21.04.2023. Die Flinte nicht ins ukrainische Korn geworfen

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Ende gut, alles gut? Die Lage jedenfalls ist im Griff. Die Flut des ukrainischen Weizens ergießt sich seit einigen Tagen nicht mehr unkontrolliert über ganz Polen. Erlaubt sind nur noch verplombte Eisenbahntransfers von der ukrainischen Grenze zu den polnischen Häfen. Wie bereits alle Kraftstofftransporte in Polen, werden die Getreideladungen jetzt zudem von Zoll und Steuerfahndung elektronisch überwacht.

Die Behörden haben buchstäblich im letzten Augenblick die Reißleine gezogen und damit einen gewaltigen Bauernaufruhr abgewendet. Sie überrumpelten Brüssel mit einem sofortigen Importstopp für alle ukrainischen Agrarprodukte. Ungarn, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien schlossen sich bald darauf an, und Kiew wurde am Verhandlungstisch dazu gebracht, der neuen Regelung zuzustimmen. Dabei wurde lediglich der Zustand hergestellt, der von Anfang an hätte gelten sollen.

Die gut gemeinte Solidarität mit der Ukraine hat die polnischen Regierenden monatelang alle Warnungen in den Wind schlagen lassen. Derweil sind seit Juli 2022, als die EU für ein Jahr alle Importzölle für ukrainische Einfuhren aufgehoben hatte,  knapp 1,3 Millionen Tonnen Mais, knapp 800.000 Tonnen Weizen und ca. 700.000 Tonnen ukrainischer Raps nach Polen gelangt.

Eigentlich sollten sie über polnische Häfen nach Afrika gebracht werden. Doch in den meisten Fällen geschah genau das nicht. Ukrainische Lkw hielten stattdessen vor großen und kleinen Futtermittelfirmen, Getreide- und Ӧlmühlen, Silo-Großanlagen, um ihre billige Fracht abzuladen. Auf riesigen Flächen fruchtbarster Schwarzböden, bei niedrigen Arbeitskosten und ohne die zahlreichen kostspieligen EU-Vorgaben, erzielen heute dänische, holländische und deutsche Agrarfirmen in der Ukraine Rekorderträge zu Niedrigpreisen, mit denen keine EU-Landwirtschaft mithalten kann.

Die Nachfrage nach polnischem Getreide sank dramatisch und genauso sanken die Preise. Eine Tonne Konsumweizen kostete Anfang April 2023  maximal 1.150 Zloty, während mindestens 1.400 Zloty notwendig sind, um den Bauern eine kleine Gewinnmarge zu gewähren. Nach der Schließung der Grenze für unkontrollierte ukrainische Einfuhren will die Regierung den Bauern nun die entstandene Differenz pro Tonne auszahlen. Staatliche Siloanlagen sollen den polnischen  Weizen aufnehmen, damit die Speicher der Bauern bis zur Ernte leergeräumt sind. Nur so ist der Ruin von Abertausenden von Bauern abwendbar.

Bevor die Abwehrmaßnahmen im Hauruckverfahren eingeführt wurden, versuchte Landwirtschaftsminister Henryk Kowlaczyk, ein enger Vertrauter des Recht-und-Gerechtigkeit-Chefs Jarosław Kaczyński, schnell noch die Katastrophe, deren Herannahen er zunächst tatenlos zugesehen hatte, im Einvernehmen mit der Brüsseler EU-Zentrale, in deren Kompetenz die Handelspolitik fällt, abzuwenden. Dort sah man jedoch keinen Grund zu schnellem Handeln, um der ungeliebten Warschauer Regierungsmannschaft aus der Bredouille zu helfen.

Anders in Warschau. Im Oktober 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Der Unmut der Bauern, der traditionellen Wahlklientel der Nationalkonservativen, würde die seit 2015 regierende Partei zweifelsohne um den dritten Wahlsieg in Folge bringen.

Obwohl eigentlich ein enger Vertrauter, wurde Landwirtschaftsminister Kowalczyk im Nu an die Luft gesetzt. Der Einfuhrstopp trat am 16. April mit sofortiger Wirkung in Kraft. Polen berief sich dabei auf die EU-Verordnung Nr. 478 aus dem Jahr 2015. Diese sieht vor, dass ein EU-Staat Einfuhrverbote und -beschränkungen verhängen kann, wenn dies wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung geboten ist. Und die Gefahr war in diesen Tagen in Polen wahrlich im Verzug. Tausende von Treckern standen bereit, um das Land lahmzulegen.

Kaczyński und seine Umgebung stellten wieder einmal ihre viel  gepriesene Handlungsfähigkeit unter Beweis, diesmal jedoch bei der Abwehr einer Gefahr, die sie lange ignorierten und die sie problemlos hätten im Keim ersticken können.

Das geschah zum Unmut Moskaus, wo man sehr auf eine anti-ukrainische Wende im polnischen Volksempfinden gehofft hatte. Ebenso in Deutschland. Die Zeitung „Die Welt” frohlockte bereits: „Diese Aktion Polens stellt die Loyalität zur Ukraine infrage”. Seht her, sind nicht auch die unbequemen polnischen Musterhelfer im Grunde nur kleinliche Egoisten? Und ist Polens Uneigennützigkeit, aus der seine wachsende Bedeutung in der europäischen Politik aufkeimen soll, eine Mär?

Am meisten enttäuscht ist jedoch die „totale”, wie sie sich selbst nennt, Opposition mit Donald Tusk an der Spitze. Im Unmut der Bauern witterte sie eine neuen Gamechanger, die Chance, eine schnelle Wende zu eigenen Gunsten herbeizuführen. Wo sie schon die Hoffnung auf einen harten Winter aufgeben musste, mit erfrorenen alten Menschen in ihren Wohnungen, unbezahlbaren Strom- und Heizkosten, einem Brotpreis von 30 Zloty (ca. 6,50 Euro, heute kostet 1 kg Brot durchschnittlich 8 Zloty, d.h. ca.1,75 Euro).

Doch die Zustimmungswerte für die Regierenden klettern seit Wochen beständig auf die 40-Prozent-Marke zu. Donald Tusk und die ihm genehmen Medien tun plötzlich so, als hätte es ihre dramatischen Aufrufe zur Grenzschließung nie gegeben. Jetzt prangern sie die „mangelnde Solidarität mit der Ukraine” an, sehen in den Sofortmaßnahmen eine „EU-feindliche Eigenmächtigkeit”, „einen neuen Anlauf zum Polexit” und „puren Wahlkampf”.

In Wahrheit jedoch hat das im letzen Augenblick aufgerüttelte Polen drastische Maßnahmen ergriffen, um die EU und die Ukraine zum Handeln zu zwingen, und es war erfolgreich. Die ursprüngliche Idee, ukrainisches Getreide durch Polen auf den Weg nach Afrika zu bringen, musste wiederbelebt werden, nicht mit dem Ziel, der Ukraine das Leben schwer zu machen, sondern den polnischen Landwirten keine Probleme zu bereiten und den sozialen Frieden zu wahren.

RdP