Akten, Aufstellungen, Analysen. Was hat Polen in der Hand. Ein Interview.
Im Warschauer Archiv der Neuen Akten befinden sich die wichtigsten polnischen Unterlagen für eventuelle Reparationsverhandlungen mit Deutschland.
Das Archiv der Neuen Akten (Archiwum Akt Nowych) besteht seit 1918, als Polen seine Unabhängigkeit wiedererlangte. Hier werden die Dokumente aller polnischen staatlichen Behörden seit dem Gründungsjahr des Archivs aufbewahrt. Es ist eines von drei zentralen polnischen Staatsarchiven, neben dem Archiv der Alten Akten (alle Staatsdokumente bis 1918) sowie dem Nationalen Digitalarchiv (Fotos, digitale Aufzeichnungen staatlicher Institutionen). Das Gespräch mit dem stellvertretenden Direktor des AAN Mariusz Olczak erschien in der Tageszeitung „Nasz Dziennik“ am 24. September 2017.
Es heiβt, in Ihrem Archiv befinden sich die wichtigsten Akten, die Zeugnis darüber ablegen, was sich nach 1945 auf polnischer Seite in Bezug auf deutsche Kriegsreparationen abspielte.
Wir haben inzwischen eine Liste von Aktenbeständen zusammengestellt, die bei der Feststellung der Tatsachen hilfreich sein dürften. Das sind einige Hundert Meter an Dokumentation, die ausgewertet werden müssen.
Darunter befindet sich ein sehr wichtiges Dokument, und zwar das Sitzungsprotokoll des Ministerrates der Volksrepublik Polen (VRP) vom 19. August 1953.
Die Sitzung wurde geleitet von Bolesław Bierut, Stalins Statthalter in Polen, einem NKWD-Agenten, der damals an der Spitze der Regierung stand. Ebenfalls daran teilgenommen haben die stellvertretenden Ministerpräsidenten Taduesz Gede, Piotr Jaroszewicz, Hilary Minc, Zenon Nowak. Hinzugebeten wurden der Staatsratsvorsitzende Aleksander Zawadzki, der damalige Minister für staatliche Kontrolle Franciszek Jóżwiak, der stellvertretende Vorsitzende der Staatlichen Planungskommission Eugeniusz Szyr sowie der Chef des Amtes des Ministerpräsidenten Kazimierz Mijal.
In diesem Kreis wurde entschieden, dass die Volksrepublik Polen, auf Ersuchen der Regierung der UdSSR, auf Reparationszahlungen aus der DDR verzichten wird.
Bekannt gemacht wurde diese Entscheidung einige Tage später.
Ja, am 23. August 1953 in einer Verlautbarung der Regierung der VRP, verbreitet von der Polnischen Presseagentur PAP: „Die Regierung der Volksrepublik Polen begrüβt mit voller Anerkennung die Beschlüsse der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in der Deutschlandfrage“.
Gleichzeitig wurde mitgeteilt, die Regierung der VRP habe entschieden vom 1. Januar 1954 an auf Reparationszahlungen an Polen zu verzichten. Weiter hieβ es: „Diese Entscheidungen sind darauf ausgerichtet, einen dauerhaften Frieden in Europa zu gewährleisten, imperialistische Intrigen, die Deutschland in einen gefährlichen, neuen Kriegsherd verwandeln sollen, zu durchkreuzen und ein vereinigtes, demokratisches und friedliebendes Deutschland zu schaffen.“
Kann man anhand der beiden Dokumente davon ausgehen, dass es sich um eine souveräne Entscheidung gehandelt hat?
Sowohl der Inhalt als auch die gesamten damaligen politischen Begleitumstände lassen nur eine Schlussfolgerung zu: es war keine freie Entscheidung, der Verzicht geschah auf Geheiβ der Sowjets.
Das Sitzungsprotokoll sowie die Verlautbarung berufen sich in einem fort auf die Sowjetunion: „Die Regierung der UdSSR schlägt vor“, „Die Regierung der UdSSR beabsichtigt“, „Die Regierung der Volksrepublik Polen schlieβt sich voll und ganz der Meinung der Regierung der UdSSR an“ usw., usf. Das damalige Polen mit seinem kolonialen Status musste das tun, was die Kolonialmacht Sowjetunion wollte.
Der Verzicht betraf nur die DDR.
Das geht aus den beiden Dokumenten hervor.
Die von den Deutschen während des Zweiten Weltkrieges in Polen angerichteten Schäden werden auf achthundert Milliarden US-Dollar geschätzt. Sind diese Schäden angemessen belegt?
In unseren Beständen gibt es eine umfangreiche Dokumentation dazu. Beginnen wir damit, dass unser Archiv, das Archiv der Neuen Akten, selbst furchtbare Verluste erlitten hat. Während des Warschauer Aufstandes im August und September 1944 verbrannten fünfundneunzig Prozent unserer damaligen Archivsammlungen.
Einen der wichtigsten Aktenbestände zum Thema, stellen die Unterlagen des Büros für Kriegsentschädigungen dar, das kurz nach Kriegsende begann alle Informationen zusammenzutragen. Dokumentiert sind sämtliche Schäden und Verluste im Handwerk, in der Industrie, Forstwirtschaft und Staatsverwaltung.
Und auβerdem?
Einen groβen Bestand bilden die Akten des sogenannten Wiedererlangungsbüros (Biuro Rewindykacji). Es entstand 1945 und war damit beschäftigt polnisches Eigentum, das die Deutschen aus Polen geraubt und nach Deutschland oder in andere Teile des besetzten Europas verbracht hatten zurückzuführen. Oft jedoch war dieses Eigentum vernichtet oder nicht mehr auffindbar.
Des Weiteren beinhalten die Aktenbestände verschiedener Ministerien eine Vielzahl an Informationen. So zum Beispiel dokumentierte das Finanzministerium die Verluste des staatlichen Salz- und Streichholzmonopols, das im Vorkriegspolen existierte. Sehr akribisch haben nach 1945 das Post- und das Bildungsministerium die Verluste in ihren Bereichen aufgezeichnet.
Paradoxerweise haben die Deutschen selbst viele polnische Verluste belegt.
Die deutsche Verwaltung des Generalgouvernements führte genaue Listen über geraubte polnische Kunstgegenstände, bevor sie nach Deutschland gebracht wurden.
Befinden sich diese Verzeichnisse in Polen?
Einige ja, einen Teil haben wir auf den sogenannten Alexandrischen Mikrofilmen. Die Amerikaner haben bei Kriegsende groβe Bestände an Dokumenten der deutschen Heeresleitung und der Sicherheitspolizei erbeutet. Im Jahr 1953 wurden sie nach Alexandria bei Washington gebracht und dort auf Mikrofilm übertragen. Daher der Name. Wir haben in unserem Archiv etwa achttausend Mikrofilmrollen von dort.
Gut dokumentiert sind auch die geraubten oder vernichteten Bibliotheksbestände.
Im Staatsarchiv von Jelenia Góra befinden sich die Verzeichnisse der Zweigstelle der deutschen Staatlichen Bibliothek im damaligen Hirschberg, wo es ein zentrales Register geraubter Buchbestände aus polnischen Bibliotheken gab. Dank diesen Aufzeichnungen wissen wir, welche geraubten polnischen Bücher an welche Zweigstellen der deutschen Staatlichen Bibliothek übergeben wurden.
Man müsste eigentlich alle diese Informationen zusammenfassen und in einer Art „Weiβbuch der polnische Kriegsverluste“ veröffentlichen.
Wenn jemand diese Absicht haben sollte, dann kann er bei uns auf eine sehr große Zahl von Akten zurückgreifen. Alle sind katalogisiert und leicht zugänglich.
RdP