Der kometenhafte Aufstieg von Martin Schulz in der deutschen Öffentlichkeit gibt polnischen Beobachtern Rätsel auf, weckt Hoffnungen und Vorbehalte.
Zwischen Polen und Deutschen besteht, was Martin Schulz angeht, ein beträchtlicher Wahrnehmungsunterschied. Als Schulz, der gutherzige Dr. Jeckyll, an Rhein, Ruhr und Spree ab Anfang 2017 rasant Sympathien einheimste und Berühmtheit erlangte, war Schulz, der schreckliche Mr. Hyde, an der Weichsel schon seit Langem berühmt-berüchtigt.
Es heiβt, polnische konservative Abgeordnete im Europaparlament, hätten der politischen Nervensäge Schulz den Kosenamen „Martinek“ verpasst.
Verbaler Amoklauf
Was die deutsche Zeitung „Die Welt“ (13.02.2017) nachsichtig als „taktlose Ermahnungen“ von Schulz an die Adresse der polnischen Regierung umschrieb, empfand man in Polen als einen „verbalen Amoklauf”. Genauso sah es bereits am 10.12.2015 der Vizepräsident des Europäischen Parlamenbereits ts, Alexander Graf Lambsdorff (FDP):
„Es gibt eine Reihe von Äußerungen von Martin Schulz, die sowohl antideutsche als auch antieuropäische Gefühle in Polen verstärken. Ich halte das für überhaupt nicht zielführend.“, so Lambsdorff im „Deutschlandfunk“. „Dieser verbale Amoklauf von Martin Schulz ist ein Geschenk für die neue Regierung in Warschau, denn er bestätigt scheinbar die Haltung im gesamten Westen, dass Polen ein Land ist, das unter Kontrolle gestellt werden muss“,
Zuerst das Thema Zwangsumverteilung von Immigranten innerhalb der EU, beginnend im Spätsommer 2015, dann der Sieg der Nationalkonservativen bei den Parlamentswahlen im Oktober 2015. Polen sah sich in jener Zeit einem Trommelfeuer von Belehrungen, Drohungen, Rügen und Forderungen aus Brüssel ausgesetzt. Martin Schulz, damals Präsident des Europäischen Parlaments, hatte sich an die Spitze dieses verbalen Polen-Feldzuges gestellt:
● „Schulz an Polen: »Das Europa des Gemeinschaftsgeistes muss sich notfalls mit Macht durchsetzten!«”, (ZDF, 10.09.2015);
● „EU-Parlamentspräsident Schulz spricht von Staatsstreich in Polen”, („Deutsche Wirtschafts Nachrichten“, 15.12.2015);
● „Martin Schulz greift Polen hart an”, (FAZ, 09.01.2016);
● „Martin Schulz erkennt in Polen eine »Demokratie nach Putins Art«”, („Die Welt”, 10.01.2016);
● „Martin Schulz ermahnt Polen”, („EurActiv.de”, 14.01.2016);
● „Martin Schulz: »Druck auf Polen aufrechterhalten!«“, („Hamburger Abendblatt”, 20.06.2017);
● „Martin Schulz: »In Europa ist Kampfzeit!«“, („Aachener Zeitung”, 08.04.2016);
● „Polen und Ungarn im Visier. Martin Schulz fordert grobe Mittel gegen Rechtspopulisten und EU-Gegner“, („Wirtschaftsblatt“, 05.01.2017).
„Macht”, „Kampf”, „Druck”
Martin Schulz, der mögliche neue deutsche Bundeskanzler, fackelt nicht lange, sondern streckt den Zeigefinger aus und sagt was Sache ist. Seine Weltanschauung, so der Eindruck, ist die einzig wahre. Wer sie nicht teilt, dem sagt Martin Schulz den „Kampf” an, geht zum „Angriff“ über, macht „Duck“ mit aller „Macht” seiner Rede-Gewalt.
Der Zuchtmeister aller „Populisten“, „Antieuropäer“, aller „Feinde der transnationalen Demokratie“ duldet keine Widerrede, denn diesen Leuten komme man nicht „durch fein ziselierte Argumente“ bei. Da gehört „ein grober Keil“ drauf (Interview in der „Süddeutschen Zeitung“, 05.01.2017).
Das Europa, für das Martin Schulz kämpft, soll die Kreuze von den Amtswänden und Kirchendächern abnehmen („Der öffentliche Raum muss neutral sein. Darauf bestehe ich“), unisex-konforme Ampelmännchen und die „Ehe für alle“ einführen, die Gender-Ideologie, die „sexuelle Vielfalt“ und die „liberale Demokratie“ bedingungslos umsetzen.
Und „liberale Demokratie“ bedeutet für ihn, so sehen es seine Gegner, dass nur diejenigen Wahlen gewinnen und regieren dürfen, die den langen Katalog seiner linken Demokratie-Vorstellungen einhalten und umsetzten. Wenn nicht, dann verwandelt sich Martin Schulz in eine Empörungsmaschine, eine Hochleistungs-Dampframme, die unentwegt „grobe Keile“ dazwischen treibt. Sei es in der israelischen Knesset, sei es im Europaparlament oder in den Medien. Schulz poltert, schimpft, droht, schnaubt vor Wut, Entrüstung und Zorn, und verrennt sich nicht selten hoffnungslos.
Polen war in der EU-Karriere von Martin Schulz nur eines von vielen Angriffsobjekten. Seitdem er groβe Chancen hat Bundeskanzler einer womöglich rot-rot-grünen Regierungskoalition in Berlin zu werden, schauen die einen in Polen mit Hoffnung, andere mit Unbehagen in Richtung Deutschland.
Schulz: Polnische Träume und Albträume
Die Anfang 2017 zerstrittene, in der Bürgergunst tief gefallene polnische Opposition hofft, dass der neue „deutsche Rammbock“, nach der Machtübernahme in Berlin, mit aller Macht politisch, vielleicht auch ökonomisch, gegen das Kaczyński-Polen ins Feld ziehen wird: ideologische Ächtung, politische Isolation, deutsche Annäherung an Russland, vielleicht sogar EU-Sanktionen…
Die Wochenzeitung „Polityka“ (14.02.2017), um nur ein Beispiel anzubringen, nennt ihn in diesem Kontext „eine herausragende Gestalt“, „mit ganzem Herzen und ganzer Seele der Sache des Friedens und des gemeinsamen Europas ergeben“.
Verzweiflung aufgrund der eigenen Schwäche, Blauäugigkeit und Wunschdenken spielen in diesen Überlegungen eine sehr groβe Rolle. Doch, wie sagt man: die Hoffnung stirbt zuletzt.
Während die Vorstellung vom eventuellen künftigen deutschen „Export der linken Revolution“ die einen beflügelt, bereitet sie den anderen schlaflose Nächte.
Die polnischen Konservativen, unter denen die regierenden Nationalkonservativen eine sehr groβe aber bei Weitem nicht die einzige Gruppierung stellen, geben sich nicht die geringste Mühe ihre Schulz-Aversion zu kaschieren. Beiderseits war es eine tiefe Abneigung auf den ersten Blick. Wie Martin Schulz in den polnischen Wald hinein rief, so schallt es ihm nun entgegen.
Düstere Vorahnungen
„Sollte Schulz Angela Merkel bezwingen, dann kündigt sich eine düstere Zeit in den polnisch-deutschen Beziehungen an. Der neue SPD-Chef ist nicht nur ein Gegner der in Polen regierenden Nationalkonservativen. Ihn zeichnet auch eine verächtliche Haltung gegenüber Polen und zu den Polen aus. (…) Das einzige Polen, das Schulz tolerieren kann, ist ein gefügiges Polen, regiert von einer deutschlandhörigen liberalen Mannschaft, die die polnischen Konservativen dauerhaft vom Regieren fernhält.“, schreibt Konrad Kołodziejski, der Deutschland-Kommentator des einflussreichen konservativen Internetportals „wPolityce.pl“ („inderPolitik.pl“, 29.01.2017).
Sollte Schulz Kanzler einer rot-rot-grünen Regierungskoalition werden, „kann sich die Politik unseres gröβten Handelspartners radikal ändern“, urteilt die polnischsprachige Springer-Zeitung „Dziennik“ („Das Tagblatt“, 30.01.2017). Sie sagt voraus, Bundeskanzler Schulz wird die kränkelnde EU nach dem Motto „hat’s nicht gewirkt, dann verabreichen wir noch mehr von Demselben“ heilen wollen. „Also noch mehr Zentralisierung“.
Das ist durchaus wahrscheinlich. Schlieβlich gehört Schulz zu den eifrigsten Rufern nach mehr Europa, den Beschwörungskünstlern der europäischen Einigung, die mit ihrer rastlosen Propaganda dem Ansehen der EU oft genug geschadet haben.
Man kann sich vorstellen, so „Dziennik“, dass unter Schulz, sehr zur Freude der Franzosen, „die Debatte über die Zukunft der EU sich auf die EWG-Gründerstaaten beschränken wird, unter Hinzuziehung der Eurozone-Länder“. Auch das leidige Thema der Immigranten-Zwangsumverteilung könnte wieder auf die Tagesordnung kommen. Staaten wie Polen würden massiv unter Druck gesetzt: „Ihr nehmt es an, und wenn’s euch nicht passt, dann könnt ihr gehen“.
Hart ins Gericht geht mit Schulz der „wPolityce.pl“-Autor Dorian Urbanowicz (11.02.2017):
„Von Tag zu Tag wahrscheinlicher ist der Wahlsieg der ultralinken rot-rot-grünen Koalition mit einem linken EU-Fanatiker an der Spitze. (…) Martin Schulz ist ein gefährlicher Politiker, ein fanatischer Befürworter des Brüsseler Diktats, der keine Meinungsunterschiede akzeptiert, dafür stets bereit ist, die gemeinsten verbalen Provokationen gegen seine politischen Gegner anzuwenden“.
Schulz, so der Autor, „ist ein ideologisierter politischer Agitator, der dogmatisch an der von den meisten Europäern inzwischen verworfenen Vorstellung von der EU als einem supranationalen Superstaat festhält. (…) Die Befürworter der EU der Nationen schimpft er »rückständige Nationalisten«. Konservative Europäer wirft er mit Vorsatz in einen Topf mit Rechtsradikalen“.
Nein, Schulz ist kein typischer Eurokrat. „Schulz“, schreibt Urbanowicz, „ist vor allem ein hervorragender Redner, der von ganzem Herzen an das »Groβeuropäische Reich« glaubt. (…) Seine Reden sind authentisch und ehrlich gemeint. Deswegen haben wir allen Grund zu glauben, dass es während seiner Kanzlerschaft nicht nur bei Ankündigungen und Drohungen bleiben würde.“
Wird Schulz die Deutschen verführen?
Der kometenhafte Aufstieg von Martin Schulz in der deutschen Öffentlichkeit will erklärt sein. Auch polnischen Kommentatoren fällt das nicht leicht. Die meisten weisen auf die enorme Merkel-Müdigkeit nach zwölf Jahren Kanzlerschaft hin.
Zumeist gehen sie dann dazu über die Verführungsfähigkeiten von Martin Schulz darzustellen und wundern sich. Denn der Mann ist ein Populist in Reinkultur, was sogar die linke „Süddeutsche Zeitung“ (30.01.2017) zugeben musste. Freilich, so die SZ, „ein Populist im besten Sinne“, was den meisten polnischen Kommentatoren ein Schmunzeln entlockt.
Werden die Deutschen, fragt man, einem Mann folgen, dessen Physiognomie und Auftritt den absoluten Willen zur Macht ausdrücken, der die Botschaft geradezu körperlich verbreitet: „Keiner wird mich stoppen!“? Er begegnet Angela Merkel als ebenbürtiger Herausforderer und Gegner. Und er versprüht enormen Optimismus. Ganz gewiss, all das beeindruckt.
Kann es sein, dass nach der jahrelangen, pausenlosen Anti-Orban-Kaczyński-Trump-Le Pen-Wilders-Hyper-Medienkampagne, die Deutschen einem Politiker folgen, der da verkündet: „Deutschland braucht eine Erneuerung“, und diese Erneuerung, das sagt er nicht, aber das versteht sich von selbst, sei er selbst.
Martin Schulz will für Gerechtigkeit sorgen, für eine gerechte Gesellschaft, für einen gerechten Staat, für ein Leben in Würde für alle, für sichere Renten, für bezahlbare Mieten, für mehr Wohnungen, für faire Löhne und für Sicherheit. Für den Mann und für die Frau von der Straße will er unternehmen, was in seiner Kraft und Macht steht, für den Busfahrer, für die Krankenpflegerin, für den Bäcker, für den Polizisten und für die Verkäuferin, für alle, „die schuften und schuften“, sich nichts zuschulden kommen lassen, den Staat am Laufen halten und den Eindruck haben, man habe ihre Probleme vergessen.
Aber hallo!
Schulz habe Verständnis für die Angst vor wachsender Kriminalität. Bei den Polizeikräften sei zu sehr gespart worden. Es müssten mehr Polizisten auf der Straße sein. Straftäter müssten „die volle Härte des deutschen Gesetzes und der deutschen Sicherheitsorgane“ zu spüren bekommen. Straftäter, die Steuern hinterziehen und diejenigen „die auf einem Bahnhofsvorplatz unsere Frauen angreifen“.
Schulz fährt durchs Land und verkündet, er wisse um, er kenne, ja er spüre, aus dem Bauch heraus, mit Haut und Haaren, die Ängste und Nöte aller Menschen in Deutschland – die Angst um die Zukunft der Kinder, um die eigene Sicherheit, die Angst um den Arbeitsplatz, um das Auskommen im Alter, weil er Bürgermeister in Würselen war, und sein Nachbar von gegenüber bei der Feuerwehr ist und direkt nebenan eine Familie mit kleinen Kindern wohnt, was ihn unbedingt zum Bundeskanzler befähige.
Und was alles würde Martin Schulz dem US-Präsidenten Donald Trump am Telefon sagen! Dem würde er, so Schulz im ARD-Interview mit Anne Will – aber hallo! – ja so was von die Meinung geigen! Trump solle gefälligst nicht wie eine Abrissbirne „durch unsere Grundwerteordnung“ rasen, er müsse „die elementaren Grundwerte der westlichen Welt“ respektieren und sein fremdenfeindliches und frauenverachtendes Weltbild revidieren.
Wohin er kommt, erntet Martin Schulz tosenden Applaus. Werden die Deutschen vor diesem Mann kapitulieren?
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