Im Ernstfall. Deutschland will zusehen wenn Polen wird untergehen

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Polnische Analyse für den Fall eines russischen Angriffs. 

Ob Besetzung der Krim, das russische Vorgehen im Donbas oder Lukaschenkos von Moskau abgesegnete „Migranten-Offensive“ auf die polnische Ostgrenze. Ein Angriff auf Polen und die baltischen Staaten kann nicht mehr als ganz und gar undenkbar betrachtet werden. Bei allen diesbezüglichen Denkspielen sollte man in Polen einen Aspekt unbedingt beherzigen: kannst Du zählen, zähle nicht auf Deutschland.

In der russischen Enklave Kaliningrad und in den russischen Gebieten, die unmittelbar an Lettland und Estland grenzen, befinden sich heute die gröβten Truppenansammlungen innerhalb Europas. Die militärische Schwäche der Nato in dieser Region und eine enorme bewaffnete Überlegenheit Russlands, laden Moskau regelrecht zu einem Vorstoβ ein.

Die russische Übermacht äuβert sich vor allem in der Fähigkeit, aus dem Stand, zeitlich und räumlich begrenzte, unvermutete Blitzangriffe vornehmen zu können. Ein solcher Überfall auf Nato-Gebiet würde wahrscheinlich nicht unbeantwortet bleiben. Der Kreml kann jedoch dabei davon ausgehen, dass eine Erwiderung der Nato so viel Zeit in Anspruch nehmen wird, dass Westeuropa, allen voran Deutschland, vor vollendete Tatsachen gestellt, die russischen Eroberungen hinnimmt und den „Triumph der Vernunft“ verkündet.

So könnte der Ernstfall aussehen

Durchaus vorstellbar wäre, dass die Russen innerhalb von 72 Stunden zwei oder gleich alle drei baltische Staaten überrollen, und dann der Nato mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen würde, sollte das Bündnis den Versuch wagen die besetzten Gebiete zurückzuerobern.

Die Nato-Ostflanke.

Bei einem Überraschungsangriff würden sich die Russen zudem größte Mühe geben, die symbolischen Nato-Truppenkontingente im Baltikum (insgesamt ca. 2.500 Soldaten an drei Standorten) friedlich und ohne Opfer außer Gefecht zu setzen. Die entwaffneten Mannschaften würden umgehend wieder im Westen landen. Solch eine „Geste des guten Willens“ würde ihre mildernde Wirkung ganz bestimmt nicht verfehlen.

Friedensbewegte Massenproteste in Westeuropa, vor allem in Deutschland, lautstarke Appelle „vernünftiger“ Politiker und Medien „mit Russland zu reden“ und „Russland zu verstehen“ könnten derweil das Schicksal des wieder einmal von Russland besetzten Baltikums schnell besiegeln.

Seine geographische Lage dürfte es Polen kaum erlauben, den drei baltischen Staaten zur Hilfe zu kommen. Wie eine geballte Faust schwebt die russische Enklave Kaliningrad über dem Land, und im Osten erstreckt sich das mit Russland militärisch eng verwobene Weiβrussland. Polen hätte groβe Mühe das eigene Territorium zu verteidigen.

Warschau liegt nur knapp 300 Kilometer von den Ausgangsstellungen des potentiellen Angreifers entfernt und wäre schnell Ziel eines starken russischen Zangenangriffs von Norden (Kaliningrad) und Osten (Weiβrussland), der die polnischen Streitkräfte im Raum der sog. Suwalki-Lücke umgehend von der polnisch-litauischen Grenze abschneiden würde.

Teile Polens, vielleicht sogar mit Warschau, würden den Russen in die Hände fallen. Von Moskau mit einem atomaren Angriff erpresst, könnte der Westen, auch das Biden-Amerika, ebenfalls im Falle Polens schnell „Ruhe geben“ und sich mit der durch die russische Aggression geschaffenen Tatsachen „realistisch“ abfinden.

Ob Moskau dieses düstere Szenario umsetzten könnte, würde vor allem von Deutschland abhängen. Ohne das Engagement des Schlüsselstaates der Nato in Mitteleuropa mit seinen ausgebauten US-Militäreinrichtungen, wäre ein Zurhilfekommen nicht denkbar. Aber hat Deutschland, etwas salopp ausgedrückt, Lust und Kraft, diese Aufgabe wahrzunehmen? Aus heutiger Sicht weder noch.

Deutsche würden östliche Nato-Partner bei Angriff alleinlassen

Meinungsumfragen lassen keinen Zweifel daran. Mehr als jeder zweite Deutsche ist dagegen, östlichen Bündnismitgliedern wie Estland, Polen oder Lettland militärisch beizustehen, wenn sie von Russland angegriffen werden. So die Antwort von 53 Prozent der Befragten bei einer entsprechenden Umfrage des renommierten Washingtoner Pew Research Center im Mai 2017.

Deutscher Antiamerikanismus.

In keinem europäischen Land, das für die Befragung untersucht wurde, ist die Ablehnung der sogenannten Beistandspflicht nach Artikel 5 – der das Herz der Nato bildet – so groß. Zum Vergleich: In den Niederlanden (23 Prozent), Polen (26 Prozent), in Kanada und den Vereinigten Staaten (beide 31 Prozent) sind die Gegner der Beistandspflicht klar in der Minderheit. In Frankreich und Großbritannien liegt die Ablehnungsrate bei jeweils 43 Prozent und in Spanien bei 46 Prozent.

In Deutschland sind vor allem Frauen dagegen, den östlichen Verbündeten im Falle eines russischen Angriffs zu helfen (62 Prozent). In Ostdeutschland unterstützen nur 29 Prozent der Befragten die Beistandspflicht, im Westen sind es immerhin 43 Prozent. Insgesamt sind nur vier von zehn Deutschen dafür, ein anderes Nato-Mitglied im Falle eines russischen Angriffs zu verteidigen.

Deutsche Zustimmung für Russland.

Spätere, wenn auch weniger repräsentative Umfragen, belegen diese Einstellung, die sich eher noch  verfestigt. Aber auch nur ein Blick in die deutschen Medien und in die Leserkommentare genügt, um sich das enorme Ausmaß der gesellschaftlichen Zustimmung für Russland und die gleichzeitige Ablehnung der Nato, der militärischen US-Präsenz in Deutschland und der Bundeswehr zu vergegenwärtigen. Diese weit verbreitete Haltung bleibt nicht ohne Einfluss auf den fortschreitenden Verfall der Bundeswehr.

Auch die deutsche Politik hält wenig von der Beistandspflicht

Daniel Kochis gilt als ein renommierter Analyst der konservativen Denkfabrik Heritage Foundation. In seinem auf dem Fachportal RealClear Defence veröffentlichten Artikel fordert er die neue deutsche Ampel-Regierung auf, Versprechen einzuhalten, die Berlin der Nato seinerzeit gegeben hat.

Es geht vor allem darum, die deutschen Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen. Leider muss man davon ausgehen, dass solche Appelle in Berlin weiterhin auf taube Ohren stoßen werden. Äußerungen der noch amtierenden CDU-Verteidigungsministerin und Erklärungen derjenigen, die Deutschland die nächsten vier Jahre lang regieren sollen, lassen keine andere Deutung zu.

Die neue Regierung dürfte in dieser Hinsicht noch unnachgiebiger sein. Das zeigt ein kürzlich veröffentlichtes zwölfseitiges Papier der angehenden Regierungskoalition, in dem Sicherheitsfragen nur in den letzten zehn Absätzen äußerst kurzsilbig behandelt werden.

Die Verhandlungsführer der Ampel-Koalitionsparteien betonen in dem Dokument, dass „die Nato das Fundament der Sicherheit ist“ und schreiben im nächsten Satz über den Willen, die Ausrüstung der deutschen Streitkräfte zu modernisieren. Daraus lässt sich schließen, dass Berlin immerhin neue Flugzeuge kaufen will, damit Deutschland weiterhin am Programm der nuklearen Teilhabe teilnehmen kann, aber nicht viel mehr.

Kochis erinnert daran, dass die Nato bereits 2006 die Notwendigkeit erörterte, die Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent zu erhöhen, wovon mindestens 20 Prozent für „große“ Projekte zur Modernisierung der Ausrüstung aufgewendet werden sollten. Entsprechende Vereinbarungen wurden beim Nato-Gipfeltreffen in Newport/Wales, im September 2014 getroffen. Die Nato-Staaten wollten damals diese Verpflichtungen bis 2024 umsetzen.

Die Linke-Plakat.

Im Falle Deutschlands jedoch ist dies völlig abwegig. Berlin erklärte nämlich  schon vor der Pandemie, im Jahr 2019, als Deutschland, wohlgemerkt, noch einen Haushaltsüberschuss hatte, dass es das Zwei-Prozent-Ziel erst im Jahr 2031 erreichen könne. Das wäre ein Vierteljahrhundert nachdem es zum ersten Mal von den Verbündeten angepeilt wurde.

Gewiss, auch Berlin hat seine Militärausgaben erhöht. Heute gibt Deutschland 25 Milliarden Dollar mehr für die Verteidigung aus als 2015, aber das sind immer noch lediglich 1,53 Prozent des deutschen BIP.

Der zitierte Analyst der Heritage Foundation schreibt, dass selbst die Perspektive 2031, wenn Deutschland nach den jüngsten Erklärungen seinen Verpflichtungen endlich nachkommen will, ernsthaft gefährdet ist.

Erstens, weil die neue Regierungskoalition die Sozialausgaben deutlich erhöhen möchte, was sie höchstwahrscheinlich veranlassen wird, Einsparungen im Militärhaushalt vorzunehmen. Zweitens wächst in Berlin die Überzeugung, dass mit der Machtübernahme durch die Biden-Administration, die von Trump stark betonte „Zwei-Prozent-Frage“ nicht mehr so wichtig ist und man sie getrost zu den Akten legen kann.

Zwei-Prozent-Fetisch. Karikatur von Harm Bengen.

Sollten sich diese Vorhersagen bestätigen, so Kochis, „würde ein solches Signal in Moskau als Schwäche und in Osteuropa als Unbekümmertheit ausgelegt werden. In den USA würde es die Überzeugung festigen, dass die niedrigen europäischen Verteidigungsausgaben ein guter Grund für die USA sein sollten, Europa zu verlassen.“ Eine bessere Einladung an Moskau, wie die aus Berlin, militärisch im Baltikum und in Polen tätig zu werden, könnte es nicht geben.

Viel Geld für eine schlechte Bundeswehr

An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Wie ist der tatsächliche Zustand der deutschen Streitkräfte? Man könnte denken, dass ein Land wie Deutschland, das im Jahr 2020 58,9 Milliarden Dollar für die Verteidigung ausgegeben hat (berechnet nach der NATO-Methode und somit ohne Ausgaben für militärische Renten) über erhebliche Verteidigungsfähigkeiten verfügen muss. Polen gibt, nach derselben Berechnungsmethode, 7,8 Milliarden Dollar für seine Armee aus.

Auf dem Papier ist die Stärke der deutschen Landstreitkräfte, nach Angaben der britischen Denkfabrik IISS, die jedes Jahr den „Military Balance“-Bericht veröffentlicht, in dem der Zustand der Armeen aller Länder der Welt beschrieben wird, nicht viel größer als die Polens.

Die Deutschen haben 62.150 Soldaten und Offiziere, die Polen 58.500. In der deutschen Luftwaffe dienen 16.600, in der polnischen 14.300 Mann. Deutschland besitzt eine viel größere Kriegsmarine, während Polen über deutlich stärkere Spezialkräfte verfügt.

Wenn sich die „Auf-dem-Papier-Bestände“ der deutschen Streitkräfte nicht wesentlich von den polnischen unterscheiden, dann sind sie vielleicht in Bezug auf Ausrüstung, Ausbildung und Einsatzbereitschaft überlegen? Zur Beantwortung dieser Frage sei auf den soeben von der Heritage Foundation veröffentlichten Bericht „Index of Military Strength“ verwiesen, der unter anderem eine Analyse der Fähigkeiten der wichtigsten amerikanischen Verbündeten in der Welt enthält. Auch dem militärischen Potenzial Deutschlands wurde in dieser Studie einige Aufmerksamkeit geschenkt.

Nach Meinung der amerikanischen Fachleute „sind die deutschen Streitkräfte nach wie vor unterfinanziert und schlecht ausgerüstet“. Die Autoren der Studie zitieren einen anonymen deutschen Diplomaten, der von der „Financial Times“ mit den Worten zitiert wird, dass „Deutschland seinen Verteidigungshaushalt auf 3,0 bis 3,5 Prozent des BIP verdoppeln sollte, da es sonst Gefahr läuft, völlig taub, blind und wehrlos zu sein“.

Die deutschen Streitkräfte, die nicht nur in Litauen oder im Kosovo präsent sind, sondern auch Expeditionsaufgaben übernehmen, befinden sich, nach Meinung der amerikanischen Fachleute, immer noch auf einem niedrigen Niveau der Gefechtsbereitschaft, die heute bei 74 Prozent liegt.

Nach Ansicht der Experten der Heritage Foundation, sind die Anwesenheit der Bundeswehr bis vor kurzem in Afghanistan sowie weiterhin in Mali, aber auch z.B. die Teilnahme an der Überwachung des Luftraums der baltischen Staaten, nur möglich, weil deutsche Einsatzkräfte für die Durchführung dieser Missionen ihrer Ausrüstung in der Heimat „beraubt“ werden. Das wirkt sich nachteilig auf ihre Wirksamkeit und Ausbildung für die Heimatverteidigung aus.

Gängige Bundeswehr-Berichterstattung in Deutschland.

Das Ausmaß der Probleme wurde auch im Bundestagsbericht von 2021 noch einmal deutlich, in dem u.a. festgestellt wurde, dass nur 13 Leopard-2 Panzer einsatzbereit waren, statt der für die Ausbildung erforderlichen 35.

Auch die Personalprobleme sind nicht gelöst. Die Unzulänglichkeiten betreffen im Übrigen nicht nur die Bodentruppen, denn: „Fast die Hälfte der Piloten der Luftwaffe erfüllten die Anforderungen der NATO-Ausbildung nicht, da aufgrund des Mangels an verfügbaren Flugzeugen die Kriterien hinsichtlich der Flugstunden nicht erfüllt werden können.“

Auch fehlen Piloten, denn von den 220 Stellen für Kampfflugzeugpiloten sind nur 106 besetzt; bei den Hubschraubern ist das Verhältnis ähnlich: von 84 benötigten Piloten sind 44 im Dienst. Bei der deutschen Marine sieht es nicht besser aus, nicht nur wegen des Personalmangels, sondern auch, weil Einheiten aus dem Dienst genommen werden.

Wie im März 2021 bekannt wurde, verwenden mehr als 100 deutsche Schiffe, darunter auch U-Boote, russische Navigationssysteme, die nicht den NATO-Standards entsprechen. Es besteht die Möglichkeit, dass sie „gehackt“ werden, was den größten Teil der deutschen Marine die Einsatzfähigkeit kosten könnte.

Deutschland möchte seine Streitkräfte, vor allem die Reservekomponente, vergrößern. Nach Ansicht von Experten der Heritage Foundation werden diese Pläne, obwohl sie als sinnvoll erachtet werden sollten, nur schwer umsetzbar sein. Im Jahr 2020 ist die Zahl der Freiwilligen, die sich zur Teilnahme an der Ausbildung bereit erklärt haben, um 19 Prozent gesunken, und es gibt immer noch 20.200 offene Stellen bei der Bundeswehr. Das Durchschnittsalter der Soldaten ist seit 2012 um drei Jahre gestiegen und liegt heute bei 33,4 Jahren.

Im März 2021 hat der Bundestag die Beteiligung Deutschlands an einem gemeinsamen europäischen Drohnenbauprogramm (an dem auch Frankreich, Italien und Spanien beteiligt sind) gebilligt. Die Bundeswehr darf aber weiterhin keine Kampfdrohnen besitzen und Soldaten, die Beobachtungsdrohnen bedienen ist es nicht erlaubt den Einsatz von Drohnen als „taktische Waffen“ zu üben. Angesichts der stürmischen Entwicklung der Kampfdrohneneinsätze auf den modernen Schlachtfeldern sind die deutschen Streitkräfte auch in diesem Bereich ins Hintertreffen geraten.

Wenn die Russen bis 2031 warten, werden die Deutschen innerhalb von drei Monaten antreten

Im September veröffentlichte ebenfalls die schwedische militärische Denkfabrik FOI einen Sonderbericht über die Fähigkeiten der Bundeswehr. Ihre Erkenntnisse decken sich größtenteils mit dem, was die amerikanischen Fachleute geschrieben haben.

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Deutschen, nach Ansicht der Autoren der schwedischen Studie, im Kriegsfall in der Lage wären, innerhalb einer Woche vom Beginn der Kampfhandlungen an, nur 3 bis 4 mechanisierte Bataillone aufzubieten, und dies nur an ihren festen Standorten. Hinzu kämen 2, vielleicht 3 leicht bewaffnete Bataillone der Infanterie, die auf dem Luftweg ins Kampfgebiet gebracht werden könnten.

Auf die Antwort auf die von der Bild-Zeitung gestellte Frage ist man auch in Polen gespannt.

Das ist, angesichts der jährlichen Verteidigungsausgaben von knapp 59 Milliarden Dollar, kein beeindruckendes Potenzial, und schon gar nicht eines, das Moskau erschrecken und die russische Elite dazu bringen würde, auf mögliche aggressive Schritte zu verzichten. Das Ziel des deutschen Verteidigungsministeriums ist es, und das erst im Jahr 2031, innerhalb von drei Monaten nach Kriegsbeginn drei volle Divisionen an Bodentruppen „in die Schlacht zu werfen“.

Aus polnischer Sicht ist die Botschaft klar. Selbst wenn Berlin seine Pläne weiterverfolgt und endlich die 2014 eingegangenen Verpflichtungen 2031 erfüllt, könnte der deutsche „Entsatz“ erst drei Monate nach Kriegsbeginn an der Ostflanke eintreffen.

Natürlich nur wenn diese „ehrgeizigen“ Absichten nicht von der neuen Koalition blockiert werden, und wenn in Berlin die Entscheidung fallen würde gegen den russischen Aggressor zu kämpfen, was aus heutiger Sicht wenig wahrscheinlich erscheint.

Der Bericht erschien im Internetportal „wPolityce.pl“ („inderPolitik.pl“) am 5. November 2021

RdP