Krähen erobern Polen

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Es krächzt allerorten.

Über den Dächern polnischer Städte kreisen immer öfter nur noch die Krähen. Sie haben andere Vögel verdrängt. Bald jedoch werden auch sie verschwinden, denn schon sind die Raben im Anmarsch.

Das Wochenmagazin “Do Rzeczy“ (“Zur Sache“) vom 8. Juli 2018 hat dazu einen interessanten Bericht veröffentlicht, den wir hier in deutscher Übersetzung wiedergeben.

Das Gezwitscher der Spatzen, das Singen der Amseln, das Pfeifen, Schnalzen und Zischen der Stare ist dem Krächzen gewichen. Die Krähen sind aggressiv und clever, und nehmen inzwischen sogar Gegenden in Beschlag, die vorher von anderen Rabenvögeln beherrscht wurden, den Elstern.

Alfred Hitchcock lässt grüßen

Viele Warschauer fragen sich, weshalb sie inzwischen Vogelarten nicht mehr zu Gesicht bekommen, die sich vor zwanzig, ja sogar noch vor zehn Jahren in ihrer Umgebung zuhauf tummelten. Mehr noch, es kommt inzwischen immer wieder vor, dass Ärzte von Patienten berichten, die mit Pickwunden zu ihnen kommen. Auch Hunde und Katzen sind betroffen. Alfred Hitchcock, der Regisseur der Horrorstreifens “Die Vögel“, lässt grüßen.

“Die Vögel“ (1963) von Alfred Hitchcock, mit Tippi Hedren.

An der Warschauer Grundschule Nr. 175 musste im Frühjahr 2016 der Bürgersteig für einige Wochen gesperrt werden. „Die Brutezeit der Krähen dauert von März bis Oktober“, berichtet der Biologe Piotr Mostowski von der „Öko-Patrouille“, einer mehrköpfigen Einheit der Warschauer Kommunalpolizei, die bei Zwischenfällen mit Tieren einschreitet, die in der Millionenstadt ständig vorkommen.

Hinweis vor der Warschauer Grundschule Nr. 175. „Achtung. Aus Sicherheitsgründen ist die Benutzung des Bürgersteiges untersagt. Passanten werden von Krähen angegriffen. Die Schule trägt keine Verantwortung für eventuelle Schäden an Personen, die den Bürgersteig trotz des Verbotes betreten sollten.“

„Krähenattacken kommen in der letzten Zeit oft vor. Nebelkrähen sind auβergewöhnlich fürsorgliche Eltern. Wenn sie ihr Nest bedroht sehen, greifen sie Menschen und Tiere mit voller Wucht an“, so Mostowski.

Piotr Mostowski von der Warschauer „Öko-Patrouille“.

Dr. Andzrej Kruszewicz, Ornithologe und Direktor des Warschauer Zoos sagt, dass die Kräheninvasion schon älteren Datums sei. “Wir beobachten sie seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Krähen sind robust, erfinderisch, passen sich schnell an und fressen andere Vögel. Vor allem jedoch ist die Stadt anders geworden. Krähenfreundlich eben.“

Die wachsende Zahl der Krähen beunruhigt die Menschen. “Was sagt ihr zu unserem Marktplatz in Dobrzyń (fonetisch Dobschin – Anm. RdP)? Die schwarzen Monster haben ihn ganz und gar in Beschlag genommen. Die Bänke in der Grünanlage, die Spazierwege, der Parkplatz sind weiß von Krähenkot. Und dazu dieses unsägliche Krächzen am Morgen und am Abend, wie auf einem spukenden Gräberfeld“, so der Eintrag eines Bewohners auf dem Internet-Blog der Stadt Golub-Dobrzyń unweit von Toruń (Thorn).

Ornithologe Dr. Grzegorz Lesiński.

Fachleute jedoch sind einhellig der Meinung, dass die Krähen vor allem Warschau erobert haben. Noch vor nicht allzu langer Zeit gab es in der Hauptstadt die landesweit größte Elsterndichte, doch sie mussten den stärkeren Verwandten weichen. Ein gutes Beispiel ist die Warschauer Plattenbausiedlung aus den Sechzigerjahren, Wrzeciono (fonetisch Fschetsiono), wo der Ornithologe von der Warschauer Landwirtschafshochschule (SGGW) Dr. Grzegorz Lesiński seit 1984 seine Beobachtungen durchführt.

Hecken, Haine, Dickicht gibt es kaum mehr

In den Achtziger- und Neunzigerjahren waren hier die Elstern auf dem Vormarsch, zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen die Krähen und haben die Elstern vertrieben. Elstern gibt es heute nur noch wenige, die Krähen herrschen uneingeschränkt mit einer Dichte von sechzig Paaren pro einhundert Hektar.

“Tatsächlich gibt es in Warschau sehr viele Nebelkrähen, viel mehr als in anderen Städten“, sagt Krzysztof Janus, der sich in der Warschauer Landwirtschaftshochschule auf die Rabenvögel spezialisiert hat. Warum? “Wenn ich das wüsste, bräuchte ich mir um meine Doktorarbeit keine Sorgen zu machen! Aber im Ernst: es gibt wahrscheinlich viele Gründe. Nicht ohne Bedeutung ist die Art, wie die Grünflächen jetzt bewirtschaftet werden. Vorzugsweise werden Ziergehölze und Zierbüsche fremder Herkunft angepflanzt. Oft sind das Nadelgewächse. Hecken, Haine, Dickicht gibt es kaum mehr.“

Warschauer Zoodirektor Andrzej Kruszewicz.

Das bestätigt auch Dr. Kruszewicz. “In den Parks wird Gebüsch gelichtet, damit sich die Spaziergänger sicher fühlen. Doch wenn sich dort kein Sittenstrolch verstecken kann, dann können es die Mönchsgrasmücke und die Amsel auch nicht. Das Dickicht für die Vögel fehlt. Wir verwandeln unsere Umgebung, mit dem Ergebnis, dass sich die einen Vögel zurückziehen und sich solche wie die Krähen breitmachen. Seit einiger Zeit kommen vermehrt die Eichelhäher und es gibt immer mehr Raben, die letztendlich die Herrschaft übernehmen werden.“

Moderne Siedlungen, wo es nur noch gepflegte Rasen und einige wenige Zierbäume gibt, sind keine Orte, an denen Vögel sich verstecken und offene Nester bauen könnten. Für Elstern und Krähen eignen sie sich dagegen hervorragend.

Ein weiterer Grund ist, dass im Take-away-Zeitalter die Rabenvögel nie unter Nahrungsmangel leiden. Hinzu kommen die vielen Katzen und Steinmarder in Warschau. Vogeleier und Nestlinge sind für sie leichte Beute.

Höhlenbrüter leben länger, aber auch nicht lange

Die Kräheninvasion hat andere Vogelarten, die einst gerne ihre Nester in Städten angelegt haben, verdrängt. “Wir unterteilen die Vögel in Höhlenbrüter, die in Baumhöhlen, Häuserspalten und Vogelhäuschen nisten. Die anderen sind diejenigen, die offene Nester bauen: auf dem Boden, auf Bäumen, auf Gebäuden“, berichtet Krzysztof Janus.

Rabenvögel -Fachmann Krzysztof Janus.

“In Warschau, wo wir eine dermaßen überproportionale Herrschaft der Rabenvögel haben, können sich nur die Höhlenbrüter einigermaßen behaupten. Elstern und Krähen kommen an deren Eier und Nestlinge schwer heran. Wir sprechen hier von Spatzen, Feldsperlingen, Staren, Mauerseglern und Meisen. Ihnen gelingt es die Eier so lange zu bebrüten bis die Jungen schlüpfen und flügge werden. Doch dann geraten auch sie in Gefahr. Junge Spatzen, Feldsperlinge, Stare und Meisen zählen wir nur wenige. Die meisten fallen wahrscheinlich den Rabenvögeln zum Opfer“, so Janus.

In Łódź (Lodsch) oder in Skierniewice, einer knapp Fünfzigtausend-Einwohner-Stadt auf halbem Wege zwischen Łódź und Warschau, ist die Vogelwelt weitgehend noch eine heile Welt. Dort gibt es bis heute viele Vögel, die offene Nester bauen: Stieglitze, Grünfinken, Buchfinken, Drosseln, Amseln, Wacholderdrosseln, Turteltauben, Ringeltauben. “In Warschau findet man sie kaum mehr. Nur vereinzelt sieht oder hört man sie in Parks oder auf Friedhöfen“, sagt Janus. “Łódź und Skierniewice, wo ich als Ornithologe auch gezielt unterwegs war, hinken dem städtebaulichen Fortschritt noch deutlich hinterher. Für die Vogelvielfalt ist das lebensrettend.“

In Warschau gab es einst ziemlich viele Haubenlerchen, die ihre Nester am Boden bauen. Bis in die Achtzigerjahre ging es ihnen in der Hauptstadt ganz gut. Ab den Neunzigern, mit dem vermehrten Einzug der Elstern, ging ihre Zahl zurück. Das letzte Paar wurde in Warschau im Jahre 2005 gesichtet.

Wer war der Räuber?

Krähen vertilgen die Nestlinge anderer Vögel. Um das zu belegen, bauen die Ornithologen künstliche Nester, in die sie Wachteleier legen und ein Ei aus Plastilin. An ihm kann man ablesen, wer der Räuber war: ein Steinmarder, eine Katze oder ein Rabenvogel. Nicht selten greifen Elstern und Krähen die Nester anderer Vögel an, ausschließlich um sie zu verwüsten. Die Nestlinge werden tot gepickt und nach draußen geworfen, die Nester unbrauchbar gemacht.

Krähen-Attacke in Wrocław.

“Ich habe Krähen einige Male dabei beobachtet“, erzählt Janus. “Krähen können aber auch ohne weiteres eine Taube erlegen und sie vertilgen. Das sind Aasfresser. Wenn sie einen vom Auto überfahrenen Igel finden, vertilgen sie auch ihn. Sie brauchen viel Eiweiß beim Großziehen ihres Nachwuchses. Das finden sie dort.“

Dr. Andrzej Kruszewicz, der Warschauer Zoodirektor, kommt dienstlich viel herum und weiß, dass auch andere europäische Großstädte ein Krähenproblem haben. “In Wien gibt es kaum Nebelkrähen, wie in Warschau, dafür Schwarzkrähen in Massen. So ist es auch in Moskau, in Berlin.“

Abwarten bis es besser wird

Die Warschauer wollen nicht nur unter Krähen leben, doch die Fachleute geben sich keinen Illusionen hin. Eine Wende zum Besseren ist nicht absehbar. Das Umsiedeln von bedrohten Vogelarten in die Hauptstadt, das Zerstören der Krähennester oder gar das Abschießen haben keinen Sinn.

So lange die Lebensumstände für die Rabenvögel so günstig sind, werden sie immer wieder zurückkehren und anderen Vögeln den Lebensraum streitig machen. In Warschau gibt es inzwischen sehr viele Krähen, die keine Nester mehr bauen. Es gibt kein Platz mehr dafür, so groß ist die Krähendichte.

“Theoretisch kann man alles machen“, sagt Dr. Kruszewicz. “Ich habe vorgeschlagen Kräheneier gegen gekochte Hühnereier zu vertauschen, aber das ist nicht umsetzbar. Man müsste zur richtigen Zeit mit etlichen Hebebühnen vorfahren, um an die Nester heranzukommen. An viele kommt man sowieso nicht heran. Wer soll das koordinieren und vor allem bezahlen? Außerdem brauchte es Jahre bis sich die Lage bessert.“

Die Ornithologen sagen: abwarten.

Was soll man also tun? Die Ornithologen sagen: abwarten. Zum Beispiel härtere Winter, die erfahrungsgemäß die Krähen aus den Städten vertreiben. “Außerdem hat jede Gattung ihre eigene Dynamik“, sagt Krzysztof Janus.

“Es gibt Zeiten, in denen sie sehr zahlreich ist und dann verringert sich ihre Zahl von selbst auf Grund von Umständen, die wir oft gar nicht festmachen können. Außerdem müssen wir unbedingt auf eine vogelfreundliche Bepflanzung in den Städten setzten. Generell jedoch sollten wir uns noch auf lange Jahre des Krächzens einrichten.“

RdP