polen sich mehr in Acht nehmen müssen. In der Stadt mit ihren einhunderttausend Einwohnern und im Umkreis von 50 Kilometern wohnen etwa fünfzehntausend Polen, zumeist Fabrikarbeiter. In drei polnischen Wochenendschulen lernen knapp fünfhundert Kinder. Englische katholische Gemeinden, selbst vom Aussterben bedroht, gewähren den Immigranten gern Obdach für Unterricht und Gottesdienste.
In Blackburn leben inzwischen überwiegend Pakistanis, mit denen es kaum Berührungspunkte gibt. Die englische Minderheit zieht sich immer mehr zurück, aber auch hier vergeht kaum kein Tag ohne Pöbeleien entfesselter Hooligans gegen Polen. »Um Moslems zu provozieren sind sie zu feige«, berichtet Marek Jurkowski, der in Blackburn eine Würstchenbude betreibt.
Pfarrer Pytel beobachtet zwei Verhaltensweisen. Eine Minderheit der Blackburner Polen ist dabei ihre Rückkehr in die Heimat vorzubereiten. Und bei diesem Thema ist nicht die Verschlechterung der Atmosphäre ausschlaggebend.
Da ist das neue Kindergeld in Polen: 500 Zloty (ca. 120 Euro) im Monat für das zweite und jedes weitere Kind bis zum achtzehnten Lebensjahr. Hinzu kommt die Anhebung des minimalen Stunden- (auf umgerechnet 2,80 Euro) und Monatslohns (auf umgerechnet knapp 500 Euro) durch die Regierung Beata Szydło. Da sind auch die auf ein Rekordtief gefallene Arbeitslosigkeit in Polen und die hohen Lebenshaltungskosten in England, die die höheren britischen Einkommen der polnischen Kleinstverdiener auf den Inseln fast restlos auffressen.
Wer wenig verdient will gehen. Diejenigen, die sich zumindest ein kleines bisschen hochgearbeitet haben, wollen bleiben, kaufen Häuser und sparen, um die britische Staatsangehörigkeit zu beantragen. Die kostet umgerechnet eintausend Euro pro Person, vorausgesetzt man hat die zuvor abzulegende Prüfung bestanden.
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