Kommunen zum Leben erweckt

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Am 12. Februar 2015 starb Prof. Jerzy Regulski.

Er verkörperte eine Spezies, die im kommunistischen Polen in der Wissenschaft lange Zeit anzutreffen war. Alles an diesen Menschen schien aus der Vorkriegszeit zu sein. Ihr Auftreten und Benehmen, ihre Haltung und ihre Umgangsformen standen im schroffen Gegensatz zur allgegenwärtigen, primitiven Propaganda, zur Rüpelhaftigkeit, Tristesse und Alltagsmühsal des Lebens im Kommunismus.

Die kultivierten Damen und Herren „der alten Schule“ wahrten zu ihrer Umgebung eine gewisse Distanz, und doch waren sie bestens integriert. Eingeschüchtert und mit Doktor- bzw. Professorentiteln ausgestattet, brauchten sie den Sozialismus nicht zu rühmen. Der rote Staat lieβ sie gewähren, er benötigte ihr Fachwissen, ihre Sprachkenntnisse, ihre guten Manieren, um nach Auβen einen positiven Eindruck zu erwecken. Es genügte, dass sie sich auf ihr Fachgebiet beschränkten, ansonsten wegschauten, den Mund hielten, ihre Privilegien genossen und im Ausland eine gute Figur machten. Ganz im Sinne der Lehre Lenins über „die Fachleute, die von Dienern des Kapitalismus, zu Dienern der werktätigen Massen, zu ihren Ratgebern gemacht werden müssen.“

Abkömmling parasitärer Bourgeoisie

Jerzy Regulski wurde 1924 geboren in Zarybie, einem Vorort von Warschau, wo die Unternehmerfamilie eine Residenz bewohnte. Vater Janusz war General- und Finanzdirektor des damals gröβten polnischen Energiekonzerns Siła i Światło SA („Kraft und Licht AG“), der bis 1939 gut 30 Mio. Dollar in Polen investierte, was heute einer Summe von etwa 450 Mio. Dollar gleichkäme. Einen Namen hatte er sich aber vor allem als langjähriger Präsident des noblen Polnischen Automobil-Clubs gemacht.

Während der Belagerung Warschaus durch deutsche Truppen, zwischen dem 8. und 28. September 1939, wurde Regulski-Senior zum Kommandanten des Ordnungsdienstes berufen, der an Stelle der Anfang September 1939 aus der Stadt evakuierten Polizei, deren Aufgaben wahrnahm.

Während der Besatzungszeit unterstützte er unermüdlich Flüchtlinge und Häftlinge durch seine Arbeit in Hilfskommitees der polnischen Caritas und des Polnischen Roten Kreuzes. Als eine herausragende Persönlichkeit des „kapitalistischen Polens“ wurde er 1948 von den Kommunisten zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Zuge des langsam einsetzenden politischen Tauwetters nach dem Tode Stalins im März 1953, kam er als gebrochener Mann 1955 frei.

Sein Sohn Jerzy hatte bereits 1946, als junger Student, für ein Jahr lang Bekanntschaft mit dem kommunistischen Kerker gemacht. Schwer misshandelt und psychisch gebrochen, entließ man ihn „auf Probe“. Seitdem wurde Jerzy Regulski nicht müde Selbstkritik zu üben.

Die strikt antikommunistischen „Nationalen Streitkräfte“ (NSZ), eine starke Untergrundorganisation, in der er im Krieg Mitglied gewesen war, war für ihn nun, entsprechend der kommunistischen Propagandaauslegung, „faschistisch“. Der Warschauer Aufstand von 1944, in dem er gekämpft hatte – ein „unverantwortliches Abenteuer“. Der antikommunistische Widerstand nach 1945 – „ein Fehler“.

Kompromiss Kompromissowitsch

Diese „Läuterung“ war für den „Abkömmling der parasitären Bourgeoisie“ der Passierschein zum Studium an der Warschauer Technischen Hochschule, später sogar am Pariser Centre de Rechreche d’Urbanisme. Der studierte Bauingenieur, promovierte und habilitierte an der Architekturfakultät der Warschauer Technischen Hochschule, war Professor an der Universität Łódź, später an der Polnischen Akademie der Wissenschaften.

Kurz vor seinem Tod offenbarte Jerzy Regulski in einem Zeitungsinterview: „Das Jahr im Gefängnis hatte einen kolossalen Einfluss auf meine Weltanschauung. Dort habe ich mir meine Philosophie des Überlebens geschaffen, der Wahrung eines Gleichgewichts zwischen den eigenen Werten und dem Leben in einer Umgebung, wie sie damals war.“

Regulski sagte von sich, er sei ein Anhänger der „organischen Arbeit“ (praca organiczna). Dieser im 19. Jh. von polnischen Positivisten geprägte Begriff umschreibt eine Ideologie, die die sinnvolle Arbeit zur Stärkung der Kräfte der Nation (Bildung, Steigerung des ökonomischen Potentials) den angeblich fruchtlosen Aufständen vorzieht. Der Spielraum für organische Arbeit war jedoch im totalitären Kommunismus, der jede Eigeninitiative, jeden undogmatischen Gedanken als Bedrohung ansah, denkbar gering und lieβ Legionen von Gutwilligen „Positivisten“ schier verzweifeln. Die Kompromisse, die ihnen abverlangt wurden, machten sie letztendlich zu Mitläufern und Unterstützern des Systems.

Steckenpferd kommunale Selbstverwaltung

Während der „ersten Solidarnośc“, zwischen August 1980 und der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981, in einer Zeit, in der die Freiheit in Polen brodelte, entdeckte Regulski sein Steckenpferd, das er bis zu seinem Tode mit Leidenschaft pflegte: die kommunale Selbstverwaltung.

Im Kommunismus war sie abgeschafft und durch ein von Oben herab staatlich kontrolliertes System der „Volksräte“ ersetzt worden. Diese hatten keine Autonomie, kein Vermögen und keine eigenen Einnahmen. Alles, auch die simpelste Fassadenrenovierung oder Straβenausbesserung, wurde in Warschau (Ost-Berlin, Budapest, Moskau usw.) bewilligt und von dort finanziert. Gepaart mit anderen Grundübeln des Kommunismus (Materialmangel, Tonnenideologie, eine alles lähmende Bürokratie usw.) führte das zu einer geradezu beklemmenden Verwahrlosung der Provinz zwischen Elbe und Wladiwostok.

Arbeiterselbstverwaltung und Gewerkschaftsrechte, das waren die Themen, die die Gemüter in der Solidarność-Bewegung, zuerst in der Legalität und dann im Untergrund, erhitzten. Kaum jemand im Polen jener Zeit war sich nach vierzig Jahren Kommunismus der Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung für die Demokratisierung und den Wiederaufbau des Landes bewusst. Regulski tastete sich Ende der 1980er Jahre vorsichtig an die Opposition heran. Es gelang ihm und seinen engagierten Getreuen, die im Stillen an dem Thema arbeiteten, dieser Opposition ein Bewusstsein für das Thema zu vermitteln.

Der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki ernannte Jerzy Regulski Ende 1989 zum Bevollmächtigten für die kommunale Verwaltungsreform. In Windeseile wurden ganze Gesetzespakete verabschiedet, und bereits am 27. Mai 1990 fanden die ersten freien Wahlen nach dem Krieg in Polen statt: zu den Gemeinderäten.

Die kommunale Selbstverwaltung zog in die Gemeinden ein. Die zweite Etappe – die Einrichtung der kommunalen Selbstverwaltung auf Kreis- und Woiwodschaftsebene konnte erst 1999 umgesetzt werden. Regulski beaufsichtigte sie als stellvertretender Innenminister in der Regierung Jerzy Buzek.

Reformbedürftige Reform

Am Ende seines Lebens wurde Jerzy Regulski zunehmend zu einem lebendigen Denkmal der Erfolgspropaganda der seit 2007 in Polen regierenden Bürgerplattform. Als Berater von Staatspräsident Komorowski, verinnerlichte er dessen These, Polen erlebe gerade sein „goldenes Zeitalter“ und jeder, der diese Meinung nicht teilt, ist ein „Querulant und Extremist“. Regulski lieβ auch keine grundlegende Kritik an seinem Werk zu.

Dabei führt die fehlende Beschränkung auf zwei Amtsperioden, gepaart mit einer weitgehenden politischen Passivität der Polen, dazu, dass die meisten (direkt gewählten) Ober- und Gemeindebürgermeister Polens seit zwölf, oft sechzehn und manchmal zwanzig Jahren ununterbrochen amtieren.

In vielen Kommunen sind Ämterpatronage und das Entstehen von Geflechten, die auf gegenseitiger Hilfeleistung und auf Gefälligkeiten beruhen, die Folge. Dieses verdeckte Zusammenwirken führt zur Vermischung von gesellschaftlichen, politischen und unternehmerischen Interessen, und es überschreitet nicht selten die Grenze zur Korruption.

Die Kommunen werden mit immer neuen Aufgaben überfrachtet, ohne dass sie von der Zentralregierung Geld dafür bekommen. Das parallele Vorhandensein von zentralstaatlichen (dem von Warschau ernannten Woiwoden-Regierungspräsidenten unterstellten) und kommunalen (dem gewählten Woiwodschaftsmarschall unterstellten) Verwaltungsstrukturen in den sechzehn Provinzen Polens, leistet einer enormen Bürokratie Vorschub. Alle diese Probleme harren einer Lösung.

Trotz alledem, es war Regulski, der den Durchbruch zur Errichtung einer kommunalen Selbstverwaltung in Polen umgesetzt hat. Das ist sein bleibender Verdienst.

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