Mut stand 2022 sehr hoch im Kurs. Gefragt waren in diesem vom Krieg geprägten „annus horribilis“ beherzte Politiker, Soldaten und Helfer, aber nicht nur. Am Jahresende sei hier an einen weitgehend verschwiegenen Akt christlichen Mutes erinnert und zwar an den Brief, den der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki (fonetisch: Gondetski) im Februar 2022 „Aus brüderlicher Sorge“ an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, den „Lieben Bruder im Bischofsamt“, Georg Bätzing, gerichtet hat.
Was Erzbischof Gądecki schrieb erforderte Mut, weil es sich eindeutig gegen den vorherrschenden Zeitgeist richtet. Wer seine Treue zum Evangelium mit einer solchen Deutlichkeit öffentlich bekundet, der setzt sich unweigerlich tausendfach wiederholten Vorwürfen und Schmähungen aus, er sei frauenfeindlich, homophob u.s.w. „In der modernen Welt wird Gleichheit oft missverstanden und mit Uniformität gleichgesetzt. Jeder Unterschied wird als ein Zeichen von Diskriminierung behandelt“, stellt Erzbischof Gądecki dazu fest.
Dem Briefautor ging es um den sogenannten Synodalen Weg, auf den sich, dem Zeitgeist huldigend, die katholische Kirche in Deutschland auf der Suche nach Erneuerung begeben hat. Die Verwirklichung der Reformpläne käme einer so weitgehenden Abkehr von der katholischen Lehre gleich, dass am Ende eine Kirchenspaltung und der Einzug der deutschen Reformer in das Lager des liberalen Protestantismus stünden.
Dieser Gefahr galt „Die brüderliche Sorge“ des Metropoliten von Poznań. Er gliederte seinen Brief in fünf Teile, von denen jeder eine Warnung vor den Versuchungen enthält, denen nicht nur deutsche Katholiken von heute ausgesetzt sind.
●Die erste Versuchung besteht darin, die Fülle der Wahrheit außerhalb des Evangeliums zu suchen. Das widerfährt gerade den deutschen „Reformkatholiken“. So etwas, schreibt Erzbischof Gądecki, ist im Laufe der Geschichte immer wieder geschehen.
Man denke nur an die sogenannte Jefferson-Bibel. Der dritte amerikanische Präsident, hauptsächlicher Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und einer der einflussreichsten Staatstheoretiker der Vereinigten Staaten, behauptete, dass die Evangelien Passagen enthielten, die sehr weise und erhaben seien, und sicherlich direkt von Jesus stammen, aber auch törichte und triviale Stellen, die, so gesehen, von ungebildeten Aposteln stammen müssten.
In der Überzeugung, dass er über die Kenntnis verfüge, die einzelnen Aussagen nach diesen Kriterien trennen zu können, beschloss Jefferson, das mit einer Schere zu tun. So schuf er einen „moderneren“ Bibel-Text, der nach seiner Ansicht besser als das Original war. Doch gerade in den nach seiner Auffassung „weniger“ anspruchsvollen Abschnitten der Bibel, die unter die „Jefferson-Schere“ fielen, befand sich das proprium christianum – das, was allein dem Christentum eigen ist.
● Die zweite Versuchung äußert sich im Glauben an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft. Wer ihr erliegt, konfrontiert die Lehre Jesu ständig mit den neuesten Entwicklungen in der Psychologie und den Sozialwissenschaften. Wenn etwas im Evangelium nicht mit dem aktuellen Wissensstand übereinstimmt, versucht er das Evangelium zu „aktualisieren“, in dem Irrglauben Jesus davor schützen zu müssen, sich in den Augen der Zeitgenossen zu blamieren.
Die Versuchung, sich zu „modernisieren“, betrifft inzwischen insbesondere den Bereich der sexuellen Identität. Dabei wird jedoch vergessen, dass sich der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse oft ändert, manchmal sogar dramatisch. Man braucht nur die einst durchaus vorherrschenden wissenschaftlichen Theorien wie Rassismus oder Eugenik zu erwähnen.
●Die dritte Versuchung ergibt sich daraus, dass die Katholiken von heute, so Erzbischof Gądecki, unter dem enormen Druck der öffentlichen Meinung leben, was bei vielen von ihnen Scham und Minderwertigkeitskomplexe hervorruft. Der Glaube ist heute kein selbstverständlicher Bestandteil des allgemeinen Lebens mehr, sondern wird oft geleugnet, an den Rand gedrängt und lächerlich gemacht. Daraus ergeben sich die Relativierung und das Verbergen der eigenen christlichen Identität und der religiösen Überzeugungen angesichts eines zunehmend glaubensfeindlichen öffentlichen Lebens.
„Getreu der Lehre der Kirche dürfen wir nicht dem Druck der Welt oder den Modellen der gerade vorherrschenden Kultur nachgeben, weil das zur moralischen und geistigen Bestechlichkeit führt. Es gilt die Wiederholung abgedroschener Slogans und Standardforderungen wie die Abschaffung des Zölibats, das Priestertum der Frauen, die Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene oder die Segnung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften zu vermeiden. So ist die „Aktualisierung“ der Begriffsbestimmung der Ehe in der EU-Grundrechtecharta lange noch kein Grund, das Evangelium zu verzerren“, schreibt Erzbischof Gądecki.
●Die vierte Versuchung besteht darin, das gesellschaftliche Leben zu kopieren. „Ich bin mir bewusst, dass die Kirche in Deutschland kontinuierlich Gläubige verliert und dass die Zahl der Priester von Jahr zu Jahr abnimmt. Die Kirche steht in dieser Hinsicht vor der Gefahr eines korporativen Denkens: »Es gibt einen Personalmangel, wir sollten die Einstellungskriterien senken«. Daher die Forderung, die Verpflichtung zum priesterlichen Zölibat aufzuheben, Frauen ins Priesteramt zu berufen und gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu segnen“.
● Und schließlich die fünfte Versuchung, sich dem Druck zu beugen. Hierzu stellt der polnische Oberhirte unter anderem fest: „Trotz Empörung, Ächtung und Unpopularität, kann die Katholische Kirche, die der Wahrheit des Evangeliums treu ist und gleichzeitig von der Liebe zu jedem Menschen angetrieben wird, nicht schweigen und diesem falschen Menschenbild zustimmen, geschweige denn es segnen oder fördern.“
Das wohldurchdachte, mit vielen starken Argumenten versehene Schreiben von Erzbischof Gądecki, das hier nur fragmentarisch wiedergegeben werden konnte, hat in Deutschland keine Diskussion ausgelöst. Nur einige kurze Notizen in kircheninternen Zeitschriften waren ihm gewidmet. Im Grunde wurde es totgeschwiegen.
Darüber hinaus wiesen deutsche Bischöfe, die am Veränderungsprozess am aktivsten beteiligt sind (Bischof Bätzing ist einer von ihnen), mit einem Eifer, der einer besseren Sache würdig ist, darauf hin, dass Erzbischof Gądecki den Brief nur in seinem eigenen Namen und nicht im Namen des polnischen Episkopats geschrieben habe.
Das ist richtig, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass der Brief den Kern des Problems trifft. Er umschreibt sehr präzise die Versuchungen, denen die Katholiken in Deutschland ausgesetzt sind und die Situation in vielen anderen Ländern, darunter, leider, teilweise auch die Lage der Kirche in Polen.
Ist Erzbischof Stanisław Gądecki ein einsamer Rufer in der Wüste? Zum Glück noch nicht, und außerdem, wie man sieht, wer dem Evangelium vertraut, hat nicht auf Sand gebaut.
RdP