Ein Vorhaben, das spaltet, anstatt zu einigen.
Den Zusammenhalt stärken und eine europäische Identität schaffen, das ist der Traum aller EU-Begeisterten. Ein in Mauern und Vitrinen gefasster offizieller EU-Blick in die Vergangenheit: das Brüsseler Haus der Europäischen Geschichte sollte dabei helfen. Die Botschaft jedoch, die von dort ausgeht ist erschreckend einseitig und kleingeistig.
Prof. Andrzej Nowak, einer der namhaftesten polnischen Historiker, hat das Brüsseler EU-Geschichtsmuseum besucht. Seinen ausführlichen Bericht druckte das Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 9. Juli 2018.
Vorher schon gab es aus Polen kritische Stimmen zu der Ausstellung. Im Oktober 2017 schrieb der polnische Kulturminister Prof. Piotr Gliński an EU-Parlamentschef Antonio Tajani, „die Ausstellung verstoβe gegen fundamentale historische Wahrheiten“. Alle Beanstandungen wurden in Brüssel jedoch beiseitegeschoben, und alles blieb beim Alten.
Nachstehend bringen wir die deutsche Übersetzung des Berichtes von Prof. Andrzej Nowak. Der Krakauer Historiker gehört zu den angeshendsten Vertretern seines Faches in Polen.
Schablonen kommunistischer Propaganda
„Anfang Mai 2017 wurde in Brüssel das Haus der Europäischen Geschichte eröffnet. Das Museum, ein Muster des EU-gewünschten Geschichtsbewusstseins, ist ein offizielles Vorhaben des Europäischen Parlaments und befindet sich in dessen unmittelbarer Nachbarschaft. Leider erinnert die in dem Brüsseler Haus vorgenommene Zusammenfassung der überaus reichhaltigen und vielschichtigen europäischen Geschichte eher an die Schablonen kommunistischer Propaganda aus den Zeiten Josef Stalins: vom Bösen der Zersplitterung und Kleinstaaterei, hin zum Guten der Eintracht; aus der Finsternis der Geschichte empor zum Lichte der EU.
Ideengeber war vor gut zehn Jahren der damalige Präsident des Europäischen Parlaments Hans-Gert Pöttering. Der jetzige Präsident, Antonio Tajani, sagte bei der Eröffnung klipp und klar: es soll ein Ort sein, an dem nicht nur die europäische Geschichte erzählt wird. Er soll zugleich die europäische Identität und Erinnerung formen helfen. „Ich glaube an die Europäische Union, weil wir keine anderen Lösungen parat haben (…) Der Blick zurück auf unsere Geschichte wird unsere Identität stärken“, so Tajani.
Zu diesem Zweck wurden fünfzig Millionen Euro ausgegeben. Das Ergebnis kann man auf gut viertausend Quadratmetern Ausstellungsfläche in fünf Etagen besichtigen. Die Exponate sind nicht beschriftet. Für den Rundgang erhält man ein Tablet, auf dem die Führung in einer der vierundzwanzig EU-Sprachen gespeichert ist.
Auf der untersten Ebene befindet sich der kleinste Teil der Ausstellung; über den Mythos Europas, der Prinzessin aus Phönizien, bis hin zum 19. Jahrhundert. Der Elan der einführenden Präsentation kann sich mit der kulturgeschichtlichen Einführung für ein Heimatmuseums messen, mit dem Unterschied, dass hier die Kultur gänzlich fehlt. Zu sehen sind einige Glasvitrinen mit Informationen über das Christentum, Philosophie, Nationen, den Kommunismus und deren Bedeutung für die Geschichte Europas. All diesen Erscheinungen werden jeweils etwa zwei Minuten im Tablet-Führer gewidmet.
Christentum und Nationen adieu
Über das Christentum kann man erfahren, dass diese Religion jahrhundertelang in Europa vorherrschend war, aber es zukünftig nicht mehr sein wird, was der Tablet-Kommentar hoffnungsvoll nahelegt. Kein Wort wird an dieser Stelle verloren, über den Stolz Europas, sein christliches Erbe: die Universitäten, die romanischen und gotischen Kathedralen bis hin zur Sagrada Familia in Barcelona.
Kein Wort wird verloren über sakrale Musik von Guillaume de Machaut über Bach, Mozart, Beethoven bis hin zu Strawinsky, Szymanowski, Górecki und Pärt. Nichts ist zu vernehmen über die vom Christentum angeregte Malerei von Giotto über Piero della Francesca, Leonardo da Vinci, Raffael, Dürer bis hin zu Salvatore Dali.
Es folgen die Nationen. Sie entstanden, so heiβt es, in den letzten zwei Jahrhunderten. Interessant wäre es diesbezüglich zu erfahren, was es z. B. mit den Juden und den Armeniern auf sich hatte. Gab es sie nicht vor dem 19. Jahrhundert?
Und gab es tatsächlich keine Engländer, Polen oder Ungarn vor dem 19. Jahrhundert? Die Belgier gab es vorher nicht, das stimmt. Vom Tablet erfährt man, dass die Europäer vorher schlicht und einfach Bewohner von Imperien und Königreichen waren. Als Beispiele für die Nationenbildung werden die Polen und die Griechen erwähnt, die angeblich erst gerademal vor knapp zweihundert Jahren aus den Trümmern von Imperien hervorgingen.
Doch vor zweihundert Jahren, also um 1817, hatten die drei Imperien, die Polen untereinander aufteilten: Russland, Preuβen und Österreich noch knapp einhundert Jahre einer machtvollen Existenz vor sich, die erst am Ende des Ersten Weltkrieges 1918 mit dem Zusammenbruch endete. Um 1817 blickten zudem die Polen auf die achthundertjährige Geschichte ihres kurz zuvor zerschlagenen Staates zurück.
Das vorläufige Phänomen der Nationen wird, so die Botschaft der Einführung in die europäische Geschichte im Haus der Europäischen Geschichte, hoffentlich, die historische Schaubühne endgültig verlassen.
Die Philosophie, ja es gab sie in Europa, was man anhand von nur zwei Persönlichkeiten nachvollziehen soll: der von Aristoteles und der von Slavoj Žižek, eines zeitgenössischen slowenischen Neomarxisten und Freudianer. Platon, Augustinus, Thomas von Aquin, ja sogar Hobbes, Locke, Rousseau oder Kant fehlen im europäischen EU-Gedächtnis. Sie wurden aus dem modernen Europa vertrieben, so wie Platon seiner Zeit die Dichter aus seinem Idealstaat verbannte.
Es gibt in dem neuen EU-Idealeuropa nicht einmal eine Vitrine, die der politischen Freiheit in ihren unterschiedlichen Bedeutungen gewidmet wäre: der republikanischen Freiheit zum Beispiel oder der liberalen Freiheit, einer für die europäische Identität so wichtigen Idee. Erwähnt wird nur die antike griechische Demokratie.
Kommunismus und Kolonialismus im falschen Licht
Dafür gibt es den Kommunismus, dem eine eigene Vitrine zugedacht wurde, genauso wie den Nationen und dem Christentum. Nur die Aussage ist hier ganz anders.
Diese edle Idee machte zwar in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine schwierige Phase in Osteuropa durch, aber das, so der Tablet-Kommentar, muss nicht unbedingt heiβen, dass sie heute an Bedeutung verloren und keine Zukunft mehr hat. Eine Etage höher kann man dann, neben einem Exemplar des „Kommunistischen Manifests“ stehend, dem Tablet entnehmen, „der Marxismus war ein »flammender Protest« gegen die Ungerechtigkeiten des europäischen Kapitalismus.“
Zurecht erfahren wir in der Einführung zur Ausstellung einiges über die Verbrechen des europäischen Kolonialismus. Wir erfahren jedoch nicht konkret, welche Staaten diese Verbrechen begangen haben (zur Erinnerung: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Groβbritannien, die Niederlande, Italien, Portugal, Spanien), und welche von ihnen unter dem Kolonialismus litten. Da sind die Balkanländer als Opfer des türkisch-islamischen Kolonialismus sowie die Mittel-und Osteuropäischen Länder, die dem russischen und deutschen Kolonialismus ausgesetzt waren.
Wir hören, dass der Kolonialismus die groβe Schuld ganz Europas sei, und das ist eindeutig eine historische Fälschung. Die Autoren der Ausstellung unterstreichen, dass Europa (ohne die gerade erwähnten Unterschiede) als solches den Rest der Welt, vor allem im 19. Jahrhundert, ausgebeutet und zugleich seine angebliche technische und kulturelle Überlegenheit zur Schau gestellt hat. Wahrscheinlich aus diesem Grund wird sich so gut wie gar nicht der phänomenalen Entwicklung von Wissenschaft und Technik im Europa jener Zeit gewidmet, und genauso wenig der damals aufblühenden Kunst.
Auf diese Weise ausgestattet mit einem ganzen Sortiment an Ideen, die notwendig sind, um dem modernen Europäertum gerecht zu werden, steigen wir, über eine phantasievoll konstruierte Treppe, hinauf zur ersten Etage. Diese Treppe gleicht geradezu verblüffend dem Entwurf eines gigantischen Denkmals der Dritten Internationale, das im kommunistischen Moskau nach 1917 aufgestellt werden sollte.
Nationen halten her für die Imperien
Wir geraten direkt ins Herz der Finsternis des 19. Jahrhunderts. Hier wüten der Nationalismus und der Kapitalismus. Den Nationalismus symbolisieren Bücher, unter ihnen entdecken wir die erste polnische Spur in dieser Ausstellung: die „Trilogie“ des Literatur-Nobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz.
Doch es gibt Hoffnung, verkörpert durch einen riesigen Nachdruck des Symbols der Französischen Revolution, des Gemäldes von Eugène Delacroix „Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden“. Der Marxismus taucht wieder auf und die Arbeiterbewegung betritt die historische Bühne. Soziale Spannungen und internationale Rivalitäten führen schlussendlich zum gigantischen Massenschlachten des Ersten Weltkrieges.
Der Begriff „interNATIONAL“ wird immer wieder hervorgehoben, obwohl es die Rivalitäten zwischen den Imperien waren (welche selbst etliche Nationen unterdrückten) die den Weltkrieg verursachten. Die Ausstellung duldet jedoch keine Zwischentöne: es sind, ohne Unterschied, die NATIONEN und die Nationalismen, die den Krieg entfesselt haben, nicht die Imperien und der Imperialismus.
Der dem Ersten Weltkrieg gewidmete Teil ist zweifelsohne der interessanteste in der ganzen Ausstellung und hinterlässt einen bleibenden Eindruck.
Auf Kriegsfuβ mit der historischen Wahrheit
Aus den Wirren des Krieges gehen „neue Völker“ hervor und natürlich aufs Neue die Nationalismen. Zum Vorschein kommt aber auch ein faszinierendes Experiment: der Versuch eine neue, gerechte Welt zu erschaffen, fuβend auf der Idee des Kommunismus. Doch das grandiose Vorhaben hat es nicht leicht in Russland: auf den furchtbaren „weiβen“ Terror, auf die Konterrevolution und die kapitalistische, bewaffnete Einmischung kann es nur eine Antwort geben: den „roten“ Terror.
Hier tritt der zweite Pole in Erscheinung und zugleich der erste, dessen Antlitz wir sehen können: Feliks Dzierżyński (fonetisch Dserschinski – Anm. RdP), der Begründer der sowjetischen Terror- und Vernichtungsmaschinerie. Dzierżyński erscheint in einem eindeutig positiveren Zusammenhang, als der zuvor durch sein „nationalistisches“ Werk vorgestellte Schriftsteller Henryk Sienkiewicz.
Der Kommunismus fungiert in dieser Ausstellung gewissermaβen als eine im Ansatz edle und berechtigte Antwort auf den Nationalismus. Dass der Kommunismus sich, falls erforderlich, hemmungslos des Nationalismus bedient hat, bleibt unerwähnt.
Die Zwischenkriegszeit ist gekennzeichnet durch die Krise der parlamentarischen Demokratie, das Fortschreiten autoritärer Tendenzen und faschistischer Regime, was unter anderem, wie kann es anders sein, eine kleine Statue Józef Piłsudskis, des Begründers des modernen polnischen Staates belegen soll. Die Antwort auf diese Gefahren sind die pazifistische Bewegung und Vorhaben zur europäischen Einigung, wie die Paneuropa-Union von Richard Coudenhove-Kalergi.
Den Kampf des Bösen (General Franco) gegen das Gute (die Republikaner, unterstützt von Stalins Sowjetunion) verkörpert der spanische Bürgerkrieg. Bald darauf bricht der Zweite Weltkrieg aus. Wie kam es aber dazu, dass die Sowjetunion, die bisher versucht hatte die Ausbeutung zu beseitigen und „das Gute“ nach Kräften unterstützte, sich plötzlich mit Hitler verbündete?
Die Information über die Unterzeichnung des Hitler(Ribbentrop)-Stalin(Molotow)-Paktes Ende August 1939 wird nicht verheimlicht, aber sie wird relativiert. Zu sehen sind zwei Zeitungsausschnitte: aus dem Organ der französischen Kommunisten „L’Humanité“ und aus der Moskauer „Prawda“. Sie bezeichnen den Pakt als „berechtigt“ und „friedenssichernd“.
Zwei Zeitungsauschnitte aus der polnischen Presse stufen ihn als „beschämend“ und „räuberisch“ ein. Wie viele Ausstellungsbesucher sprechen Französisch und Russisch, und wie viele Polnisch? Davon jedoch hängt letztendlich bei dieser Ausstellung die Möglichkeit ab, sich über den Hitler-Stalin-Pakt eine Meinung zu bilden. Der Text auf dem Tablet erwähnt den Pakt mit keinem Wort.
Und so treten wir ein, in das Grauen des Zweiten Weltkrieges und zugleich in ein ausstellungstechnisches Chaos. Die „Nazis“ und ihre Verbündeten sind verantwortlich für Massenmorde und das Leid der Zivilbevölkerung. Eine Fotoreihe, die das veranschaulichen soll, eröffnet das Bild einer offensichtlich leidenden deutschen Vertriebenenfamilie nach 1945. Es folgen getötete weiβrussische Partisanen, durch Hunger während deutscher Gefangenschaft zu Tode gekommene Rotarmisten, und ganz am Ende sieht man das runde Gesicht einer hübschen, adrett gekleideten Polin, die ein amerikanisches Lager für Displaced Persons (DP) im besetzten Deutschland verlässt. Entspricht die Gewichtung der Bildauswahl exakt der historischen Wahrheit?
Nicht zur Sprache kommt, dass Hitler mit den Massenvertreibungen begonnen hat. Er befahl den Deutschen aus den von den Sowjets im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes zwischen 1939 und 1941 besetzten Gebieten (Baltikum, Wolhynien, Bukowina usw.) „Heim ins Reich“ zu kommen, in die Wohnungen und Bauernhöfe Zehntausender aus dem Wartheland und aus Pommerellen vertriebener Polen. Es waren polnische Provinzen, die Hitler nach dem Polenfeldzug von 1939 an das Dritte Reich anschloss. Ganz zu schweigen von den geradezu monströsen Vertreibungen und Umsiedlungen innerhalb der Sowjetunion.
Die klare Botschaft: die Leiden der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg verkörpern an erster Stelle deutsche Vertriebene.
Es gab einen „antinazistischen“ Widerstand in Europa, in Frankreich und in Norwegen. Polen bleibt in dieser Hinsicht unerwähnt, ebenso wie Millionen polnischer Opfer der deutschen Barbarei.
Vorbilder Deutschland und Österreich
In der dritten Etage begegnen wir wieder dem Holocaust, der eine Etage tiefer ziemlich verstreut und chaotisch dargestellt wurde. Jetzt geht es um die Erinnerung an den Holocaust als Mahnung und Anklage. An der einen Wand sehen wir die vorbildliche Aufarbeitung des Massenmordes an den Juden in Deutschland und Österreich.
Gegenüber werden, unter anderem, die Polen als „Mittäter“ vorgeführt, die angeblich Probleme mit der Erinnerung an ihre Beteiligung am Holocaust haben. Die Polen sollten sich wirklich schämen, so das nicht ausgesprochene, aber einleuchtende Fazit dieses Teils der Ausstellung, dass sie der vorbildlichen deutschen Aufarbeitung des Holocaust nicht gewachsen sind.
Man kann nicht sagen, in der Ausstellung herrsche die Art von Geschichtsbetrachtung vor, wie sie im heutigen Deutschland üblich ist. Das wäre zu allgemein gefasst. Es ist das Geschichtsbild der gegenwärtigen deutschen Sozialdemokratie und der Partei Die Linke, das hier vorherrscht, angeregt vom modernen Marxismus. Das Ergebnis ist eine Karikatur der europäischen Geschichte.
Wieder einmal zeigt sich, dass die EU lieber die Finger von solchen Vorhaben lassen sollte. Das ist nicht ihre Rolle. Solche Vorhaben spalten, anstatt zu einigen.
Radio Luxemburg vergessen
Eine Etage höher gelangen wir in die Zeit des Kalten Krieges und der Teilung Europas. Gewiss, so die Ausstellung, die damaligen Veränderungen in Osteuropa waren nicht demokratisch. Doch eine gehörige Portion Schuld dafür tragen die amerikanischen Imperialisten, und der von ihnen angeblich den Sowjets aufgezwungene Rüstungswettlauf, dem sich Stalin entgegenstellen musste.
Doch ein Funke der Hoffnung glüht in Westeuropa auf. Als Antwort auf die Schrecken des durch die Nationalismen entfachten Krieges, entsteht die Idee der europäischen Einigung, die den Nationalismus ausmerzen wird. Daran erinnern die Büsten der EU-Gründungsväter: Monnet, Schumann, Bech, Spaak und einiger anderer. Interessanterweise kam in dem EU-Geschichtsmuseum niemand darauf, an die frühen Vordenker der europäischen Einigung zu erinnern: Sully, Penn, Kant, Czartoryski…
In einem groβen Saal auf dieser Etage werden die ursprünglichen Fundamente der europäischen Integration veranschaulicht: Wohlstand und soziale Sicherheit. Das Auto für jedermann, verkörpert durch den Fiat 500, der Fernseher, eine anständige Wohnung, medizinische Versorgung.
Schade, dass die Autoren der Ausstellung die wichtige Rolle der Massenkultur bei der Schaffung eines einheitlichen europäischen Raumes völlig auβer Acht gelassen haben. Da ist zum Beispiel Radio Luxemburg, dem, trotz allen Pfeifens und Rauschens im Rundfunkempfänger, in den Sechzigerjahren Millionen osteuropäischer Jugendlicher gelauscht haben, um in Sachen Pop und Beat auf dem Laufenden zu sein.
Da ist auch der Liederwettbewerb der Eurovision (Eurovision Song Contest). Gerade auf diesem Niveau war und ist die europäische Einigung sehr fortgeschritten.
Nun schließen sich die Zeit des EU-Beitrittes von Griechenland, Portugal und Spanien, die sich ihrer Diktaturen entledigt haben, die Beitritte Schwedens und Österreichs, die EU-Osterweiterung an.
Der böse Schatten der Kirche
Papst Johannes Paul II, der vor allem bei der EU-Osterweiterung eine wichtige Rolle gespielt, und, vor dem Fall des Kommunismus, Osteuropa ins Bewusstsein der Westeuropäer gebracht hat, kommt im Europäischen Haus der Geschichte überhaupt nicht vor.
Dafür wirft der Einfluss der katholischen Kirche seine bösen Schatten voraus. Neben einem Exemplar der Enzyklika „Humane Vitae“ von 1968, in der Papst Paul VI. unter anderem an den uneingeschränkten und nicht zu diskutierenden Schutz der ungeborenen Kinder vor der Tötung erinnert, liegt eine furchterregende Zange mit der einst Abtreibungen vorgenommen wurden. Primitiver geht es kaum mehr.
Wir sollen uns Gedanken machen über die vermeintlichen Qualen, die angeblich ausgerechnet die Kirche den Frauen zufügt und nicht darüber, welch wichtige Rolle Johannes Paul II. bei der Verteidigung der Menschenrechte in Osteuropa gespielt hat.
Auβer Paul VI. werden in der Ausstellung noch die Päpste Pius XII. und Franziskus erwähnt. Die beiden letzteren mit Aussagen, in denen sie das EU-Projekt für gut und nützlich befinden.
Der Völkerherbst 1989 ein deutscher Herbst
Der Kommunismus in Osteuropa, der in der Ausstellung als zunehmend fassadenhaft, und immer weiter von den hehren Idealen des Karl Marx entfernt dargestellt wird, beginnt, mir nichts, dir nichts, sich zu demokratisieren. Ein siebenminütiger Film zeigt den Beginn der Gespräche am runden Tisch in Polen, so als hätte es den langjährigen Widerstand der Solidarność nicht gegeben. Es entsteht der Eindruck, die polnischen Kommunisten wollten, wahrscheinlich guten Herzens, ihre Macht mit der Opposition teilen.
Auf dieses Fragment und einige Filmsequenzen über die ersten halbfreien Wahlen in Polen am 4. Juni 1989 folgen noch jeweils einige Sekunden zwecks Erwähnung der „Revolutionen“ und Veränderungen in der Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien sowie Rumänien. Mehr als fünf Minuten, also siebzig Prozent der Filmerzählung über das historische Jahr 1989 im Osten Europas, sind Deutschland gewidmet. Beginnend mit der Flucht der DDR-Bürger über Ungarn, bis zum Fall der Berliner Mauer. Nur das zählt, und nur dieser Teil der Erzählung ist schlüssig und ergibt einen Sinn.
Als Gegenteil zum Berliner Happy End, wird der Krieg in Jugoslawien gezeigt. Verursacht haben ihn, daran hegen die EU-Geschichtserklärer keine Zweifel, wieder die Religionen und der Nationalismus. Die Utopie von einem föderalen kommunistischen Staat, durch die der jugoslawische Kommunistenführer Josip Broz Tito seine imperialen Balkanträume verwirklichen wollte, kommt genauso wenig zur Sprache, wie dieselben Ambitionen seines serbischen Nachfolgers Milosevic.
Das Ende des Kalten Krieges öffnet den Weg zur Vereinigung des Kontinents. In der Ausstellungsbroschüre kann man nachlesen, dass „die Völker dem Abgeben von immer mehr und mehr Zuständigkeiten zustimmen, um eine übernationale Wirkkraft zu schaffen“. Die Finanzkrise und die Eurokrise von 2008 waren eine Eignungsprüfung der „europäischen Solidarität“.
Im Vorhof des Paradieses angekommen
Beseelt von dieser Botschaft, erklimmen wir die höchste Etage, wo uns schon der strahlende EU-Ratspräsident Van Rompuy erwartet, der gerade den Friedensnobelpreis für die EU in Empfang genommen hat. Wir sind im Vorhof des Paradieses angekommen.
Irgendwo im Hintergrund soll es einige kritische Akzente geben: Plaketten etwa, die zum Brexit auffordern. Doch nach der Besichtigung der Ausstellung wissen wir sehr gut, was wir davon zu halten haben.
Wir wissen jetzt auch worauf die neue europäische Identität beruht: auf Angst vor der Rückkehr zu der entsetzlichen Vergangenheit, in der Europa lebte, bevor diese Identität, geeinigt, dort anlangte, wo sie sich heute unter der weisen Führung der Vorsitzenden Juncker, Tajani und Tusk befindet.
Diese Angst mag teilweise sogar berechtigt sein, aber das Idealbild der Geschichte und der „Erinnerung“, das von der EU offiziell erzeugt wird ist kümmerlich, um nicht zu sagen primitiv.
Europa reicht mit seinen Wurzeln mindestens bis in die Zeit Karls des Groβen zurück und birgt in sich, die Hinterlassenschaft der mediterranen, also der antiken griechischen und römischen Kultur, die mit der jüdisch-christlichen Tradition eng verflochten ist.
Die brutale Reduzierung der breit gefächerten, anspruchsvollen und komplizierten europäischen Geschichte, die in Brüssel von EU-Amtswegen vorgenommen wurde, stimmt traurig und weckt Angst, nicht vor der Rückkehr in die Vergangenheit, sondern eher vor dem jetzigen Zustand unseres Kontinents, auf dem so etwas praktiziert wird.
RdP