Am 29. Juli 2018 starb Tomasz Stańko.
Die rühmende, doch leider allzu oft überstrapazierte Behauptung, ein Jazzmusiker habe einen eigenen Klang entwickelt, an dem man ihn jeder Zeit sofort erkennen könne, traf in seinem Fall uneingeschränkt zu. Tomasz Stańko war zweifelsohne einer der größten Jazzer, Komponisten und Bandleader Polens. Als Jazztrompeter erlangte er weltweit Berühmtheit.
Fachleute ergingen sich seit Jahren in langen Elogen auf Stańkos Art Trompete zu spielen. „Das Instrument sei für ihn ein Mittel zur Übertragung und Erweiterung jener Möglichkeiten gewesen, wie sie die menschliche Stimme bietet – ausdrucksstark, inhaltsvoll und vor allem emotional“, hieß es.
„Er setzte nicht auf virtuose Technik.“ Sein Spiel war vielmehr „von einer unpolierten, naturbelassenen Rauheit, die seinen eigenen Stil, abseits der Mainstream-Konvention schuf und vor allem für eine unnachahmliche Atmosphäre und Bewegtheit der Musik sorgte.“
Sie verflocht „slawische Melancholie und den Blues“ miteinander. Stańkos eigene Klänge „waren von einzigartiger, dunkler, manchmal melancholischer Strahlkraft. Er spielte hervorragend und er spielte anders als die Amerikaner. Damit hat er Amerika erobert, das gelobte Land des Jazz, wo die Originalität so sehr zählt.“
Offenbarung im Rotunda Klub
Der Weg dorthin begann im März 1958. Tomasz Stańko, damals Schüler an der Musikmittelschule in Kraków, gelang es eine Eintrittskarte zum Konzert des schon damals weltberühmten US-Jazzpianisten Dave Brubeck und seines Quartetts im Studentenklub Rotunda zu ergattern. Für den Fünfzehnjährigen aus dem gut einhundertfünfzig Kilometer östlich gelegenen Rzeszów war Brubecks Klavierspiel mit seinen Blockakkorden und ungeraden Taktarten geradezu eine Offenbarung.
Der 1942 geborene Sohn einer Lehrerin und eines Juristen, der mit sieben Jahren aus der Provinzstadt Rzeszów zu Verwandten nach Kraków geschickt wurde, um an einer Musikgrundschule das Geigenspiel zu erlernen, verwandelte sich in einen eingefleischten Jazzfan und aufstrebenden Jazzmusiker.
In der Zeit des Stalinismus, zwischen 1948 und 1956, war der Jazz im kommunistischen Polen faktisch verboten. Nach der Zeit der Unterdrückung und der Verfemung als ideologisches Zersetzungswerkzeug des US-Imperialismus, brach der Jazz sich nach 1956 auf der Welle der „Erneuerung“ Bahn, befreite sich aus dem Katakombendasein.
Beseelt von der Freude am Individuellen, Kreativen, nicht Vorgeschriebenen explodierte geradezu, mitten in der kommunistischen Tristesse, eine moderne und muntere Musikerbewegung. Vereint durch die Begeisterung für den Cool Jazz und den Hard Bop, beherrschten die Vorreiter des polnischen Jazz ihre Instrumente hervorragend und knüpften stark an die slawische Melodik an. Eine neue Stilrichtung entwickelte sich daraus nicht, aber auf jeden Fall eine musikalische Erscheinung, die den Jazz als solchen bis heute erheblich bereichert.
Die herrschenden Kommunisten betrachteten den Jazz nun als eines der Ventile der kleinen Freiheiten, durch die man den in Polen stets starken Druck der Unzufriedenheit kontrollierbar ableiten konnte.
Die künstlerischen Fackelträger dieser Bewegung waren seit den fünfziger und sechziger Jahren, teilweise bis ins zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, die Pianisten Krzysztof Komeda, Mieczysław Kosz, Adam Makowicz und Andrzej Trzaskowski, die Saxophonisten Zbigniew Namysłowski, Jan Wróblewski, Janusz Muniak, die Geiger Michał Urbaniak und Zbigniew Zeifert sowie der Trompeter Tomasz Stańko, auch er ein Symbol der goldenen Ära des polnischen Jazz.
Fünfundfünfzig Jahre auf den Brettern
Als er 1969 sein Studium an der Krakauer Musikhochschule absolvierte, war Stańko bereits ein bekannter Jazzmusiker. Der Start in die groβe Jazzkarriere fand 1963 statt. Damals stand er auf der Bühne des Warschauer Jazz Jamboree-Festivals, einer der wichtigsten europäischen Veranstaltungen dieser Art, die inzwischen Kultstatus erlangt hatte. Stańko war so gut, dass er schon damals mit den Besten des Landes spielen durfte, im Quartett des Pianisten Krzysztof Komeda. Ab dann stand er fünfundfünfzig Jahre lang unaufhörlich auf den Brettern, und blies seine Trompete.
Seit Stańko 1964 zum ersten Mal in den Westen fuhr, zu Konzerten in Belgien und Skandinavien, später immer wieder in die USA, hatte er auf Konzerttouren und Jazzfestivals Umgang mit den Besten der Jazzszene. „Es gibt keine bessere Art noch besser zu werden als mit den Meistern zu spielen“, diese Binsenweisheit war ihm stets der Wegweiser.
Sein furioser Auftritt bei den Westberliner Jazztagen 1970 brachte den Durchbruch und 1975 stieg Stańko in die Aristokratie des Jazz auf. Die namhafte Plattenfirma ECM entschied sich das Album „Balladyna“ seines damaligen Quartetts aufzunehmen. Vier weitere ECM-Scheiben sollten folgen.
Stańko verschrieb sich zunehmend dem Free Jazz in seiner extremsten Form. Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung Mitte der Achtzigerjahre, als er das „Freelectronic“-Quartett gründete. Seine Auftritte beim Jazz de Monrteux 1987 und beim Le Mans Jazz Festival 1988 markieren, wie es heiβt, durch ausgefeilte elektroakustische Effekte, den Beginn einer neuen Free Jazz-Ära.
„Wahnsinn hat mich in Beschlag genommen“
Stańko war damals Ende vierzig und nicht zu bremsen. Bis zum Umfallen spielte er Konzerte diesseits und jenseits des Atlantiks, berauscht nicht nur vom Erfolg. „Der Wahnsinn hat mich in Beschlag genommen. Ich habe mir die Taschen vollgestopft mit Haschischbrocken, Pfeifen, Amphetaminen, Pillen, Flachmännern“, berichtete er Jahre später.
Künstlerisch ging Stańko keine Kompromisse ein, blieb sich selbst treu, zornig und stur. Seine wilden Jahre waren voller Musik, die Anerkennung fand, und voller böser Exzesse. Demolierte Hotelzimmer. Sexorgien. Wilde Autorallyes durch finnische Wildnis mit seinem Freund, dem Jazzschlagzeuger, Konzert- und Rauschpartner Edward Vesala. Eine illegale, nächtliche Jamsession im indischen Tadsch Mahal-Mausoleum… Vesalas Tod 1999 brachte die Ernüchterung.
Lange vorher jedoch ging die Ehe mit seiner Jugendliebe Joanna in die Brüche. Mit Tochter Anna nahm er erst Kontakt auf als sie sechzehn war. Anna war seine letzte Managerin und saβ an seinem Sterbebett.
„Ich habe die Avantgarde verlassen, um als Klassiker zu enden“, sagte er in einem seiner letzten Interviews. Stańko brauchte viel Zeit, um zu der Überzeugung zu kommen, dass letztendlich nur die Musik zählt.
„Wie soll man sich heute noch von den anderen unterscheiden? Wir alle tragen Ringe in den Ohren oder in der Nase. Wir sind alle tätowiert und wir spielen ähnliche Musik. Früher brauchtest du nur ein guter Musiker zu sein und konntest dich ansonsten austoben. Jetzt musst du selbst organisieren, musst auf deine Manager aufpassen, musst sorgsam deine Karriere planen. Es ist zudem sehr schwer geworden Musik zu verkaufen, weil es auf dem Markt Unmengen an hervorragender Musik gibt. Ich hatte es in meinen Anfängen viel leichter.“
Spät erwachsen geworden
Knapp vor der Jahrtausendwende schaffte er es endlich seine Laster über Bord zu werfen, fand sein seelisches Gleichgewicht wieder beim unermüdlichen Joggen durch diverse Warschauer Parks. Von seiner Dachterrassenwohnung aus, unweit der Weichsel, genoss Stańko oft stundenlang den weiten Blick, stets begleitet von einer Kanne besten Tees, des einzigen Genussmittels, das er sich noch gönnte. „Ich bin erst mit gut fünfzig Jahren erwachsen geworden und habe mich aus der Umarmung des Teufels gelöst“, gab Stanko in einem Rundfunkinterview zu Protokoll.
Sein Ruf als auβergewöhnlicher Jazztrompeter, der Solokonzerte gab, war inzwischen unerschütterlich und belegt durch die hervorragende CD „Music from Tadj Mahal and Karla Caves“. Stańko wandte sich nun vom elektroakustischen Free Jazz ab, hin „zur Sanftheit, zur Vereinfachung, zur Kommunikationsfreudigkeit“, wie er es selbst formulierte.
New York von unschätzbarem Wert
Ein neuer Schub der Schaffenskraft ergriff von ihm Besitz, und die sehr wählerische ECM nahm ihn gern unter Vertrag. Die Platten, die er Ende des zwanzigsten, Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts für die ECM aufnahm, festigten seine Stellung in der Jazztrompeter-Weltliga. „Leosia“ wurde zur besten europäischen Jazz-CD des Jahrzehnts gekürt. Mit „Soul of Things“ eroberte er an der Spitze seines Quartetts mit sehr jungen polnischen Musikern noch einmal Amerika. „December Avenue“ war 2017 dann sein letztes CD-Album.
Sein Talent hat ihn reich gemacht. Im Jahr 2008 kaufte Stańko ein Apartment unweit des Central Parks in New York und lebte eine Zeit lang mal dort, mal in Warschau. New York inspirierte ihn. „Diese Stadt vibriert, pulsiert unentwegt, verleiht Lebensenergie, bringt einen auf neue Ideen. Nach so vielen Jahren des Spielens ist das für mich von unschätzbaren Wert.“
Sein Land war ihm zuwider
So originell seine Musik war, so schablonenhaft und typisch für viele polnische Künstler, Wissenschaftler, Aktivisten, Erfolgsmenschen war seine tiefempfundene Scham für das eigene Land. Stańko kam jahrzehntelang zwar kaum mit der polnischen Wirklichkeit eines Billiglohnlandes, aus dem zwei Millionen Menschen innerhalb kurzer Zeit auf der Suche nach Arbeit geflohen sind, in Berührung. Für ihn, den Bewohner der New Yorker und Warschauer Lofts waren die Polen nur „rückständig“, wofür die Ergebnisse der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 2015, in seinen Augen, den endgültigen Beweis erbracht hatten.
Vergeblich war sein starkes Engagement auf der Seite des kläglich gescheiterten Staatspräsidenten Bronisław Komorowski, der 2015 für eine zweite Amtsperiode gewählt werden wollte und dem Newcomer Andrzej Duda unterlag. Dass die Polen Duda sowie andere „Mutanten“ und „grausame Kanaillen“ seines Schlags, wie Stańko es zu formulieren pflegte, an die Macht gebracht haben, erfüllte ihn mit tiefer Abscheu.
Staatspräsident Andrzej Duda lieβ sich dadurch nicht beirren. Kurz nachdem die Nachricht von Tode Stańkos eintraf, twitterte das Staatsoberhaupt: „Heute früh ist Herr Tomasz Stańko von uns gegangen. Er war eine groβe Gestalt des polnischen Jazz, ein hervorragender Musiker mit groβen Verdiensten für die polnische Kultur. Solche Menschen sterben nicht, sie leben weiter ich ihren Werken. Ruhe in Frieden.“
Tomasz Stańko wurde auf dem Warschauer Powązki-Friedhof bestattet.
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