9.08.2022. Wie der gute Wolfgang Schäuble Polen zu zähmen gedenkt

image_pdfimage_print

Im Prinzip lag Wolfgang Schäuble richtig und doch lag er falsch, als er vor Kurzem in einem „Welt am Sonntag“-Interview sagte: „Polen muss endlich als gleichberechtigter und gleich wichtiger Mitgliedsstaat wie Frankreich und Deutschland in die Führungsrolle der europäischen Integration aufgenommen werden. Polen sollte so schnell wie möglich so behandelt werden, das hat es immer verdient. Diese Chance dürfen wir uns nicht entgehen lassen.“

Wolfgang Schäuble ist kein mächtiger Innen- bzw. Finanzminister und kein Bundestagspräsident mehr, er ist heute ein MdB und ein Oppositionspolitiker, dessen Ruhestand kurz bevorsteht. Doch er genießt Ansehen, weil sich seine persönlichen Überzeugungen, Maßstäbe, Wertvorstellungen und seine Charakterstärke stets in seinem Verhalten ausdrücken. Integre Persönlichkeiten, wie Schäuble, die oft gegen den Strom andenken und Debatten mit gesundem Menschenverstand bereichern, sind rar geworden in der europäischen Politik. Deswegen hört man auch heute noch mit Interesse hin, was er zu sagen hat.

Das Interview ist am 23. Juli 2022 erschienen, aber dieses Mal verhallten Schäubles Worte ohne Echo. Die Ansicht, dass die politische Architektur Europas von den drei großen Ländern in dessen Mitte: Deutschland, Frankreich und Polen getragen werden sollte, ist zwar nicht neu, aber inzwischen fast völlig in Vergessenheit geraten. Das 1991 gegründete, fruchtlose Weimarer Dreieck, ein loses Gesprächs- und Konsultationsforum der drei Staaten zur Stärkung der europäischen Integration, wurde auf dieser Idee aufgebaut.

Doch angenommen, das Angebot käme von offizieller Seite aus Paris und Berlin, und das heutige Polen würde dieses Angebot ernst nehmen? Das müsste bedeuten, dass Polen die europäische Politik mitgestaltet und dass seine Vorstellungen in dieser europäischen Politik einen angemessenen Platz finden würden, so wie die französischen und die deutschen. Als Frankreich mit seinen vielen AKWs die Kernenergie als nachhaltig eingestuft haben wollte, wurde Paris dieser Wunsch erfüllt. Ebenso im Bereich des Urheberrechts haben die Franzosen von der EU das bekommen, was sie wollten.

Die polnischen Anschauungen sind sattsam bekannt: härtester Widerstand gegen den russischen Neoimperialismus, eine auf christlichen Werten basierende EU, eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen EU-Institutionen und den Mitgliedsstaaten, eine Einschränkung der Zuständigkeiten von EU-Institutionen, Gleichheit der Mitgliedsstaaten vor dem Gesetz, ein Verbot der Einmischung der Europäischen Kommission in Bereiche, die in den Verträgen eindeutig und allein den Nationalstaaten vorbehalten sind, wie Justiz, Familie oder Kultur. Eine Neubewertung der Energiepolitik, eine kritische Überarbeitung des Green Deal, Beibehaltung der fossilen Energieerzeugung.

So sollte eine echte Beteiligung Polens an der Führung der EU aussehen. Warschau würde ein solches Angebot sicher nicht ablehnen. Es will Einfluss auf die europäische Politik nehmen, Europa mitgestalten.

Nur ist leider zu befürchten, dass Wolfgang Schäuble etwas anderes im Sinn hatte. Er schlug genau das vor, was im Weimarer Dreieck geschah. Ja, tretet bei, aber ihr müsst tun und sagen, was wir wollen. Unser Auf-die-Schulter-Klopfen ist euch gewiss, aber Sonderwünsche sind unerwünscht.

Wie damals, als Polen vorgeschlagen hatte, sich am Bau eines neuen europäischen Panzers zu beteiligen. Es wurde abgelehnt. Oder als es gefordert hat, Nord Stream 1 und dann Nord Stream 2 aufzugeben. Es wurde nicht beachtet. Oder als es mahnte, dass der fast sofortige Verzicht auf Kohle und Atomstrom zugunsten von Wind, Sonne und russischem Erdgas gefährlich sei. Man hat es überhört.

Das Problem liegt also nicht bei Polen. Schäubles Angebot, so ist zu befürchten, bedeutet keine echte Partnerschaft. Es ist der Versuch, ein Land, das sich gegen die Verwandlung der EU in einen föderalen Staat sperrt, auf eine andere Art zu zähmen als normalerweise üblich: mit Abmahnungen, Drohungen und Geldentzug.

Oder glaubt jemand im Ernst, dass man in Berlin, Paris oder Brüssel bereit wäre, sich aufrichtig auf eine von Polen gewünschte Diskussion über eine EU, die auch christliche Werte respektiert, einzulassen? Schwer vorstellbar in einer Zeit, in der sich das Europäische Parlament und die EU-Kommission bemühen, die Tötung ungeborener Kinder als ein „Menschenrecht“ auszulegen, die immer weiter um sich greifende und enthemmte Euthanasiepraxis in Holland und Belgien stillschweigend als richtungsweisend befürworten, ebenso wie die Begleitung beim Selbstmord. Die Zivilisation des Todes kommt in die EU-Fahne gehüllt daher.

Diskutieren über ein Europa der Vaterländer? Wie soll das geschehen, wenn der aktuelle deutsche Koaltionsvertrag die Verwandlung der EU in einen europäischen Bundesstaat zwingend vorschreibt?

Sich ernsthaft aussprechen über freiwillige und nicht erzwungene Solidarität? In einer Zeit, in der die EU-Kommission, sobald Deutschland, durch eigenes Verschulden („Wir schaffen das“ 2015 und Putins Gasstop 2022), in Bedrängnis gerät, sofort zu Zwangsmaßnahmen bei der Migrantenverteilung und beim Gassparen greift, ohne auch nur nachzufragen,?

Die Polen haben ein Beispiel für echte Solidarität mit Millionen von tatsächlichen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine gegeben. Niemand musste sie dazu zwingen. Das Land hat auch gezeigt, dass es bereit ist, seine Sicherheit zu riskieren, indem es der Ukraine uneingeschränkt mit eigenen Waffenlieferungen hilft und sein Territorium für den Waffentransit aus der ganzen Welt zur Verfügung stellt.

Es wäre gut, wenn eine solche Haltung, ein solches Politikverständnis, zu einem Grundsatz der europäischen Politik würde. Zweifellos wäre die EU dann in einem besseren Zustand.

RdP