11.04.2023. Putins Morden macht den ukrainischen Völkermord nicht ungeschehen

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Der Staatsbesuch Wolodymyr Selenskyjs in Warschau am 5. April 2023 war ein einziges Festival beiderseitiger Bekundungen von Einigkeit, Solidarität und engster Verbundenheit im Kampf gegen den russischen Überfall auf die Ukraine. In den ansonsten gewohnt kämpferischen und in Warschau mit stürmischem Beifall überschütteten Reden des Gastes, in seinen Lobeshymnen auf die Hilfs- und Opferbereitschaft „unserer polnischen Brüder und Schwestern”, tauchte jedoch das schwierigste historische Thema, die ukrainischen Wolhynienmassaker an etwa 100.000 Polen zwischen 1943 und 1945, nicht auf.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 wurde es von polnischer Seite ganz und gar ausgeklammert. Es sollte in solch harten Zeiten die Beziehungen zu dem sich kämpfend verteidigenden Land nicht belasten. Das funktioniert bis heute, doch immer mehr Polen, auch wenn sie ansonsten hundertprozentig hinter der Ukraine stehen, fällt es schwer, Kiews diesbezügliches beharrliches Schweigen ohne Weiteres hinzunehmen.

Ihre Frage lautet: Sind nicht gerade die grausamen russischen Verbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung der richtige Anlass für die ukrainischen Eliten, über die Verbrechen der ukrainischen Nationalisten während des Zweiten Weltkriegs nachzudenken? Das ist schwierig und erfordert Mut von der ukrainischen Führung. Wolodymyr Selenskyj, der in anderen Fragen sehr schneidig daherkommt, legt hier eine geradezu beklemmende Hasenfüßigkeit an den Tag.

Im Sommer 1943 machten sich ukrainische  Nationalistenführer: Stepan Bandera, Roman Schuchewytsch, Dmytro Kljatschkiwskyj, Mykola Lebed und andere erneut daran, eine polen- und judenfreie Ukraine zu schaffen. Es war ein von langer Hand vorbereiteter Völkermord, der unter der Schirmherrschaft der deutschen Besatzer stattfand.

Ehemalige ukrainische Hilfspolizisten, die sich bereits bei den Massenmorden an Juden „bewährt” hatten, auch Mitglieder ukrainischer KZ-Wachmannschaften folgten massenhaft dem Aufruf der Nationalisten und desertierten mit ihren Waffen in die Partisanenabteilungen der Ukrainischen Aufständischen Armee. Begleitet von Horden aufgestachelter ukrainischer Bauern, leisteten sie ab Juli 1943 ganze Arbeit. Wichtigster Schauplatz dieses Völkermordes war Wolhynien.

Häuser, Gärten, Kirchen, Friedhöfe und alle anderen Anzeichen  jahrhundertelanger polnischer Anwesenheit in Wolhynien haben Banderas Helden dem Erdboden gleichgemacht und diese Erde in den meisten Dörfern umgepflügt. Wo einst  polnisches Leben war, pfeift heute der Wind über die Brachen oder wogt der ukrainische Weizen.

An mindestens 2.122 Orten wurden polnische Zivilisten, die Großeltern der heutigen polnischen „Brüder und Schwestern”, Kinder jeden Alters, Frauen, Männer, Greise, in wahren Blutorgien, zumeist mit Äxten, Messern, Mistgabeln und Holzknüppeln umgebracht. Ihre sterblichen Überreste haben die ukrainischen Mörder wie Tierkadaver in anonymen Gruben verscharrt. Bis heute verweigert die Ukraine Polen, sie zu bergen und sie menschenwürdig zu bestatten. Dahinter verbirgt sich die panische Angst, dass Hunderte von Gedenkorten in Wolhynien der Ӧffentlichkeit das wahre Ausmaß des bis jetzt beharrlich geleugneten Völkermordes vor Augen führen würden.

Das wiederum würde die Frage nach sich ziehen, warum die Massenmörder und die geistigen Urheber dieser Taten: Bandera, Kljatschkiwskyj, Schuchewytsch, Lebed usw., genauso wie die ukrainischen Freiwilligen der verbrecherischen SS Division „Galizien” in der Westukraine mit unzähligen Denkmälern, Gedenktafeln, Umzügen sowie mit Publikationen, und mit Sondermarken der ukrainischen Post zu Galionsfiguren der ukrainischen Freiheit stilisiert werden. Sie gelten als unbefleckte Patrioten und Helden des späteren Kampfes gegen die Sowjets, die 1944 die Westukraine von den Deutschen zurückerobert haben. Was sie zuvor anrichteten, wird geflissentlich ausgeblendet.

Die intellektuelle Elite der Ukraine ist offensichtlich nicht bereit, das einzusehen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Und Polen?

Polen sollte Selenskyj nicht dazu zwingen, denn das Wichtigste ist jetzt der Sieg an der Front und die zukünftige Sicherheit unseres Teils von Europa. Die Eliten in Kiew müssen selbst erkennen, dass das Wegschauen nicht ewig dauern kann.

Es wird nämlich schwer zu vereinbaren sein, Putin vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu schicken und gleichzeitig Bandera zu loben. Und wie lange kann man die russischen Gräueltaten an einigen Hundert Zivilisten in Butscha als Völkermord bezeichnen und gleichzeitig die Wolhynienmassaker abstreiten oder behaupten, dass das ukrainische Abschlachten Zehntausender polnischer Zivilisten kein Völkermord, sondern höchstens eine weitere Ausprägung „ukrainisch-polnischer Zwistigkeiten” war.

Vor zwanzig Jahren hatte es den Anschein, als wäre die offizielle Ukraine bereit, sich in Sachen Wolhynien mit der Wahrheit zu messen. Im wolhynischen Pawliwka, dem früheren polnischen Poryck, wo im Juli 1943 ukrainische „Freiheitskämpfer” 222 Polen bestialisch ermordet hatten, sagte Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski, neben ihm der ukrainische Präsident Leonid Kutschma: „Kein Ziel oder Wert, selbst ein so hehres wie die Freiheit und Souveränität einer Nation, kann Völkermord, das Abschlachten von Zivilisten, Gewalt und Vergewaltigung, das Zufügen von grausamen Leiden an Mitmenschen rechtfertigen“. Und er fügte hinzu, dass nicht das gesamte ukrainische Volk für dieses Verbrechen an den Polen verantwortlich gemacht werden könne.

„Wir wollen unsere Versöhnung auf der Wahrheit aufbauen: das Gute als gut und das Böse als böse bezeichnen“, diese Worte Kwaśniewskis aus dem Jahr 2003 muss man den ukrainischen Verantwortlichen von heute wieder in Erinnerung rufen. Und warten.

RdP