Pater Blachnicki. In Deutschland vergiftet

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Erst jetzt kommt die Wahrheit ans Licht.

Am 14. März 2023 traten Justizminister Zbigniew Ziobro, der Chef des Instituts für Nationales Gedenken (IPN) Karol Nawrocki und Staatsanwalt Andrzej Pozorski vor die Medien. Ihre Botschaft: Die 2020 wiederaufgenommene Untersuchung hat eindeutige Beweise dafür erbracht, dass Pater Franciszek Blachnicki (phonetisch Blachnitski) am 27. Februar 1987 das Opfer eines Giftmordes geworden ist.

Dieser Schlussfolgerung liegen nach modernsten Methoden erstellte Gutachten auf dem Gebiet der Anthropologie, der Genetik, der Toxikologie, der Gerichtsmedizin und der medizinischen Analyse zugrunde. Neuentdeckte Unterlagen wurden ausgewertet und neue  Zeugen befragt. Man sei in Polen, Deutschland, Ӧsterreich und Ungarn tätig gewesen. Der Leichnam des Opfers wurde exhumiert. An den wissenschaftlichen Untersuchungen beteiligt waren das Professor-Jan-Sehn-Institut für Forensische Studien in Kraków, die Pommersche Medizinische Universität in Szczecin und die Schlesische Medizinische Universität in Katowice.

Die Motive der Tat liegen auf der Hand, den Tätern sei man auf der Spur, so die Feststellung der Verantwortlichen. Mehr könne man im Augenblick nicht offenlegen.

Auf diese Weise lebt ein hochbrisanter politischer Kriminalfall erneut auf, der die polnische Ӧffentlichkeit seit geraumer Zeit immer wieder beschäftigt. Die wichtigsten Fakten konnten inzwischen rekonstruiert werden.

Der Weg nach Carlsberg

Pater Blachnicki verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in erzwungener Emigration. Als General Wojciech Jaruzelski am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht in Polen ausrief und damit eine Welle von Repressalien gegen die Solidarność-Bewegung in Gang setzte, befand  sich Pfarrer Blachnicki in Rom. Es sollte ein kurzer Aufenthalt sein, aber angesichts der neuen Lage überredete ihn der oberste Seelsorger der in der ganzen Welt verstreuten polnischen Diaspora, Bischof Szczepan Wesoły, dazu, nicht nach Polen zurückzukehren. Man konnte sicher davon ausgehen, dass den populären und politisch unbeugsamen Geistlichen die Verhaftung erwartete.

Das Internationale Evangelisierungsszentrum der Bewegung Licht-Leben in Carlsberg heute

Der Bischof bot ihm an, nach Westdeutschland zu gehen, um in dem pfälzischen Städtchen Carlsberg ein Evangelisierungszentrum zu gründen. Dazu wies er Pater Blachnicki eine Immobilie zu, die sich infolge der Nachkriegswirren im Besitz exilpolnischer Kirchenstellen befand.

Pater Blachnicki gab dem Ort den Namen Marianum – Internationales Evangelisisationszentrum Licht-Leben. Es sollte ein Ausstrahlungsort neuer Ideen der Bekehrung nicht nur für Polen, sondern für ganz Osteuropa sein. Zu diesem Zweck gründete er den Christlichen Dienst für die Befreiung der Völker (ChSWN).

„Hirte der Konterrevolution”

Die Aktivitäten des ChSWN zielten darauf ab, Mittel- und Osteuropa von der sowjetischen Herrschaft zu befreien, indem man seine Bürger von der lähmenden inneren Angst befreite, die das kommunistische System ihnen einflößte. Viele Emigranten aus Polen und den Ländern Mittel- und Osteuropas schlossen sich dem ChSWN an.

Es wurden Konferenzen organisiert, um die Befreiungsbestrebungen der Völker, die ihres Rechts auf Selbstbestimmung und politische Unabhängigkeit beraubt worden waren, vorzustellen. Gekrönt wurde diese Arbeit von zwei wichtigen Dokumenten: der Carlsberger Erklärung und dem Manifest für die Befreiung der Völker Mittel- und Osteuropas. Es entstanden ständige Arbeitsgruppen: eine tschechisch-polnisch-slowakische etwa oder eine polnisch-ukrainische, die sich um die Annäherung der Nachbarvölker im Hinblick auf die Zeit nach dem Kommunismus bemühten. Bemerkenswert waren die Märsche für die Befreiung der Völker mit dem Ziel, das Interesse der westlichen Öffentlichkeit für die Lage der Völker Mittel- und Osteuropas zu wecken.

Marsch für die Befreiung der Völker, organisiert vom Christlichen Dienst für die Befreiung der Völker (ChSWN) 1988 in Hambach

Die Ideen des ChSWN wurden auch über die polnische Redaktion von Radio Free Europe verbreitet. In den damaligen Zeiten, ohne Satelliten-TV, Internet und Handy war das von den Amerikanern betriebene und in München ansässige RFE, obwohl dessen Empfang massiv gestört wurde, die wichtigste Informationsquelle für die Völker hinter dem Eisernen Vorhang. Pater Blachnicki, der häufig bei RFE zu Gast war, legte das Wesen des kommunistischen Systems offen und rief zu konkreten Maßnahmen des zivilen Ungehorsams auf.

Seine antikommunistische Effizienz und die Reichweite seines friedlichen Befreiungskreuzzugs versetzten die kommunistischen Machthaber in höchste Alarmstimmung. In enger Abstimmung umspannten die polnische und ostdeutsche Stasi sowie der sowjetische KGB Carlsberg und Pater Blachnicki mit einem Netz von Zuträgern, sie tüftelten Provokationen aus, versuchten seine Arbeit lahmzulegen.

Zeitungsausschnitte mit Anti-Blachnicki-Beiträgen

Gleichzeitig lief eine osteuropaweite Diffamierungskampagne gegen den Pfarrer und sein Werk an. Er wurde bezeichnet als „Hirte der Konterrevolution” (kommunistische Jugendzeitschrift „Molodets Estonii”, „Pfundskerl von Estland“, 24.02.1983), als „Saboteur in Soutane” (die sowjetische „Komsomolskaja Prawda“, 5.02.1983), als „kriegerischer Pfarrer“, „polnischer Ajatollah“, „Politiker in Soutane“, „Theologe der Konterrevolution“ (polnische kommunistische Armeezeitung „Żołnierz Wolności“, „Soldat der Freiheit“, 5.09.1984),  als „zeitgenössischer Kreuzritter“,  „Theologe des nationalen Verrats” (Zentralorgan der polnischen KP „Trybuna Ludu“, „Volkstribüne”, 1.10.1984), als „fanatischer Politiker” (polnische Wochenzeitung „Tu i Teraz”, „Hier und Jetzt“, 29.12.1982) usw., usf.

Broschüren und Bücher des ChSWN gelangten auf illegalen Wegen nach Osteuropa. Sie entstanden im Verlag und in der Druckerei Maximilianum, die ein wichtiger Teil des Vorhabens und im Laufe der Jahre eine Quelle großer Schwierigkeiten und finanzieller Probleme waren. Anhand kürzlich aufgefundener Dokumente wissen wir, dass Pater Blachnicki kurz vor seinem Tod einen Vertrag über zwei Millionen Dollar mit der amerikanischen protestantischen Organisation Campus Crusade for Christ abgeschlossen hatte. Er sollte die Zukunft der Druckerei sichern und die Evangelisierungsprojekte in Polen, Mitteleuropa und der Sowjetunion erheblich ausweiten helfen. Wurde der Priester vergiftet, damit dieses Projekt nicht verwirklicht werden konnte? Die Untersuchung wird sicherlich auch diese Frage zu beantworten versuchen.

Politischer Sprengstoff. Broschüren und Bücher des ChSWN gelangten auf illegalen Wegen nach Osteuropa

Ein charismatischer Priester

Wie sah der Lebensweg desjenigen aus, der eine ganze Generation junger Polen geprägt hat? Blachnicki wurde 1921 in Rybnik, im polnischen Teil Oberschlesiens geboren. Nach dem Abitur 1938 wurde er zum Militärdienst im Divisionskadettenkorps in Katowice eingezogen.

Fähnrich Blachnicki (r. i.B.) bei einer Geländeübung 1938

Er träumte davon, in der Diplomatie zu arbeiten, doch schon bald brach der Krieg aus. Der künftige Priester kämpfte im September 1939 gegen die deutschen Angreifer und wurde bereits im Herbst 1939 in die Untergrundarbeit einbezogen. Im Frühjahr 1940 verhaftete ihn die Gestapo.

Auschwitzhäftling Franciszek Blachnicki

Er wurde in das deutsche Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Dort blieb er über ein Jahr lang, war wiederholt dem Tod nahe. Er durchlebte die Hölle der Strafkompanie und blieb auch einen Monat lang im Todesbunker eingesperrt (demselben, in dem die Deutschen später Pater Kolbe ermordeten). Im Herbst 1941 verlegte man ihn ins Gefängnis in Katowice, um ihn vor ein Sondergericht zu stellen. Im Frühjahr 1942 fiel das Urteil: Todesstrafe. Nach Interventionen seiner Familie wurde das Urteil in zehn Jahre Gefängnis umgewandelt.

Zeitungsausschnitt mit der Bekanntgabe von gefällten Todesurteilen, darunter gegen Franciszek Blachnicki, der als „der 21 Jahre alte Franz B.“ bezeichnet wird

Die Monate des Wartens auf den Tod, bevor die Strafe umgewandelt wurde, waren ein Wendepunkt in Blachnickis Leben. Am 17. Juni 1942 erlebte er eine geistige Wandlung. Er beschloss, seinen Glauben mit anderen zu teilen und sein Leben der göttlichen Vorsehung anzuvertrauen.

Den Rest des Krieges verbrachte Blachnicki in den Konzentrations- und Arbeitslagern des Dritten Reiches und trat sofort nach Kriegsende ins Priesterseminar ein. Die Priesterweihe empfing er 1950 auf dem Höhepunkt der Stalinisierung Polens und des Kampfes des Staates gegen die katholische Kirche.

Franciszek Blachnicki (3 v. l. i. B.) als Diakon (erste Stufe des Weihesakraments) 1949

Blachnicki erkannte, dass die Zukunft der Nation und der Kirche im kommunistischen Staat vom Nachwuchs abhängen würde, daher konzentrierte er sich seit Beginn seiner pastoralen Tätigkeit auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. 1957 gründete er aber auch noch den „Kreuzzug der Enthaltsamkeit”, den er ein Jahr später in „Kreuzzug der Nüchternheit” umbenannte, um den starken Alkoholismus der Nachkriegszeit zu bekämpfen. Im Frühjahr 1960 zählte die Bewegung bereits mehr als 100.000 Mitglieder und umfasste rund tausend Gemeinden. Die von ihr herausgegebene Zeitschrift „Niepokalana Zwycięża“ („Die Unbefleckte siegt”) hatte eine Auflage von 120.000 Exemplaren.

Verfolgung

Blachnickis Aktivitäten weckten von Anfang an das Misstrauen der Kommunisten und der polnischen Stasi. Im Jahr 1959 startete die kommunistische Geheimpolizei eine umfangreiche Überwachungsoperation gegen den „Kreuzzug der Nüchternheit”, Deckname „Zawada” („Hindernis’). Bald darauf folgten Dutzende von Hausdurchsuchungen bei Aktivisten, Schikanen und Einschüchterungen. Ende August 1960 umstellte die Polizei das Büro der Bewegung in einer Baracke auf einem Kirchengelände in Katowice. Alle Akten, Publikationen und Möbel wurden beschlagnahmt. Das war das Ende des Vorhabens.

Das Gefängnis in der Mikołowskastraße in Katowice. Hier saß Franciszek Blachnicki 1942 und 1961 ein

Die Kommunisten, die sich mit der großen Popularität des Priesters nicht abfinden konnten, verhafteten ihn schließlich. Im Frühjahr 1961 wurde der Geistliche wegen „Veröffentlichung illegaler Drucke und Verbreitung falscher Nachrichten über die Verfolgung der Kirche“ zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Er saß in demselben Gefängnis in Katowice ein, in dem ihn die Deutschen während des Krieges festgehalten hatten. Damals schrieb er auf: „Man darf den gegenwärtigen Zustand nicht als ein Unglück betrachten und nur in der Hoffnung leben, dass er bald vorübergeht. Im Gegenteil, man muss die Gegenwart als eine Gnade von unschätzbarem Wert betrachten, aus der man das Beste machen muss“.

Nach seiner Entlassung begann er sein Studium an der Katholischen Universität Lublin, wo er promovierte und arbeitete. Da die Behörden seine Habilitation blockierten, verließ er die Universität 1972.

Pfarrer Blachnicki bei der Jugendarbeit in den Sechzigerjahren des 20. Jh.

Blachnicki kehrte bereits in den 1960er-Jahren  zu den Ideen der Oase, eines sehr attraktiven Modells der Evangelisierung von Kindern und Jugendlichen, zurück, aus dem die Bewegung „Lebendige Kirche” und 1976 die Bewegung „Licht-Leben” hervorgingen. Die Oase-Bewegung, deren informelle Hauptstadt Krościenko wurde, ein Dorf und Kurort ca. 110 Kilometer südlich von Kraków, direkt an der slowakischen Grenze, zog Tausende von jungen Menschen an. Die Aktivitäten von Pater Blachnicki waren ein wirksamer Schlag gegen die von den Kommunisten konsequent betriebene Atheisierung und Säkularisierung.

Die enorme Bandbreite der Aktivitäten von Pater Blachnicki in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war in diesem Teil Europas nahezu beispiellos. Unter den Bedingungen eines kommunistischen Staates schuf er eine Massenbewegung, die mit ihrem Programm Hunderttausende von jungen Menschen erfasste. Die Idee der Oase-Bewegung gründet auf einer ganzheitlichen Pädagogik, in der nicht nur Einzelne, sondern ganze Gemeinschaften heranwuchsen. Sie hat das heutige Gesicht der Kirche in Polen und auch das Polens selbst geprägt.

Obwohl die kommunistischen Behörden es verboten haben, entsteht 1979 unter der Leitung von Pfarrer Blachnicki (r. i. B.) in Krościenko ein provisorisches Amphitheater für eine katholische Jugend-Großveranstaltung

Die Erfahrung, gemeinsam zu beten, zu singen oder an der Eucharistie teilzunehmen, hat bei jungen Menschen einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Von nun an verbanden sie die Kirche nicht nur mit der Hierarchie, sondern auch mit einer Gemeinschaft von Menschen und mit einer persönlichen Begegnung mit Gott. Das war das Ziel der Oase, die Pater Blachnicki der Licht-Leben-Bewegung vorangestellt hat. Es ging darum, Generationen von Katholiken heranzuziehen, die die Kirche als ihren Ort betrachten um Verantwortung für sie übernehmen zu können.

Abgabe von Beitrittserklärungen zum Kreuzzug zur Befreiung des Menschen, den Pfarrer Blachnicki 1979 ausgerufen hat. Der Beitretende verpflichtete sich, in den folgenden zwölf Monaten keinen Alkohol zu kaufen, zu trinken oder anderen Alkohol anzubieten

Über ihre Aufgaben sagte er Folgendes: „Wenn die Oase-Bewegung bei einer rein religiösen oder erzieherischen Tätigkeit stehen geblieben wäre und gesagt hätte: Wir mischen uns nicht in andere Angelegenheiten ein, denn das ist Politik, dann hätte die Bewegung ihre eigenen Grundlagen geleugnet. Die Probe aufs Exempel für die Echtheit und Fruchtbarkeit einer Bewegung ist ja gerade die Tatsache, dass aus ihr verschiedene Formen des menschlichen Engagements erwachsen“.

All das führte zu weiteren Schikanen, Verhören und Durchsuchungen in der Wohnung von Pater Blachnicki. In einer Studie der polnischen Stasi ist zu lesen: „Die Führung der Bewegung hatte als Hauptziel, sich der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft und dem sozialistischen Modell der Erziehung von Kindern und Jugendlichen entgegenzustellen. 1977 wurde eine spezielle Arbeitsgruppe gebildet, um die Oase-Bewegung zu untersuchen.” Pater Blachnicki konnte stets auf die Unterstützung des Krakauer Metropoliten Kardinal Karol Wojtyła zählen, was insofern von Bedeutung war, als die Staatssicherheit versuchte, die Kirchenhierarchie gegen den Priester auszuspielen, indem sie Gerüchte kolportierte, Blachnicki sei im Grunde ein Stasi-Zuträger.

Pfarrer Blachnicki mit Karol Wojtyła, dem damaligen Erzbischof von Kraków

Im Jahr 1997 erinnerte sich Johannes Paul II. während einer Pilgerreise nach Polen: „Ich besuchte die Oasen an verschiedenen Orten in der Erzdiözese Krakau und verteidigte die Bewegung gegen die Bedrohungen, die von der Stasi ausgingen. Alle wussten es, sowohl die Priester als auch die Jugendlichen selbst, dass der Kardinal von Krakau mit ihnen war, dass er sie unterstützte, ihnen beistand und bereit war, sie im Falle einer Gefahr zu verteidigen“, sagte der Papst. Etwa zwei Millionen Polen sind durch die Oase-Bewegung gegangen. Sie waren es, die den Grundstein für Solidarność legten und die Zivilgesellschaft formten.

Sand ins Carlsberger Getriebe

1984 kamen die neuen Mitarbeiter des Pfarrers, das Ehepaar Andrzej und Jolanta Gontarczyk und ihr Sohn Gajusz, in Carlsberg an. Sie, promovierte Soziologin, war Assistenzprofessorin am Institut für Lehrerbildung in Łódź gewesen, er Leiter der örtlichen Zweigstelle des staatlichen Filmverleihunternehmens. Sie hatten sich an den Aktivitäten der Solidarność in Polen beteiligt und schienen eine der vielen polnischen Emigrantenfamilien der 1980er-Jahre zu sein, die Polens kommunistische Behörden ziehen ließen, in der Hoffnung, die politische Opposition dadurch ausbluten zu lassen. Jolanta Gontarczyk, geborene Lange, berief sich zudem auf ihre deutsche Abstammung. Ihr Vater hatte in der Wehrmacht gedient und nach dem Krieg änderte er seinen Namen in Piławski. Nun konnte die Familie nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik im September 1982, als „Spätaussiedler”, in Düsseldorf schnell Fuß fassen. Sie bekamen bald darauf die deutsche Staatsangehörigkeit, die sie bis heute, neben der polnischen, besitzen.

In Wirklichkeit waren beide Agenten der polnischen Staatssicherheit, die bereits Ende der 1970er-Jahre angeworben wurden und vor ihrer Ausreise auf die Solidarność in Łódź angesetzt waren. Jetzt erhielten sie die Decknamen „Yon” und „Panna” („Jungfrau”). Ab Frühjahr 1982 hatte man das Agentenduo intensiv nachrichtendienstlich geschult, bevor es im Herbst nach Westdeutschland aufbrechen konnte. Sie waren gut abgeschirmt. Ihre verschlüsselten Nachrichten schickten sie an eine konspirative Adresse im oberschlesischen Gliwice. Ihr Betreuer war kein in Westdeutschland tätiger Geheimdienstmitarbeiter, sondern ein in Österreich wirkender polnischer Stasi-Offizier, mit dem sie sich in Salzburg oder im jugoslawischen Split trafen.

Das Ehepaar Gontarczyk während seiner Zeit in Carlsberg

All das zeigt, welch enorme Bedeutung die kommunistischen Behörden Pater Blachnickis Tätigkeit beimaßen. Ein Jahr lang schlichen sich ihre Agenten behutsam und beharrlich ins Vertrauen des immer noch gutgläubigen und in geschäftlichen Dingen im Westen etwas unbedarften Pfarrers ein. Dann erst zogen sie von Düsseldorf nach Carlsberg um. Się gaben sich tüchtig und verbindlich und boten sich dadurch als nützliche Helfer bei der Umsetzung der ambitionierten Pläne des Geistlichen, dem die dabei auftauchenden Probleme über den Kopf zu wachsen drohten, an.

Zu ihren operativen geheimdienstlichen Aufgaben gehörte es, die Aktivitäten des Marianum-Zentrums und des ChSWN zu kontrollieren und zu beeinflussen, die Kontakte Pater Blachnickis zum polnischen Episkopat und zum Vatikan auszuspähen, Informationen über polnische Emigrantengruppen in Westdeutschland zu beschaffen und deren eventuelle Verbindungen zu den US-amerikanischen und westdeutschen Geheimdiensten zu ermitteln.

Unterdessen betraute Pater Blachnicki die Gontarczyks mit immer wichtigeren Aufgaben. Bereits im Juni 1985 wurde Jolanta Gontarczyk Präsidentin des Christlichen Dienstes zur Befreiung der Völker (ChSWN), und ihr Ehemann wurde Berater im Vorstand des ChSWN. Im April 1986 übertrug ihnen Pater Blachnicki weitere wichtige Funktionen: Jolanta Gontarczyk war von nun an in Carlsberg verantwortlich für die Verwaltung und den Empfang sowie den ChSWN, Andrzej Gontarczyk leitete die Druckerei, den Informationsdienst und das audiovisuelle Studio.

Das Agentenduo konnte nun mit der Sabotage beginnen. Jolanta Gontarczyk verschuldete das Zentrum, indem sie Dokumente unterschlug und manipulierte. Ihr Mann beschädigte unauffällig die Maschinen in dem modernen Druckzentrum, das durch kommerzielle Aufträge Geld für Pater Blachnickis Vorhaben verdienen sollte. Immer wieder wurden Druckfristen nicht eingehalten, die Druckqualität entsprach nicht dem vereinbarten Standard, Vertragsstrafen wurden fällig, Druckmaterial ging verloren, Reparaturen mussten vorgenommen werden. Es hieß, die Geräte seien eben störanfällig.

In den letzten dreizehn Lebensmonaten von Pater Blachnicki sollten eigentlich annähernd 1,3 Millionen D-Mark eingenommen werden. Im Carlsberg-Zentrum reichte das Geld derweil nicht einmal für Benzin und Lebensmittel aus. Gegen Ende seines Lebens war der Priester angesichts des sich anbahnenden Desasters extrem überfordert und deprimiert.

Pater Blachnicki bereitete den Sohn des Ehepaars, das sein Werk auf so perfide Weise zerstörte, auf die Erstkommunion vor. Diese Zeremonie fand in Carlsberg statt. Zeugen berichten auch, dass die Gontarczyks fast jeden Tag in frevelhafter Weise die Heilige Kommunion empfingen und auch zur Beichte gingen. Deswegen seien Risse in der Ehe entstanden, denn es gab Zeiten, in denen Andrzej Gontarczyk die Last dieser Heuchelei und Scheinheiligkeit nicht ertragen konnte.

Tod in Carlsberg

Jolanta Gontarczyk vel Lange, die sich durch außergewöhnliche Rücksichtslosigkeit auszeichnete, war eine Art Krankenpflegerin für Pater Blachnicki. Sie kannte und besorgte alle seine Medikamente und verabreichte sie ihm tagsüber in der vom Arzt verordneten Reihenfolge. Selbst wenn es nicht Jolanta Gontarczyk oder ihr Ehemann waren, die die letzte Dosis des Giftes verabreichten, muss sie seine medizinischen Daten an die Zentrale weitergegeben haben. So konnten Fachleute des Geheimdienstes das richtige Gift in der richtigen Dosis vorbereiten.

In der zweiten Februarhälfte 1987 erhielt Pfarrer Blachnicki über Solidarność-Kanäle aus Brüssel die Warnung, die Gontarczyks seien auf ihn angesetzte Agenten. Der Hinweis kam aus Łódź, wo das Duo seine Zuträger-Karriere begonnen hatte, und wo man sich im Solidarność-Untergrundmilieu im Nachhinein auf erlittene Rückschläge und die Verbindung zu den Gontarczyks einen Reim machen konnte.

Pfarrer Blachnickis Sarg in Carlsberg

Am Abend des 26. Februar 1987 traf sich Pater Blachnicki mit seinen engsten Mitarbeiterinnen: Zuzanna Podlewska und Grażyna Sobieraj. Er sagte ihnen, dass die Gontarczyks das Maximilianum in den Ruin getrieben hätten, und kündigte an, am nächsten Tag ein entscheidendes Gespräch mit ihnen zu führen.

Das Gespräch mit Andrzej Gontarczyk, der für die Druckerei zuständig war, verlief nach Zeugenaussagen stürmisch. Es soll zu Handgreiflichkeiten gekommen sein. Gegen Mittag kehrte der Priester in seine Wohnung zurück und fühlte sich krank. Die Qualen setzten nach dem Mittagessen ein. Der Priester bekam einen Erstickungsanfall, musste stark husten, fiel in Ohnmacht.

Dr. Reiner Fritsch, der seit 1982 sein behandelnder Arzt war, wurde hinzugezogen. Er versuchte, den Kranken zu retten, aber die durchgeführten Maßnahmen, darunter eine Injektion ins Herz, schlugen fehl, und Pater Blachnicki starb am Nachmittag. Während des Todeskampfes und nach dem Eintritt des Todes trat aus seinem Mund ein starkes, schaumiges Sekret aus, das mit Papiertüchern abgewischt wurde. Dies führte zu dem Verdacht, dass der Tod durch eine Vergiftung verursacht worden sein könnte. Da jedoch niemandem etwas vorgeworfen wurde, gab es keine Grundlage für eine Autopsie. Dr. Fritsch kam zu dem Schluss, dass die Todesursache eine Lungenembolie war, die in Verbindung mit einem fortgeschrittenen Diabetes zum Tod führte.

Den Agenten geht es gut

Das wirklich Unfassbare geschah aber erst nach Pater Blachnickis Tod. Das enttarnte Agentenehepaar ist nicht etwa Hals über Kopf geflüchtet, sondern lebte, als wäre nichts geschehen, noch ein ganzes Jahr lang in der Bundesrepublik. Einige Monate später war der Verdacht gegen die Gontarczyks bereits so stark, dass auf der Hauptversammlung des Vereins des Christlichen Dienstes zur Befreiung der Völker (ChSWN), dessen Vorsitzende Jolanta Gontarczyk vel Lange auf Empfehlung von Pater Blachnicki war, der Vorwurf der Agentenkollaboration gegen sie erhoben wurde. Dennoch geschah nichts, obwohl westdeutsche Geheimdienste, der Verfassungsschutz und der BND, im Bilde waren. Erst im April 1988, rechtzeitig vor der bevorstehenden Verhaftung gewarnt, wurde das Duo mit Kind von der polnischen Stasi auf dem Landweg über Ӧsterreich, Jugoslawien nach Budapest evakuiert und von dort nach Warschau ausgeflogen. Die westdeutschen Stellen drückten offensichtlich beide Augen zu und waren froh, sich so des Problems der lästigen „Emigrantenquerelen” entledigt zu haben.

In Polen angekommen bekamen die Gontarczyks 10.000 DM als Rückerstattung ihres in Westdeutschland zurückgelassenen persönlichen Vermögens sowie 1.000 US-Dollar für die Renovierung einer sehr großen Wohnung im Warschauer Stadtzentrum, in der Poznańska-Straße, die sie aus einem Wohnungspool der Staatssicherheit erhalten hatten (zuvor war sie die Kontaktadresse mit dem Decknamen „Czanel II“, in der sich Führungsoffiziere mit ihren IMs trafen). Nach dem Ende des Kommunismus gelang es den Gontarczyks, die Wohnung zu privatisieren, und sie um das Jahr 2000 äußerst gewinnbringend zu verkaufen.

Die Ehe zerbrach. Andrzej Gontarczyk lebt heute zurückgezogen in Łódź. Seine geschiedene Frau hingegen, heute Jolanta Lange, scheut in  Warschau keineswegs das Licht der Ӧffentlichkeit. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des Vereins „Pro Humanum”, dessen „Aktivitäten darauf abzielen, eine offene Zivilgesellschaft aufzubauen, Diskriminierung zu bekämpfen und soziale Ausgrenzung zu verhindern”, so die Selbstdarstellung.

Jolanta Gontarczyk 1988 und Jolanta Lange heute

Bevor ihre wahre Identität im Jahr 2005 publik wurde, engagierte sich Jolanta Lange im radikalfeministischen Flügel der postkommunistischen Allianz der Demokratischen Linken (SLD). Nachdem die Postkommunisten im Jahr 2001 die Wahlen gewonnen hatten und regierende Partei wurden, bekleidete sie einen hohen Posten im Innenministerium, den sie nach ihrer Enttarnung durch die Medien räumen musste.

Der Oberbürgermeister von Warschau Rafał Trzaskowski und Jolanta Lange

Obwohl die Vergangenheit Jolanta Langes bestens bekannt war, gewährte die Stadt Warschau, die vom führenden Politiker der Bürgerplattform und ihrem Präsidentschaftskandidaten 2020 Rafał Trzaskowski regiert wird, im Jahr 2019 „Pro Humanum” einen Zuschuss von umgerechnet gut 400.000 Euro. Im Dezember 2022 wurde ein weiterer Zuschuss von umgerechnet 270.000 Euro gewährt. Beide Summen für ein vom Verein betriebenes „Multikulturelles Zentrum”. Trzaskowski sieht auch nichts Unpassendes darin, sich mit der ehemaligen rücksichtslosen Stasi-Agentin in der Ӧffentlichkeit zu zeigen.

Jolanta Lange gehört heute zu den führenden Persönlichkeiten der Warschauer linken Szene, setzt sich für LGBTQ-Belange ein, predigt Toleranz und Gleichberechtigung. Ihr unmittelbarer Chef, der Stasi-Oberst Aleksander Makowski, gehört heute zu den führenden Sicherheitsexperten des wichtigsten oppositionellen Fernsehsenders TVN. Der „Pro Humanum”-Vorstand steht derweil fest an Jolanta Langes Seite und „ist sich bewusst, dass diese Angriffe Teil einer größeren Hasskampagne gegen diejenigen sind, die sich für gleiche Bürgerrechte und gegen Diskriminierung einsetzen”, so die offizielle Stellungnahme.

Nach neuesten Berichten hat sich Jolanta Lange im Frühjahr 2023 nach Neuseeland abgesetzt.

Am 6. August 2023 verlieh Staatspräsident Andrzej Duda Pfarrer Franciszek Blachnicki postum die höchste polnische Auszeichnung, den Orden des Weißen Adlers.

© RdP