Am 25. Oktober 2015 starb Wojciech Fangor.
Seine schier grenzenlose Fantasie, seine Schaffenskraft, ein hohes Maß an Kunstverstand und sein unermüdlicher Arbeitseifer brachten ihm den wohlverdienten Titel eines Klassikers der polnischen zeitgenössischen Kunst ein.
Oft war er mit seinen Ideen, ob zu Environment- oder Op-Art-Werken, der internationalen Kunst voraus. 1970 bekam Wojciech Fangor, als bisher einziger polnischer Künstler, eine Einzelausstellung im Guggenheim-Museum in New York. Der umgängliche, eher menschenscheue Eigenbrötler konnte, wenn es darauf ankam, durchaus selbstbewusst auftreten: „Ich höre immer wieder, dass Fangor so gut sei, weil er eine Bilderschau bei Guggenheim hatte. Nein, ihr Lieben, er hatte sie, weil er so gut ist.“
Seine lange künstlerische Laufbahn bestand aus einer Vielzahl von radikalen Brüchen und Neuanfängen, einer unaufhörlichen Suche, aus Experimenten, aus Vertiefungen der Seh- und Empfindungserfahrung. Fangor ist Farbe, Form, Raum. Kubismus, Op-Art, Klassizismus.
„Wenn ich das Thema wechsle, wechsle ich auch die Ausdrucksmittel. Das unterscheidet die Perioden meines Schaffens. Aber meine Bilder – dünn oder dick, klein oder groß, sommersprossig oder schielend – stammen, obwohl von verschiedenen Müttern, alle von einem Vater. Alle gehören zu einer Familie und existieren in ein und derselben Zeit“.
Als Wojciech Fangor 1922 in Warschau auf die Welt kam, war sein Vater gerade emsig dabei sich zum Millionär emporzuarbeiten. Der agile Drogeriehändler Konrad Fangor stieg in der Zwischenkriegszeit rechtzeitig auf Buntmetalle um und belieferte polnische Waffenhersteller mit Halbzeug aus Messing, Kupfer, Blei und Aluminium. Staatliche Aufträge für seine Kunden schützten ihn vor den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, die auch Polen damals schwer in Mitleidenschaft zog.
So konnte Fangors Mutter Wanda, eine Berufspianistin, ihren künstlerischen Neigungen nach Lust und Laune frönen: Bilder und Antiquitäten sammeln, Gedichte schreiben, durch Europa reisend Kunst genieβen. Fünfzehnjährig stand Sohn Wojciech 1937 an ihrer Seite im Spanischen Pavillon auf der Internationalen Ausstellung in Paris vor Pablo Picassos „Guernica“.
Zeichnen und Malen war seit den frühsten Jahren seine Leidenschaft. Wojciech war zwölf, als die Mutter einen Packen seiner Arbeiten zu Tadeusz Pruszkowski, einem herausragenden Porträtmaler und Hochschullehrer sowie damaligem Rektor der Akademie der Bildenden Künste (ASP) in Warschau, brachte. Pruszkowski war angetan und nahm sich des Jungen, zusammen mit seinem Akademie-Kollegen, Felicjan Kowarski, an.
Unter ihrer Anleitung tauchte Wojciech ganz und gar in die Welt der Malerei ein. Nach dem Abitur wollte er an der ASP studieren, doch die Deutschen hatten sie nach ihrem Einmarsch im September 1939, wie alle polnischen Hochschulen, geschlossen. So blieb es während der ganzen Besatzungszeit beim Privatunterricht. Der Vater wurde zwar von einem deutschen „Treuhänder“ aus seiner Firma gejagt, konnte sich aber, dank seiner guten geschäftlichen Kontakte, dennoch über Wasser halten.
Tadeusz Pruszkowski begleitete Wojciech fast bis zur Mitte des Jahres 1942. Ende Juni 1942 geriet der Professor in Warschau in eine Razzia der Gestapo und wurde erschossen, als er zu fliehen versuchte. Pruszkowski und Kowarski praktizierten beide die klassische, akademische Malerei auf sehr hohem Niveau. Fangor bereute nie bei ihnen das Handwerk gelernt zu haben, aber er wollte Neues ausprobieren.
Erst einmal jedoch waren die Zeiten nicht danach. Nach dem Warschauer Aufstand (1.08 – 3.10.1944), der Vertreibung der verbliebenen Bevölkerung sowie der sich anschließenden planmäβigen Zerstörung der Stadt durch die Deutschen, welcher bis Mitte Januar 1945 die Russen vom anderen Weichselufer aus zugesehen hatten, bevor sie sich endlich entschlossen das Ruinenmeer zu „befreien“, kehrte Fangor in die völlig zerstörte Hauptstadt zurück. Seine Privatausbildung wurde anerkannt, bereits 1946 erhielt er sein ASP-Hochschuldiplom und bekam eine Dozentenstelle.
Wie im ganzen Ostblock, so beherrschte auch im kommunistischen Nachkriegspolen der sozialistische Realismus bis Mitte der 50er Jahre die Kunstlandschaft. Der Bedarf war enorm: Transparente, Banner, Plakate, Konterfeis der „Heiligen des Kommunismus“ wie Marx, Engels, Lenin, Stalin. Dekorationen zum 1. Mai, zum 22. Juli (kommunistischer Nationalfeiertag), zum Jahrestag der russischen Oktoberrevolution usw. Fangor malte Propaganda, aber mit Talent. Seine Bilder „Gestalten“ (1950), „Koreanische Mutter“ (1951) und die Wandmalerei „Sensen werden geschmiedet“ (1954) gelten heute als mit die wichtigsten Werke des sozialistischen Realismus in der polnischen Malerei. Ebenso seine Plakate aus jener Zeit, wobei seine Filmaffiche zu den „Mauern von Malaga“ des französischen Regisseurs René Clément aus dem Jahr 1952 als ein Vorbote der später berühmt gewordenen polnischen Schule der Plakatkunst angesehen wird.
Mit Josef Stalins Tod 1953 und dem bis zum Herbst 1956 immer schneller um sich greifenden politischen Tauwetter, brachen auch die Dämme des aufgezwungenen sozialistischen Realismus. Endlich konnte Fangor seiner Fantasie freien Lauf lassen. Abstrakte Kunst war sein Element. Der Raum als künstlerisches Material sollte von nun an seine Kunst beherrschen.
Bereits 1957 zeigte er in der Zachęta-Galerie in Warschau die zusammen mit den Architekten Oskar Hansen und Stanisław Zamecznik realisierte „Räumliche Komposition“. Im folgenden Jahr stellte er, gemeinsam mit Zamecznik, das „Studium des Raums“ im Salon der Neuen Kultur in Warschau vor. Es handelte sich um das erste Environment zwischen Elbe und Wladiwostok. Environment ist eine künstlerische Arbeit, die sich mit der Beziehung zwischen dem Gegenstand und seiner Umgebung auseinandersetzt. Die Umgebung wird zu einem Teil des Kunstwerkes.
Schnell wurde es Fangor in Polen zu eng. In dem nach außen hin so ruhigen Einzelgänger kochte geradezu der Drang die „richtige“, weite Welt der modernen Kunst nicht nur zu erleben, sondern sie mitzugestalten. Auf den Hochmut folgte der Erfolg.
1961 lieβen ihn die Behörden mit einem Stipendium des Institute for Contemporary Art in der Tasche nach Washington gehen. Es war der Beginn einer 38 Jahre lang dauernden Odyssee, die erst 1999 mit Fangors Rückkehr in die Heimat enden sollte.
Mit einem Stipendium der Ford Foundation ging er anschlieβend nach Westberlin, unterrichtete danach in der Bath Academy of Art in Corsham/Wiltshire in England. Er wohnte zwischen 1966 und 1999 in den USA, wo er an den führenden Kunsthochschulen des Landes, der Farleigh Dickinson University, Madison, N.J. und der Graduate School of Design, Harvard University, Cambridge, Massachusetts kontinuierlich Vorlesungen hielt.
Fangor widmete sich in den 60er und 70er Jahren ganz und gar dem Minimalismus und der optischen Kunst (Op-Art), die beim Betrachter überraschende, auch irritierende, Seheffekte erzeugt, die Vorstellung von Bewegung, Flimmern, Pulsieren sowie optische Täuschungen. Es war in Fangors Schaffen die Periode der Bilder und Nachbilder mit Kreisen, Wellen, Streifen und dunstigen, verschwommenen Rändern. Die 37 Arbeiten dieser Art, die er 1970 bei Guggenheim in New York zeigte, gelten bis heute als bahnbrechend für die Entwicklung der Op-Art als Kunstrichtung.
Mitte der 70er Jahre kehrte Fangor zur figurativen Malerei zurück. Er malte dreidimensionale Studien von Innenräumen, trat ein in den Dialog mit bekannten Werken der Kunstgeschichte, schuf eine Serie von „Fernseharbeiten“, die er mit einem Netz von Punkten/Pixeln bedeckte, wodurch der visuelle Effekt einer Fernsehübertragung erreicht wurde.
In seinen neuen Werken griff er oft auf frühere Arbeiten zurück. Er vergrößerte sie auf dem Bildschirm, wählte Fragmente aus, druckte davon große Schautafeln und überarbeitete sie, spielte mit ihnen, verband das Neue mit dem Alten.
Fangor machte Kunst nach Gefühl, aus dem Bauch heraus. Das Theoretisieren überlieβ er anderen. „Die Theorien ergeben sich aus den Bildern und nicht die Bilder aus den Theorien“, pflegte er zu sagen.
Seinen enormen Erfolg konnte er auch anhand der Preise, die seine Werke erreichten, messen. Dem Warschauer Auktionshaus Desa Unicum gelang es Anfang Oktober 2015 sein Bild „M58“ von 1970 für umgerechnet ca. 220.000 Euro zu verkaufen. Wenige Tage zuvor ging Fangors Bild „M64“ aus dem gleichen Jahr beim Auktionshaus Polswiss Art in Warschau für ca. 145.000 Euro über den Ladentisch. Preise aus den Jahren 2013-2014: „M15“ von 1970 – ca. 150.000 Euro, „M8” von 1969 – 120.000 Euro. Am 30. September 2015 schlieβlich, dieses Mal bei Christie’s in New York, bezahlte ein Bieter für einen Fangor gut 200.000 Euro.
Alle diese Werke gelangten in Museen und Privatsammlungen. Für die große Allgemeinheit zugänglich ist Fangors Schaffen nur in Warschau. Im Jahre 2007 übernahm er die grafische Gestaltung aller Stationen der 2. Strecke der Warschauer Untergrundbahn. Als die Stadt versuchte seine vorher von ihr akzeptierten und bezahlten Entwürfe zu „vereinfachen“, prozessierte er und gewann.
Nach der Rückkehr nach Polen kaufte und renovierte der Künstler aufwendig ein altes Mühlenhaus im Dorf Błędów (phonetisch: Buenduw), etwa 60 km südlich von Warschau.
Dort arbeitete er bis zuletzt, und dort starb er mit 93 Jahren. Wojciech Fangor wurde auf dem Warschauer Powązki (phonetisch: Powonski)-Friedhof beigesetzt.
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