Chopins Flügel beflügelt

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Der grossartige Nachbau eines historischen Musikinstruments weckt schöne wie schaurige Erinnerungen.

Es war ein berührendes und symbolträchtiges Konzert. Knapp zweitausend Zuhörer lauschten Mitte März 2018 in der Warschauer Oper Fryderyk Chopins Klavierwerken, gespielt auf einem historischen Instrument. Der Buchholtz-Flügel, den russische Soldaten vor 155 Jahren zerschmetterten, war Chopins Jugendliebe. Ein exzellenter Nachbau vermittelte nun den ursprünglichen Klang der Musik des großen Komponisten.

Chopins Jugendliebe. Der nachgebaute Buchholtz-Flügel.

Mit den heutigen Yamaha- und Steinway-Flügeln kann er nicht mithalten. In einer Zeit der Hochleistungsakustik klingt das Instrument verwöhnten Chopin-Liebhabern zu leise, etwas flach, manchmal kurzatmig. Die heutigen Flügel haben einen deutlich stärkeren Klang und erzeugen auch nicht sofort einen Ton, sobald der Pianist beim Spielen unbeabsichtigt eine Nebentaste berührt.

Historische Flügel sind wesentlich fragiler in der Konstruktion und überaus empfindlich. Als auf ihnen musiziert wurde gab es keine Mikrophone, keine Verstärker, keine für den Hörgenuss elektronisch feintarierten Konzertsäle. Gespielt wurde meistens in groβbürgerlichen Salons oder in Ballsälen aristokratischer Residenzen.

Warschau, 17. März 2018. Am nachgebauten Buchholtz-Flügel Krzysztof Ksiażek, es dirigiert Václav Luks.

Alle Rezensenten bescheinigten dem jungen Solisten am rekonstruierten Flügel, dem polnischen Pianisten Krzysztof Książek (fonetisch Ksionschek), einem erfolgreichen Teilnehmer des Warschauer Chopin-Wettbewerbs von 2015, er habe die Herausforderung sehr gut gemeistert. Das tschechische Orchester Collegium 1704 unter Václav Luks, spezialisiert auf alte Musik in historischer Aufführungspraxis, war ihm hierbei ein geradezu kongenialer Begleiter.

„Das Ideal, es hat das Straβenpflaster erreicht“

Bei diesem Konzert handelte es sich jedoch um viel mehr, als nur um ein herausragendes künstlerisches Ereignis. Eine tiefe Demütigung, eine historische Wunde, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde, kann nun endlich vernarben. Chopins zerschmetterter Flügel ist nicht wegzudenken aus dem polnischen nationalen Langzeitgedächtnis.

Schönheit und hehre Werte, die Chopins Musik verkörpert, wurden vor 155 Jahren von einer brutalen und primitiven Horde fremder Besatzer vernichtet. Polens groβer romantischer Dichter Cyprian Kamil Norwid hat den zerstörten Flügel Chopins 1865 zum Symbol des tragischen Schicksals des Landes hochstilisiert, in einem Gedicht, das jeder polnische Schüler gelesen haben muss.

Dichter Cyprian Kamil Norwid (1821 – 1883).

Der Flügel Chopins

(…) Das Bauwerk faβt Feuer, erlischt,
Und erneut flammt es auf, und hier, an der Wand,
Auf Stirnen lese ich Leid – Witwen von Gewehrkolben gebannt.
Fast rauchblind sehe ich, in einem Bogen der Kolonnade,
Ein Stück, wie eine Totenlade,
Heruntergeschoben, und stürzte, stürzte Dein Flügel!

Er kündete von Polen, ein Stück entnommen der Geschichtsvollendung,
Die eben hier fand einen Hymnus verzückt im Zenit,
Polen der gewandelten Radmacher Land.
Er stürzte, auf Pflaster, Granit!

(…) Gerichtsgesang mag erdröhnen,
Laβ rufen uns: „freue Dich Nachfahr ferner Zeit!…
Dumpfes Gestein war im Stöhnen,
Das Ideal, es hat das Straβenpflaster erreicht…“  (Aus dem Polnischen von Peter Gehrisch)

Russen spielen Nero

Diese Szenen spielten sich in Warschau am Sonnabend, dem 19. September 1863 ab. Die Hauptstadt des seit 1795 endgültig von Preuβen, Österreich und Russland aufgeteilten Polens gehörte zum russischen Teilungsgebiet und das sollte bis 1915, als kaiserliche deutsche Truppen in Warschau einmarschierten, so bleiben.

Seit Januar 1863 war dort eine groβe nationale Freiheitserhebung, der Januaraufstand, gegen die Russen im Gange. Es war ein blutiger, verzweifelter, immer wieder aufflammender Partisanenkampf, den die Russen mit Massenenteignungen, öffentlichen Hinrichtungen am Galgen und Deportationen nach Sibirien zu bändigen versuchten.

Tief im Untergrund funktionierte in Warschau eine polnische Nationalregierung, die über ein weitverzweigtes konspiratives Verwaltungsnetz den zivilen Widerstand organisierte und Steuern für den Befreiungskampf eintrieb.

Untergrundgerichte verurteilten polnische Kollaborateure, besonders diensteifrige russische Militärs und Besatzungsbeamte zum Tode. Kleine Trupps der konspirativen Nationalgendarmerie vollstreckten die Urteile auf offener Straβe oder in Wohnungen. Warschau war für die Russen damals ein sehr heiβes Pflaster.

Der russische General Fiodor Berg (eigentlich Friedrich Wilhelm Rembert von Berg) war ein baltendeutscher Adeliger und (1863 – 1874) russischer Statthalter in Warschau.

Ende August 1863 fiel die Entscheidung den gerade neuernannten russischen Statthalter Fiodor Berg zu beseitigen. Der General fuhr jeden Abend zwischen achtzehn und zwanzig Uhr von seinem Dienstsitz in der Kaserne am Łazienki-Park in einer offenen Kutsche, umgeben von Kosaken-Reitern, schnurgerade durch die Innenstadt zu seiner Residenz im Warschauer Schloβ. Die Straβen, die er nahm waren fast menschenleer, denn wer sich vor dem vorbeifahrenden Statthalter nicht verbeugte, riskierte verhaftet zu werden. Die ansonsten brodelnde Stadt boykottierte auf diese Weise ihren Unterdrücker.

Fünf Untergrundkämpfer der Nationalgendarmerie mieteten sich in einer kleinen Wohnung in der vierten Etage eines gutbürgerlichen Wohnhauses ein, das dem polnischen Adeligen Andrzej Zamoyski gehörte, den die Russen ins Exil verjagt hatten. Die Fahrstrecke Bergs durch das Stadtzentrum verengte sich an dieser Stelle zu einer schmalen Straβenschlucht.

Als die Kutsche unter ihrem Fenster vorbeifuhr, schoss einer der Attentäter mit der Schrotflinte auf Berg, verletzte ihn jedoch nur leicht. Die Phosphorflaschen, die die Kutsche in Brand setzten sollten verfehlten das Ziel, ebenso die im Anschluss geworfenen Bomben. Panik brach aus, Rauchschwaden verhüllten das Geschehen. Die Kämpfer flohen, wie geplant, durch benachbarte Hinterhöfe und Gärten.

Warschau, 19. September 1863. Das Attentat auf Statthalter Berg aus dem Haus rechts im Bild. Zeitgenössische Darstellung.

Mit kreidebleichem Gesicht ordnete Berg noch am Ort des Geschehens Vergeltung an. Das von gut 650 Menschen bewohnte Haus, von dem aus der Anschlag verübt worden war, wurde umstellt. Die zweihundert Einwohner, die sich zur Tatzeit in ihm befanden, wurden in den Innenhof gejagt und im Tross in die Warschauer Zitadelle abgeführt, eine von den Russen am Rande des Zentrums erbaute Zwingburg, die ihnen als Kaserne, Gefängnis und Hinrichtungsstätte diente. Einige Dutzend Bewohner fanden sich schon bald in der sibirischen Verbannung wieder, so auch der Sohn des Hausbesitzers, Stanisław Zamoyski.

Berg befahl General Pawel Korff das Gebäude im dichtbebauten Stadtzentrum mit dem Artilleriefeuer der aufgefahrenen Kanonen zu vernichten, was dieser ihm jedoch ausreden konnte. Stattdessen wurde das Gebäude der Zerstörungswut eines entfesselten russischen Soldatenmobs preisgegeben.

Russische Soldaten verwüsten das Zamoyski-Haus in Warschau. Zeitgenössische Darstellung.

„Wie Atillas Horden, die die alte römische Kultur in Schutt und Asche legten, stürzten sie in das riesige Haus, um alles was ihnen unter die Hand kam mit Äxten und Brechstangen kurz und klein zu schlagen und auf die Straβe zu werfen. An mehreren Stellen brannte es“, schrieb später ein Augenzeuge.

In der Wohnung des Fernostforschers Józef Kowalewski wurde sein Lebenswerk, die Handschriften eines vierzigbändigen Wörterbuchs der mongolischen Sprache, vernichtet. Ebenso erging es seiner riesigen Sammlung seltener chinesischer und tibetanischer Handschriften.

Auch bei Izabela Barcińska, der Schwester von Fryderyk Chopin, blieben nach der Vergeltungsnacht nur kahle Wände übrig. Das wertvolle Kaffeeservice, ein Geschenk des französischen Königs Louis-Philippe I. für Chopin, überdauerte die Vernichtungsorgie genauso wenig, wie eine Sammlung von Chopins Briefen, Autogrammen, Manuskripten, Andenken. Auch Chopins Flügel landete auf dem Straβenpflaster.

„Die zertrümmerten Gegenstände bildeten unten auf der Straβe einen drei, vier Meter hohen Wall. Mitten in der Nacht holten die Russen die Feuerwehr herbei, lieβen das zerschmetterte Mobiliar zu drei riesigen Haufen auftürmen und anzünden. Wie Neros der Neuzeit thronten russische Offiziere in sicherer Entfernung auf geraubten Sesseln und genossen den Anblick“, so ein anderer Augenzeuge.

Am 5. August 1864 fand der tragische Aufstand ein symbolisches Ende. In einer öffentlichen Hinrichtung wurden Romuald Traugutt und vier weitere Mitglieder der letzten konspirativen polnischen Nationalregierung am Abhang der Warschauer Zitadelle von den Russen gehängt.

Warschau, 5. August 2014. Feierlichkeiten zum 150. Jahrestag der Hinrichtung der Mitglieder der letzten konspirativen polnischen Nationalregierung durch die Russen . In der Mitte Romuald Traugutt.

Der Klavierbauer und der Komponist

Fryderyk Chopin lebte damals bereits seit fünfzehn Jahren nicht mehr, Fryderyk Buchholtz seit siebenundzwanzig Jahren. Der aus dem ostpreuβischen Hohenstein (Olsztynek) stammende Buchholtz, ein begabter Pianist, Klavierbauer und Orgelbaumeister, später auch Zunftmeister der Warschauer Obergilde, hatte 1815 sein Unternehmen in Warschau gegründet. Schon bald genoss seine Werkstatt den Ruf die beste ihrer Art in ganz Russisch-Polen zu sein.

Giraffenklavier von Buchholtz.

Buchholtz baute anfangs Giraffenklaviere und erlangte hierfür schnell Anerkennung. Nach 1825 beschränkte er sich auf Flügel mit Wiener und englischer Mechanik. Ab 1826 baute er Instrumente in englischer Manier. Als Erster Klavierbauer seiner Gilde verwendete er ab 1827 Metallrahmenhalterungen und verzichtete auf den bis dahin obligatorischen Klavierkastenboden. In den 1830er Jahren baute er auf Bestellung, zusammen mit seinem Sohn Julian, ein Klavier mit einem Schalldämpfer-Zug, das in ein unteres und ein oberes Register getrennt war. Seine Instrumente zählten bei Pianisten zu den besten in Europa.

Chopin war ein ständiger Gast in seiner Fabrikationswerkstatt, freundete sich mit dem Klavierbauer an. Ein Buchholtz-Flügel stand bereits auf der Bühne, als der Komponist 1823 mit 13 Jahren sein Warschauer Premierenkonzert gab. Im Jahre 1825 kauften Chopins Eltern für ihren Sohn einen eigenen Flügel bei Buchholtz. Er stand im Salon der geräumigen Wohnung an der Hauptstraβe Krakowskie Przedmieście (Krakauer Vorstadt) und diente dem jungen Komponisten in der Zeit seiner ersten groβen Erfolge. In seinem Arbeitszimmer befand sich ein platzsparendes Giraffenklavier, ebenfalls ein Instrument von Buchholtz.

Am 17. März 1830 gab der zwanzigjährige Chopin in Warschau sein erstes groβes öffentliches Konzert vor knapp eintausend Zuhörern, in dem er sein gerade komponiertes Klavierkonzert in f-moll (zu hören am Ende dieses Beitrags) einem begeisterten Publikum auf einem Buchholtz-Flügel vorstellte. Auf den Tag genau 188 Jahre später, am 18. März 2018, spielte der junge Krzysztof Książek dasselbe Klavierkonzert auf dem nachgebauten Instrument in der Warschauer Oper.

Fragmente dieses Konzertes können Sie am Ende dieses Beitrags zum Hören abrufen.

Chopin verlieβ Warschau am 2. November 1830 für immer. Gut drei Wochen später brach in der Hauptstadt eine weitere groβe antirussische Erhebung aus, der Novemberaufstand, der fast ein Jahr lang dauern sollte. Für Chopin der sich weigerte ein Untertan des Zaren zu sein, der seinen russischen Pass verfallen lieβ und letztendlich die französische Staatsbürgerschaft annahm, war der Weg in die Heimat für immer versperrt.

Der renommierte amerikanische Klavierbauer Paul McNulty lebt in Tschechien.

Das Instrument, das Chopins Schwester in Warschau bis zu seiner Zerstörung wie eine nationale Reliquie pflegte, baute der wohl berühmteste lebende Rekonstrukteur alter Tasteninstrumente, der Amerikaner Paul McNutty in zehnjähriger Arbeit nach. McNutty lebt und arbeitet seit 1995 in Tschechien, wo es in den südböhmischen Wäldern das beste Resonanzboden-Holz der Welt geben soll. Der Preis für sein Werk ist nicht bekannt, man spricht von einem Betrag von bis zu hunderttausend Euro. Bezahlt hat ihn der polnische Mineralölkonzern Orlen.

Polnische Chopin-Klaviere. Drei zum Gucken…

Das älteste Instrument steht im Geburtshaus des Komponisten in Żelazowa (fonetisch Schelasowa) Wola bei Warschau. Es handelt sich dabei um ein Giraffenklavier.

Chopins Gönner und Freund Camille Pleyel (1788 – 1855).

Von unschätzbarem ideellen Wert ist der Pleyel-Flügel, den Chopin in seinen letzten zwei Lebensjahren in Paris benutzte, zu sehen im Warschauer Chopin-Museum, gleichzeitig Sitz der Chopin-Gesellschaft in der Okólnikstrasse. Spielen kann man ihn nicht mehr.
Chopin und der Firmeninhaber Camille Pleyel pflegten eine enge Freundschaft. Pleyel stellte dem von ihm grenzenlos bewunderten Komponisten immer schönere und perfektere Klaviere zum Probespielen zur Verfügung. Er bezahlte auch den Transport wenn Chopin auf Tournee ging.

Chopins letzter Flügel, Pleyel Nr. 14810 im Warschauer Chopin-Museum.

Chopin wiederum empfahl Pleyels Instrumente seinen Schülern und Freunden. Einmal sagte er öffentlich, dass er, wenn er nicht gut aufgelegt sei zum Komponieren, sich an ein Klavier von Erard, dem gröβten Konkurrenten Pleyels setze. In dem Instrument von Erard nämlich fände man leichter den fertigen Klang.

Spüre er jedoch einen Drang zum Komponieren, dann braucht er einen Pleyel-Flügel, denn nur auf ihm trifft er den eigenen, unverwechselbaren Klang seiner Musik. Eine bessere Werbung für Pleyel konnte es nicht geben.

Ein drittes Exemplar, nur zum Bestaunen, befindet sich im Museum der Jagiellonen Universität in Kraków. Es ist auch ein Pleyel von 1847, den Chopin bei seinen Konzerten in Schottland benutzte.

… zwei zum Spielen.

Abgesehen von dem neusten Buchholtz-Nachbau gibt es in Polen zwei Pleyel-Flügel, die Chopin zwar nie berührt hat, die jedoch genau aus seiner Zeit stammen, und für Konzerte und Aufnahmen genutzt werden.

Den einen, Jahrgang 1848, erwarb 2005 das Warschauer Nationale Chopin-Institut in England. Gewinner der Warschauer Chopin-Klavierwettbewerbe nehmen auf diesem Instrument nach und nach alle Chopin-Werke auf. Entstehen soll daraus die „Schwarze Gesamtausgabe“, abgeleitet vom eleganten Schwarz der CD-Hüllen. Bleibt nur zu hoffen, dass der betagte Klangkörper das aushält.

Ein zweiter Pleyel, Jahrgang 1860, wurde vor einigen Jahren in den Magazinen des Kreismuseums in Krosno, in Südostpolen gefunden. Trotz intensiver Nachforschungen gelang es bis dato nicht herauszufinden wie er dorthin gelangte. Schwer lädiert, wurde das Instrument mit hohem Kostenaufwand umsichtig originalgetreu wiederhergestellt. Heute wird das Instrument gerne von führenden polnischen und internationalen Pianisten genutzt. © RdP

Lesenswert auch: „Chopins Herzuntersuchung. 165 Jahre nach dem Tod des Komponisten“.

Wie klingt der Buchholtz-Nachbau

Krzysztof Książek spielte auf dem nachgebauten Chopin-Buchholtz-Klavier während des Konzertes in der Warschauer Oper am 17. März 2018 u. a.:

  1. Karol Kurpiński (1785 – 1857) Fuge und Koda in B-dur zum Thema „Noch ist Polen nicht verloren“ (polnische Nationalhymne).

2. Fryderyk Chopin (1810 -1848), Klavierkonzert in f-Moll op. 21. Maestoso.

3. Fryderyk Chopin (1810 -1848), Klavierkonzert in f-Moll. Larghetto.

4. Fryderyk Chopin (1810 -1848), Klavierkonzert in f-Moll. Allegro vivace.