Seltsames Gebaren einiger Tataren

Wie radikale Saudis polnische Muslime umgarnen.

Als im Januar 2018 bekannt wurde, dass Saudi-Arabien in Białystok den Bau des Moslemischen Zentrums für Kultur und Bildung (MZfKB) bezahlen will, da stockte vielen in Polen der Atem.

Aus dem Warschauer Innenministerium verlautete, es sei nicht angebracht, dass ausgerechnet radikale saudische Wahhabiten polnische Tataren unterstützen. Auch die meisten Tataren waren und sind davon nicht gerade begeistert.

Tweet des polnischen Innenministers Joachim Brudziński vom 21. Januar 2018: „Ich habe entsprechende Dienststellen des Innenministeriums angewiesen diese Angelegenheit zu beobachten. Ich glaube nicht, dass die kulturell, mental, historisch und geographisch fernen orthodoxen saudischen Wahhabiten polnische Tataren unterstützen sollten, die stets auf die Unterstützung ihres eigenen Vaterlandes bauen konnten.“

Nachfolgend bringen wir umfangreiche Auszüge eines Artikels zu diesem Thema, erschienen im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 18. Februar 2018

Die Tataren sagen, dass sie von dem Vorhaben nichts wussten und auβerdem das MZfKB nicht brauchen. Islamkenner warnen, saudisches Geld diene weltweit der Förderung des islamischen Extremismus. Ungerührt von all dem, zeigt sich allein der Verursacher der ganzen Aufregung, Mufti Tomasz Miśkiewicz. Für ihn gibt es nur ein Problem, das der angeblichen polnischen Fremdenfeindlichkeit.

Mufti Tomasz Miśkiewicz.

„Herr Miśkiewicz hat sich an die Botschaft gewandt, um finanzielle Unterstützung für das Moslemische Zentrum für Kultur und Bildung, namens „König Salman des Hüters der beiden Heiligen Stätten“ (Mekka und Medina, Salman ist König Saudi-Arabiens seit 2015 – Anm. RdP), zu erbitten. Saudi-Arabien unterstützt karitative Werke in der ganzen Welt mit sechs Milliarden Dollar jährlich“, berichtet ein saudischer Diplomat in Warschau, der seinen Namen nicht genannt sehen möchte.

Saudische Botschaft in Warschau.

Tomasz Miśkiewicz, Mufti des Islamischen Religionsverbandes in Polen sagt, er habe nicht erwartet, dass die Nachricht von der Finanzierung des MZfKB in Białystok durch die Saudis so hohe Wellen schlagen werde. In gutem Glauben, habe er sogar die groβzügige Geste der Saudis öffentlich beim Neujahrsempfang von Staatspräsidenten Andrzej Duda für die Vertreter aller in Polen wirkenden Glaubensgemeinschaften erwähnt.

Ein Lob auf die saudische Toleranz

Die Reaktion des Innenministeriums, sagt Miśkiewicz, gehe zu weit, und er holt zum Gegenangriff aus: „Es gibt viele Auslegungen des Wahhabismus. Saudi-Arabien schützt die religiöse Identität seiner Bürger und hat das Recht die Gläubigen des Islam in der ganzen Welt zu unterstützen. Wer Saudi-Arabien deswegen kritisiert, sollte nicht vergessen, dass man Polen christlichen Fundamentalismus vorwerfen könnte. Über die wachsende Fremdenfeindlichkeit in Polen und über nationalistische Märsche rede ja die ganze Welt“, sagt Mufti Miśkiewicz.

Dem Thema der weltweiten Förderung des islamischen Terrorismus durch Saudi-Arabien weicht Miśkiewicz beharrlich aus. Dafür schildert er eindringlich, wie schlecht der Zufahrtsweg zu dem jetzigen Sitz des Moslemischen Religionsverbandes in Polen sei, wie bescheiden das Gebäude, und wie schön das neue, von den Saudis bezahlte islamische Kulturzentrum sein werde. Dort soll auch das Büro des Religionsverbandes seinen neuen Sitz finden.

Schlieβlich, offensichtlich der wiederkehrenden Fragen nach dem islamischen Radikalismus in Saudi-Arabien überdrüssig, platzt ihm der Kragen: „Niemand verfolgt Christen in Saudi-Arabien. Ich habe sieben Jahre lang dort gelebt und niemanden getroffen, der sich darüber beklagen würde. Sie sagen, dass dort für den Übertritt vom Islam zum Christentum die Todesstrafe drohe? Ich habe nie davon gehört“, wundert sich der Mufti.

Dabei ist die Christenverfolgung in Saudi-Arabien seit langem gründlich beschrieben worden und in den Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen belegt. Die Todesstrafe für das Konvertieren zum Christentum und christliches Missionieren wird zwar nicht mehr vollstreckt, aber sie wird weiterhin immer wieder verhängt. Die Bibel ist verboten, die Religionspolizei führt regelmäβig Razzien durch, um sicherzustellen, dass Ausländer nicht an privat abgehaltenen Gottesdiensten teilnehmen.

Zwar fördert Saudi-Arabien groβzügig den Moscheebau auf der ganzen Welt, an christliche Gotteshäuser im eigenen Land ist nicht zu denken. Deswegen stellen Mufti Miśkiewiczs Behauptungen seine Glaubwürdigkeit, gelinde gesagt, in Frage.

Treue Mitstreiter

Polnische Tataren kommentieren die saudische Faszination des Muftis sehr rege. Im Osmanischen Reich wegen religiöser Abweichungen verfolgt, flohen sie seit dem 14. Jahrhundert über die polnische Grenze und wurden Untertanen der polnischen Könige. (Die polnisch-litauische Adelsrepublik reichte zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert fast bis ans Schwarze Meer und grenzte, als das östliche Bollwerk des Christentums, an das Osmanische Reich, das immer wieder Kriege gegen Polen entfachte, um nach Mitteleuropa zu gelangen – Anm. RdP).

Als treue Mitstreiter kämpften die Tataren in unzähligen Kriegen an der Seite der Polen. Mit König Jan III. Sobieski besiegten sie 1683 die Türken vor Wien. Im Gegenzug bekamen sie Land und Privilegien, viele von ihnen wurden in den Adelsstand erhoben.

Bezwinger der Türken  bei Wien (1683), König Jan III Sobieski. Denkmal von 1788 im Warschauer Łazienki-Park.

Der gemeinsame Kampf hat beide Völker einander sehr nahe gebracht. Die etwa dreitausend Tataren, auch wenn sie Muslime sind, sehen sich heute als Polen und haben viel von der Kultur des einstigen Gastlandes übernommen. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten sie vor allem zwischen dem jetzt weiβrussischen Grodno und dem heute litauischen Wilno. Beide Städte gehörten zu Polen, bis sie, wie der gesamte Ostteil des Landes, am 17. September 1939 von den Sowjets überfallen und annektiert wurden.

Eine Unterabteilung der 1. Tataren-Schwadron des 13. Wilnaer Ulanenregiments. Foto von 1937.

In der Zwischenkriegszeit (1918-1939) gelangten alle Tataren, meistens hervorragende Reiter, die zum Wehrdienst eingezogen wurden in die 1.Tataren-Schwadron (ca. 150 Ulanen) innerhalb des 13. Wilnaer Ulanenregiments. Die Schwadron zeichnete sich durch groβe Tapferkeit im polnischen Verteidigungskrieg im September 1939 aus, bis sie am 10. September schwerste Verluste bei Tomaszów Lubelski erlitt. Überlebende Ulanen wurden in andere Einheiten eingegliedert.

Denkmal des polnischen Tataren im Orunia-Park von Gdańsk. Der Rossschweif ist ein traditionelles Rang-und Würdezeichen der Reitervölker Zentralasiens, so auch der Tataren.

Seit 1945 wohnen die polnischen Tataren überwiegend in den letzten beiden bei Polen verbliebenen tatarischen Dörfern dicht an der weiβrussischen Grenze: Bohoniki und Kruszyniany. Eine weitere, einige Hundert Tataren zählende Gemeinde bildete sich nach 1945 in Gdańsk. Im Stadteil Oliwa gibt es seit 1990 eine Moschee und im Orunia-Park wurde im November 2010 das Denkmal des polnischen Tataren enthüllt.

Sie praktizieren ihren Glauben auf Polnisch, arabische Moslems sind ihnen, wie sie stets unterstreichen, sehr fremd. Mufti Miśkiewicz ist da eine Ausnahme. Er umgibt sich mit Moslems aus arabischen Ländern und der Türkei. Seine Aussage, in Zeiten der Globalisierung sollten sich alle Moslems vereinigen, ist nicht gut angekommen, genauso wie der geplante Bau des MZfKB mit saudischem Geld.

Beäugen heiβt Vorbeugen

„Ich habe auf dem letzten Kongress des Moslemischen Glaubensverbandes in Polen gewarnt, dass niemand Geld umsonst gibt. Stets wird vom Nehmer etwas erwartet, es gibt Verpflichtungen. Uns hat niemand gefragt, ob wir das neue Moslemische Kulturzentrum überhaupt wollen. Wir sagen immer wieder: die Tataren brauchen das MZfKB in Białystok nicht. Es bringt nur Probleme mit sich“, sagt Janusz Aleksandrowicz, der tatarische Imam aus Kruszyniany und 2016 gewählter „Gegenmufti“ in Polen.

Imam Janusz Aleksandrowicz.

Offiziell behaupten die Tataren, dass das neue Kulturzentrum das Misstrauen der Polen, mit denen sie friedlich zusammenleben, schüren könnte. Unter der Hand kann man erfahren, dass auch sie Angst vor der radikalen Ideologie der saudischen Wahhabiten haben. Bereits früher haben sie ihre Kinder nicht mehr zum Koranunterricht in ein von den Saudis finanziertes Gebetshaus gebracht. Sie haben durchgesetzt, dass der Koranunterricht, genauso wie der Religionsunterricht anderer Glaubensgemeinschaften in Polen, in einer neutralen Umgebung stattfindet und zwar an der staatlichen Schule.

Es sind keine unbegründeten Ängste. Die Erfahrungen vieler westlicher Länder lehren, dass der Wahhabismus, die extremste Strömung des Islam, bei Jugendlichen gut ankommt. Egal, ob sie aus islamischen, meistens als gut integriert geltenden Familien stammen, oder zum Islam übergetreten sind. Der Wahhabismus gibt einfache Antworten auf schwierige Fragen. Er formt neue Kämpfer, die überzeugt sind, dass sie von der reinsten Quelle des Islam schöpfen.

„Ich finde es gut, dass der polnische Staat so misstrauisch das Vorhaben in Białystok beäugt. Es geht um unser aller Sicherheit“, sagt einer der Tataren hinter vorgehaltener Hand.

Er beteuert, dass die meisten seiner Glaubensbrüder genauso denken, und fährt fort: „Wir können uns doch nicht vor dem Innenministerium in Warschau mit Plakaten aufstellen und Mufti Miśkiewiczs Absetzung fordern. Das würde ein schlechtes Bild von uns abgeben, besonders jetzt, wo Moslems als Problembereiter gelten. Polen hatte jahrhundertelang keine Probleme mit den Tataren und so soll es auch bleiben, aber wir sind aller Illusionen beraubt worden.“

Zwist, Hader, Handgreiflichkeiten

Tomasz Miśkiewicz war fünfzehn Jahre alt, als er sein Heimatstädtchen Suchowola (50 Kilometer nördlich von Białystok, ca. 2.500 Einwohner) für sein Koranstudium im Nahen Osten verlieβ. Nach knapp zehn Jahren zurück, wurde er von der tatarischen Gemeinde mit Begeisterung empfangen. Er beeindruckte alle.

Die Tataren verfassten bis dahin ihre Gebetstexte in lateinischer Schrift und konnten nur davon träumen, den Koran im Original zu studieren. Miśkiewicz hatte sich ein gründliches theologisches Wissen angeeignet, beglaubigt durch diverse saudi-arabische Diplome. Er prahlte mit seinen Beziehungen und Bekanntschaften in der arabischen Welt. Kein Wunder, dass er 2004 zum ersten Mufti der polnischen Tataren nach dem Zweiten Weltkrieg gewählt wurde.

Bronisław Talkowski.

Sehr schnell jedoch, änderte sich die Stimmung. Miśkiewicz bekam immer mehr Gegner, eine tiefe Spaltung entstand. „In den Familien wurde heftig gestritten. Kinder dachten anders als Eltern. Noch nie gab es in unserer Gemeinde so viel Zwist und Hader“, sagt Bronisław Talkowski, der Vorsitzende der Moslemgemeinde im Dorf Kruszyniany, dem Mekka der polnischen Tataren.

Der Streit gewann zunehmend an Schärfe. Protestbriefe wurden nach Warschau geschickt. „Der Zersetzungsarbeit und der Erniedrigung überdrüssig, finden wir, dass es an der Zeit ist mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Viele Jahre lang haben wir mit Geduld die Spinnereien von Tomasz Miśkiewicz ertragen und die undurchsichtigen Geschäfte seiner Ehefrau hingenommen“, klagten die Mufti-Gegner in ihrem Schreiben an das Innenministerium.

Nicht immer blieb es nur bei Worten, vor allem wenn sich temperamentvolle Imame aus arabischen Ländern in den Streit einmischten. Nüchterne Polizeiprotokolle strotzen nur so von Beschreibungen wüster Beschimpfungen und heftiger Handgreiflichkeiten, zu denen es in den tatarischen religiösen Einrichtungen immer wieder kam.

Moschee in der Warschauer Wiertnicza Straße.

So zum Beispiel am 4. Juli 2017 in der Moschee in der Warschauer Wiertnicza Straße, einer der insgesamt fünf Moscheen in Polen. Der Zwischenfall war der Höhepunkt eines Konfliktes, der im Mai 2016 begonnen hatte. Nach dem Freitagsgebet sah sich Mufti Miśkiewicz mit vielen unbequemen Fragen konfrontiert. Die Auseinandersetzung wurde immer heftiger. Miśkiewicz schrie, er werde den örtlichen, sehr angesehenen Gemeindevorsteher Nezar Charif, der aus Syrien stammt und seit dreiβig Jahren in Polen lebt, bei der Ausländerbehörde melden, damit er des Landes verwiesen wird.

Miśkiewicz Gegner Nezar Charif im Innerraum der Warschauer Moschee.

Das brachte das Fass zum Überlaufen. Die Anwesenden jagten Miśkiewicz aus der Moschee fort. Am Tag danach schickte Miśkiewicz Charif ein Schreiben, in dem er ihn für abgesetzt erklärte. Doch die Gemeinde stellte sich geschlossen hinter Charif und bestätigte ihn als ihren Imam.

Am 4. Juli 2017 bat Miśkiewicz einen ahnungslosen Gast-Imam aus Ägypten um Einlass. Als das Gartentor aufging, fuhr ein Kleinbus mit schwarz gekleideten Wachmännern und einem Schlosser vor. Sie drangen in die Moschee ein und machten sich daran sämtliche Schlösser aufzubrechen, um sie auszuwechseln. Charif, der sich mit einem Mitarbeiter im Büro verbarrikadieren konnte, rief die Polizei, die mit fünf Streifenwagen anrücken musste, um die Eindringlinge zur Ordnung zu rufen.

Auf Lebenszeit

Bereits lange zuvor waren die einstigen Befürworter Miśkiewiczs, die mittlerweile zu seinen erbittertsten Feinden wurden, zu dem Schluss gekommen, dass seine Wahl zum Mufti von Anfang an ungültig gewesen sei. Sie erfüllte nicht die Voraussetzungen, festgelegt in dem immer noch gültigen Gesetz aus der Vorkriegszeit (1936) „Über das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Islamischen Religionsverband in der Republik Polen“.

Miśkiewicz war bei seiner Wahl 27 und nicht, wie vorgeschrieben, mindestens 40 Jahre alt. Der zweite Regelverstoβ: Miśkiewicz wurde nicht von einem speziell dafür einberufenen Allpolnischen Wahlkongress, sondern auf dem 14. Ordentlichen Kongress des Islamischen Religionsverbands gewählt.

Schon bald jedoch wurde klar, dass die Tataren ihren Mufti nicht so leicht loswerden konnten. Zwar hat im September 2016 der Allpolnische Tatarenkongress die Wahl Miśkiewiczs als nicht rechtens erklärt. Im Oktober 2016 wählte, wie im Gesetz vorgesehen, ein eigens einberufener Allpolnischer Wahlkongress einen neuen Mufti – Janusz Aleksandrowicz.

Doch das hatte keine Wirkung, weil dem polnischen Innenministerium eine andere Bestimmung wichtiger erschien. Art. 4 Abs. 2 des Gesetzes von 1936 besagt: „Das Amt des Mufti gilt auf Lebenszeit“. Also wedelte Miśkiewicz jedes Mal seinen Gegnern aufs Neue mit einer Bescheinigung des Warschauer Innenministeriums vor der Nase herum, die besagte er sei weiterhin der rechtmäβige Mufti in Polen.

Warum stellen sich die Behörden in Warschau vor Miśkiewicz? Nur weil sie sich das Chaos der Tatarenfehden vom Hals halten wollen? In Tatarenkreisen machen Verschwörungstheorien die Runde. Wie die, dass das Moslemische Zentrum für Kultur und Bildung für saudisches Geld gar nicht für die polnischen Tataren, die es ohnehin mehrheitlich ablehnen, gedacht sei.

„Wahrscheinlich bereitet sich die Regierung in Warschau insgeheim doch darauf vor, moslemische Migranten aufzunehmen, auch wenn sie sich offiziell strikt weigert und sich deswegen mit der EU anlegt“, sagt Jan Adamowicz, der Vorsitzende des Polnischen Tatarenverbandes.

Muftis Halal-Business

Wenn nicht klar ist, worum es eigentlich geht, dann geht es meistens ums Geld. Gemeint sind nicht mal die üppigen, oft vertraulich zugeschanzten Zuschüsse von der saudischen Organisation Al-Rabita, die die Islamisierung auf der ganzen Welt fördert oder von der türkischen staatlichen Agentur TIKA (Türkisches Präsidium für Internationale Kooperation und Koordination – Anm. RdP).

Es geht um sehr viel Geld, das man mit Halal-Zertifikaten verdienen kann, die sicherstellen, dass bei der Herstellung von Nahrungsprodukten moslemische Regeln eingehalten wurden. Es ist ein riesiges Geschäft.

Alles halal. Mufti Miśkiewicz beim rituellen Schlachten.

Allein die Halal-Fleischexporte aus Polen beliefen sich 2017 auf knapp 400 Millionen Euro. Doch Zertifikate müssen auch das Milchpulver für Indonesien, die Bordverpflegung für Maschinen arabischer Airlines, ja sogar Lederwaren vorweisen, die aus Polen in islamische Staaten gelangen.

Von Mufti Miśkiewicz ausgestelltes Halal-Zertifikat.

Mufti Miśkiewicz stellt solche Zertifikate aus. Nicht nur er allein, aber die meisten kommen von ihm oder, besser gesagt, von der Firma HP Quality & Consulting seiner Frau. Die Tataren werfen ihm vor, er stecke den größten Teil des Ertrags hieraus in die eigene Tasche, während viele tatarische Einrichtungen herunterkommen.

Bis 2011 wurden die Halal-Geschäfte über die Konten des Islamischen Religionsverbandes in Polen abgewickelt, der daran bis zu 50.000 Euro im Jahr verdiente. Seitdem Miśkiewicz den Vertrag mit der Firma seiner Frau unterschrieben hat, sind es gerade einmal 7.000 Euro, obwohl die polnischen Lebensmittelexporte in islamische Länder Jahr für Jahr satte Zuwachsraten verzeichnen.

„In“ macht den Unterschied

Noch mehr regt die Tataren Miśkiewiczs Trick mit der Präposition „in“ auf. Sein offizieller Titel lautet „Mufti in der Republik Polen“ („Mufti w Rzeczpospolitej Polskiej‘). Miśkiewiczs lässt aber das „in“ weg und befördert sich damit zum „Mufti der Republik Polen“, was glauben machen soll, er sei das Oberhaupt aller Muslime in Polen. Derweil kann es in Polen mehrere Muftis geben.

„Mufti der Republik Polen“ das macht Eindruck. Keiner muss wissen, dass nur ein paar Hundert polnische Tataren hinter Miśkiewicz stehen. So wird der Mann mit dem groβtuerischen Titel vielerorts in der arabischen Welt mit Pomp und Ehren empfangen.

Wahre Absichten verbergen

Miśkiewicz wird nicht müde, alle Bedenken dagegen, das Moslemische Zentrum für Kultur und Bildung in Białystok mit saudischem Geld errichten zu lassen, einzig dem angeblich unbändigen polnischen Nationalismus, Chauvinismus, ja, Faschismus zuzuschreiben.

Mufti Miśkiewicz (r. im Bild) empfängt in Białystok eine Delegation des saudischen Finanzministeriums zu Gesprächen über die Finanzierung des Moslemischen Zentrums für Kultur und Bildung. September 2017.

Fachleute nennen die wahren Gründe. „Enge Bindungen an Saudi-Arabien müssen in unseren Zeiten ernst genommen werden. Dieser Geldgeber hat ein klares Ziel vor Augen: den Islam in seiner extremsten Form zu fördern. An Orten wohin saudisches oder türkisches Geld flieβt, tauchen früher oder später Imame aus Saudi-Arabien oder der Türkei auf“, berichtet die Warschauer Islamexpertin Dr. Katarzyna Górak-Sosnowska.

Mufti Miśkiewicz zu Besuch im türkischen Religionsministerium. November 2017.

„Reden wir Klartext. Dort wo Saudi-Arabien Kultur- und Bildungseinrichtungen sponsert, Moscheen baut, zeigt sich sehr bald, dass sie der Verbreitung des Wahhabismus, beziehungsweise des Salafismus, der gefährlichsten Erscheinungsform des Islam dienen. Sie ist aufs Engste mit dem islamischen Terrorismus verwoben. Diese traurige Erfahrung haben nicht wenige westeuropäische Staaten gemacht und sie ziehen ihre Schlüsse daraus. Solche Einrichtungen werden überwacht, immer wieder durchsucht, nicht selten geschlossen und ihre geistigen Unterstützer des Landes verwiesen“, sagt Dr. Wojciech Szewko, Nahostexperte vom Nationalen Zentrum für Strategische Studien (NCSS) und fährt fort:

„Es wird behauptet, es sei übertrieben, wenn das Innenministerium ankündigt, es wird das Vorhaben in Białystok genau beobachten. Doch als ich Mufti Miśkiewicz im Rundfunk über die angebliche religiöse Toleranz in Saudi-Arabien reden hörte, fand ich diese Maβnahme keinesfalls übertrieben. Dann kam mir auch gleich der Begriff » Taqīya « in den Sinn“.

„Taqīya“ heiβt auf Arabisch „Furcht, Vorsicht“. Es ist ein im Islam geltendes Prinzip. Es besagt, dass es bei Zwang oder Gefahr erlaubt sei, rituelle Pflichten zu missachten, den eigenen Glauben zu verheimlichen und wahre Absichten zu verbergen.

Lesenswert auch: Schmierereien an der Moschee in Kruszyniany „Ein Katholik schändet nicht“.

RdP 




Polen – Israel. Streit beigelegt, Wahrheit verbrieft

Warum die israelisch-polnische Regierungserklärung für Polen so wichtig ist.

Am 27. Juni 2018 gelang es Polen und Israel ihren seit einem halben Jahr brodelnden Streit über die polnische Sichtweise des Holocaust beizulegen. Das polnische Parlament entfernte die umstrittenen Ausschnitte des Gesetzes, die den Konflikt ausgelöst hatten. Gleichzeitig wurde eine gemeinsame Erklärung der Regierungschefs beider Länder veröffentlicht, in der Israel die wichtigsten polnischen Sichtweisen zum Holocaust teilt.

Wir schildern kurz den Konflikt und kommentieren die aus polnischer Sicht wichtigsten Passagen der gemeinsamen Erklärung. Der Gesamttext des Dokuments befindet sich am Ende des Beitrags.

Ende Januar 2018 verabschiedete das polnische Parlament eine Novelle zum Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens (polnische Gauck-Behörde). Ihm wurde der Artikel 55 A hinzugefügt, er lautete:

„Jeder, der öffentlich der polnischen Nation oder dem polnischen Staat faktenwidrig die Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen zuschreibt, die durch das Dritte Deutsche Reich begangen wurden, unterliegt einem Bußgeld oder einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren.“

Ausgenommen davon waren, so zwei weitere Bestimmungen, diejenigen die absichtslos gehandelt hatten, und jene die das im Rahmen künstlerischer oder wissenschaftlicher Aktivitäten taten.

„Polnische Vernichtungslager“

Beweggrund für die Gesetzesnovelle waren die sich seit Jahren in den Weltmedien häufenden Formulierungen, die Juden seien während des Holocaust in „polnischen Todeslagern“ oder „polnischen Vernichtungslagern“ ermordet worden. Was angeblich nur geografisch gemeint war (die Lager befanden sich im besetzten Polen), verselbständigte sich zunehmend zu einem festen Begriff.

Die Botschaft, die in der eng vernetzten Welt immer öfter zu lesen war, lautete: Nazis (deren Nationalität meistens unerwähnt blieb) haben den Massenmord an Juden in polnischen Vernichtungslagern durchgeführt. Das schürte zunehmend Missverständnisse und legte den Gedanken nahe, Polen als Staat und Nation sei an den deutschen Verbrechen beteiligt gewesen. Selbst in Israel wurde diese Umschreibung zunehmend gängig.

Die jüdische und die polnische Fahne wehen über dem kämpfenden Warschauer Ghetto. Briefmarke der Israelischen Post zum 70. Jahrestrag des Aufstandes im Warschauer Ghetto 2013.

Hinzu kamen Filme, wie der ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“, in dem die deutschen Hauptfiguren sich zwar an dem verbrecherischen Krieg beteiligen, stets jedoch von Zweifeln, Traumata, Gewissenkonflikten und Kummer geplagt werden. Die polnische Bevölkerung hingegen, egal ob Partisanen oder Zivilisten, besteht in dem Film ausnahmslos aus glühenden, primitiven Judenhassern, die geradezu mit Wonne Juden denunzieren, verfolgen und morden.

Geste des Zorns

Den Ideengebern der Gesetzesnovelle ging es darum, Behauptungen unter Strafe zu stellen, die die polnische Nation als Ganzes und den polnischen Staat als Beteiligte und Mitschuldige am Holocaust darstellen. Anders als im Falle Kroatiens, der Slowakei, Ungarns, Rumäniens, des Vichy-Frankreichs und einiger anderer, die mit Deutschland kollaborierten und ihre jüdische Bevölkerung „von Amts wegen“ den Deutschen zur Vernichtung „freigaben“, gab es im besetzten Polen keine staatlichen polnischen Strukturen.

Ein Teil seiner Gebiete (Pommerellen, Groβpolen, das östliche Oberschlesien) wurden direkt an das Deutsche Reich angeschlossen, der Rest in eine deutsche Kolonie namens Generalgouvernement verwandelt. Es gab keine polnische Regierung auf diesen Gebieten (nur eine Regierung im Exil in London), keine Verwaltung, keine polnische Armee. Die Deutschen regierten direkt.

Nicht gedacht war die Gesetzesnovelle für Einzelpersonen, die Juden denunziert oder erpresst hatten, einen Abschaum der Gesellschaft, der unter den grausamen Bedingungen der deutsche Besatzung auch in Polen in Erscheinung trat.

Als Vorlage dienten ähnliche Gesetze im Ausland, allen voran das israelische, aber auch das deutsche Gesetz über die Auschwitz-Lüge. Doch die Fassung des Artikels 55 A barg Probleme.

Zum einen hätte ein Staatsanwalt, bevor er eine Anklageschrift verfassen konnte, entscheiden müssen, ob die Tatsache, dass jemand faktenwidrig der polnischen Nation oder dem polnischen Staat die Mitverantwortung an den Verbrechen des Dritten Reiches zuschrieb Kunst war, beziehungsweise wissenschaftlichen Charakter hatte.

Zum anderen wäre die polnische Strafverfolgung solcher Delikte im Ausland ohnehin kaum möglich gewesen.

Das Gesetz war strafrechtlich weitgehend wirkungslos, von vorneherein eine symbolische Geste des Zorns einer Nation, die im Krieg furchtbares ausgestanden hat und jetzt dabei zusehen musste, wie sie selbst immer mehr auf die Anklagebank geriet. Der Sturm echter und gespielter Entrüstung im Ausland, den die Novelle auslöste überstieg jedoch alle Erwartungen und Befürchtungen.

Die Gesetzesänderung erwies sich unter diesen Umständen sehr schnell als kontraproduktiv. Um Polen seine Machtlosigkeit vor Augen zu führen, begannen Internet-Nutzer um die Wette Begriffe wie „polish death camps“ oder „polish Holocaust“ zu posten.

Die jüdisch-amerikanische Ruderman Stiftung drehte mit professionellen Schauspielern einen für Polen dermaβen beleidigenden Spot und stellte ihn ins Netz, dass sogar israelische Behörden sich von ihm entschieden distanzierten (hier zu sehen).

Polen konterte mit einem Spot, in dem Ministerpräsident Mateusz Morawiecki die polnische Position darlegte (hier zu sehen).

Die Kuh musste vom Eis

Schnell wurde klar, dass dieser verheerende Konflikt beigelegt werden muss und zwar so, dass beide Parteien ihr Gesicht wahren. Gut zwei Monate lang verhandelten Israelis und Polen unter strengster Geheimhaltung darüber. Die Öffentlichkeit erfuhr nichts davon, während sich drauβen die Auseinandersetzung langsam beruhigte.

Gemeinsame Briefmarkenausgabe der Polnischen und der Israelischen Post von 2009 zu Ehren von Berek Joselewicz (1764-1809), jüdischer Oberst polnischer Truppen und Kämpfer um die Freiheit Polens.

Um ein Ausbrechen neuer Kontroversen zu vermeiden, wurde vertraulich ein Überraschungscoup vereinbart. In Warschau rief der Parlamentspräsident für Dienstag, den 27. Juni 2018 eine auβerordentliche Sitzung ein. Dürrehilfen für Bauern und ein dringendes Mülldeponiengesetz, das der Abfallkriminalität das Handwerk legen soll, standen ursprünglich auf der Tagesordnung.

Erst bei Beginn der Sitzung wurde die Streichung des umstrittenen Artikels 55 A auf die Tagesordnung gebracht. In einer Blitzaktion, unter lautstarken Protesten der Opposition, die sich übergangen fühlte, paukte die Regierungsmehrheit in zwei Stunden die drei Lesungen der Gesetzesänderung durch. Noch am selben Tag willigte die obere Kammer des Parlaments, der Senat ein. Am Abend unterschrieb der Staatspräsident die Gesetzesnovelle.

Kurz danach verkündeten der polnische und der israelische Ministerpräsident ihre gemeinsame Erklärung in einer öffentlichen Video-Konferenzschaltung. Die Erklärung wurde zumeist mit Genugtuung aufgenommen, aber auf beiden Seiten gibt es auch Kritik.

In Polen kommt sie aus der rechtesten Ecke des Regierungslagers. Ministerpräsident Morawiecki trat ihr in seinen leidenschaftlichen Reden vor den beiden Häusern des Parlaments entgegen. Jarosłw Kaczyński verteidigte die Gesetzesänderung und erläuterte das Vorgehen in zwei ausführlichen Interviews. Die Proteste, ohnehin nicht allzu lautstark, haben sich schnell beruhigt.

Gemeinsame Briefmarkenausgabe der Polnischen und der Israelischen Post von 2018. Polen – 100 Jahre Wiederherstellung der Unabhängigkeit. Israel – 70 Jahre Unabhängigkeit.

In Israel ist die Kritik um einiges lauter und harscher. Der bekannte Holocaustforscher Prof. Yehuda Bauer rief in die Rundfunkmikrofone: „Die gemeinsame Erklärung, das ist Verrat, Verrat, Verrat!“

Das Wichtigste für Polen

Aus polnischer Sicht beinhaltet die gemeinsame Erklärung mit Israel wichtige Feststellungen, die mehr bewirken als die rückgängig gemachte Gesetzesnovelle, die faktenwidrige Behauptungen zu Polen und dem Holocaust unter Strafe stellte. Hier die Übersicht.

1. „Wir waren uns stets einig darin, dass Formulierungen wie „polnische Konzentrationslager” oder „polnische Todeslager“ grob falsch sind und die deutsche Verantwortung für die Errichtung dieser Lager mindern.“

2. „Die Regierung der Republik Polen im Exil war während des Krieges bestrebt diese Nazi-Aktivitäten zu bremsen, indem sie Versuche unternommen hat das Wissen über das systematische Morden an polnischen Juden unter den westlichen Alliierten zu verbreiten.“

Die offiziellen Protestnoten der polnischen Exil-Regierung, die Berichte über die Massenmorde an Juden, die die Exilregierung vom polnischen Untergrund erhielt, auch die mehrmals geäuβerten Vorschläge wenigstens die Zufahrtswege nach Auschwitz zu bombardieren, fanden bei den Briten und Amerikanern kein Gehör.

3. „Wir sehen ein und verurteilen jeden individuellen Fall der Grausamkeit gegen Juden, der von polnischen Bürgern während des Zweiten Weltkriegs begangen wurde.“

Individuelle Fälle dieser Art, die es zweifelsohne gab, werden hier genannt und eindeutig negativ beurteilt.

4. „Mit Stolz erinnern wir uns an heldenhafte Taten vieler Polen, insbesondere der Gerechten unter den Völkern, die unter Lebensgefahr Juden retteten.“

Unter den grausamen Bedingungen der deutschen Besatzung (auf Hilfe für Juden stand sofortige Erschieβung der Helfer und ihrer Familien, (siehe das Schicksal der Familie Ulma) wusste jeder der half, dass sein eigenes Leben auf dem Spiel stand. Etwa siebentausend Polen haben den Titel des Gerechten unter den Völkern verliehen bekommen. Der schwedische Forscher Gunnar Paulsson schätzt, dass etwa 100.000 Polen den Titel des Gerechten unter den Völkern verdient haben.

5. „Wir sind nicht einverstanden damit, dass Polen oder die polnische Nation als Ganzes verantwortlich gemacht werden für die Grausamkeiten, die die Nazis und ihre Kollaborateure aus verschiedenen Ländern begangen haben.“

Den polnischen Staat, den es ja nicht gab, und die polnische Nation als Ganzes trifft keine Schuld am Holocaust.

6. „Traurige Wahrheit ist leider, dass einige Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, damals ihr düsterstes Antlitz offenbart haben.“

Diese Feststellung wird ausgelegt, als ein Hinweis auf die auch in Israel hochkontrovers diskutierte jüdische Kollaboration beim Holocaust (jüdische Ghetto-Ordnungsdienste, Judenräte, Denunziationen von Juden durch Juden usw.), worauf schon Hannah Arendt in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen“ schonungslos hingewiesen hat.

7. „Wir wissen die Tatsache zu schätzen, dass die Behörden des polnischen Untergrundstaates, welcher der polnischen Regierung im Exil unterstand, den Mechanismus eines Hilfs- und Unterstützungssystems für Menschen jüdischer Herkunft geschaffen haben, und dass die Gerichte des Untergrundstaates, gegen Polen für die Zusammenarbeit mit deutschen Besatzungsbehörden, darunter auch für die Denunziation von Juden, Strafurteile gefällt haben.“

Die Anerkennung der Bemühungen der polnischen Regierung im Exil und der ihr unterstellten Strukturen des polnischen Untergrundstaates bei der Rettung von Juden hat für Polen einen hohen Stellenwert.

8. „Beide Regierungen verurteilen mit aller Entschiedenheit jegliche Formen des Antisemitismus und bringen ihre Bereitschaft zum Ausdruck ihn in allen seinen Erscheinungsformen zu bekämpfen. Beide Regierungen lehnen auch den Antipolonismus und andere negative nationale Klischees ab.“

Die Erwähnung des Antipolonismus neben dem Antisemitismus dürfte eine Reaktion auf Filme, wie die der Rudermann-Stiftung, aber auch maβlos antipolnische, oft von Hass und Verachtung für Polen nur so strotzende Äuβerungen in Israel sein.

Mit einem Satz: Vertreter zweier Völker, die im Zweiten Weltkrieg furchtbares durchmachen mussten, haben die historische Wahrheit verbrieft. Ob man diesem Neuanfang trauen darf?

Gemeinsame Erklärung der Ministerpräsidenten der Republik Polen und des Staates Israel vom 27. Juni 2018. Wortlaut.

„Erstens

Seit dreißig Jahren beruhen die Beziehungen zwischen unseren Ländern und Völkern auf dem festen Fundament des Vertrauens und Verstehens. Polen und Israel sind füreinander ergebene Freunde und Partner, die auf internationaler Bühne eng zusammenarbeiten, auch auf dem Gebiet der Erinnerungswahrung und des Lehrens über den Holocaust. Diese Zusammenarbeit verläuft im Geiste gegenseitiger Wertschätzung für die jeweilige Identität und geschichtliche Sensibilität, auch in Bezug auf die tragischsten Perioden unserer Geschichte.

Zweitens

Nach dem Gespräch zwischen den Ministerpräsidenten Netanjahu und Morawiecki begrüßt Israel die Entscheidung der Regierung der Republik Polen, eine offizielle polnische Kontaktgruppe für den Dialog mit israelischen Partnern über historische Fragen bezüglich des Holocaust zu berufen.

Es liegt auf der Hand, dass der Holocaust ein beispielloses Verbrechen war, das Nazideutschland am jüdischen Volk und allen Polen jüdischer Herkunft begangen hat. Polen hatte stets vollstes Verständnis für die Bedeutung des Holocaust, des tragischsten Abschnitts in der Geschichte des jüdischen Volkes.

Drittens

Wir sind der Meinung, dass es eine gemeinsame Verantwortung für die Freiheit der Forschung gibt, für die Förderung des Verständnisses und der Erinnerungsbewahrung an die Geschichte des Holocaust.

Wir waren uns stets einig darin, dass Formulierungen wie „polnische Konzentrationslager” oder „polnische Todeslager“ grob falsch seien und die deutsche Verantwortung für die Errichtung dieser Lager mindern.

Die Regierung der Republik Polen im Exil war während des Krieges bestrebt diese Nazi-Aktivitäten zu bremsen, indem sie Versuche unternommen hat das Wissen über das systematische Morden an polnischen Juden unter den westlichen Alliierten zu verbreiten.

Wir sehen ein und verurteilen jeden individuellen Fall der Grausamkeit gegen Juden, der von polnischen Bürgern während des Zweiten Weltkriegs begangen wurde.

Mit Stolz erinnern wir uns an heldenhafte Taten vieler Polen, insbesondere der Gerechten unter den Völkern, die unter Lebensgefahr Juden retteten.

Viertens

Wir sind nicht einverstanden damit, dass Polen oder die polnische Nation als Ganzes verantwortlich gemacht werden für die Grausamkeiten, die die Nazis und ihre Kollaborateure aus verschiedenen Ländern begangen haben. Traurige Wahrheit ist leider, dass einige Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, damals ihr düsterstes Antlitz offenbart haben.

Wir wissen die Tatsache zu schätzen, dass die Behörden des polnischen Untergrundstaates, welche der polnischen Regierung im Exil unterstanden, den Mechanismus eines Hilfs- und Unterstützungssystems für Menschen jüdischer Herkunft geschaffen haben, und, dass die Gerichte des Untergrundstaates gegen Polen bei einer Zusammenarbeit mit deutschen Besatzungsbehörden, darunter auch für die Denunziation von Juden, Strafurteile gefällt haben.

Fünftens

Wir sprechen uns aus für freie Meinungsäuβerung in Sachen Geschichte, für die Freiheit der Erforschung aller Aspekte des Holocaust, so dass diese ohne jede Furcht vor rechtlichen Hindernissen geführt werden kann. Dies gilt nicht nur für Studenten, Lehrer, Forscher und Journalisten, sondern zweifellos auch für die Überlebenden des Holocaust und ihre Familien. Sie werden keinerlei strafrechtlichen Verantwortung unterliegen, weil sie von ihrer Meinungs- und Forschungsfreiheit in Bezug auf den Holocaust Gebrauch gemacht haben. Kein Gesetz kann und wird das ändern.

Sechstens

Beide Regierungen verurteilen mit aller Entschiedenheit jegliche Formen des Antisemitismus und bringen ihre Bereitschaft zum Ausdruck ihn in allen seinen Erscheinungsformen zu bekämpfen. Beide Regierungen lehnen auch den Antipolonismus und andere negative nationale Klischees ab.

Die Regierungen Polens und Israels rufen dazu auf in der öffentlichen Debatte zum ruhigen Dialog zurückzukehren, dem die gegenseitige Achtung zugrunde liegen sollte.“

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RdP




Das Wichtigste aus Polen 3.Juni – 22.Juni 2018

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Aus der Traum. Polens schwacher Auftritt bei der Fußball WM ♦ Andrzej Duda, ein Staatspräsident, der Rätsel aufgibt ♦ Braucht Polen eine neue Verfassung? Staatspräsident Duda bringt eine Debatte in Gang und was nun? ♦ EU-Rechtstaatlichkeitsverfahren gegen Polen und kein Ende. Migranten, Brexit und Trump sind Brüssel nicht genug. ♦ Seehofer gegen Merkel. Wie soll sich Polen verhalten?




Wie reich sind die Polen 2018?

Nettovermögen allein macht noch keinen Wohlstand aus.

Gemessen an dem, was man in Russland oder auf dem Balkan an protzigem Reichtum zu sehen bekommt, geben sich die Reichen im einst kommunistischen Polen deutlich bescheidener. Doch wer eigentlich gilt als reich in Polen? Neueste Untersuchungen zeichnen das Bild von einem Land, das nicht gerade zu den ärmsten gehört, sich aber immer noch mühsam zum Wohlstand emporarbeitet.

Von den knapp 17 Millionen arbeitenden Polen verdienen etwa eine Million gut, beziehungsweise sehr gut, so die renommierte international tätige Consulting-Firma KPMG. Sie hat vor Kurzem eine Studie über den polnischen Luxusartikelmarkt veröffentlicht.

Vermögend, reich, sehr reich

Als „vermögend“ stuft KPMG darin jene Polen ein, die umgerechnet

(diesem Text wird ein Wechselkurs von 1 Euro = 4,20 Zloty zugrunde gelegt)

knapp 1.700 Euro brutto im Monat verdienen. Wer monatlich mehr als 4.800 Euro brutto erhält gilt als „reich“. „Sehr Reiche“, und von solchen gibt es in Polen laut Statistik gerade mal zweiundvierzigtausend, bringen es mindestens auf knapp 12.000 Euro brutto im Monat.

Von Städten und Städtchen wie Kutno (45.000 Einwohner, ca. 140 Kilometer westlich von Warschau) oder Suchowola (2.500 Einwohner, ca. 230 Kilometer nordöstlich von Warschau) aus gesehen, sind 1.700 Euro sehr viel Geld. Dort verdient man monatlich meistens, umgerechnet, nicht mehr als 700 Euro brutto.

In Warschau oder Poznań hingegen, sind 1.700 Euro nicht gerade überwältigend viel. Zieht man die monatliche Rate des Wohnungskredites, die Rechnungen für Strom, Gas, Wasser, Telefon, den Kindergartenbeitrag für zwei Kinder ab, bleiben knapp 600 Euro für vier Personen zum Leben, wenn der Ehepartner nicht ebenfalls berufstätig ist.

Im Eigenen wohnen und abstottern

Der Widersinn der polnischen Situation besteht darin, dass sehr viele auf dem Papier Zloty-Millionäre sind und gleichzeitig nur mühsam über die Runden kommen. Den statistischen Reichtum der Polen machen nämlich vor allem ihre Wohnungen oder Häuser aus. Diese jedoch werden fast ausnahmslos mit hohen Krediten finanziert.

Der Anfang 2018 veröffentlichte umfangreiche Bericht der Polnischen Nationalbank (NBP) „Wohlstand der Haushalte in Polen“ stellt fest: 79,2 Prozent der Polen sind Eigentümer der von ihnen bewohnten Häuser und Wohnungen (in Deutschland sind es 44,2 Prozent).

Im Vergleich zu den Einkommen sind die Mietpreise in Westeuropa immer noch um einiges erschwinglicher als in Polen, wo sie sich für Normalverdiener im Bereich des Astronomischen bewegen. Vor allem jungen Familien blieb daher noch bis vor Kurzem nur die Alternative auszuwandern oder sich bis zu vierzig Jahre lang die Kreditschlinge um den Hals zu legen, um in den Genuss einer eigenen Wohnung zu kommen.

Nach dem Ende des Kommunismus überlieβ der polnische Staat den Wohnungsbau komplett dem Markt. Erst die seit 2015 amtierende Regierung brachte den sozialen Wohnungsbau in Gang. Ungenutzte staatliche Flächen der Armee, der Bahn oder der Post werden seither kostenlos zur Bebauung freigegeben. Das drückt die Preise erheblich.

Beispiel: das Städtchen Jarocin (26.000 Einwohner, ca. 70 Kilometer südlich von Poznan), wo im März 2018 Familien mit Kindern und niedrigeren Einkommen in 360 Wohnungen einziehen konnten. Miete: pro Quadratmeter, umgerechnet, 2,90 Euro. Für eine 55 Quadratmeterwohnung beträgt die Kaltmiete somit knapp 160 Euro. Auf dem freien Markt in Jarocin werden hierfür mindestens 300 Euro kalt pro Monat fällig. In Warschau und anderen Groβstädten zahlt man für Wohnraum in entsprechender Größe mindestens 500 Euro, ohne Nebenkosten.

Weniger Nettovermögen, weniger Erspartes, weniger Schulden

Unabhängig davon, ob Wohneigentum vorhanden ist oder nicht, beträgt das durchschnittliche Nettovermögen (d.h. Finanz- sowie Sachvermögen abzüglich Schulden) eines polnischen Haushaltes 2018 umgerechnet rund 63.000 Euro (in Deutschland sind es 215.000 Euro, Rekordhalter ist Luxemburg mit 437.000 Euro), davon sind durchschnittlich 3.600 Euro sofort verfügbar, egal ob übers Bankkonto oder als Bargeld im Wäscheschrank. Die Schulden pro Haushalt belaufen sich im Durchschnitt auf 2.400 Euro (in Deutschland 15.200 Euro).

Die reichsten zehn Prozent der Haushalte verfügen über 40 Prozent des gesamten Nettovermögens aller polnischen Haushalte. In Deutschland vereinigen die reichsten zehn Prozent knapp 77 Prozent des gesamten Nettovermögens aller Haushalte auf sich.

Drei Zimmer, Waschmaschine, Handy

Statistisch gesehen besteht ein polnischer Haushalt aus drei Wohnräumen und hat (mit Küche, Bad und Korridor) eine Gesamtfläche von 77,2 Quadratmetern. Im Jahr 2018 entfallen auf jeden Polen 27,6 Quadratmeter Wohnfläche (in Deutschland sind es 46,5 Quadratmeter).

Im Schnitt leben in Polen in einem Haushalt 2,7 Personen (der Vergleichswert in Deutschland: 2,3 Personen).
Einpersonenhaushalte machen in Polen knapp 21 Prozent aller Haushalte aus (in Deutschland 41 Prozent). Zweipersonenhaushalte: 33 Prozent (Deutschland 34 Prozent). Dreipersonenhaushalte: 20 Prozent (Deutschland 12 Prozent) Vierpersonenhaushalte: 17 Prozent (Deutschland 10 Prozent). Fünf Personen und mehr: 10,5 Prozent (Deutschland 3,5 Prozent) aller Haushalte.

Auch wenn der statistische polnische Haushalt knapp viermal weniger Nettovermögen als der deutsche aufweist, ist seine Ausstattung durchaus modern. 97 Prozent aller Haushalte verfügen in Polen über eine automatische Waschmaschine, 95 über mindestens ein Handy, 86 Prozent haben einen Fernseher mit Flachbildschirm im Wohnzimmer stehen. Interessant, dass es inzwischen in etwa einem Viertel der „vermögenden“ und „reichen“ polnischen Haushalte keine TV-Geräte mehr gibt. Dort ist Fernsehen offensichtlich out.

Viele alte Autos

Knapp 66 Prozent der polnischen Haushalte verfügen über mindestens einen Pkw (Deutschland 78 Prozent). Insgesamt sind in Polen 21,7 Millionen Personenkraftwagen zugelassen, doch ihr Durchschnittsalter ist hoch: 14,9 Jahre (Deutschland 9 Jahre). Die im Durchschnitt ältesten Autos fahren in der Woiwodschaft Ermland-Masuren mit Olsztyn/Allenstein (16,3 Jahre), die jüngsten (13,1 Jahre) in Masowien mit Warschau.

Im Verkauf der teuersten Luxusautos kann Polen weder mit Deutschland, geschweige denn mit Russland, der Türkei oder dem maroden Ölstaat Nigeria mithalten, wo der Jahresabsatz in die Tausende geht. Im Jahr 2017 verkaufte Maserati in Polen lediglich 88 Autos, Rolls-Royce sieben, Lotus eins. Bis wenigstens insgesamt eintausend solcher Superwagen pro Jahr in Polen verkauft werden, dürften noch viele Jahre vergehen.

Dafür können sich Hersteller aus dem nur eine Stufe tiefer gelegenen Segment der sogenannten Premium-Marken nicht beklagen. Der Absatz wächst von Jahr zu Jahr. 2017 betrug der Verkauf der Oberklasse-Modelle von Mercedes 16.794 Stück (davon 527 der S-Klasse), BMW: 15.649, Audi:13.035, Volvo: 9.020, Porsche: 1.315. Zudem hat 2017 zum ersten Mal der Verkauf von Neuwagen in Polen die Halbemillion-Marke überschritten.

Doch das wahre Leben schreibt zuhauf auch solche Geschichten wie die folgende: „Bei mir fahren Kunden im Porsche Cayenne vor, weil sie für eine autorisierte Porsche-Werkstatt zu arm sind. Sie suchen nach gebrauchten Ersatzteilen oder versuchen es mit billigeren Ersatzteilen aus anderen Wagentypen“, weiβ Paweł Suwała, Eigentümer einer Autowerkstatt in Starachowice (150 Kilometer südlich von Warschau) im Wochenmagazin „Polityka“ (23. 01. 2018) zu berichten.

Autohändler Andrzej Kwas fügt hinzu: „Groβe, protzige Wagen sind begehrt. Können auch ein wenig betagt sein, Hauptsache sie sehen nach etwas aus. Ein groβer Motor? Kein Problem. Wenn erforderlich, wird auch der protzigste BMW auf Gas umgestellt.“

Der Trend geht hin zum Wäschetrockner

Zu Hause in der Küche steht derweil immer öfter auch eine Spülmaschine (42 Prozent der Haushalte) und auf dem Tisch im Wohnzimmer liegt ein Tablet (37 Prozent der Haushalte). Seit einiger Zeit geht der Trend hin zum Wäschetrockner. Nicht der Preis hindert viele am Kauf eines solchen Gerätes, sondern die zu kleinen polnischen Badezimmer. Wäschetrockner, die man auf der Waschmaschine aufstellen und von vorne beladen kann, verkaufen sich in Polen am besten.

Seit dem Ende des Kommunismus 1990 hat sich das Nettovermögen der polnischen Haushalte vervierfacht. Dahinter verbergen sich in der Regel viel harte Arbeit und ein sehr bedachtes Geldausgeben. Ein allgemeiner Wohlstand beginnt erst zaghaft daraus zu entstehen.

Ihn machen nicht nur hohe Nettovermögen aus, sondern auch entsprechende Sozialleistungen und ein hohes Niveau der sozialen Dienstleistungen. Hier hat das Land noch viel zu bewerkstelligen. Als Trost bleibt die Feststellung, dass die Einkommens- und Vermögensunterschiede in Polen deutlich geringer ausfallen, als in vielen Staaten zu denen es aufschlieβen möchte.

© RdP

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Das Wichtigste aus Polen 13. Mai – 2. Juni 2018

Kommentatorin Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die  wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Der nach vierzig Tagen abgebrochene Schwerbehinderten-Protest im Parlament stellte die Regierung auf eine harte Probe. ♦ Die Frühjahrstagung der Parlamentarischen Versammlung der Nato in Warschau. Polens Stellung in der Nato nach knapp zwanzig Jahren Mitgliedschaft. ♦ Der EU-Haushaltsentwurf 2021 – 2027 der Europäischen Kommission. Polnische Vorbehalte.




Violinistin, Kommunistin, Dissidentin

Am 1. Mai 2018 starb Wanda Wiłkomirska.

Wenn sie mit dem Bogen über die Saiten der Geige strich, kam es unvermeidlich zum Gipfeltreffen einer herausragenden künstlerischen Persönlichkeit mit einem der wunderbarsten und anspruchsvollsten Musikinstrumente, die von Menschenhand gespielt werden.

Ihr langes Leben verlief stets zweigleisig. Ihre Musikkarriere führte gradlinig von Erfolg zu Erfolg, bis auf den Olymp der weltbesten Interpreten. Ihr Privatleben dagegen, reich an politischen Verstrickungen und darauffolgenden Befreiungsschlägen, war ein kurvenreicher Pfad, manchmal entlang des Abgrunds.

Geboren 1929, war sie zehn Jahre alt, als im September 1939 Hitlers Armeen in Polen einfielen und ihre erste Gratwanderung begann. Die Wiłkomirskis wohnten damals in Polens zweitgröβter Stadt Łódź (Lodsch) und waren in Fachkreisen und bei Musikliebhabern landesweit als musizierende Familie bekannt. Auch in ihrem Leben, wie konnte es anders sein, spiegelte sich das schwierige Schicksal Polens jener Zeit wieder.

Eine der Musik verschriebene Familie

Seit 1795 war Polen zwischen Russland, Preuβen und Österreich endgültig aufgeteilt, und blieb, bis 1918, von der Europakarte verschwunden. Wandas Groβvater, ein Pole und Untertan des Zaren, diente als Arzt in der russischen Armee. Im rebellischen Kaukasus, den es immer wieder zu befrieden galt, kam 1873 sein Sohn und Wandas Vater, Alfred auf die Welt, ein musikbesessener Junge, der sich ganz und gar der Violine verschrieb.

Alfred Wiłkomirski mit seiner ersten Ehefrau Aniela. Moskau 1912.

Seine erste Frau Aniela, eine Polin, lernte Alfred in Moskau kennen, wo er am Konservatorium studierte und später unterrichtete. Aniela gebar Alfred Wiłkomirski drei Kinder. Kazimierz (1900-1995) war ein sehr erfolgreicher Cellist, Dirigent und Musikpädagoge. Michał (1902-1988) machte sich in den USA als Violinist einen Namen. Maria (1904-1995) war Pianistin und Musikprofessorin.

Unter der Aufsicht des Vaters traten die Drei bis zum Ausbruch der bolschewistischen Revolution und des russischen Bürgerkrieges als das „Trio Wiłkomirski“ in Moskau auf. Beliebt und renommiert, sollte es jahrzehntelang überdauern. Immer wieder trafen sich später die in aller Welt verstreuten Geschwister, gaben Konzerte in Polen, Frankreich, den USA.

„Trio Wiłkomirski“. Moskau 1915. Von links: Michał, Maria, Kazimierz.

Nur knapp entkam die Familie der Mord- und Vernichtungswut der Bolschewisten und deren Gegnern, die Russland nach 1917 in ein Inferno des Elends verwandelten. Ende 1919, im gerade wieder unabhängig gewordenen Polen, in der Stadt Kalisz angekommen, arbeiteten sich die Wiłkomirskis, die von ihrem Vermögen nur das, was sie am Leibe trugen retten konnten, wieder empor. Auf der Suche nach einer Stelle, die es Alfred erlauben würde die Familie durchzubringen, zogen sie von Kalisz, mit Stationen in Lublin und Warschau, schließlich nach Łódź.

Der Ehefrau und Mutter Aniela hatten die beiden letzten, schrecklichen Jahre in Russland schwer zugesetzt. Sie starb 1923. Zwei Jahre später heiratete der Witwer Alfred Wiłkomirski seine Schülerin in der Musikschule von Kalisz, die achtundzwanzig Jahre jüngere jüdische Kaufmannstochter Dorota Temkin. Alfred wollte mit ihr drei Kinder zeugen, denn er dachte allen Ernstes daran ein zweites Familien-Trio zu gründen.

Doch nur zwei Kinder kamen zur Welt: 1926 in Kalisz der Sohn Józef, der es zu einem angesehenen Cellisten, Dirigenten und Musikpädagogen brachte, sowie 1929 in Warschau Wanda. Mit vier Jahren begann Vater Alfred ihr das Violinspiel beizubringen.

Kriegserlebnisse

Einige Monate nach dem Einmarsch der Deutschen in Łódź am 8. September 1939 wurde die Textil-Metropole zu Ehren von Karl Litzmann, eines kaiserlichen Generals und späteren nationalsozialistischen Politikers, in Litzmannstadt umbenannt und an das Reich angegliedert. Die Juden kamen ins Ghetto, die Polen wurden enteignet, aus besseren Wohnungen fortgejagt, drangsaliert, in Konzentrationslager deportiert.

Deutscher Einmarsch in Łódź am 8. September 1939, begleitet vom Jubel der örtlichen Deutschen (oben). Umbenennung in Litzmannstadt.

Das ungefähr einhundertdreißig Kilometer nordöstlich gelegene Warschau lag nun hinter einer streng bewachten Grenze im von Deutschland besetzten sogenannten Generalgouvernement, in dem Generalgouverneur Hans Frank, von Krakau aus, seine Schreckensherrschaft ausübte.

Vater Alfred brachte die beiden Kinder, Józef und Wanda, dauerhaft bei Verwandten in Warschau unter. Die Eltern blieben in Łódź. Der Vater gab deutschen Offizieren aus besseren Kreisen, die bei ihm in Zivil erschienen, private Musikstunden. Die Mutter blieb als Jüdin unerkannt.

Doch Warschau war keineswegs sicherer. Die beiden jungen Wiłkomirskis übten Musik zu Hause. Der Warschauer Hausherr und Verwandte war, wie konnte es anders sein, Musiklehrer, aber polnische Schulen waren auch hier geschlossen. Sie lernten in Bildungszirkeln, die ihren Unterricht streng konspirativ in Privatwohnungen abhielten. Groβangelegte Razzien, bei denen alle Gefassten, von der Straβe weg, zur Zwangsarbeit ins Reich oder in KZs geschickt, bzw. an Ort und Stelle in öffentlichen Hinrichtungen zur Abschreckung erschossen wurden, hielten die Stadt in Atem.

Am 1. August 1944 brach in ganz Warschau ein Aufstand aus. Die Russen waren vom Osten her im Anmarsch. Die der polnischen Exilregierung in London unterstellte Heimatarmee (Armia Krajowa- AK) wollte die Stadt von den, wie man fälschlicher Weise annahm, abrückenden Deutschen befreien und die Sowjets als Hausherrn in der Hauptstadt empfangen, um so das Einsetzen eines kommunistischen Regimes zu verhindern.

Die Rechnung ging nicht auf. Die Russen stoppten ihren Vormarsch, die Deutschen holten Verstärkung heran. Am 3. Oktober 1944, nach dreiundsechzig Tagen, kapitulierten die Aufständischen. Die Intensität der Straβenkämpfe stand denen von Stalingrad in nichts nach. Am Ende waren circa zweihunderttausend Warschauer tot. Die restliche Bevölkerung wurde innerhalb weniger Tage vertrieben.

Die Russen schauten vom anderen Weichselufer zu, wie die Deutschen dreieinhalb Monate lang die leere Stadt planmäβig niederbrannten und in die Luft sprengten. Erst Mitte Januar 1945, als das Vernichtungswerk vollbracht war, setzten sie über den Fluss, um das tote Ruinenmeer zu „befreien“.

Entfesselte Soldateska. Russische Wlassow-Verbände im Warschauer Aufstand 1944.

Den Stadtteil Ochota, in dem Wanda lebte, mussten die Aufständischen schon Mitte August 1944 räumen. Durch eine entfesselte Soldateska der russischen Wlassow-Verbände unter deutschem Kommando folgte eine tagelange Orgie von Massenmorden, Vergewaltigungen, Brandschatzungen und Plünderungen.

Der fünfzehnjährigen Wanda gelang es wie durch ein Wunder aus dieser Hölle zu entkommen. Sie schlug sich bis in die Warschauer Vororte durch. Ein Eisenbahner nahm sie ein Stück in Richtung Łódź mit. Ohne Geld überredete sie in dem Ort Koluszki einen professionellen Schmuggler, sie über die streng bewachte Grenze ins Reich zu bringen. Der Mann lieferte sie nachts bei den Eltern in Łódź ab. Überglücklich dankten sie es ihm mit der goldenen Uhr des Groβvaters und den letzten goldenen Ohrringen, die Wandas Mutter noch besaß.

Bald darauf, Ende Januar 1945, galt es den Einmarsch der Sowjets zu überleben. Mutter und Tochter versteckten sich tagelang in einem getarnten Keller, um den Vergewaltigungen und Morden der ständig betrunkenen „Befreier“ zu entgehen, bis sich die Lage beruhigte.

Der rote Backfisch

Der Kommunismus hielt in Polen in jener Zeit nach und nach Einzug. Aber es gab wieder polnische Schulen, einen polnischen Kulturbetrieb, polnische Musik durfte wieder gespielt werden. Für die eher unpolitische Musikerfamilie Wiłkomirski war das auschlaggebend.

Wanda Wiłkomirska 1947, mit achtzehn Jahren. Ein Backfisch der bald rot werden sollte.

„Meine Eltern und meine Stiefgeschwister, alles erwachsene Leute, gut zwanzig Jahre älter als ich, waren davon sehr angetan, dass die neuen Machthaber Musikschulen eröffneten, Konzertsäle bauten. Ich dagegen gehörte der jungen Generation an, für die es damals Polnischsein nur im Doppelpack mit dem Kommunismus gab. Wir kannten es nicht anders“, berichtete die Violinistin im September 1998, in einem Interview für die „Gazeta Wyborcza“ („Wahlzeitung“).

Vater Alfred durfte an der wiedereröffneten Musikhochschule in Łódź unterrichten, an der auch seine Tochter Wanda studierte. Fachleute waren von ihr hingerissen. Wie schnell sich ihre Spieltechnik verbesserte, wie einfühlsam sie die Stücke interpretierte, wie schnell sie ein neues Repertoire einübte. Backfisch Wanda war einsame Spitze auf weiter Flur.

Die polnischen Kommunisten waren, anders als in Deutschland, Frankreich, der Tschechoslowakei, vor dem Krieg nur eine isolierte, unbeliebte, bedeutungslose politische Sekte. Sie versuchten, so die allgemeine Empfindung in Polen damals, das gerade unabhängig gewordene Land wieder unter die Fuchtel, diesmal die des roten Russlands zu bringen, das das zaristische, weiβe Russland beerbt hatte.

Jetzt, nach 1945, waren die verachteten Kommunisten Polens Herrscher von Moskaus Gnaden. Der allgemeine Terror, mit dem sie ihre Macht festigten, konnte auf Dauer nicht das einzige politische „Angebot“ sein. Mit dem Wiederaufbau und der Rekonstruktion der zerstörten Altstädte von Warschau, Gdańsk, Wrocław, mit der massiven Förderung der klassischen und der volkstümlichen polnischen Kultur, gelang es ihnen, die vom furchtbaren Krieg zermürbte polnische Gesellschaft für sich etwas gnädiger zu stimmen, teilweise auch zu begeistern.

Die vom bürgerlichen Vorkriegspolen „geerbten“ Künstler in den neuen, sozialistischen Kulturbetrieb einzubinden, um sich selbst und die neue Diktatur ein Stück weit in den Augen der Gesellschaft zu legitimieren, „Normalität“ vorzutäuschen, das war das eine Ziel. Noch wichtiger aber war es, neue, junge, herausragende Sportler, Wissenschaftler, Künstler, „aus eigener Zucht“ vorzuweisen.

Die talentierte Wanda Wiłkomirska passte hervorragend in dieses Schema. Ihre faszinierende Begabung ging einher mit ihrem politischen Engagement.

„Ja, ich bin, wenn es darauf ankam, im grünen Hemd und roter Krawatte des kommunistischen Jugendverbandes aufgetreten, zum Beispiel 1951 bei den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Ostberlin. Aus dem Publikum donnerten uns auf der Bühne immer wieder Jubel-Sprechchöre entgegen: »Stalin, Bierut (Stalins Statthalter in Polen – Anm. RdP), Wilhem Pieck!«. Ich habe bei den Umzügen zum 1. Mai die rote Fahne geschwungen. Ich bin in die kommunistische Partei eingetreten. Ich habe damals an diese Idee geglaubt, und ich habe das nie verheimlicht“.

Henryk-Wieniawski-Violinwettbewerb in Poznań 1952. Wanda Wiłkomirska beim Auslosen der Auftrittsreihenfolge.

Nur Talent zu haben und eisern zu üben genügte damals nicht, um entsprechend gefördert zu werden. Sie durfte bereits 1947 eine Ausbildung in der renommierten Franz-Liszt-Akademie in Budapest absolvieren, um dann, zwei Jahre später, bei Henryk Szeryng in Paris einen Meisterkurs zu belegen. Ein Aufbaustudium an der Warschauer Musikakademie folgte, und mit ihm der erste groβe Durchbruch: der zweite Platz im Henryk-Wieniawski-Violinwettbewerb in Poznań 1952. Da war sie gerade dreiundzwanzig.

Zerstörte Warschauer Nationalphilharmonie vor und nach dem Wiederaufbau.

Zwei Jahre später war sie auf nationaler Ebene ganz oben angekommen. Am 21. Februar 1955 wurde das wiederaufgebaute Gebäude der Warschauer Nationalphilharmonie feierlich seiner Nutzung übergeben. Wanda Wiłkomirska spielte bei der Einweihung mit dem Orchester der Philharmonie das 1. Violinkonzert von Karol Szymanowski (1882-1937), dem nach Chopin wohl namhaftesten polnischen Komponisten.

„Wenn man heute diese Aufnahme hört, fällt es schwer einen Interpreten zu finden, der in den letzten gut sechzig Jahren diese Komposition mit nur annährend ähnlicher Leidenschaft, Zärtlichkeit und emotionalem Einfühlungsvermögen spielen würde“, schrieb in einem Nachruf auf Wiłkomirska der Musikredakteur der Zeitung „Rzeczpospolita“ („Die Republik“).

Im kommunistischen Establishment angekommen

Die nächsten gut fünfundzwanzig Jahre lang, bis zu ihrer Emigration Anfang 1982, war Wanda Wiłkomirska Solistin der Nationalphilharmonie, absolvierte mit ihr Dutzende von Auslandstourneen. Bei ihren ersten Gastspielen in den USA 1961 schaffte sie mit Leichtigkeit ihren dritten groβen Durchbruch, dieses Mal den internationalen. Der legendäre Impresario Samuel Hurok hörte sie in der New Yorker Carnegie Hall und nahm sich ihrer sofort an. Amerika lag Wanda Wiłkomirska zu Füβen. Immer neue Einladungen zu Soloauftritten in den Staaten und volle Konzertsäle waren ihr von nun an sicher.

Mit Arthur Rubinstein 1961 in New York.

Damals war sie schon längst im kommunistischen Establishment angelangt, auch durch ihre Heirat. Ihren Ehemann lernte sie unter wahrlich ungewöhnlichen Umständen in Ostberlin 1952, während der Tage der Polnischen Kultur kennen.

Die hübsche Violinistin ging die breite Wendeltreppe des Hotels hinunter. Ihr entgegen kamen zwei Herren, von denen einer laut sagte: „Schau mal, was für eine heiβe Stute!“, in der Annahme sie verstehe kein Polnisch. Der Satz kam aus dem Munde von Mieczysław Rakowski (1926-2008), damals noch ein junger Kultur-Parteiapparatschik, der zum Polittross der polnischen Delegation gehörte. Sein Entsetzen war groβ, als beim Galakonzert die Violinistin Wanda Wiłkomirska angekündigt wurde, und die „heiβe Stute“ die Bühne betrat.

Wiłkomirska, Rakowski in ihren guten Jahren.

Rakowski soll einen Blumenstrauβ mit einem Entschuldigungskärtchen vor ihrem Zimmer abgelegt und die halbe Nacht in der Hotelbar seine Scham in Wodka ertränkt haben. Beim Frühstück sah man sich wieder und, siehe da, sofort sprang der Funke der Zuneigung in beide Richtungen über. Er habe sie, so Wiłkomirska, als Frau begehrt und nicht zuerst als berühmte Violinistin, wie es die Männer vor ihm taten.

Sie blieben bis 1970 verheiratet, hatten zwei Söhne, eine Villa mit Hauspersonal in Warschau, ein schmuckes Sommerdomizil in Masuren, verkehrten in den obersten Zirkeln der kommunistischen Machthaber, ihrer Familien und deren Günstlinge aus der Welt der Kunst, der Wissenschaft, der gleichgeschalteten Medien.

Rakowski, den man der liberalen Fraktion in der KP zurechnete, erklomm langsam aber zielführend die Sprossen der kommunistischen Karriereleiter. Er wurde ZK-Mitglied, war seit 1957 Chefredakteur der damals viel gelesenen Wochenzeitung „Polityka“. Unter den Bedingungen der Diktatur erfüllte sie, wie die Wochenzeitung „Das Reich“ im Dritten Reich oder die „Literaturnaja Gazeta“ in der Sowjetunion, eine Ventilfunktion, sollte feinfühliger, weniger grob als die gängige Parteipropaganda, die gebildeten Schichten ansprechen.

Rakowski wollte hoch hinaus. Doch er musste seit 1956 zunächst Parteichef Gomulka überdauern, der infolge der blutigen Arbeiterunruhen an der polnischen Ostseeküste im Dezember 1970 gestürzt wurde, und weitere zehn Jahre dessen Nachfolger Edward Gierek, der im Sommer 1980 aus gleichem Grund wie Gomulka abdankte.

Rakowski mit General Jaruzelski. Als „Liberaler“ im Lager der Knüppelkommunisten angekommen.

Erst unter General Jaruzelski, der am 13. Dezember 1981 Solidarność verbot und das Kriegsrecht ausrief, schlug die Stunde des „Liberalen“ Rakowski. Er wurde stellvertretender Ministerpräsident, danach, im Sommer 1989, Parteichef einer schon dahinsiechenden polnischen KP, die er auf ihrem letzten Parteitag im Januar 1990 mit zu Grabe trug.

Fleiβig, flink, selbstbewusst

Ihr Mann war von der Politik, Wanda Wiłkomirska war von ihrer Berufung als Violinistin besessen. Es gab Jahre, in denen sie mehr als einhundert Konzerte in der ganzen Welt und oft auch in den entlegendsten Winkeln Polens gab. Wochenlang war sie nicht zu Hause. „Spiele so gut, dass sie dich wieder einladen wollen“, nach diesem Motto baute sie ihre Karriere auf.

Mit Wolfgang Sawallisch in Wien.

Sie war fleiβig, flink, nicht überheblich, hatte keine Starallüren, aber, wenn es darauf ankam, war ihr Selbstbewusstsein ungebrochen und berüchtigt. Wiłkomirska verstand sich hervorragend mit dem DDR-Stardirigenten Kurt Masur, mit Wolfgang Sawallisch, der sie immer wieder zu Auftritten mit den Wiener Symphonikern holte. Sie hat aber auch so manchen Dirigenten in die Schranken gewiesen, wie den schnell aufbrausenden und herrischen Sir John Barbirolli.

Sir John Barbirolli.

„Er wollte bei der Eröffnung des Londoner Barbican Center im März 1982 das Violinkonzert von Benjamin Britten (1913-1976) spielen. Ich habe es eingeübt. Die erste Probe. Wir beginnen zu spielen. Barbirolli bricht sofort ab und sagt, ich soll an dieser Stelle nicht verlangsamen. Ich sage »Yes, Sir«. Kurz danach wieder dasselbe. Ich soll so spielen, wie der Komponist es wollte. »Yes, Sir«. Beim vierten Mal, an einer Stelle die ich auf meine Weise interpretierte, sagte ich ihm: »Ich will das so spielen«. »Streite nicht mit mir«. »Ich weiβ, Sie haben Britten persönlich gekannt und Sie haben eine Vorstellung, wie man sein Konzert spielen soll. Ich habe meine Vorstellung. Wollen Sie eine Solistin haben, die nur yes, yes, yes von sich gibt?« Er schaute mich an und sagte »Du hast Recht, mein Kind«. Ab dann hat er mich immer wieder engagiert“, berichtete sie Jahre später.

Mitte der 60er Jahre in der Warschauer Nationalphilharmonie. Ihr Selbstbewusstsein war ungebrochen und berüchtigt.

Zubin Mehta musste sich ihren Vortrag über Karol Szymanowski anhören, den er zuerst, in ihren Augen, zu unterschätzen schien. Sie redete so gut, wie sie spielte und durfte danach noch mehrere Male mit den New Yorker Philharmonikern auftreten.

Nur mit Leonard Bernstein verband sie eine tiefe, gegenseitige Abneigung, und zwar auf den ersten Blick. Bei der Probe eines Tschaikowski-Konzertes brach sie plötzlich ab und sagte: „Zu schnell“. „Zu schnell für wen? Für Sie?“, gab der sichtlich ungehaltene Dirigent zurück. „Nicht für mich, für Tschaikowski“, antwortete Wiłkomirska. Sie sind nie wieder gemeinsam aufgetreten.

Ihre Bühnenpartner waren die bekanntesten Musiker der Welt: Arthur Rubinstein, Gidon Kremer, Martha Argerich, Kim Kashkashian, Mischa Maisky. Wiłkomirska spielte als Solistin bei der Eröffnung des neuen Opernhauses in Sydney 1973 vor der Queen und ebenfalls vor mehreren US-Präsidenten.

Polnische Violinistin mit deutschem Pass

Mit Krzysztof Penderecki 1966 in Warschau.

„Sie blieb immer eine durch und durch polnische Violinistin“, schrieb Staatspräsident Andrzej Duda in einem Kondolenzbrief, der bei ihrer Beerdigung vorgelesen wurde. Es ist eine wahre und wichtige Feststellung, doch so selbstverständlich, wie sie auf den ersten Blick erscheint, ist die Angelegenheit nicht.

Kaum ein polnischer Solist von Weltrang hat nach 1945 so sehr die polnische Musik in der Welt bekannt gemacht, wie Wanda Wiłkomirska. Dank ihr erfuhren Zuhörer in fremden Ländern, dass die polnische Musiktradition nicht ausschlieβlich aus Chopins Mazurkas und Pendereckis kakophonischen Concertos besteht.

Mit dem Komponisten und Dirigenten Witold Lutosławski Anfang der 70er Jahre.

Unerbittlich, und manchmal zum Leidwesen ihrer Impresarios, schob sie, wo sie nur konnte, in die Programme ihrer Soloauftritte, zwischen Bach, Paganini, Tschaikowski, Werke polnischer zeitgenössischer Komponisten ein: Henryk Wieniawski (1835-1880), Karol Szymanowski (1882-1937), Grażyna Bacewicz (1909-1969), Tadeusz Baird (1928-1981), Augustyn Bloch (1929-2006), Zbigniew Bargielski (geb. 1937), Zbigniew Bujarski (1933-2018), Roman Maciejewski (1910-1998), Włodzimierz Kotoński (1925-2014). In Polen hat sie deren Werke uraufgeführt. Die polnische Musik war ihr sehr wichtig und sie war im wahrsten Sinne des Wortes ihre beste Botschafterin.

Umso mehr erstaunte es, dass diese durch und durch polnische Künstlerin Mitte der achtziger Jahre ihre polnische Staatsangehörigkeit demonstrativ aufgegeben hat und Deutsche wurde. Es war der Endpunkt eines langen Prozesses.

Auch wenn Mieczysław Rakowski in seinen Tagebüchern die Sehnsucht nach seiner Frau immer wieder zur Sprache bringt, irgendwann fand sich eine deutlich jüngere, attraktive Künstlerin, eine Schauspielerin, die mehr Zeit für ihn hatte. Wanda Wiłkomirskas Scheidung von Rakowski 1970 ging einher mit einer wachsenden Ablehnung des Kommunismus, die sie an den Tag legte.

Rakowski war intelligent und sah sehr wohl, welche Katastrophen der Kommunismus allein in Polen anrichtete. Stets leicht distanziert, hielt er jedoch an ihm fest. Zu wichtig waren ihm Macht, Geltung, Ansehen. Seine geschiedene Frau schöpfte ihr Selbstbewusstsein aus ihren hart erarbeiteten musikalischen Erfolgen und sie zog Konsequenzen aus dem, was sie sah und erlebte, im Westen wie im kommunistischen Osten.

Zu berühmt, als dass ihr die Behörden ernsthaft etwas antun konnten.

Bald nach der Trennung gab sie ihren Parteiausweis zurück. Immer öfter unterschrieb sie Protestbriefe gegen Schikanen der Machthaber, setzte sich für Verfolgte ein. Ihr berühmter Name zierte die Mitgliederliste des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR). Sie wurde eine Dissidentin.

Sie war zu berühmt, als dass ihr die Behörden ernsthaft etwas antun konnten. Nur ab und an lieβen sie sie nicht zu Konzerten ins Ausland reisen. Diese Schikanen schmerzten die leidenschaftliche Musikerin mehr als sie zugeben wollte. Konzerte im letzten Augenblick absagen ist teuer und ihre Agenten überlegten sich schon, ob sie ein zweites Mal ein solches Risiko eingehen wollten. Aber das war ihr das Engagement für die Menschenrechte wert.

Kriegsrecht in Polen.

Sie flog am 12. Dezember 1981 von mehreren Konzerten in Paris nach Warschau zurück. Am nächsten Tag wurde überfallartig das von langer Hand geplante Kriegsrecht über Polen verhängt. Panzer fuhren auf, Massenverhaftungen begannen, Solidarność wurde verboten. Abends kam Rakowski in ihre Wohnung. Er war damals stellvertretender Ministerpräsident und damit einer der Verursacher, ein „Liberaler“ der ins Lager der Knüppelkommunisten gewechselt war.

Er meinte es gut: „Sei vernünftig. Diese Walze wird Dich irgendwann plattmachen, und ich werde Dir nicht helfen können.“ „Nur zugucken, wie andere plattgemacht werden passt mir nicht“, soll sie geantwortet haben. Es sollte für viele Jahre das letzte Gespräch zwischen den beiden gewesen sein.

Die Grenzen Polens waren damals, Ende 1981, Anfang 1982, hermetisch geschlossen. Wiłkomirska sollte Konzerte im Rheinland geben. Unerwartet bekam sie ihren Reisepass von der staatlichen Künstleragentur PAGART ausgehändigt, die im kommunistischen Polen der einzige Auslandsimpresario war. Es war im Warschau jener schrecklichen Tage eine kleine Sensation. Stand Rakowskis Anweisung dahinter? Vieles spricht dafür.

In Würde Abschied nehmen

In der Bundesrepublik angekommen, schickte Wiłkomirska ihren polnischen Pass an die polnische Botschaft zurück, beantragte und bekam deutsche Ausweispapiere. Sie brach nicht mit Polen, sie brach mit dem kommunistischen Polen.

Ihr Heimatland, vom Kommunismus befreit, sah sie erst 1990 wieder. Bis dahin unterrichtete sie seit 1983 an der Hochschule für Musik Heidelberg-Mannheim und zog sich, wohlüberlegt, nach und nach aus dem Konzertbetrieb zurück.

Wissen und Können an die junge Generation weitergeben.

Ihre Fans sollten sie in bester Erinnerung behalten, so wie sie in ihren Glanzzeiten gespielt hat. Das war ihr überaus wichtig. Sie verkaufte ihre prachtvolle Guarneri-Geige und begann ihr Wissen und Können an die junge Generation weiterzugeben. Ab 1999 lehrte sie am Konservatorium in Sydney, gab Meisterkurse in Polen, Japan, der Schweiz, Italien, Finnland, Österreich, war Jurymitglied bei Violinwettbewerben in Moskau, Tokio, London, München, Graz, Wien und natürlich beim Henryk-Wieniawski-Violinwettbewerb in Poznań, wo 1952 ihre groβe Karriere begonnen hatte.

Polen empfing sie 1990 mit offenen Armen. In der Heimat blühte sie wieder auf. Von so viel Begeisterung und Zuspruch überwältigt, kehrte Wiłkomirska für einige Jahre ins intensive Konzertleben zurück. Die Kritiker schrieben immer wieder, die Grande Dame der Violine spiele überraschend perfekt.

Ihr letztes Lebensjahr verbrachte Wanda Wiłkomirska in Skolimów bei Warschau, in einem gediegenen Seniorenheim für Künstler. Bis zuletzt geistig fit, nahm sie es ihren beiden Söhnen übel, dass sie sie dort untergebracht hatten. Bekannte und Schüler kamen oft vorbei. Nach einem schweren Schlaganfall kam sie ins Krankenhaus. Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun.

Überragende Begabung, unermüdlicher Fleiβ und Zivilcourage haben ihr Leben geprägt. Dafür wurde sie bewundert.

Wanda Wiłkomirska starb mit 89 Jahren und wurde am 15. Mai 2018 auf dem Warschauer Powązki-Friedhof feierlich bestattet.

© RdP




Das Wichtigste aus Polen 22. April – 12. Mai 2018

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Tragisches Grubenunglück und das Hoffen auf das Wunder von Jastrzębia Góra ♦ Karl-Marx-Feierlichkeiten in Deutschland lösen in Polen ungläubiges Staunen aus ♦ Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit blockiert weitergehenden Schutz  des ungeborenen Lebens, bricht damit eines ihrer Wahlversprechen und verprellt Hunderttausende treuester Wähler ♦ Gute Nachricht aus Brüssel: im EU-Haushaltsentwurf für 2021-2027 wird Polen weder bestraft noch diskriminiert.




Viel Tamtam & Adrenalin incl. die »Dame mit dem Hermelin«

Die Sammlung Czartoryski endlich in trockenen Tüchern.

Die kleine groβe Schwester der Mona Lisa aus dem Pariser Louvre heiβt Cecilia Gallerani. Von Leonardo da Vinci als die „Dame mit dem Hermelin“ verewigt, verweilt sie, mit etlichen Unterbrechungen, seit knapp einhundertvierzig Jahren in Kraków. Ende 2016 hat die polnische Regierung das Gemälde und einiges mehr für einen Schnäppchenpreis von Privatbesitzern kaufen können. Die Gegner rufen: „Skandal!“

Vertragsunterzeichnung. Von links: Czartoryskis libanesische Ehefrau Josette, Fürst Adam Czartoryski, Kulturminister Prof. Piotr Gliński.

Als am 29. Dezember 2016 Kulturminister Piotr Gliński und Graf Adam Czartoryski im Warschauer Königsschloss ihre Unterschriften unter den Kaufvertrag setzten, wurden der polnische Staat und die polnische Nation um umgerechnet einhundert Millionen Euro ärmer und gleichzeitig um eine geradezu gigantische, einmalige Kunstsammlung reicher. In dem knapp zweihundert Seiten langen Anhang zum Kaufvertrag sind nämlich nicht nur da Vincis Prachtgemälde und Rembrandts „Landschaft mit dem barmherzigen Samariter“ aufgelistet.

Rembrandt van Rijn, „Landschaft mit dem barmherzigen Samariter“.

Schätze über Schätze

Hinzu kommen etwa 86.000 andere Kunstgegenstände, so eine groβe Sammlung antiker Kunst, etwa sechshundert Gemälde, unter anderem von Pieter Breugel dem Älteren, Lucas Cranach dem Jüngeren sowie Werke etlicher holländischer und italienischer Meister.

Zudem circa 250.000 Bücher, Handschriften und Drucke. Darunter Zeichnungen, Skizzen und Kupferstiche von Rembrandt, Renoire und Albrecht Dürer. Handschriften von Nicolaus Kopernikus, Adam Mickiewicz, Ludwig van Beethoven, Byron. Briefe der ersten US-Präsidenten. Originalurkunden der polnisch-litauischen Union von Horodło (1413), der Preuβischen Huldigung des letzten Hochmeisters des Deutschen Ordens Albrecht von Hohenzollern vor dem polnischen König Zygmunt I. dem Alten auf dem Krakauer Hauptmarkt 1525. Handschriften der „Chroniken“ Polens von Jan Długosz (1415-1480), unzählige Gegenstände aus dem Besitz berühmter polnischer Schriftsteller, Künstler, Politiker, Militärs, und, und, und…

Das Czartoryski-Museum in Kraków vor der Renovierung, die seit 2011 andauert.

Ebenfalls im Preis enthalten: das Gebäude des Czartoryski-Museums mitten im historischen Stadtkern Krakaus und der Besitzanspruch auf das „Porträt eines jungen Mannes“ von Raffael. Ein Meisterwerk von unschätzbarem Wert, das die Deutschen am Ende der Besatzungszeit, im Januar 1945, aus Krakau entwendet haben. Seither ist es verschollen, zusammen mit weiteren knapp neunhundert Kunstgegenständen (darunter 156 antiken Goldgegenständen und knapp vierhundert mittelalterlichen Goldmünzen) aus dem Besitz der Czartoryskis.

Raffael, „Porträt eines jungen Mannes“.

Ist der Preis von einhundert Millionen Euro für all das zu hoch? Wohl kaum, wenn man bedenkt, dass allein die „Dame mit dem Hermelin“ bei ihren Reisen zu den Museen der Welt mit gut dreihundert Millionen Euro versichert wurde. Welchen Preis könnte das 54,7 × 40,3 cm große Bild, eines von nur fünfzehn erhaltenen Gemälde da Vincis, während einer Versteigerung bei Sotheby‘s in London erreichen? Fachleute sprechen vage von bis zu vierhundert Millionen Euro.

 

Erst hui dann pfui

Die Gegner der jetzigen Warschauer Regierung konnten dem günstigen Geschäft schwerlich etwas anlasten. Noch im Dezember 2015, die Regierung war gerade mal einen Monat im Amt, schrieb die „Gazeta Wyborcza“ („Wahlzeitung“), das Sturmgeschütz der “totalen” (wie sie sich selbst nennt) polnischen Opposition wie folgt:

„Es geht nicht nur ums Geld, sondern auch um die Obhut über unschätzbare Kunstwerke und darum, wer das Recht hat die wertvollsten Bestandteile dieser Sammlung auszuleihen: die „Dame mit dem Hermelin“ und die „Landschaft mit dem barmherzigen Samariter“. Wird der offene Brief der Krakauer Kulturschaffenden die Entscheidung des neuen Kulturministers beschleunigen? Der Brief wird auf jeden Fall die Aufmerksamkeit der neuen Regierenden auf ein Problem lenken, das einer dringenden Lösung bedarf“, so die „Gazeta Wyborcza“.

Dame mit dem Hermelin“, Briefmarke der Polnischen Post von 1956.

„Der Staat soll endlich die Czartoryski-Sammlungen kaufen“, das war seit mehr als zwei Jahrzehnten eine Forderung, die Polens führende Kunsthistoriker, Museumsfachleute, Archivare und Bibliothekare immer wieder lautstark vorbrachten. Genau ein Jahr nach dem zuvor zitierten „Gazeta Wyborcza“-Apell, im Dezember 2016, gelang es demselben Kulturminister die Forderung der Briefeschreiber geschickt und günstig zu verwirklichen. Gut ein Jahr danach, im März 2018, entfesselten dieselbe „Gazeta Wyborcza“ und andere linke Medien, einen Sturm der Entrüstung.

Ein Skandal der keiner war

Es wurde nämlich bekannt, dass die Czartoryski-Siftung die erhaltenen einhundert Millionen Euro aus Polen auf Konten ihrer vier Stiftungen in Lichtenstein überwiesen hatte. Dieses Geld hätte in Polen bleiben und der polnischen Kultur zugutekommen müssen, nun ist es verloren, so die Regierungsgegner und ihre Medien.

Nicht zu übersehen „Leonardo is here“. Banner an der Fassade des Nationalmuseums in Kraków.

Das sei ein Skandal, denn, so hieβ es plötzlich, es gab eigentlich keinen Grund die Sammlung zu kaufen. Schlieβlich hatte die Czartoryski-Familie 1991 ihre riesige Sammlung, nach der Übernahme durch den kommunistischen Staat im Jahre 1950, nur unter der Bedingung zurückbekommen, dass sie untrennbar und unverkäuflich bleibt. Das sahen auch die Stiftungsstatuten vor.

Auβerdem habe Fürst Adam Czartoryski, kurz vor dem „Deal“, zwei Mitglieder, die sich dem Verkauf widersetzten, aus dem Stiftungsvorstand abberufen und durch zwei Befürworter ersetzt. Dazu hatte Czartoryski allerdings auch das Recht. Der erneuerte Vorstand änderte die Satzung, um die laufenden Verkaufsverhandlungen mit dem polnischen Staat abschlieβen zu können. Das Verkaufsverbot wurde aufgehoben und die Möglichkeit die Stiftung aufzulösen aufgenommen.

„Dame mit dem Hermelin“-Darstellerin auf dem Hauptmarkt in Kraków.

Draufhin habe Kulturminister Gliński in einem offiziellen Schreiben, das zu den Akten genommen wurde, die Präsidentin des Registergerichts Kraków-Innenstadt „höflich“ gebeten, die von der Stiftung beantragten Statutenänderung als „äuβerst dringend“ zu behandeln. Es gehe um eine Angelegenheit von „auβerordentlicher Bedeutung für den polnischen Staat“.

Das Gericht gab der „höflichen“ Bitte statt und die Modifikationen, an denen formalrechtlich nichts auszusetzten war, wurden innerhalb von zwei Tagen akzeptiert. Normalerweise dauert dieser Vorgang bis zu sechs Wochen. Gut ein Jahr später hieβ es, Gliński habe das Gericht verbotenerweise beeinflusst, unter Druck gesetzt, gar „erpresst“.

Die groβe Eile war jedoch geboten. Der siebenundsiebzigjährige Fürst Czartoryski wollte endlich verkaufen. Böse Zungen behaupteten, sein aufwendiger Lebensstil, der ihn ständig zwischen dem Libanon, von wo seine Ehefrau Josette stammt, Madrid, Peru und Monaco pendelnd ließ, habe ihn in arge Finanzschwierigkeiten gebracht. Einnahmen aus dem Krakauer „Hotel Polski“, das ihm gehört, und dem Ausleihen von Kunstgegenständen aus seiner Sammlung, reichten dafür offensichtlich nicht aus. Der Fürst benötige Geld.

Der Preis war günstig, jedoch stand das nötige Geld im Staatshaushalt nur bis zum 31. Dezember 2016 zur Verfügung. Bis der neue Staatshaushalt 2017 unter Dach und Fach sei, würden Wochen vergehen. Bis dahin könnte es sich der als kapriziös geltende Aristokrat wieder anders überlegen oder gar seine Preisforderung erhöhen. Deswegen bewilligte der Sejm im Dezember 2016, auch mit vielen Stimmen der Opposition, die jetzt den Kauf in Bausch und Bogen verdammt, die umgerechnet Einhundert-Millionen-Euro-Ausgabe aus der Haushaltsreserve.

Die Klarstellung

Am 12. April 2018 antwortete Kulturminister Prof. Piotr Gliński auf all die Vorwürfe in einer Fragestunde vor dem Parlament:
„Seit römischen Zeiten gibt es eine zivilisierte Staatsordnung, zu der der Schutz des Privatbesitzes gehört. Darauf hat sogar der angeblich so schreckliche Staat, wie der „PiS-Staat“, wie die Herrschaften von der „totalen“ Opposition unseren polnischen Staat zu nennen pflegen, keinen Einfluss. Die Aufsicht über Stiftungen ist im polnischen Recht klar umschrieben. Als Minister hatte und habe ich in diesem konkreten Fall kein Recht dem Stifter oder dem Stiftungsvorstand etwas vorzuschreiben oder zu verbieten.“ (…)

„Wir sind auf jahrelang geäuβerte Forderungen polnischer Fachleute eingegangen“, so Gliński weiter, „und haben endlich einen Bereich in Ordnung gebracht, der leider ungeordnet war. (…) Die „Dame mit dem Hermelin“ wurde immer wieder auβer Landes gebracht. Der Stifter konnte jederzeit die Statuten ändern und hat es auch getan. Es gab keine Garantie, denn die Statuten einer privaten Stiftung geben dem polnischen Volk keine Garantie, dass der Sammlung nicht etwas zustöβt. Fachleute schätzen deren Wert auf umgerechnet etwa zweieinhalb Milliarden Euro. (…)

Wir haben richtig gehandelt. Wenn jemand meint, es sei etwas Unangemessenes dabei, dass die polnischen Regierung auf eine durch und durch transparente Art und Weise, für einen verhältnismäβig niedrigen Preis diese Schätze für alle Zeiten für die polnische Nation sichergestellt hat, dann bin ich mit meinen Argumenten am Ende“, sagte der Kulturminister.

Des Meisterwerks gefährliche Reisen

Während die „Mona Lisa“ den Louvre seit vielen Jahrzehnten nicht mehr verlassen darf, schickten die Czartoryskis die “Dame mit dem Hermelin“ nach 1991 immer wieder auf Reisen. Nach Washington (1991), nach Malmö und Stockholm (1993), Rom, Florenz und Mailand (1999), Kyoto, Nagoya und Yokohama (2001), nach Milwaukee, Huston und San Francisco (2001), Budapest (2009), nach Madrid, Berlin und London (2011).

Seitdem im Januar 2011 mit der Renovierung des Czartoryski-Museums begonnen wurde, hing das Bild mal in den Krakauer Tuchhallen, mal im Warschauer

Die „Dame mit dem Hermelin“ ging oft auf Reisen. Zu oft, meinten viele Fachleute.

Königsschloss, mal im Krakauer Nationalmuseum, wo man es heute bewundern kann.

Nur einmal, bei der Ausstellung in Schweden 1993, sickerte durch, dass die Czartoryski-

Stiftung für die Ausleihung 350.000 US-Dollar erhalten habe. Andere Summen sind nicht bekannt geworden, aber das Ausleihen des da Vinci-Gemäldes war für die Stiftung und den Stifter eine wichtige Einnahmequelle. Er behauptete, die Stiftung könne ohne das Geld die enormen laufenden Kosten ihrer Tätigkeit nicht bestreiten, auch wenn der polnische Staat mit Zuschüssen nicht gerade geizte.

Alle diese Reisen bargen enorme Risiken. Polnische Fachleute schlugen jedes Mal Alarm, bangten um das auf einer dünnen Nussbaumplatte gemalte Meisterwerk. Es gab deswegen viel Zwist mit den Czartoryskis, die Geld sehen wollten.

Verkaufen durften sie nicht. Nicht auszuräumen war jedoch die Gefahr, dass sie, wenn es hart auf hart käme, zum Beispiel, die „Dame mit dem Hermelin“ über Jahre gegen eine hohe Summe an einen Ölscheich ausleihen könnten. Umso mehr, als die Bindung der Familie Czartoryski an Polen sehr, sehr locker ist. Die Mitglieder leben verstreut über die ganze Welt.

Die Vorfahren des Grafen waren anders

Das war nicht immer so. Die Czartoryskis zählen zu den bedeutendsten und reichsten Hochadelsgeschlechtern Polens. Ihre Verdienste um das Land und seine Unabhängigkeit sind groβ. Nachdem Polen Ende des 18. Jahrhunderts endgültig dreigeteilt wurde, hatten Fürst Adam Kazimierz Czartoryski und seine Frau Izabela die Idee das zu tun, was in Spanien, Frankreich, England, Russland oder Preuβen die jeweiligen Herrscher taten: Sammlungen zu gründen, die die Geschichte und die Gröβe ihrer Staaten dokumentierten. Später wurden diese in Nationalmuseen und Nationalgalerien umgewandelt. Das, wie sich später herausstellen sollte, bis 1918 von der Europakarte getilgte Polen sollte ebenfalls solch eine Sammlung haben.

„Dame mit dem Hermelin“, Briefmarke der Polnischen Post von 1967.

Der Sohn der Begründer der Sammlung, Fürst Adam Jerzy, erwarb das Leonardo-Gemälde 1800 und schenkte es seiner Mutter Izabela für deren schnell wachsende Kunstsammlung in Puławy, einem klassizistischen Schloss mit Landschaftspark, südlich von Warschau an der Weichsel gelegen. Ostpolen war damals russisch und die Czartoryskis leiteten von Puławy aus 1830 den Novemberaufstand gegen die verhassten Besatzer.

Nach der blutigen Niederschlagung flohen die Fürsten 1831 mit ihrer Sammlung nach Paris. 1876 brachte Prinz Władysław den Leonardo und die anderen Werke zurück nach Polen, nach Krakau im österreichischen Teilungsgebiet, wo er bald darauf eines der ersten Privatmuseen der Welt eröffnete.

Begegnungen der „Dame“ mit Deutschland

Mehrere Male verweilte die „Dame mit dem Hermelin“ in Deutschland. Nicht immer freiwillig. Während des Ersten Weltkrieges wurde das Bild aus dem immer noch österreichischen Krakau nach Dresden evakuiert und in der dortigen Gemäldegalerie gezeigt. Ihrer Leitung fiel es, wie es heiβt, sehr schwer sich von der „Dame“ zu trennen. Erst 1920 gelang es, alle Hindernisse, die man in Dresden der Rückführung in den Weg legte, zu beseitigen. Das Gemälde kam wieder nach Kraków in das inzwischen unabhängige Polen.

Neunzehn Jahre später ging es wieder nach Deutschland. Nach dem Überfall auf Polen 1939 plünderten die Deutschen die Kunstschätze des Landes. Besonders hemmungslos war Hans Frank, der von Krakau aus das sogenannte „Generalgouvernement“ leitete und den Besatzungsterror beaufsichtigte.

Generalgouverneur, Kunstliebhaber und Kunsträuber Hans Frank (rechts i. B.) in Berlin am Sarkophag des polnischen Königs Kazimierz Jagiellończyk aus der Wawel-Kathedrale in Kraków .

Frank inszenierte sich wie ein Renaissancefürst. Seinen Amtssitz auf dem Wawel, dem Krönungsort und der Grablage polnischer Könige, stattete er pompös mit geraubten Kunstwerken und Antiquitäten aus. Auch die drei wertvollsten Bilder aus dem Czartoryski-Museum reklamierte der Generalgouverneur für sich: da Vincis „Dame mit dem Hermelin“, das „Porträt eines jungen Mannes“ von Raffael und Rembrandts „Landschaft mit dem barmherzigen Samariter“.

Genau diese drei Werke hatten aber auch die Begehrlichkeit des maßlosen Sammlers und Kunsträubers Hermann Göring geweckt. So kamen sie schon im Herbst 1939 nach Berlin und wurden im Kaiser-Friedrich-Museum (dem heutigen Bode Museum, wo die „Dame“ 2011 erneut zu sehen war) untergebracht.

Als Hans Posse, Direktor der Dresdner Sempergalerie und Hitlers Kommissar für das geplante Führermuseum in Linz, im Dezember 1939 nach Polen reiste hielt er nur die drei Czartoryski-Bilder für wert in das monströse Supermuseum aufgenommen zu werden. Warum Hitler sie nicht für sich forderte ist unbekannt. So stritten sich Frank und Göring um Leonardo, Raffael und Rembrandt.

Der österreichische Kunsthistoriker und SS-Brigadeführer Kai Mühlmann, ein im ganzen besetzten Europa marodierender Nazi-Kunsträuber im staatlichen Auftrag, musste zweimal mit den empfindlichen Werken zwischen Krakau und Berlin hin und her fahren. Am Ende setzte sich Frank durch und hängte Cecilia Gallerani in sein Musikzimmer auf dem Wawel, wo der selbsternannte Feingeist schwelgerisch Chopin spielte.

Am 17. Januar 1945 floh Hans Frank in einer Wagenkolonne nach Oberbayern, im Gepäck die drei Hauptwerke aus dem Czartoryski-Museum. Als ihn die Amerikaner am 4. Mai im „Haus Bergfrieden“ am Schliersee fassten, hingen dort die „Dame mit dem Hermelin“ und der Rembrandt an der Wand.

Insgesamt siebenmal fuhr der polnische Kunsthistoriker Prof. Karol Estreicher zwischen 1945 und 1948 kreuz und quer durch das besetzte Deutschland. In polnischer Uniform, ausgestattet mit Vollmachten der Warschauer Regierung, fahndete er an der Spitze eines Suchtrupps nach geraubten polnischen Kunstschätzen. In Nürnberg und auf Schloss Wiesenthau fand er den geraubten, von Feuchtigkeit und Holzwürmern befallenen Veit-Stoβ-Altar. Bald darauf entdeckte er die Gobelins und die Porzellan-Sammlung aus dem Krakauer Wawel-Schloss, Canalettos Veduten (wirklichkeitsgereue Darstellungen) des Warschauer Stadtbildes im 18. Jahrhundert und weitere gut 35.000 von den Nazis geraubte polnische Kunstgegenstände.

Historischer Augenblick. Am 30. April 1946 präsentiert Karol Estreicher die zurückgebrachte „Dame mit dem Hermelin“.

Der erste Zug mit siebenundzwanzig Güterwaggons traf am 30. April 1946 in Kraków ein. Von amerikanischen Soldaten bewacht, brachte er auch die „Dame mit dem Hermelin“ nach Polen zurück. Stolz zeigte sie Estreicher auf dem Bahnsteig den Pressefotografen.

Ein halbes Jahr später, am 1. Oktober 1946, wurde Hans Frank in Nürnberg gehängt. Das Jünglingsporträt Raffaels, das der „Frau mit dem Hermelin“ Leonardo da Vincis an Ausstrahlung in Nichts nachsteht, bleibt bis heute verschollen. Hat es Franks Ehefrau womöglich bei einem bayerischen Bauern gegen Lebensmittel eingetauscht und es harrt unerkannt auf irgendeinem Hof seiner Entdeckung?

Die Sammlung wird derweil neu katalogisiert und sortiert. Es gilt vor allem die vollgestopften Magazine zu durchforsten und so manche verstaubten Schätze ans Tageslicht zu fördern. Fachleute des Krakauer Nationalmuseums versprechen, dass, wenn spätestens 2020 das renovierte Czartoryski-Museum seine Pforten öffnet, die Öffentlichkeit lange nicht aus dem Staunen herauskommen wird.

© RdP




Das Wichtigste aus Polen 25. März – 21. April 2018

Kommentatorin Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die  wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Polen bereitet sich auf die Kommunalwahlen im Herbst 2018 vor. Erster Urnengang an der Weichsel seit Oktober 2015.  Test für Regierung und Opposition. ♦ Pläne, Vorschläge, Drohungen. Die Wahlofferten der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit und der oppositionellen Bürgerplattform. ♦ Konflikt der EU mit Polen. Waffenstillstand zeichnet sich ab. ♦ Der Holocaust-Konflikt mit Israel. Stand der Dinge. ♦ Untersuchungen der Smoleńsk-Flugzeugkatastrophe vom 10. April 2010. Vieles spricht für eine Explosion.




Chopins Flügel beflügelt

Der grossartige Nachbau eines historischen Musikinstruments weckt schöne wie schaurige Erinnerungen.

Es war ein berührendes und symbolträchtiges Konzert. Knapp zweitausend Zuhörer lauschten Mitte März 2018 in der Warschauer Oper Fryderyk Chopins Klavierwerken, gespielt auf einem historischen Instrument. Der Buchholtz-Flügel, den russische Soldaten vor 155 Jahren zerschmetterten, war Chopins Jugendliebe. Ein exzellenter Nachbau vermittelte nun den ursprünglichen Klang der Musik des großen Komponisten.

Chopins Jugendliebe. Der nachgebaute Buchholtz-Flügel.

Mit den heutigen Yamaha- und Steinway-Flügeln kann er nicht mithalten. In einer Zeit der Hochleistungsakustik klingt das Instrument verwöhnten Chopin-Liebhabern zu leise, etwas flach, manchmal kurzatmig. Die heutigen Flügel haben einen deutlich stärkeren Klang und erzeugen auch nicht sofort einen Ton, sobald der Pianist beim Spielen unbeabsichtigt eine Nebentaste berührt.

Historische Flügel sind wesentlich fragiler in der Konstruktion und überaus empfindlich. Als auf ihnen musiziert wurde gab es keine Mikrophone, keine Verstärker, keine für den Hörgenuss elektronisch feintarierten Konzertsäle. Gespielt wurde meistens in groβbürgerlichen Salons oder in Ballsälen aristokratischer Residenzen.

Warschau, 17. März 2018. Am nachgebauten Buchholtz-Flügel Krzysztof Ksiażek, es dirigiert Václav Luks.

Alle Rezensenten bescheinigten dem jungen Solisten am rekonstruierten Flügel, dem polnischen Pianisten Krzysztof Książek (fonetisch Ksionschek), einem erfolgreichen Teilnehmer des Warschauer Chopin-Wettbewerbs von 2015, er habe die Herausforderung sehr gut gemeistert. Das tschechische Orchester Collegium 1704 unter Václav Luks, spezialisiert auf alte Musik in historischer Aufführungspraxis, war ihm hierbei ein geradezu kongenialer Begleiter.

„Das Ideal, es hat das Straβenpflaster erreicht“

Bei diesem Konzert handelte es sich jedoch um viel mehr, als nur um ein herausragendes künstlerisches Ereignis. Eine tiefe Demütigung, eine historische Wunde, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde, kann nun endlich vernarben. Chopins zerschmetterter Flügel ist nicht wegzudenken aus dem polnischen nationalen Langzeitgedächtnis.

Schönheit und hehre Werte, die Chopins Musik verkörpert, wurden vor 155 Jahren von einer brutalen und primitiven Horde fremder Besatzer vernichtet. Polens groβer romantischer Dichter Cyprian Kamil Norwid hat den zerstörten Flügel Chopins 1865 zum Symbol des tragischen Schicksals des Landes hochstilisiert, in einem Gedicht, das jeder polnische Schüler gelesen haben muss.

Dichter Cyprian Kamil Norwid (1821 – 1883).

Der Flügel Chopins

(…) Das Bauwerk faβt Feuer, erlischt,
Und erneut flammt es auf, und hier, an der Wand,
Auf Stirnen lese ich Leid – Witwen von Gewehrkolben gebannt.
Fast rauchblind sehe ich, in einem Bogen der Kolonnade,
Ein Stück, wie eine Totenlade,
Heruntergeschoben, und stürzte, stürzte Dein Flügel!

Er kündete von Polen, ein Stück entnommen der Geschichtsvollendung,
Die eben hier fand einen Hymnus verzückt im Zenit,
Polen der gewandelten Radmacher Land.
Er stürzte, auf Pflaster, Granit!

(…) Gerichtsgesang mag erdröhnen,
Laβ rufen uns: „freue Dich Nachfahr ferner Zeit!…
Dumpfes Gestein war im Stöhnen,
Das Ideal, es hat das Straβenpflaster erreicht…“  (Aus dem Polnischen von Peter Gehrisch)

Russen spielen Nero

Diese Szenen spielten sich in Warschau am Sonnabend, dem 19. September 1863 ab. Die Hauptstadt des seit 1795 endgültig von Preuβen, Österreich und Russland aufgeteilten Polens gehörte zum russischen Teilungsgebiet und das sollte bis 1915, als kaiserliche deutsche Truppen in Warschau einmarschierten, so bleiben.

Seit Januar 1863 war dort eine groβe nationale Freiheitserhebung, der Januaraufstand, gegen die Russen im Gange. Es war ein blutiger, verzweifelter, immer wieder aufflammender Partisanenkampf, den die Russen mit Massenenteignungen, öffentlichen Hinrichtungen am Galgen und Deportationen nach Sibirien zu bändigen versuchten.

Tief im Untergrund funktionierte in Warschau eine polnische Nationalregierung, die über ein weitverzweigtes konspiratives Verwaltungsnetz den zivilen Widerstand organisierte und Steuern für den Befreiungskampf eintrieb.

Untergrundgerichte verurteilten polnische Kollaborateure, besonders diensteifrige russische Militärs und Besatzungsbeamte zum Tode. Kleine Trupps der konspirativen Nationalgendarmerie vollstreckten die Urteile auf offener Straβe oder in Wohnungen. Warschau war für die Russen damals ein sehr heiβes Pflaster.

Der russische General Fiodor Berg (eigentlich Friedrich Wilhelm Rembert von Berg) war ein baltendeutscher Adeliger und (1863 – 1874) russischer Statthalter in Warschau.

Ende August 1863 fiel die Entscheidung den gerade neuernannten russischen Statthalter Fiodor Berg zu beseitigen. Der General fuhr jeden Abend zwischen achtzehn und zwanzig Uhr von seinem Dienstsitz in der Kaserne am Łazienki-Park in einer offenen Kutsche, umgeben von Kosaken-Reitern, schnurgerade durch die Innenstadt zu seiner Residenz im Warschauer Schloβ. Die Straβen, die er nahm waren fast menschenleer, denn wer sich vor dem vorbeifahrenden Statthalter nicht verbeugte, riskierte verhaftet zu werden. Die ansonsten brodelnde Stadt boykottierte auf diese Weise ihren Unterdrücker.

Fünf Untergrundkämpfer der Nationalgendarmerie mieteten sich in einer kleinen Wohnung in der vierten Etage eines gutbürgerlichen Wohnhauses ein, das dem polnischen Adeligen Andrzej Zamoyski gehörte, den die Russen ins Exil verjagt hatten. Die Fahrstrecke Bergs durch das Stadtzentrum verengte sich an dieser Stelle zu einer schmalen Straβenschlucht.

Als die Kutsche unter ihrem Fenster vorbeifuhr, schoss einer der Attentäter mit der Schrotflinte auf Berg, verletzte ihn jedoch nur leicht. Die Phosphorflaschen, die die Kutsche in Brand setzten sollten verfehlten das Ziel, ebenso die im Anschluss geworfenen Bomben. Panik brach aus, Rauchschwaden verhüllten das Geschehen. Die Kämpfer flohen, wie geplant, durch benachbarte Hinterhöfe und Gärten.

Warschau, 19. September 1863. Das Attentat auf Statthalter Berg aus dem Haus rechts im Bild. Zeitgenössische Darstellung.

Mit kreidebleichem Gesicht ordnete Berg noch am Ort des Geschehens Vergeltung an. Das von gut 650 Menschen bewohnte Haus, von dem aus der Anschlag verübt worden war, wurde umstellt. Die zweihundert Einwohner, die sich zur Tatzeit in ihm befanden, wurden in den Innenhof gejagt und im Tross in die Warschauer Zitadelle abgeführt, eine von den Russen am Rande des Zentrums erbaute Zwingburg, die ihnen als Kaserne, Gefängnis und Hinrichtungsstätte diente. Einige Dutzend Bewohner fanden sich schon bald in der sibirischen Verbannung wieder, so auch der Sohn des Hausbesitzers, Stanisław Zamoyski.

Berg befahl General Pawel Korff das Gebäude im dichtbebauten Stadtzentrum mit dem Artilleriefeuer der aufgefahrenen Kanonen zu vernichten, was dieser ihm jedoch ausreden konnte. Stattdessen wurde das Gebäude der Zerstörungswut eines entfesselten russischen Soldatenmobs preisgegeben.

Russische Soldaten verwüsten das Zamoyski-Haus in Warschau. Zeitgenössische Darstellung.

„Wie Atillas Horden, die die alte römische Kultur in Schutt und Asche legten, stürzten sie in das riesige Haus, um alles was ihnen unter die Hand kam mit Äxten und Brechstangen kurz und klein zu schlagen und auf die Straβe zu werfen. An mehreren Stellen brannte es“, schrieb später ein Augenzeuge.

In der Wohnung des Fernostforschers Józef Kowalewski wurde sein Lebenswerk, die Handschriften eines vierzigbändigen Wörterbuchs der mongolischen Sprache, vernichtet. Ebenso erging es seiner riesigen Sammlung seltener chinesischer und tibetanischer Handschriften.

Auch bei Izabela Barcińska, der Schwester von Fryderyk Chopin, blieben nach der Vergeltungsnacht nur kahle Wände übrig. Das wertvolle Kaffeeservice, ein Geschenk des französischen Königs Louis-Philippe I. für Chopin, überdauerte die Vernichtungsorgie genauso wenig, wie eine Sammlung von Chopins Briefen, Autogrammen, Manuskripten, Andenken. Auch Chopins Flügel landete auf dem Straβenpflaster.

„Die zertrümmerten Gegenstände bildeten unten auf der Straβe einen drei, vier Meter hohen Wall. Mitten in der Nacht holten die Russen die Feuerwehr herbei, lieβen das zerschmetterte Mobiliar zu drei riesigen Haufen auftürmen und anzünden. Wie Neros der Neuzeit thronten russische Offiziere in sicherer Entfernung auf geraubten Sesseln und genossen den Anblick“, so ein anderer Augenzeuge.

Am 5. August 1864 fand der tragische Aufstand ein symbolisches Ende. In einer öffentlichen Hinrichtung wurden Romuald Traugutt und vier weitere Mitglieder der letzten konspirativen polnischen Nationalregierung am Abhang der Warschauer Zitadelle von den Russen gehängt.

Warschau, 5. August 2014. Feierlichkeiten zum 150. Jahrestag der Hinrichtung der Mitglieder der letzten konspirativen polnischen Nationalregierung durch die Russen . In der Mitte Romuald Traugutt.

Der Klavierbauer und der Komponist

Fryderyk Chopin lebte damals bereits seit fünfzehn Jahren nicht mehr, Fryderyk Buchholtz seit siebenundzwanzig Jahren. Der aus dem ostpreuβischen Hohenstein (Olsztynek) stammende Buchholtz, ein begabter Pianist, Klavierbauer und Orgelbaumeister, später auch Zunftmeister der Warschauer Obergilde, hatte 1815 sein Unternehmen in Warschau gegründet. Schon bald genoss seine Werkstatt den Ruf die beste ihrer Art in ganz Russisch-Polen zu sein.

Giraffenklavier von Buchholtz.

Buchholtz baute anfangs Giraffenklaviere und erlangte hierfür schnell Anerkennung. Nach 1825 beschränkte er sich auf Flügel mit Wiener und englischer Mechanik. Ab 1826 baute er Instrumente in englischer Manier. Als Erster Klavierbauer seiner Gilde verwendete er ab 1827 Metallrahmenhalterungen und verzichtete auf den bis dahin obligatorischen Klavierkastenboden. In den 1830er Jahren baute er auf Bestellung, zusammen mit seinem Sohn Julian, ein Klavier mit einem Schalldämpfer-Zug, das in ein unteres und ein oberes Register getrennt war. Seine Instrumente zählten bei Pianisten zu den besten in Europa.

Chopin war ein ständiger Gast in seiner Fabrikationswerkstatt, freundete sich mit dem Klavierbauer an. Ein Buchholtz-Flügel stand bereits auf der Bühne, als der Komponist 1823 mit 13 Jahren sein Warschauer Premierenkonzert gab. Im Jahre 1825 kauften Chopins Eltern für ihren Sohn einen eigenen Flügel bei Buchholtz. Er stand im Salon der geräumigen Wohnung an der Hauptstraβe Krakowskie Przedmieście (Krakauer Vorstadt) und diente dem jungen Komponisten in der Zeit seiner ersten groβen Erfolge. In seinem Arbeitszimmer befand sich ein platzsparendes Giraffenklavier, ebenfalls ein Instrument von Buchholtz.

Am 17. März 1830 gab der zwanzigjährige Chopin in Warschau sein erstes groβes öffentliches Konzert vor knapp eintausend Zuhörern, in dem er sein gerade komponiertes Klavierkonzert in f-moll (zu hören am Ende dieses Beitrags) einem begeisterten Publikum auf einem Buchholtz-Flügel vorstellte. Auf den Tag genau 188 Jahre später, am 18. März 2018, spielte der junge Krzysztof Książek dasselbe Klavierkonzert auf dem nachgebauten Instrument in der Warschauer Oper.

Fragmente dieses Konzertes können Sie am Ende dieses Beitrags zum Hören abrufen.

Chopin verlieβ Warschau am 2. November 1830 für immer. Gut drei Wochen später brach in der Hauptstadt eine weitere groβe antirussische Erhebung aus, der Novemberaufstand, der fast ein Jahr lang dauern sollte. Für Chopin der sich weigerte ein Untertan des Zaren zu sein, der seinen russischen Pass verfallen lieβ und letztendlich die französische Staatsbürgerschaft annahm, war der Weg in die Heimat für immer versperrt.

Der renommierte amerikanische Klavierbauer Paul McNulty lebt in Tschechien.

Das Instrument, das Chopins Schwester in Warschau bis zu seiner Zerstörung wie eine nationale Reliquie pflegte, baute der wohl berühmteste lebende Rekonstrukteur alter Tasteninstrumente, der Amerikaner Paul McNutty in zehnjähriger Arbeit nach. McNutty lebt und arbeitet seit 1995 in Tschechien, wo es in den südböhmischen Wäldern das beste Resonanzboden-Holz der Welt geben soll. Der Preis für sein Werk ist nicht bekannt, man spricht von einem Betrag von bis zu hunderttausend Euro. Bezahlt hat ihn der polnische Mineralölkonzern Orlen.

Polnische Chopin-Klaviere. Drei zum Gucken…

Das älteste Instrument steht im Geburtshaus des Komponisten in Żelazowa (fonetisch Schelasowa) Wola bei Warschau. Es handelt sich dabei um ein Giraffenklavier.

Chopins Gönner und Freund Camille Pleyel (1788 – 1855).

Von unschätzbarem ideellen Wert ist der Pleyel-Flügel, den Chopin in seinen letzten zwei Lebensjahren in Paris benutzte, zu sehen im Warschauer Chopin-Museum, gleichzeitig Sitz der Chopin-Gesellschaft in der Okólnikstrasse. Spielen kann man ihn nicht mehr.
Chopin und der Firmeninhaber Camille Pleyel pflegten eine enge Freundschaft. Pleyel stellte dem von ihm grenzenlos bewunderten Komponisten immer schönere und perfektere Klaviere zum Probespielen zur Verfügung. Er bezahlte auch den Transport wenn Chopin auf Tournee ging.

Chopins letzter Flügel, Pleyel Nr. 14810 im Warschauer Chopin-Museum.

Chopin wiederum empfahl Pleyels Instrumente seinen Schülern und Freunden. Einmal sagte er öffentlich, dass er, wenn er nicht gut aufgelegt sei zum Komponieren, sich an ein Klavier von Erard, dem gröβten Konkurrenten Pleyels setze. In dem Instrument von Erard nämlich fände man leichter den fertigen Klang.

Spüre er jedoch einen Drang zum Komponieren, dann braucht er einen Pleyel-Flügel, denn nur auf ihm trifft er den eigenen, unverwechselbaren Klang seiner Musik. Eine bessere Werbung für Pleyel konnte es nicht geben.

Ein drittes Exemplar, nur zum Bestaunen, befindet sich im Museum der Jagiellonen Universität in Kraków. Es ist auch ein Pleyel von 1847, den Chopin bei seinen Konzerten in Schottland benutzte.

… zwei zum Spielen.

Abgesehen von dem neusten Buchholtz-Nachbau gibt es in Polen zwei Pleyel-Flügel, die Chopin zwar nie berührt hat, die jedoch genau aus seiner Zeit stammen, und für Konzerte und Aufnahmen genutzt werden.

Den einen, Jahrgang 1848, erwarb 2005 das Warschauer Nationale Chopin-Institut in England. Gewinner der Warschauer Chopin-Klavierwettbewerbe nehmen auf diesem Instrument nach und nach alle Chopin-Werke auf. Entstehen soll daraus die „Schwarze Gesamtausgabe“, abgeleitet vom eleganten Schwarz der CD-Hüllen. Bleibt nur zu hoffen, dass der betagte Klangkörper das aushält.

Ein zweiter Pleyel, Jahrgang 1860, wurde vor einigen Jahren in den Magazinen des Kreismuseums in Krosno, in Südostpolen gefunden. Trotz intensiver Nachforschungen gelang es bis dato nicht herauszufinden wie er dorthin gelangte. Schwer lädiert, wurde das Instrument mit hohem Kostenaufwand umsichtig originalgetreu wiederhergestellt. Heute wird das Instrument gerne von führenden polnischen und internationalen Pianisten genutzt. © RdP

Lesenswert auch: „Chopins Herzuntersuchung. 165 Jahre nach dem Tod des Komponisten“.

Wie klingt der Buchholtz-Nachbau

Krzysztof Książek spielte auf dem nachgebauten Chopin-Buchholtz-Klavier während des Konzertes in der Warschauer Oper am 17. März 2018 u. a.:

  1. Karol Kurpiński (1785 – 1857) Fuge und Koda in B-dur zum Thema „Noch ist Polen nicht verloren“ (polnische Nationalhymne).

2. Fryderyk Chopin (1810 -1848), Klavierkonzert in f-Moll op. 21. Maestoso.

3. Fryderyk Chopin (1810 -1848), Klavierkonzert in f-Moll. Larghetto.

4. Fryderyk Chopin (1810 -1848), Klavierkonzert in f-Moll. Allegro vivace.




Woran krankt der polnische Sport

Am neuen Besen soll er genesen.

Witold Bańka (Jahrgang 1984) ist polnischer Sportminister und ehemaliger Sprinter. Das interessante Interview mit ihm, das wir hier in deutscher Übersetzung wiedergeben, erschien am 26.01.2018 im Internetportal „w.polityce.pl („inder.politik.pl“).

Witold Bańka hatte sich als Athlet auf den 400-Meter-Lauf spezialisiert. Mehrmals wurde er bei internationalen Meisterschaften in der 4-mal-400-Meter-Staffel eingesetzt. Bei den U23-Leichtathletik-Europameisterschaften 2005 in Erfurt und bei der Universiade 2007 in Bangkok gewann er mit dem polnischen Team Gold. Bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2007 in Osaka gehörte er im Vorlauf zur polnischen Staffel, die schließlich die Bronzemedaille errang. 2009 folgte Silber mit der polnischen Mannschaft bei der Universiade in Belgrad.

Witold Bańka.

Seine persönliche Bestzeit im 400-Meter-Lauf von 46,11 Sekunden stellte er am 23. August 2007 in Osaka auf. 2012 beendete er seine sportliche Laufbahn.

Im November 2015 wurde der parteilose Bańka im Kabinett von Ministerpräsidentin Beata Szydło zum Minister für Sport und Tourismus ernannt. Auch nach der Kabinettsumbildung im Januar 2018 behielt er unter Ministerpräsident Mateusz Morawiecki seinen Posten. Seit April 2016 ist er Mitglied der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit.

Wie wichtig ist der Sport für die jetzige polnische Regierung?

Der Haushalt meines Ministeriums für 2018 beträgt nicht ganz 1,3 Milliarden Zloty (knapp 300 Mio. Euro – Anm. RdP). Das sind um die 141 Millionen Zloty (ca. 33 Mio. Euro – Anm. RdP) mehr als 2017.

Die Ausgaben für den Kinder- und Jugendsport sind inzwischen, im Vergleich zu 2015, dem letzten Regierungsjahr unserer Vorgänger, um 93 Prozent gewachsen. Im Jahr 2015 bekamen 3.200 Sportlehrer und Jugendtrainer eine regelmäβige, staatlich finanzierte Unterstützung. Im Jahr 2018 sind es mehr als zwanzigtausend.

Unsere Vorgänger haben zwischen 2008 und 2012 ein landesweites, sogenanntes Orlik-Programm zum Bau von kleinen, gut ausgestatteten Sportplätzen in jeder Gemeinde aufgelegt. Auch wenn in einem Drittel der polnischen Gemeinden kein solcher Sportplatz entstanden ist, war das mit 2.600 fertiggestellten Sportplätzen ein gelungenes Vorhaben.

Diese Sportplätze müssen jedoch instand gehalten werden und es soll dort ein Angebot zur Betreuung und Anleitung in einzelnen Sportarten geben. Deswegen leiten wir für die Förderung kleiner Sportklubs, in denen meistens Kinder und Jugendliche trainieren, viel Geld an die Gemeinden weiter. Dieses Geld soll auch spontanen Sportaktivitäten zugutekommen, etwa Fuβballnachmittagen, zu denen jeder kommen kann der mag, um unter Aufsicht, zum Bespiel des Sportlehrers, spielen zu können.

Ich denke, das alles beantwortet ihre Frage. Der Sport ist uns sehr wichtig.

Eine typische Orlik-Sportanlage, hier in Bydgoszcz. Fuβballplatz (vorne) 30 m x 62 m mit künstlichem Rasen. Dahinter ein Mehrzweck-Sportplatz 20 m x 30 m mit Tartan-Bodenbelag für Handball, Basketball, Volleyball. Dazu gehört eine Umkleide mit Sanitäranalgen von ca. 60 qm. Kosten umgerechnet ca. 250.000 Euro.

Im Sommer 2017 hat die nationalkonservative Parlamentsmehrheit, auf Ihr Betreiben hin, das polnische Sportgesetz aus dem Jahr 2010 erheblich verändert. Was sollte diese Novellierung bewirken?

Man kann noch fünfmal mehr für die staatliche Sportförderung ausgeben, aber es wird nichts bringen, wenn das Geld irgendwo in dunklen Kanälen versickert. Wir wollten und mussten der Vetternwirtschaft und Korruption im polnischen Sport einen Riegel vorschieben. Mit dem Sportgesetz in seiner ursprünglichen Fassung aus dem Jahr 2010 war das nicht möglich.

Was konkret galt und gilt es zu bekämpfen?

In den meisten Sportverbänden war es zum Beispiel gang und gäbe, dass Sportartikel und Dienstleistungen bei Firmen eingekauft wurden, die der Ehefrau des Verbandsvorsitzenden oder eines wichtigen Präsidiumsmitglieds gehörten. Oder dem Ehemann der Schwester, dem Bruder des Schwagers usw. Die Novellierung des Sportgesetztes hat solche Machenschaften unterbunden, durch sehr klare Vorgaben für Ausschreibungen.

Das und vieles mehr an Missständen war jahrzehntelang ein offenes Geheimnis. Warum hat man früher nichts dagegen unternommen?

Das war der Preis, den auch der polnische Sport für den gleitenden Übergang vom Kommunismus zur Demokratie bezahlen musste. In vielen Lebensbereichen wurden dadurch all die kommunistischen Missstände in die neue Wirklichkeit hinübergerettet. Kommunistische Funktionäre jeglicher Prägung, informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit, andere Nutznieβer und Mitläufer des alten Systems sowie ihre Familien machten unter neuen Vorzeichen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens weiter: im Staatsapparat, im Justizwesen, in der Armee usw. Das ist das, was man Postkommunismus nennt.

Der Sport unterstand zur kommunistischen Zeit einer aufmerksamen Kontrolle des Partei- und Sicherheitsapparates, der beide Hände über diesen Sumpf hielt. Die eine schützend, die andere wurde aufgehalten. Die Sportverbände waren geradezu okkupiert von pensionierten Kadern der Partei und der Staatssicherheit. Dort gab es ja auch viel zu holen: Auslandsreisen in den Westen, Devisen, satte Gehälter, die durch Korruption noch zusätzlich aufgebessert werden konnten. Diese Verfilzung von Sportfunktionären mit der Machtelite setzte sich bis in die jüngste Zeit fort.

Der Vorwurf kommt auf, die Regierung will die Verbandsautonomie beseitigen.

Solche scharfen Ausschreibungsregeln, wie jetzt die unsrigen, gibt es in den meisten westeuropäischen Ländern. Dort haben wir sie abgeguckt. Wir mischen uns nicht ein in innere Verbandsangelegenheiten: Satzungen, Präsidiumswahlen, Trainingsprogramme usw. Das dürfen wir nicht, denn die Sportverbände wirken im Grenzbereich zwischen der polnischen Gesetzgebung und den Bestimmungen der internationalen Sportverbände, denen sie angehören. Wir dürfen und müssen jedoch eine wirksame Kontrolle und eine ungetrübte Klarheit beim Ausgeben staatlicher Fördergelder durch die Sportverbände gewährleisten.

Sie haben kurz nach ihrem Amtsantritt im Herbst 2015 eine Untersuchung in Auftrag gegeben mit dem Titel „Tätigkeitserforschung der polnischen Sportverbände in olympischen Disziplinen“. Die Ergebnisse waren bedrückend.

Leider funktionieren die meisten Sportverbände bei uns nicht gut. Schlechtes Management, Trägheit, fehlende Transparenz, mangelnde Professionalität. Wenn Sie auf die Internetseiten der Sportverbände schauen, dann finden sie dort meistens kein Wort über die Zukunft, nichts über die Aufnahme von talentierten Kindern und Jugendlichen. Ebenfalls kein Wort über die langfristige Entwicklungsstrategie der jeweiligen Sportart.

Man lebt dort von einem Jahr zum anderen, bastelt Pläne zusammen für die nächsten zwölf Monate. Werden daraus Medaillen, Landes-, Europa-, Weltmeistertitel? Egal. Das Sportministerium hat schon immer gezahlt und wird weiterhin zahlen. Eben nicht. Diese Zeiten sind vorbei.

Manche Disziplinen wird das hart treffen, aber im Leistungssport müssen Erfolge vorgewiesen werden. Gibt es sie nicht, gibt es auch keinen Plan wie man sie erreicht, dann wird in solche Disziplinen nicht mehr investiert. Das ist Verschwendung unser aller Steuergelder. Dann ist es sinnvoller dieses Geld in den Breitensport von Kindern und Jugendlichen zu stecken.

Schlechtes Management, mangelnde Professionalität ergeben sich oft aus Unwissenheit.

Deswegen haben wir Ende 2017 einen „Kodex des guten Managements für die polnischen Sportverbände“ erstellt.
Das ist kein Gesetz, keine Verordnung, an die sich die Verbände halten müssen. Es ist eine Art Lehrbuch, ein aus einhundertachtzig Empfehlungen bestehender Katalog guter Tipps, wie man einen Sportverband zeitgemäβ, effektiv und solide leitet. Die Schlagworte sind unter anderem: „Organisation und die Befugnisse der Verbandsorgane“, „Strategisches Management“, „Finanzmanagement“, „Aufsicht und innere Kontrolle“, „Ehrlichkeit und Redlichkeit im Sport“, „Disziplinarverfahren“, „Trainer und Athleten im Verbandsgeschehen“ usw.

Wer sich daran hält, hat keine oder zumindest wesentlich weniger Probleme, so zum Beispiel der Polnische Fuβballverband und der Polnische Ski-Verband. In beiden Sportarten verzeichnet Polen in den letzten Jahren beachtliche internationale Erfolge.

Sportminister Witold Bańka stellt am 15.12.2017 den „Kodex des guten Managements für die polnischen Sportverbände“ vor.

Im Polnischen Tennisverband, aber auch im Polnischen Bogensport-Verband, im Polnischen Curling-Verband und im Polnischen Radsportverband scheint man hingegen ihren Kodex noch nicht ein einziges Mal aufgeschlagen zu haben.

Es ist stets dasselbe: Machtkämpfe, Machtkämpfe und noch einmal Machtkämpfe um Geld und Geltung, bei denen der Sport immer mehr ins Abseits gerät. Ein schwacher Trost ist, dass viele meiner ausländischen Minister-Kollegen, und das beileibe nicht nur aus Dritte-Welt-Staaten, sich mit denselben Problemen herumschlagen.

Sie haben in ihrer Frage die wundesten Punkte angetippt. Einmischen dürfen wir uns nicht, aber wir sitzen am Geldhahn. Ich sage immer wieder: staatliche Sportförderung ist ein Privileg, auf das es keinen Rechtsanspruch gibt.

Deswegen haben wir dem Bogensport-Verband die Mittel deutlich beschnitten. Der Curling-Verband, der wirklich sehr tief gefallen ist, bekommt vorerst kein Geld vom Staat. Vom Tennisverband haben wir die Rückgabe eins Teils der Finanzierung eingefordert. Wenn sie alle sich erneuert haben, dann gibt es wieder staatliche Mittel.

Besonders heikel ist die Lage im Polnischen Radsportverband (PRV). Ende 2017 kam heraus, dass einer der leitenden Verbandsfunktionäre junge Sportlerinnen eingeschüchtert hat. Es gab Sex mit Schutzbefohlenen, wahrscheinlich sogar eine Vergewaltigung. Dazu Handy-Mitschnitte von Alkoholgelagen während der letzten Vollversammlung.

Der PRV-Vorstand hat als Krisenmanager völlig versagt. Der Verband ist zudem bis über beide Ohren verschuldet. Gerichtsvollzieher haben bereits ein Teil des Verbandsvermögens gepfändet.

Der PRV wird bald nicht mehr in der Lage sein für 100.000 Zloty monatlich (ca. 25.000 Euro – Anm. RdP) die einzige moderne polnische Radrennbahn in Pruszków bei Warschau zu betreiben, mit deren Bau er sich völlig übernommen hat. Er schuldet allein dem Hauptauftragnehmer, der Firma Mostostal knapp zehn Millionen Zloty (ca. 2,5 Millionen Euro – Anm. RdP). Auf unser Betreiben hin hat der staatliche Mineralölkonzern Orlen, im Notverfahren, die Teilnahme unserer Radmannschaft am Bahnrad-Weltcup im weiβrussischen Minsk im Januar 2017 bezahlt.

Radrennbahn in Pruszków bei Warschau.

Den gesetzlich vorgeschriebenen Eigenanteil, um die staatliche Förderung zu erhalten, hatte der PRV auch nicht. Verbandsautonomie ist Verbandsautonomie. Der Verband muss sich neu aufstellen, ein glaubwürdiges Sanierungsprogramm vorlegen. Dann können wir wieder miteinander reden.

Die Funktionäre versagen, Sie wiederum sperren das Geld, aber was passiert mit dem Radsport, einer in Polen sehr populären Sportdisziplin, in der wir auch in den letzten Jahren erfolgreich waren. Dazu gehören die olympische Bronzemedaille von Rafał Majka 2016 in Rio de Janeiro, der Weltmeistertitel von Michał Kwiatkowski im Straβenrennen 2014 im spanischen Ponferrada, die Erfolge im Frauenradsport von Katarzyna Niewiadoma.

Die Sportverbände können und dürfen wir nicht abschaffen, das wollen wir auch nicht. Wir können sie jedoch umgehen, wenn sie beim Training und bei der Schulung der Athleten versagen. Wir können die Sportförderung direkt guten Sportklubs zukommen lassen. Diese Erwägung steht im Raum.

Deswegen haben wir im Juni 2017 das Programm team100 eingeleitet. Die einhundert begabtesten polnischen Spitzensportler zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren erhalten ein Jahr lang insgesamt 40.000 Zloty (ca. 9.500 Euro – Anm. RdP) pro Person. Wir haben bisher zu viele junge Talente verloren, weil sie kein Geld hatten und deswegen sich, statt dem Sport, dem Geldverdienen widmen mussten.

Alle, die sich für das Vorhaben team100 qualifiziert haben, unterschreiben einen ethischen Verhaltenskodex. Das Wissenschaftliche Sportinstitut in Warschau überwacht das Ganze, überprüft die Leistungen der Stipendiaten, und nach einem Jahr treffen wir die Entscheidung wer ein weiteres Jahr lang gefördert wird und wer nicht.

Wie sie sehen, die Zeiten, in denen der polnische Sport den polnischen Sportverbänden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, sind vorbei.

Die Novelle zum Sportgesetz, über die wir eingangs gesprochen haben sieht vor, dass in den Präsidien der Sportverbände keine ehemaligen Beamten oder informelle Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit aus der Zeit zwischen Juli 1944 und Juli 1990 sein dürfen. Wieso eigentlich?

Der Sport muss in jeder Hinsicht sauber bleiben. Ohne Doping, ohne krumme Geschäfte und ohne Leute, die dem Verfolgungsapparat eines Unrechtsstaates zu Diensten waren. Alle Abgeordneten und alle, die bei Wahlen kandidieren, aber auch alle ranghohen Politiker und Beamte, zudem alle Richter, Anwälte, Staatsanwälte, Offiziere von Armee und Polizei müssen eine diesbezügliche Erklärung abgeben. Warum sollten es die Sportfunktionäre nicht tun?

In Polen entscheidet der Arbeitgeber, ob er jemanden der seine IM-Tätigkeit zugegeben hat weiterhin beschäftigen will, und die Wähler entscheiden, ob sie eine solche Person im Parlament haben wollen oder nicht. Wer in seiner Erklärung gelogen hat, wird aus dem Richter- oder Anwaltsberuf entfernt, als Beamter oder Abgeordneter abgesetzt. Er darf auch nicht fürs Parlament kandidieren. Der polnische Staat als Arbeitgeber, nach dem Regierungswechsel vom Herbst 2015, vorher war das nicht so, will solche Leute nicht beschäftigen. Er will sie auch nicht fördern.

Die Erklärungen werden auf ihre Richtigkeit in den Archiven der ehemaligen Staatssicherheit überprüft, die jetzt vom Institut des Nationalen Gedenkens (der polnischen Gauck-Behörde – Anm. RdP) verwaltet werden.

Wie sind die Ergebnisse dieser Überprüfung?

Vierhundertvierzig vor dem 1. September 1972 geborene Präsidiumsmitglieder der Sportverbände hatten nach dem Empfang der amtlichen Aufforderung einen Monat lang Zeit ihre Erklärungen abzugeben. Zweiundvierzig von ihnen haben es nicht getan und vierundzwanzig haben ihre Erklärungen verspätet eingereicht. Sie alle müssen ihre Präsidiumsposten räumen. Darunter befinden sich die gesamte fünfköpfige Führung des Polnischen Curling-Verbandes sowie des Verbandes Polnischer Sporttaucher.

Polen spielt seit einiger Zeit eine wichtige Rolle im Antidoping-Kampf. Sie sind vor nicht langer Zeit zum Vertreter Europas im Exekutivkomitee der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) gewählt worden.

Wie gesagt, der Sport muss sauber sein. Betrüger, die dopen belügen sich selbst und alle Fans. Ganz und gar wird man Doping nicht aus dem Sport verbannen können, aber man kann es auf ein Minimum einschränken, wenn man mehr Geld und mehr Kraft in diesen Kampf investiert. Es ist zugleich ein Wettlauf mit der Zeit, denn Doping ist heute eine groβe, moderne Industrie.

Als wir uns Ende 2015, nach den gewonnen Wahlen, an die Arbeit machten, den polnischen Sport zu sanieren, da waren wir in einer heiklen Lage. Unsere Antidoping-Vorschriften wichen erheblich von den neusten WADA-Standards ab. Das war die Hinterlassenschaft unserer Vorgänger.

Es musste sehr schnell gehen.

Es war ein Wettlauf gegen die Uhr. Wir hatten lediglich bis zum 13. August 2016 Zeit, dann hätte unser Antidoping-Labor die WADA-Zulassung verloren. Wir hätten unsere Kontrollen für teures Geld in ausländische Labors verlegen müssen. Vom Prestigeverlust wollen wir erst gar nicht sprechen. Hinzu kam, dass bei der Olympiade in Rio 2016 zwei polnische Gewichtheber des Dopings überführt wurden.

Gleichzeitig haben wir bereits im März 2016, in enger Zusammenarbeit mit der WADA begonnen unser Antidoping-Gesetz auszuarbeiten. Es gilt heute als vorbildlich. Die Japaner haben es praktisch eins zu eins übernommen. Wir schulen Ukrainer und Aserbaidschaner. Deswegen wahrscheinlich meine Wahl ins WADA-Exekutivkomitee.

Internationales Kongreszentrum in Katowice. Tagungsort der Welt-Ani-Doping-Konferenz im November 2019.

Polen soll im November 2019 in Katowice die Welt-Ani-Doping-Konferenz ausrichten.

Ein Jahr vor den Olympischen Spielen in Tokio wird in Katowice ein neuer WADA-Präsident gewählt und es werden die Weichen für den weiteren Anti-Doping-Kampf gestellt. Wir werden alles dafür tun, ein guter Gastgeber zu sein.

RdP




Kirchgänger, Priester, Sakramente. Die polnische Kirchenstatistik 2018

Neue Angaben, alte Probleme.

Jedes Jahr, seit 1984, stehen an einem Sonntag im Oktober vor sämtlichen Kirchen in Polen Priester und erfassen nach der heiligen Messe mit mechanischen Handzählern, per Klick, jeden Gottesdienstbesucher. Bei der Zählung am 16. Oktober 2016 gab es wieder einmal etwas weniger Klicks als im Vorjahr. 

Es soll stets ein gewöhnlicher Sonntag des Kirchenjahres sein, an dem die Erfassung durchgeführt wird, keiner der hohen kirchlichen Feiertage, an denen üblicherweise wesentlich mehr Menschen in die Gotteshäuser strömen.

Die Ergebnisse vom 16. Oktober 2016 wurden im Januar 2018 veröffentlicht. Gut ein Jahr benötigt das Statistische Institut der Katholischen Kirche (Instytut Statystyki Kościoła Katolickiego – ISKK) jedes Mal um diese und viele weitere Angaben aus allen 10.339 polnischen Pfarreien zu sammeln und zu verarbeiten. Das Ergebnis ist ein etwa sechzigseitiges „Statistisches Jahrbuch der Kirche in Polen“ („Annuarium Statisticum Ecclesiae in Polonia“).

Wer am Ende der Messe die Kirche verlieβ, wurde am Ausgang mit einem Klick erfasst.

Die Bilanz der letzten Zählung, die am 15. Oktober 2017 stattgefunden hat, wird dementsprechend erst im Januar 2019 bekannt gegeben.

Am Sonntag, dem 16.Okroiber 2016, für den die statistische Auswertung nun vorliegt, wurden im ganzen Land 47.979 heilige Messen gefeiert. Die Untersuchung bestätigte den bisherigen Trend. Die Zahl der Sonntagsmesse-Besucher (dominicantes) nimmt von Jahr zu Jahr langsam aber stetig ab. Im Vergleich zu 2015 kamen 2016 um die 3,1 Prozent weniger Leute zur Sonntagsmesse. Die Zahl derer, die die Kommunion empfingen (communicantes) sank um 1 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

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Dominicantes und Communicantes in Polen 1980-2016

Während 1980 bis zu 51 Prozent der Gläubigen jeden Sonntag zur Messe erschienen, waren es 2003 noch 46 Prozent, 2013 noch 39,1 Prozent und 2016 genau 36,7 Prozent. Dennoch belegt Polen in dieser Hinsicht weiterhin, zusammen mit Malta, den ersten Platz in Europa. Zum Vergleich: in Deutschland liegt die Anzahl bei 10 Prozent, in Spanien bei 12 Prozent. In Irland, Portugal und Italien bewegen sich die Zahlen jeweils knapp unter 20 Prozent.

Trotz des Rückgangs 2016 kann man bei den leicht sinkenden Zahlen derer, die zur Kommunion gingen immer noch nicht von einer Tendenz sprechen. 1980 handelte es sich nur um 7,8 Prozent, 2016 waren es immerhin 16 Prozent der Kirchgänger.

Die Zählung bestätigte weiterhin, dass der Südosten Polens deutlich frommer ist als der Rest des Landes. Auch 2016 gab es die meisten Sonntagmesse-Besucher in den Diözesen Tarnów (66,9 Prozent), Rzeszów (60,5 Prozent) und Przemyśl (56,4 Prozent), in diesen Diözesen konnte sogar ein Anstieg um einige Prozentpunkte verzeichnet werden.

Etwas über dem Durchschnitt liegt Ostpolen mit den Diözesen Siedlce (46 Prozent), Drohiczyn (45,8 Prozent), Zamość-Lubaczów (45 Prozent) und Białystok (44,2 Prozent).

Am unteren Ende der Skala befinden sich die Diözesen im Westen und Nordwesten des Landes: Szczecin-Kamieniec (Stettin-Kamenz 22,7 Prozent), Koszalin-Kołobrzeg (Köslin-Kolberg 24,4 Prozent), Zielona Góra-Gorzów Wielkopolski (Grünberg-Landsberg a. d. Warthe 28,3 Prozent) und die zentralpolnische Diözese Łódź (Lodsch 23,4 Prozent).

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Knapp 80 Prozent der sonntäglichen Kirchgänger finden sich immer noch am Vormittag, zu den Messen zwischen 8 und 11 Uhr ein. Langsam wächst jedoch die Zahl derer, die die Gottesdienste ab 14.30 Uhr besuchen. Vor zehn Jahren waren es 13,5 Prozent, jetzt sind es 15 Prozent. Für gewöhnlich werden in den groβstädtischen Gemeinden Polens an Sonntagen bis zu zehn, an Arbeitstagen fünf Messen zelebriert. In kleineren Orten sind es weniger.

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Die meisten Kommunionempfänger (communicantes) wurden in den Diözesen Tarnów (22,7 Prozent), Opole (Oppeln 21,1 Prozent) und Zamość-Lubaczów (20,1 Prozent) gezählt. Die wenigsten in den Diözesen Sosnowiec (Sosnowitz 10,3 Prozent), Szczecin-Kamieniec (Stettin-Kamenz 10,5 Prozent) und Koszalin-Kołobrzeg (Köslin-Kolberg 10,5 Prozent).

Im Jahr 2016 ließen sich knapp 137.000 Paare katholisch trauen. Knapp 375.000 Kinder wurden getauft (ein Plus von 5.000 gegenüber dem Vorjahr). Getauft werden in Polen zwischen 95 und 97 Prozent aller Neugeborenen. Seit Jahrzehnten ändert sich nichts an dieser Tatsache.

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Die Erstkommunion erhielten knapp 285.000 Kinder (gut 10.000 mehr als in 2015), die Firmung 299.000 (gut 5.000 weniger als in 2015). Etwas mehr als 75 Prozent aller Getauften lassen sich ebenfalls firmen.

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Taufen und Geburten in Polen 1960 -2015

Polen ist in 41 Diözesen aufgeteilt. Die bevölkerungsreichsten unter ihnen sind: Katowice (Kattowitz 1,7 Millionen Einwohner), Warschau 1,7 Millionen (diese Diözese umfasst nur die Stadt auf dem westlichen Ufer der Weichsel sowie deren Vororte, der östliche Stadtteil mit Vororten bildet die Diözese Warschau-Praga) und Kraków (Krakau 1,6 Millionen Einwohner). Die geringste Bevölkerungszahl haben die Diözesen Drohiczyn (246.000), Białystok (452.000) und Ełk (Lyck 459.000).

Den Hirtendienst versahen 2016 in Polen insgesamt 25.016 Priester. Die meisten von ihnen sind in den Diözesen Tarnów (1.559), Kraków (1.182) und Katowice (1.071) tätig. Die geringste Anzahl an Priestern gibt es in den Diözesen Drohiczyn (183), Elbląg (Elbing 273) und Ełk (Lyck 274).

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An Diözesan-und Ordenspriesterseminaren studierten 2016 insgesamt 3.399 angehende Priester.

In 2.218 Klöstern lebten 18.197 Schwestern, die einem der 104 in Polen tätigen Frauenorden angehören. Die gröβten Frauenorden in Polen sind: die Dienerinnen der Unbefleckt Gezeugten Heiligen Jungfrau Maria (888 Nonnen), die Schwestern von der heiliegen Elisabeth (858) und die Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul (762).

Die Zahl der Männerorden betrug 58. Ihnen gehörten 11.942 Mönche an, von denen 3.252 im Ausland tätig waren. Die gröβten männlichen Ordensgemeinschaften in Polen sind die Franziskaner (1.303 Mitglieder), die Salesianer (1.058) und die Pallottiner (953).

Was ist davon zu halten

Die neueste Erhebung wurde in Polen vielfach gedeutet und kommentiert. Die Kommentare aus dem linken Spektrum waren vorhersehbar. So dreht sich nun mal das Rad der Geschichte, hieβ es. Schuld seien der Zölibat, die Weigerung Frauen zum Priesteramt zuzulassen, die Ablehnung der „Homoehe“ usw., usf.

Wie reagierten die Betroffenen? Hier die Äuβerungen von zwei führenden katholischen Publizisten des Landes.

»Wir machen weiter«

Pfarrer Marek Gancarczyk, bis Mitte Januar 2018 Chefredakteur des auflagenstärksten Wochenmagazins Polens, des katholischen „Gość Niedzielny“ („Sonntagsgast“).

Wird eine Zeit kommen, in der die Zahl der sonntäglichen Kirchgänger wieder steigt? Bis jetzt gibt es keinen Grund zur Freude. Seit beinahe vierzig Jahren fällt die Zahl der Teilnehmer an der sonntäglichen Eucharistie kontinuierlich. Es gab in diesem Zeitraum auch einige Zuwächse, wie in den Jahren 1997/1998 sowie 2006/2007, aber die langfristige Tendenz ist stabil – wir in Polen gehen seltener in die Kirche.

Ja, gewiss. Die gewaltige Auswanderung auf der Suche nach Arbeit in den letzten zwei Jahrzehnten tat das ihre, ebenso die verbreitete Sonntagsarbeit. Es stimmt auch, dass alle soziologischen Untersuchungen ergeben, dass die meisten Polen, auch wenn sie seltener in die Kirche gehen, der christlichen Tradition verbunden bleiben, den katholischen Glauben als einen wichtigen Bestandteil der polnischen Identität betrachten.

Des Weiteren stimmt es, dass die Kirchen bei uns immer noch so voll sind, wie nirgendwo sonst in Europa. Das gemeinsame Rosenkranzbeten an den Grenzen im Herbst 2017. Die riesigen Dreikönigsumzüge im ganzen Land. Die Kirche in Polen legt immer noch eine erstaunliche Vitalität an den Tag.

Ja, fast alle polnischen Säuglinge werden getauft. Gleichzeitig gibt es seit knapp dreiβig Jahren wieder Religionsunterricht in den Schulen. Und?

Das alles, was ich gerade als Ermunterung erwähnt habe, ist nur ein schwacher Trost. Wenn es so weiter geht, werden auch wir eines Tages auf dem Niveau

„Mein glücklicher Tag“: Geburtstag, Taufe, Trauung. Briefmarkenserie der Polnischen Post von 2007.

Deutschlands, Frankreichs oder Dänemarks landen. Hinter den neuesten trockenen Statistikzahlen stehen konkrete Entscheidungen von Millionen von Menschen für und gegen den Glauben.

Manchmal überkommt mich der Eindruck, dass sich auch bei uns hie und da eine Art Einsicht in eine angebliche historische Unvermeidlichkeit breit macht. Überall gibt es eine Abwendung von der Kirche, auf Dauer kann man sich dem auch bei uns nicht entziehen. Doch, man kann und man muss. Wir müssen. Wir machen weiter. Die weiβe Fahne wird nicht aus dem Fenster gehängt, so Gancarczyk.

»Nichtgläubige Katholiken, gläubige Atheisten«

Tomasz P. Terlikowski legte seine Sichtweise der Dinge in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ („Die Republik“) dar.

Den Jubelruf, schreibt Terlikowski, der aus den Kehlen weltlicher Kommentatoren drang, nachdem die Kirche zugegeben hatte, dass die Zahl regelmäβig praktizierender Katholiken zurückgeht, konnte man wahrscheinlich noch in Tibet hören. Sofort traten Fachleute auf den Plan, die versicherten, dass die gesunden, reichen und glücklichen EU-Polen keinen Gott mehr brauchen. (…)

Nichts Neues

Dabei sind die Ergebnisse der Untersuchung, seiner Meinung nach, keineswegs überraschend. Die Jahre atheistischer und laizistischer kommunistischer Propaganda, der Konsum der nachkommunistischen Zeit haben das ihre getan.

Zudem sind die nichtgläubigen Protest-Kirchgänger, von denen wir so viele in der kommunistischen Zeit hatten, endlich zu der Überzeugung gekommen, dass die Teilnahme an der Messe, wenn man weder an die Wiederauferstehung Jesu Christi noch an den Heiligen Geist glaubt, schlicht und einfach hirnrissig ist. Genauso gut, ja sogar viel besser, kann man diese Zeit beim Einkaufen oder beim Training verbringen.

Terlikowski erinnert in diesem Kontext an Untersuchungen aus dem Jahr 2013, aus denen hervorging, dass an die Auferstehung Christi lediglich 47 Prozent der Polen glauben, an den Heiligen Geist als dritte Person der göttlichen Trinität 40 Prozent, an die Unsterblichkeit der Seele 39 Prozent, an die unbefleckte Empfängnis 38 Prozent.

Diese Untersuchung belegt, dass in etwa 39 bis 40 Prozent der Polen Katholiken sind. Der Rest bekennt sich zu einer eigenen Religion, die mit dem Christentum (und ganz sicher mit dem Katholizismus) wenig gemein hat. „Das bitte ist keinesfalls die Meinung eines religiösen Fanatikers, sondern eine schlichte Tatsachenfeststellung“, schreibt der Autor.

Christentum ohne Wiederauferstehung ist wie alkoholfreier Wodka

„Stellen wir uns einen Atheisten vor, der versichert, dass er an Gott glaubt. Was würden wir über ihn sagen? Die Antwort ist einfach: wir würden sagen, er sei kein Atheist. Genauso ist es mit „Katholiken“, die weder an die Auferstehung noch an die unbefleckte Empfängnis glauben. Sie sind wie die Atheisten, die an Gott glauben oder wie diejenigen, die sich zum alkoholfreien Wodka bekennen (das Christentum ohne Wiederauferstehung macht genauso viel Sinn wie der alkoholfreie Wodka).

Diese Menschen, egal wie sie sich selbst bezeichnen, sind keine wirklichen Katholiken und es ist gut so, dass sich das in der Teilnahme an den heiligen Messen widerzuspiegeln beginnt. Dank dessen, beginnen die Gläubigen zu verstehen, dass der Wunschtraum von einem Land, das das Evangelium von Jesus Christus nach auβen trägt und selbst keine Evangelisation braucht, ins Reich der Märchen gehört.

Die Kirche muss sich dessen dringend bewusst werden und Schlüsse daraus ziehen. Diese Schlüsse indes sind offensichtlich: man muss das ganze Evangelium verkünden, ohne es zu „verdünnen“ oder an den jeweiligen Bedarf „anzupassen“. Man kann nämlich nicht teilweise Katholik sein, genauso wie man schlecht halbwegs schwanger sein kann“, beschlieβt Terlikowski seinen Text.

RdP