Völkermord ist auch ein Problem der russischen Gegenwart.
Ende Dezember 2021 ordneten russische Behörden das Verbot von Memorial, der Gesellschaft für historische Aufklärung, an. Doch warum sollte sich das Regime an einer Organisation stören, die Verbrechen aus der fernen kommunistischen Zeit dokumentiert? Warum kann das Sammeln von Beweisen für den stalinistischen Völkermord als „staatsfeindliche“, „extremistische“ oder gar „terroristische Betätigung“ betrachtet werden?
Putin hat wiederholt erklärt, dass es so etwas wie eine eigene ukrainische Nation nicht gibt. Alles, was dagegen spricht, sollte beseitigt werden. Das ist mit der „Entnazifizierung“ der Ukraine gemeint, die, wie der Politologe des Regimes, Timofej Sergejew, wörtlich sagte, einer „Ent-Europäisierung“ und „Ent-Ukrainisierung“ gleichkommt.
Damit die Ukraine aufhört, Ukraine zu sein, und das ukrainische Volk Teil des russischen Volkes wird, ist es notwendig, deren Führung und die intellektuellen Eliten auszulöschen, d.h. diejenigen, die die Bildung des kollektiven Bewusstseins und der nationalen Identität bestimmen. Deshalb bestand der ursprüngliche Plan des Kremls darin, die politische und intellektuelle Elite des ukrainischen Staates zu liquidieren, also, nach internationalem Recht, Völkermord zu begehen.
Da nach dem russischen Angriff der Widerstand viel größer ist als erwartet, wurde beschlossen, die „Entnazifizierung“ viel breiter anzulegen. Deswegen werden in den besetzten Gebieten lokale Regierungsbeamte, Kommunalpolitiker, Nichtregierungsaktivisten, Lehrer, Trainer, Sportler usw. entführt und nicht selten ermordet. Ihre Verbundenheit mit dem ukrainischen Staat ist ihnen zum Verhängnis geworden. Nicht zufällig sprach Putin im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine von einer „Endlösung“, die mit allen verfügbaren Mitteln erreicht werden müsse.
Einige der Opfer wurden mit auf dem Rücken gefesselten Händen in Massengräbern gefunden. Nicht wenige von ihnen starben durch Genickschüsse. Nicht anders als bei den stalinistischen Massenverbrechen, die von Memorial untersucht wurden.
Als das Oberste Gericht Russlands am 28. Dezember 2021 die Auflösung der Vereinigung anordnete, hieß es, Memorial „zeichnet ein falsches Bild von der UdSSR als terroristischem Staat, spekuliert über das Thema Repressionen, verzerrt die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges und rehabilitiert Naziverbrecher“.
Jetzt werden diese Argumente vom Kreml gegen alle verwendet, die versuchen, die Wahrheit über die Massaker in der Ukraine auszusprechen. Um es heute mit den Worten des Gerichts zu sagen: Wer behauptet, dass die Morde in Butscha, Borodjanka, Irpin oder Makariw von der russischen Armee begangen wurden, „spekuliert über das Thema Repressionen und erzeugt ein falsches Bild von Russland als terroristischem Staat, verzerrt die Geschichte der »Militärischen Spezialoperation in der Ukraine« und rehabilitiert Neonazi-Verbrecher“.
Moskau verhält sich heute im Fall Butscha genauso, wie einst nach der Ermordung von etwa 25.000 polnischen Kriegsgefangenen im April und Mai 1940 in Katyn und an anderen Orten. Die Sowjets bestritten hartnäckig, irgendetwas mit diesem Verbrechen zu tun gehabt zu haben, sie schoben die Schuld auf die Deutschen. Jetzt sollen die Ukrainer die Schuldigen sein.
Erst gut fünfzig Jahre nach den Morden von Katyn hat die Sowjetunion, durch Gorbatschow, diese Taten nur widerwillig gestanden. Der Verein Memorial war anschließend an der Aufdeckung der Einzelheiten der sowjetischen Geschichtsfälschungen beteiligt. Spätestens seit Butscha sind für Moskau, selbst Untersuchungen des einst von Stalin begangenen Völkermordes sehr heikel geworden. Sie könnten unerwünschte Assoziationen hervorrufen oder gar jemanden in Russland dazu ermutigen, Putins Verbrechen zu erforschen. Und das darf nicht sein.
RdP