Am 3. Februar 2022 starb Jarosław Marek Rymkiewicz.
Es ist, als wäre plötzlich ein Vulkan erloschen. Wie kein anderer Autor hat Jarosław Marek Rymkiewicz im letzten Jahrzehnt die polnische politische Debatte durch seine sonderbaren Werke und seine prägnanten publizistischen Zwischenrufe befruchtet und befeuert. Das Parlament in Warschau gedachte seiner einhellig mit einer Schweigeminute. In einer gleichzeitig per Akklamation verabschiedeten Entschließung heißt es: „Der Sejm der Republik Polen hebt die Bedeutung des literarischen Werkes von Jarosław Marek Rymkiewicz hervor und würdigt sein Andenken.“
Für diejenigen, die er in seinen Bann zog, verkörperte Rymkiewicz geradezu vollkommen den hochintellektuellen und zugleich beredsamen Patrioten, den letzten polnischen Dichterpropheten, der sich ernste Sorgen um sein Land machte. In den Augen seiner erbitterten linksliberalen Gegner war er „eine Galionsfigur der Rechten“, „ein Nationalist“, „ein Wutschriftsteller“, der „mit seinen medialen Auftritten der verschwörungstheoretischen Zuspitzung rechtsnationaler Positionen Vorschub leistete“.
Schelte und Lob
Solcher und ähnlicher Umschreibungen bediente sich auch das winzige Häuflein deutschsprachiger Autoren, die sich der Person Rymkiewicz und seines Schaffens annahmen. Sie sahen ihre Aufgabe darin, den Literaten und sein Werk ihrem deutschen Publikum zu verleiden. Meistens traf das ins Leere, denn außer seinen zwei frühen Büchern: „Polnische Gespräche im Sommer 1983“ (bei Suhrkamp) und „Umschlagplatz“ (1988 bei Rowohlt) gibt es nichts auf Deutsch von ihm.
Zähneknirschend sahen sich zugleich seine schärfsten polnischen wie auch seine deutschen Kritiker gezwungen, Rymkiewicz eine herausragende poetische und schriftstellerische Begabung zu bescheinigen. Angesichts der vielen angesehenen Literaturpreise, die er (so die FAZ) „abgeräumt“ hat, blieb ihnen auch nichts anderes übrig.
Sogar die „Gazeta Wyborcza“, das linksradikale Kampfblatt gegen alles traditionell Polnische, kam nicht umhin, Rymkiewicz 2003 mit ihrem Nike-Literaturpreis für seinen Gedichtband „Sonnenuntergang in Milanówek“ zu ehren. Der Preisträger blieb der Preisverleihung demonstrativ fern.
Im beschaulichen Milanówek übrigens, am Rande von Warschau, bewohnte Rymkiewicz seit 1995 mit seiner Frau Ewa – Sohn Wawrzyniec (fonetisch: Wawschinjetz) war längst erwachsen – bis zuletzt ein Haus mit großem Garten.
Das Lob der Gegner kam aufgesetzt und verklausuliert daher, aber es kam, z. B. im Jahr 2020 in der deutschen Fachzeitschrift „Osteuropa“. Nach der unvermeidlichen, seitenlangen, politisch korrekten Gesinnungsschelte hieß es dort immerhin:
„Rymkiewiczs Prosa fasziniert durch detailbesessene, suggestive Bilder wie auch durch eine kraftvolle und zugleich dichterisch sensible Sprache. Eine durchaus ironische Kommentierung des eigenen Schreibens sowie eine existenzielle, dunkle Reflexion machen sein Werk zu einem vielschichtigen und äußerst mehrdeutigen.“
„Rymkiewicz beherrscht (…) eine kraftvolle und mehrdeutige Sprache literarischer, darunter auch poetischer Bilder. Ohne Frage ist es die Letztere, die ihn zu einer schillernden Figur des radikalkonservativen Lagers macht.“
„Rymkiewiczs Prosa ist alles andere als schlichte Propagandaliteratur.“
„Osteuropa“ bescheinigte Rymkiewicz auch, er sei als Professor der Literaturgeschichte und Autor etlicher literaturhistorischer Bücher, ein „hervorragender Kenner der polnischen Romantik“ gewesen. Immerhin hat er zwischen 1987 und 2018 sechs spannende, umfangreiche Schriften allein Adam Mickiewicz gewidmet. Doch in Wirklichkeit war Jarosław Marek Rymkiewicz viel mehr: der wohl letzte große Romantiker in der polnischen Literatur.
Freiheit und die Mystik der Dichterpropheten
Abweichend vom Haupttrend im übrigen Europa, beschränkte sich die polnische Romantik nicht auf literarische und künstlerische Belange. Als sie sich in der polnischen Literatur um 1820 zu etablieren begann, war Polen seiner Unabhängigkeit beraubt, von der Europakarte getilgt, und das sollte noch generationenlang, bis 1918, so sein.
Polens Romantiker, allen voran Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki (fonetisch: Suowatski), befeuerten mit ihrer grandiosen Dichtung eine ideologische, philosophische und politische Bewegung, die die Ideale, Lebensweise und Sehnsüchte der polnischen Nation ausdrückte. Polens Romantiker schworen der reinen Vernunft ab. Das Ringen um Freiheit, sagten sie, egal wie aussichtslos, hat immer einen Sinn, denn auch aus den blutigsten Niederlagen erwachsen neue Ansätze für die Fortführung dieses Kampfes.
Die wichtigsten Erkenntnisse, Anregungen, Ideen schöpften die Romantiker aus und bezogen sie auf die Geschichte der eigenen Nation. Jetzt war Polen unfrei, konnte aber damals schon stolz auf gut achthundert Jahre eigener Staatlichkeit zurückblicken. Und so sangen sie Hohelieder auf althergebrachte Bräuche und Sitten, auf die einstigen nationalen Triumphe, auf das kleinadelige ländliche Dasein im „zaścianek“, dem „Edelweiler“, auf die Freiheit der Polen ihr Leben frei zu gestalten, so wie es in der Zeit der Adelsrepublik war.
Es war damals eine Haltung und Lebensart, die auf spezielle Weise das Polentum mit der christlichen und antiken Tradition verbunden und sich durch eine tiefe Religiosität ausgezeichnet hat. Vor allem aber idealisierten die Romantiker das Polen aus der Zeit vor den Teilungen als ein Musterbeispiel für einen Republikanismus, der die Freiheit des Einzelnen und der Völker verteidigte.
Viele polnische Romantiker flohen nach dem 1832 gescheiterten November-Nationalaufstand ins Ausland. Mit der sogenannten Großen Emigration, der Masse der damals von Verfolgung bedrohter polnischer Soldaten, Offiziere, Adeligen, Politiker strandeten sie zumeist in Frankreich. Ihr Schaffen wurde jetzt direkt von den Idealen des politischen Freiheitskampfes, vom Drang nach der Unabhängigkeit Polens beherrscht.
Ihr Schaffen bekam zudem zunehmend mystische Züge, was seinen höchsten Ausdruck in Adam Mickiewiczs Dramenzyklus „Die Ahnenfeier“ fand. Traum und Wirklichkeit, eine hochpoetische Vision der künftigen Wiedererstehung Polens und die Aufwallung des Zorns gegen das Leiden der geknechteten Nation, die sich in ein Aufbegehren gegen Gott verwandelt. Liebe und Verrat, Polen und Russland, Sein oder Nichtsein. Das alles vermengt sich auf der Bühne zu einem nationalen Hochamt, und das hypnotisierte Publikum erstarrt in andächtiger Stille.
Der romantische Poet wird hier zum „Wieszcz“ (fonetisch: wjeschtsch), zu einem Dichterpropheten, einem geistigen Führer der Nation, die für ihre Unabhängigkeit kämpft. In den Olymp der Dichterpropheten, deren Namen mit dem Zusatz „Wieszcz“ geschmückt werden, hat die polnische Nation nur drei ihrer besten Romantiker aufgenommen: Adam Mickiewicz (1798-1855), Juliusz Słowacki (1809-1849) und Zygmunt Krasiński (1812-1859).
Die Verwandlung Jarosław Marek Rymkiewiczs vom exzellenten Kenner zum eifrig praktizierenden polnischen Literaturromantiker vollzog sich im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts. Der Schriftsteller hatte damals, wie wir heute wissen, bereits etwa dreiviertel seines Lebens hinter sich gelassen.
Bereits viel früher war er zu der Überzeugung gelangt, dass die Kunst die Macht hat, die Welt zu verändern. Jetzt waren seine Begabung und Erfahrung reif dafür, dem Beispiel von Mickiewicz zu folgen und dieses Prinzip in die Tat umzusetzen. Nun konnte Rymkiewicz, wie es „Die Welt“ formulierte, so „richtig aufdrehen“.
Den deutschen Nachnamen abgelegt
1935 in Warschau als Jarosław Marek Szulc geboren, erlebte er ab September 1939, weitgehend bewusst, das Grauen der deutschen Besatzung und des Warschauer Aufstandes im August/September 1944. Die Familie entkam nur durch Zufall dem Inferno der Kämpfe, die in ihrer Intensität denen in Stalingrad in nichts nachstanden. Ende Juli 1944 für einige Tage zur Sommerfrische aufs Land dicht bei Warschau aufgebrochen, wurden sie vom Ausbruch des Aufstandes überrascht. An manchen Nächten war es fast taghell, erinnerte sich später Rymkiewicz. Warschau brannte lichterloh, man sah den roten Feuerschein verheerender Brände.
Nach 63 Tagen, am 3. Oktober 1944, kapitulierten die Aufständischen. Einige Zehntausend Zivilisten die überlebt hatten wurden aus den Warschauer Ruinen vertrieben, damit sich die Deutschen ungehindert der planmäßigen Zerstörung der erhalten gebliebenen Reste der nun menschenleeren Stadt widmen konnten. Nach dreieinhalb Monaten, am 17. Januar 1945, „befreiten“ die Sowjets das entvölkerte Ruinenmeer. Zuvor hatten sie dem Treiben der deutschen Soldaten, ebenso wie dem Aufstand, vom östlichen Weichselufer tatenlos zugesehen.
Die Familie, die in Warschau alles verloren hatte zog in das unzerstörte Łódź/Lodsch und beantragte, unter dem Einfluss der Kriegserlebnisse, als Erstes die Ablegung des deutschen Nachnamens in polnischer Schreibweise: Szulc. Er wurde ersetzt durch Rymkiewicz, das literarische Pseudonym von Vater Władysław, eines Anwalts und in der Zwischenkriegszeit durchaus anerkannten Prosaautors. Mutter Hanna war Ärztin.
Rymkiewicz hat mit Deutschland nie Frieden geschlossen. In seinem Buch von 2008, mit dem deutschen Titel im Original: „Kinderszenen“, verarbeitete er seine Kindheitserlebnisse. Er schrieb: „Ich mache den Deutschen keine großen Vorwürfe. Ich möchte nur, dass sie wissen, was sie mir angetan haben“, denn seine „Kindheit war ein großes Loch voll schwarzen Blutes“ und deswegen „haben wir den Deutschen zu schnell und zu leicht vergeben. Es gibt Dinge in der Geschichte, die werden nie vergeben.“
Da blieb er konsequent. Den FAZ-Korrespondenten wollte er nicht zu Hause treffen. Ein Gespräch ja, aber nur am Telefon. Das war 2016.
Erst verblendet, dann gewendet
Rymkiewicz wuchs in der schlimmen Zeit des Stalinismus auf, der Ende der 1940er-Jahre, auf Geheiß Moskaus, auch von Polen Besitz ergriff. Die Eltern traten in die kommunistische Partei ein. Der Sohn, zunächst als Gymnasiast, dann als Student der Polonistik an der Universität Łódź, war Mitglied im Kommunistischen Jugendverband.
„Ich war völlig indoktriniert. Ich habe gedacht, was man mir befahl. Sowjetrussland erschien mir als das ideale Modell der Zukunft. Und als ein Entwurf für das größte Glück der Menschheit. Ich habe Stalin geliebt. Ich habe als Kind einen Verbrecher geliebt“, erinnerte er sich Jahrzehnte später. Stalin starb im März 1953. Rymkiewicz war damals knapp 18 Jahre alt. Die Scheuklappen der ideologischen Sturheit hat er schnell abgelegt.
Im politischen Tauwetter nach Stalins Tod veröffentlichte der erst 22-jährige Rymkiewicz 1957 seinen ersten Gedichtband, auf den, bis 2017, fünfzehn weitere folgten. Bald begann er, Komödien und antikebezogene Dramen zu schreiben sowie Gedichte ins Polnische zu übersetzen: Calderón, Flaubert, Mandelstam, Wallace Stevens. Die Kritik war angetan von dem Jungliteraten, einem Sprachvirtuosen, zu dessen wichtigsten Künstlergaben ein feiner, eindringlicher Beobachtungssinn gehörte.
Der einst radikale Jungstalinist verwandelte sich in einen weitgehend angepassten Universitätsdichter, der damit beschäftigt war, das Fundament seiner literarischen Karriere zu gießen. Rymkiewicz wurde in den Schriftstellerverband aufgenommen, bekam 1965 eine Stelle im Warschauer Institut für Literaturforschung (IBL) der Polnischen Akademie der Wissenschaften, einem Hort kluger und kritischer Köpfe.
Noch wagte er nicht offen aufzumucken und unterschrieb, auf Geheiß der kommunistischen Partei, im April 1964 den sogenannten „Gegenbrief“, signiert von etwa sechshundert polnischen Autoren. Es war ein von oben befohlener Protest gegen „eine von der westlichen Presse und dem subversiven Radiosender Free Europe gegen Volkspolen organisierte Verleumdungskampagne“.
Westliche Medien berichteten damals ausführlich über den sogenannten „Brief der 34“. Vierunddreißig polnische Intellektuelle hatten im März 1964 zum ersten Mal den Mut aufgebracht, in einem offenen Schreiben an den damaligen Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz, gegen die Verschärfung der Pressezensur zu protestieren. „Die Unterzeichner“, hieß es in dem Brief, „die das Vorhandensein der öffentlichen Meinung, des Rechtes auf Kritik, freie Diskussion und verlässliche Information als einen notwendigen Bestandteil des Fortschritts betrachten, fordern eine Änderung der polnischen Kulturpolitik im Sinne der durch die Verfassung des polnischen Staates garantierten Rechte und im Einklang mit dem Wohle der Nation“.
In jener Zeit äußerte Rymkiewicz im kleinen Kreis bereits immer wieder Kritik am Kommunismus. Er wurde denunziert und seine Kritik kam der Staatssicherheit zu Ohren. Der Historiker Piotr Gontarczyk hat Rymkiewiczs Stasi-Akte analysiert und stellte fest, dass die polnische Stasi sich ihn bereits 1963 vorgenommen hatte. Man hat ihn immer wieder über längere Zeitabschnitte beschattet, Denunzianten wurden auf ihn angesetzt. Später, als sich Rymkiewicz der intellektuellen Opposition anschloss, regte die Stasi Schmähungen an, die in der offiziellen Presse über ihn veröffentlicht wurden, streute ehrrührige Gerüchte über ihn. Sein Telefon wurde abgehört, seine Post geöffnet, er durfte nicht ins Ausland reisen, die Zensur zerpflückte regelmäßig seine zur Veröffentlichung vorbereiteten Texte.
Erfolge waren den Verfolgern damit nicht beschieden. „Der Dichter“, so der Historiker Gontarczyk, „verhielt sich distanziert, war nicht sehr gesprächig und pflegte nicht viele Kontakte“. Bereits in den 1960er-Jahren vermerkte ein Stasi-Beamter in seiner Akte: „JMR hat sich trotz zahlreicher moralischer und materieller Repressalien, die wir ihm auferlegt haben, nicht verändert“. So blieb es bis zum Ende des Kommunismus 1989.
Ein Schöngeist wird politisch
Vorher waren da noch die sechzehn Monate (September 1980 bis Dezember 1981) der Freiheit mit Solidarność. Sie endeten am 13. Dezember 1981 mit der Verhängung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski.
Die Niederschlagung der Solidarność war noch in lebhafter und bitterer Erinnerung, als Rymkiewiczs Prosadebüt „Polnische Gespräche im Sommer 1983“ zuerst im Untergrund in Polen und bald darauf auf Polnisch in einem Exilverlag in Paris erschien.
Vordergründig handelt es sich hier um eine Plauderei unter etwa einem Dutzend Urlaubern: zumeist Literaten und Wissenschaftlern, die jenen Sommer 1983 in einer Pension im idyllischen Nordosten Polens verbringen. Aber wenn es nicht gerade um die Suche nach Pilzen und Flusskrebsen geht, dreht sich das Gespräch um das frische Trauma, die abermalige Niederwalzung des ewigen polnischen Kampfes für Freiheit und Selbstbestimmung. Eine Plauderei, zeitweise auch ironisches Selbstgespräch, mit philosophischem Tiefgang. Einer der Teilnehmer, der „Herr Mareczek“ (die Koseform von Marek), ist Schriftsteller, das Alter Ego des Autors.
Die gute literarische Qualität des Romans und sein Erfolg brachten die kommunistischen Behörden in Rage. Rymkiewicz wurde 1985, zur Strafe, aus dem Warschauer Institut für Literaturforschung entlassen.
Bald darauf, 1988, machte er mit dem Roman „Umschlagplatz“ von sich reden. So nannten die Deutschen einen von hohen Mauern umgebenen, geräumigen Fabrikhof mit einer Eisenbahnrampe im Warschauer Ghetto, von der sie nach und nach etwa 300.000 Juden in ins Vernichtungslager abtransportierten. Hier tritt der Autor recht unvermittelt in Erscheinung: als junger Schriftsteller Jaroslaw, der mit seinem jüdischen Kollegen Icyk Mandelbaum nach dem Krieg im ausführlichen Dialog zu ergründen versucht, was geschehen war. Zugleich führt Rymkiewicz seine Leser wie ein Stadtführer durch das Warschau der damaligen Gegenwart, um materielle Spuren der Judenvernichtung zu sichten.
Zu viel der Versöhnung
Um die Jahrtausendwende vollzog sich bei dem Dichter und Schriftsteller aus Milanówek ein allmählicher Wandel. Immer mehr kam ein neuer Rymkiewicz zum Tragen. Als Mensch war er ganz der alte geblieben: zurückhaltend, freundlich, höflich, großmütig. Doch in seinem Schaffen wichen Feinsinnigkeit, Gelassenheit, Lust zur Ironie zunehmend einer leidenschaftlichen Engagiertheit.
Rymkiewicz ruderte damit heftig gegen den Strom an. Die im Lande vorherrschende Literaturkritik, eher linker Abstammung, predigte nämlich, verlangte geradezu, dass Schriftsteller, insbesondere die Jüngeren unter ihnen, sich im unabhängigen Polen von der Erfüllung traditioneller gesellschaftlicher Verpflichtungen befreit fühlen sollen.
Mit Lob und Preisen wurde und wird bis jetzt überhäuft, wer sich „modern“ und „europäisch“ gibt, sich von seinem Land lossagt. Unter den Bedingungen der Freiheit, so die Botschaft, habe nach etwa zweihundert Jahren die „romantische Grundauffassung” „endlich“ ihre Gültigkeit verloren. Sie habe die Sprache und die Botschaften der polnischen Literatur in der Zeit der nationalen und politischen Unterdrückung geprägt. Jetzt müsse Schluss damit sein.
Rymkiewicz derweil teilte voll und ganz die gesellschaftliche Diagnose, die ein anderer herausragender polnischer Dichter, Zbigniew Herbert (1924-1998), schon kurz nach dem Ende des Kommunismus stellte:
„Der wirtschaftliche Ruin, die ökologische Katastrophe usw., die uns die Kommunisten hinterlassen haben, sind Aufgaben, mit denen sich noch Generationen werden herumschlagen müssen.
Doch die moralisch-geistigen Verheerungen bei den Nationen, die besetzt waren, sind noch schwerer zu beseitigen, zumal sich niemand ernsthaft mit diesem Problem befasst. Das Chaos betrifft nicht nur solche elementaren Begriffe wie Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Verbrechen und Strafe. Auch solche gewöhnlichen, unendliche Male wiederholten Wörter wie Reform, Privatisierung, freier Markt oder Inflation haben ihre Bedeutung verloren. Mit einer Gesellschaft, die sich im Zustand einer schweren Orientierungslosigkeit befindet, kann man alles machen“, so Herbert.
Deswegen schloss sich Rymkiewicz bereits zu Beginn der 1990er Jahre den Kritikern der sogenannten demokratischen Umwandlung in Polen an. Er konnte nicht zusehen, wie sich ein Teil der alten Solidarność-Garde, allen voran die einstigen Helden des antikommunistischen Widerstandes: Lech Wałęsa und Adam Michnik, mit dem Ex-Diktator Jaruzelski und seinem kommunistischen Hofstaat geradezu verbrüderten. So sah die „nationale Aussöhnung“ aus, nachdem ein „dicker Strich“ unter die kommunistische Vergangenheit gezogen worden war.
Der Begriff „dicker Strich“ stammt vom ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten nach 1989, Tadeusz Mazowiecki (1927-2013). Kommunisten: all die Apparatschiks, Stasi-Leute, Wissenschaftler, Militärs, Richter, Wirtschaftsfunktionäre, die blitzschnell ihre roten Parteibücher gegen Scheckhefte eingetauscht und die auch Rymkiewicz jahrzehntelang das Leben verleidet hatten, durften nun, ohne Reue zu zeigen und Buße tun zu müssen, an dem neuen politischen und ökonomischen Vorhaben mit dem Namen Dritte Polnische Republik (III Rzeczpospolita) teilhaben.
Eine der wichtigsten Grundideen dieses Vorhabens war ein ungezügelter Vulgärliberalismus. Ein Kapitalismus aus den kommunistischen Karikaturen wurde Wirklichkeit. Raubprivatisierungen mehrten den Wohlstand Weniger und die Armut, Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit Hunderttausender. Wer aus diesem Jammertal keinen Ausweg fand war selbst schuld. Schließlich haben wir doch alle einen Kopf, zwei Hände und sind somit Schmiede des eigenen Glücks. Die einen packen es, die anderen nicht, so ist es nun einmal.
Diese Allianz der Solidarność-„Fortschrittlichen“ mit den Postkommunisten, die in den 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre Polens Politik, Wirtschaft und Kultur beherrschte, bevorzugte das einfachste und aus ihrer Sicht bequemste Modernisierungsmodell: das Kopiergerät-Prinzip. Bloß schnell den „Ballast“ der „rückständigen“ polnischen Lebensart, Kultur, Tradition, Geschichte über Bord werfen. Nur so erleichtert, konnte der polnische Ballon schnell und problemlos im siebenten EU-Himmel ankommen.
Rymkiewiczs Polen
Für Rymkiewicz war die Frage, ob und wie Polen als Nation überleben werde, von grundlegender Bedeutung. Der zunehmende ideologische, linksliberale Herrschaftsanspruch der EU und die Globalisierung als neueste Gefahr für alles Lokale verstärkten seine Besorgnis noch. Rymkiewicz forderte „Widerstand“.
Den stärksten polnischen Widerständler sah er im konservativen Parteiführer Jaroslaw Kaczyński, auf den er, zur Ermutigung, eines seiner politischen Gedichte schrieb. Das war im April 2010, als der beim Flugzeugabsturz nahe Smolensk ums Leben gekommene Bruder Jaroslaws und Polens Staatspräsident Lech Kaczyński zu Grabe getragen wurde.
„Und wieder gibt es zwei Polen – zwei seiner Antlitze
[…]
Zwei Polen – das eine, das gekannt haben die Propheten
Und das andere, das in die Umarmung des Zaren des Nordens getreten
Zwei Polen – das eine will den Applaus der Welt erfahren
Und das andere, das wird auf der Geschützlafette zum Friedhof gefahren
[…]
Was uns entzweit hat, das lässt sich nicht mehr kitten
Man darf Polen nicht Dieben feilbieten
Die es uns klauen wollen, um es der Welt zu verkaufen
Jarosław! Was Sie Ihrem Bruder schulden, ist nicht abgelaufen!“(Übersetzung RdP)
In den bewegenden und bewegten Tagen nach der Smolensk-Flugzeugkatastrophe, in denen das Gedicht entstanden ist, sprach Rymkiewicz Millionen von Menschen tief aus der Seele. Das unmittelbare politische Engagement Rymkiewiczs, der von jetzt an als „PiS-Schriftsteller“ von seinen Gegnern kleingeredet wurde, blieb jedoch eher dürftig.
Er meldete sich ab und an dezidiert in den Medien zu Wort, schrieb seine viel beachteten, mit klaren Botschaften versehenen Prosabände, aber Wahlkampfauftritten und anderen rein politischen Veranstaltungen blieb er stets demonstrativ fern. Da war ihm etwa der „SPD-Schriftsteller“ Günter Grass um vieles voraus.
Es war damals, am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, an der Zeit, so Rymkiewiczs Überzeugung, den Polen, über die Literatur, einen anderen Weg zu zeigen. Nicht den Weg der Anpassung, den Weg der von der neuen, linksliberalen Elite verordneten Einsicht in die Notwendigkeit des Kleinbeigebens, der Entwurzelung durch erzwungene Massenemigration, des Vertröstetwerdens von den Vulgärliberalen auf eine unbestimmte Zukunft, in der der Tisch der Reichen endlich so voll gedeckt sein würde, dass auch für die gebeutelten Massen etwas mehr abfällt.
Der Romantiker Adam Mickiewicz verfasste 1833 eine seiner wichtigsten politischen Schriften mit dem Titel „Über vernünftige und wahnsinnige Menschen“. Er stellte dem rationalen Handeln, dem Sich-Abfinden mit der Niederlage, den moralischen Widerstand entgegen: die Grenzüberschreitung, Selbstaufopferung, den Todesmut, die der rational Handelnde als „Wahnsinn“ bezeichnen würde. Mickiewicz unterteilte die Polen in „Vernünftige“ und „Wahnsinnige“. Letzteren galt seine Sympathie. Ohne sie werde das aufgeteilte Polen im Nebel der Zeit in Vergessenheit geraten. „Wer wird es rufen, das vergessene Volk aus grauem Zwielicht?“
Rymkiewicz griff diese Zweigliederung auf und setzte sie in einen jetztzeitgerechten Bezugsrahmen, in dem er die angepassten, „vernünftigen“ polnischen Europäer ihren „wahnsinnigen“ Landsleuten gegenüberstellte. Er schrieb dazu:
„Man muss also wählen: Entweder werden wir vernünftige Menschen sein und verlieren Polen oder wir werden zu wahnsinnigen Menschen und tragen zur Rettung Polens bei.“
Ginge es nach den „Vernünftigen“, gäbe es uns nicht
In die polnische Literaturgeschichte ist Rymkiewicz vor allem mit seinem Spätwerk eingegangen. Es sind vier Bücher: „Wieszanie“ („Das Henken“, 2007), „Kinderszenen“ (so der deutsche Titel im Original, 2008), „Samuel Zborowski“ (2010) und „Reytan. Upadek Polski“ („Reytan. Der Untergang Polens“, 2013).
In diesen einzigartigen, breit kommentierten essayistischen Prosabänden ging Rymkiewicz auf die Geschehnisse der polnischen Geschichte ein, in denen sich das für die Polen typische Aufbegehren gegen Fremdherrschaft, ihr Hang zu einer radikal verstandenen Freiheit und ihre Verachtung für den Tod offenbaren. Scheinbar sind es nur vernunftwidrige, gar wahnsinnige Gesten und Taten gewesen. Rymkiewicz sah das wie Adam Mickiewicz.
Gleichzeitig zog er Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, kommentierte auf dem Umweg über die Geschichte die Situation im heutigen Polen.
Wie funktionierte das? In seinem Buch „Das Henken“ bildet er essayistisch eine blutige Episode aus der Geschichte des Aufstands von 1794 nach. Es war der letzte verzweifelte Versuch, die endgültige Aufteilung Polens zu verhindern. Aufgebrachte Warschauer zerrten von Russland bezahlte Verräter: Politiker und Geistliche an den Galgen. Rymkiewicz lässt sich breit über die Bedeutung (auch die metaphysische) dieses Ereignisses aus, verteidigt die Wut dieser „wahnsinnigen“ Polen. Und irgendwann bringt er mit seinem leicht sarkastischen Humor sein Bedauern darüber zum Ausdruck, dass es nach 1989 nicht zu ähnlichen Exekutionen von Kommunisten gekommen sei.
In „Kinderszenen“ nahm Rymkiewicz ein Ereignis aus dem Warschauer Aufstand von 1944 zum Gegenstand. Ein mit Sprengstoff gespicktes, wahrscheinlich absichtlich zurückgelassenes deutsches Panzerfahrzeug ging in die Luft, inmitten einer ausgelassenen Menge, die die Trophäe begutachtete. Mehrere Hundert Aufständische und Zivilisten kamen ums Leben. Ihre zerfetzten Leiber und Eingeweide hingen herab von Bäumen und Balkonen.
Auch dieses Ereignis nimmt Rymkiewicz zum Anlass, den Aufstand zu rechtfertigen. Die „Vernünftigen“, vor allem die Kommunisten nach dem Krieg, haben ihn oft genug als ein Ergebnis politischer Verantwortungslosigkeit dargestellt. Alle Aufstände waren für sie sinnlos und überflüssig.
Rymkiewicz sah das anders. „Ihrer Hingabe, dem vergossenen Blut von Generationen ist es zu verdanken, dass wir heute als Polen existieren. Mag sein, dass wir kümmerliche Polen sind, ihrer Opfer unwürdig, aber es gibt uns. Ginge es nach den „Vernünftigen“, gäbe es uns nicht.“
Jarosław Marek Rynkiewicz war zweifelsohne einer von den „Wahnsinnigen“. Er hat immer wieder herausgestellt, dass seine Familie ursprünglich tatarischer und deutscher Herkunft sei und im Grunde kein Tropfen polnischen Blutes in seinen Adern floss. Dennoch hat er sein herausragendes schriftstellerisches Talent in den Dienst eines Polen gestellt, das ihn beeindruckte und das ihm wichtig war.
Anders als das „vernünftige“, sah das „unvernünftige“ Polen in ihm den modernen Dichterpropheten. Das war ihm, dem Dichter der klaren Aussagen, auch recht so: „Was uns entzweit hat, das lässt sich nicht mehr kitten“.
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