Ginge es nach den liberalen Kritikern, die immer wieder ein zweites Griechenland, Argentinien bzw. eine zweite Türkei an der Weichsel herbeiredeten, müsste Polen schon längst den Staatsbankrott verkündet haben. Anlass zu solchen Äußerungen gab ihnen die Wirtschafts- und Sozialpolitik der nationalkonservativen Regierung. Sie sprachen verächtlich von einer PiS-Ӧkonomie, deren Grundlagen die „monströse” Wählerbestechung und die Errichtung eines politisch gelenkten Staatskapitalismus wie im benachbarten Weißrussland seien. Nur so, behaupteten sie, konnte sich „das Regime” an der Macht halten.
Dem angeblichen „Regime” gelang es zwar, die Wahlen am 15. Oktober 2023 zu gewinnen, aber ein drittes Mal reichte es nicht zu einer absoluten Mehrheit. Die Opposition, eine Koalition aus drei Parteien, ergreift jetzt die Macht. Jedoch nicht durch eine Revolution und Massendemonstrationen. Nicht durch kühne Angriffe auf die Regierungszentren oder mächtige Proteste, die das Land erschüttern. Sie ergreift sie auf eine langweilige, flache, kleinbürgerliche Art und Weise, nachdem sie ihre Anhänger mobilisiert und eine rechnerische Mehrheit gegenüber ihrem Gegner erreicht hat. Was für ein albtraumhaftes Klischee, nach all der Hysterie der deutschen Medienberichte: eine Wahl gewinnen, die Mehrheit im Parlament erlangen und das ohne einen Aufstand!
Damit geht ein acht Jahre andauernder und sehr interessanter Versuch eines sozialen und politischen Wandels zu Ende. Während im Westen (vor allem nach der Finanzkrise von 2008) über die Notwendigkeit eines solchen Wandels nur geredet und geschrieben wurde, fand er an der Weichsel zur gleichen Zeit tatsächlich statt. Die Partei Recht und Gerechtigkeit nahm auf eine Art und Weise, die in anderen entwickelten Ländern praktisch keine Entsprechung hat, eine echte Korrektur des Modells des neoliberalen Kapitalismus vor. Dieses Modell war und bleibt ein teuflisch schwieriger Gegner, denn es beruft sich auf eine Wesensart der Freiheit, auf die freie Marktwirtschaft. Seine Verfechter erheben gerne den Anspruch, dass dieses Modell allein richtig und damit unangreifbar sei.
Recht und Gerechtigkeit hat es verändert. Es hat Polens Wirtschaft in eine Richtung geführt, die noch immer keinen angemessenen Namen hat. Es ist nicht das erste Mal, dass die Theorie der Realität hinterherhinkt.
Dennoch kann man auf jeden Fall sagen, dass dieses neue System, das wir seit 2015 in Polen haben, eine gerechtere Ordnung ist. Denn die Einkommens-, Status- und wirtschaftlichen Ungleichheiten haben in Polen in den letzten Jahren nicht mehr zugenommen, sondern sind in vielerlei Hinsicht erheblich zurückgegangen. Das ist vor allem auf eine bewusste Wirtschafts- und Sozialpolitik zurückzuführen, die darauf abzielte, die Schwachen in der Gesellschaft: alte, behinderte, kinderreiche, sozial unterprivilegierte und in der Provinz abgehängte Menschen zu fördern. Bis dahin durfte, wer von ihnen genügend Kraft hatte, in Deutschland Spargel stechen oder in London abwaschen.
Dass sich das änderte, ist das Ergebnis mehrerer seit 2016 eingeleiteter Maßnahmen: Einführung eines allgemeinen monatlichen Kindergeldes von 500 Zloty bis zum 18. Lebensjahr (es soll ab dem 1. Januar 2024 auf 800 Zloty (ca. 180 Euro) erhöht werden). Einer 13. (für alle) und 14. (für die Ärmsten) Rentenzahlung. Der „Antiinflationsschutzschilder” (null Prozent Mwst. auf Lebensmittel, das Aussetzen der Stromsteuer u.v.m.). Kostenloser Medikamente für Rentner ab 65. Der regelmäßigen Erhöhung des Mindestlohns usw.
Hinzu kamen enorme Investitionen in die Entwicklung der abgelegenen Provinzregionen, in deren Wiederanbindung an die von den Vorgängerregierungen stillgelegten Eisenbahnstrecken und Buslinien, in die Wiedereröffnung der geschlossenen Postämter, Polizei- und Krankenstationen. Das alles ging einher mit der Stärkung der Position der Arbeitnehmer sowie der Gewerkschaften.
Dennoch wurde Recht und Gerechtigkeit auch von der polnischen und der westeuropäischen Linken, der eine solche Politik eigentlich sehr nahe sein müsste, heftig bekämpft. Denn diese Politik war verbunden mit dem Hochhalten der traditionellen Werte, vor allem der herkömmlichen Familie. Die polnische Linke derweil, die vor allem im aussterbenden einstigen kommunistischen Establishment, das seine roten Parteibücher gegen goldene Kreditkarten eingetauscht hat und im jungen Hipster-Milieu der Großstädte ihre Anhänger hat, blickt mit bodenloser Verachtung auf die sozialen Niederungen und ihre Bewohner herab. Ihr Metier sind Cannabis-Freigabe, das Töten ungeborener Kinder auf Wunsch, LGBTusw.-Probleme.
Genauso halten es die in Polen sehr zahlreichen Verfechter des Sozialdarwinismus, die ihre politische Heimat vor allem in der Tusk-Partei Bürgerplattform gefunden haben. Tusk selbst hat das im Wahlkampf (am 11.05.2023) so formuliert: „In Polen ist seit einigen Jahren alles auf den Kopf gestellt, d.h. Könige des Lebens sind diejenigen, die saufen, ihre Kinder schlagen, ihre Frauen verprügeln und sich seit vielen Jahren nicht mit Arbeit befleckt haben. Das ist die politische Traumkundschaft für Machthaber, die selbst sehr ähnlich denken wie diese Klientel.”
Die Vorwürfe an die PiS-Ӧkonomie sind schnell aufgezählt. Sie fördert das Nichtstun der Proleten, erhöht die Arbeitslosigkeit, weil sie den wichtigsten „Vorzug” Polens, eines Billiglohnlandes und den eines Zulieferers von billigen Arbeitskräften vor allem nach Deutschland, abschafft, und sie ruiniert die Staatsfinanzen.
Derweil gelang es den Nationalkonservativen, die größten sozialen Ungerechtigkeiten zu beseitigen, ohne das Land zugrunde zu richten. Sie haben die gigantischen Steuerlecks gestopft und die Staatseinnahmen, trotz enormer Steuersenkungen, verdoppelt.
Faulheit? 2015, als die Tusk-Partei die Wahlen verlor, arbeiteten 62 Prozent der beschäftigungsfähigen Bevölkerung. Heute sind es 72 Prozent.
Arbeitslosigkeit? Obwohl der gesetzliche Mindestlohn seit 2015 kontinuierlich von 1.750 Zloty (ca. 390 Euro) auf 4.300 Zloty (ca. 960 Euro) angehoben wurde, fiel die Arbeitslosigkeit in dieser Zeit von 10,7 auf 5 Prozent, trotz des dauerhaften Zuzugs von einer Million Ukraineflüchtlingen.
Ruinierte Staatsfinanzen? Polens Staatsverschuldung liegt heute bei 50 Prozent des BIP. Im Jahr 2015 betrug sie 51 Prozent. Zum Vergleich: Deutschland aktuell 66 Prozent, Frankreich 110 Prozent, Italien 150 Prozent, Griechenland 180 Prozent. Behauptungen, die Nationalkonservativen verstecken viele Staatsausgaben durch Taschenspielertricks außerhalb des offiziellen Haushalts, werden durch Angaben, Berichte und Einstufungen des Eurostat und der internationalen Ratingagenturen eindeutig widerlegt. Ihnen entgeht nichts.
Der PiS-Ӧkonomie gelang es, ein Wirtschaftsmodell umzusetzen, das sich, soweit wie es im Kapitalismus möglich ist, an den Bedürfnissen der Menschen und nicht des Kapitals orientiert, und zu diesem Zweck das volle Potenzial des demokratischen Staates nutzt. Polen wurde dabei nicht in den Realsozialismus zurückgedrängt.
Der Kampf gegen den neoliberalen Kapitalismus war noch vor einigen Jahren im Westen sehr populär. Vor allem in der Theorie, in den Träumen und Appellen der linken Meinungseliten. In Polen hingegen wurde dieses Modell tatsächlich umgesetzt, aber von „den Falschen”. Ein Großteil der sogenannten Linken (in Polen wie im Westen) hat sie deswegen heftig bekämpft.
Das Wahlergebnis zeigt, dass dieses Experiment, wie auch immer wir es nennen, gestoppt werden wird. Und mit der Zeit, wenn die sozialen Hierarchien, die Recht und Gerechtigkeit umgestoßen hat, sich erneut verfestigen, wird so mancher merken, dass er sich, wider die eigenen Interessen, für einen Kampf gegen ein imaginäres „Regime” hat missbrauchen lassen.
RdP