Wenn Polen sich das Leben nehmen

Wie gehen Gesellschaft und Kirche heute mit Suiziden um.

Ich will keinen Alarm auslösen, aber die Situation ist nicht gut. Die Zahl der Selbstmorde unter Teenagern hat sich verdoppelt, sagt Professor Adam Czabański, Soziologe und Suizidologe, stellvertretender Präsident der Polnischen Suizidgesellschaft.

Sind Selbstmorde ein echtes soziales Problem? Immerhin gibt es auf der Welt mehr Opfer von Autounfällen als von Suiziden.

Prof. Adam Czabański

In Polen ist die Zahl der Selbstmorde definitiv höher als die der anderen gewaltsamen Todesfälle. Jedes Jahr nehmen sich bei uns etwa 5.200  Menschen das Leben, während es 2.300 bis 2.400 Opfer von Verkehrsunfällen und etwas mehr als 600 Opfer von Tötungsdelikten gibt.

Das Problem lässt sich jedoch nicht anhand trockener Zahlen beurteilen. Hinter jedem Todesfall steht das Drama eines Menschen, der sich das Leben genommen hat, aber auch das seiner Angehörigen und Freunde. Studien haben gezeigt, dass statistisch gesehen etwa zwanzig Personen unter dem Selbstmord eines Angehörigen oder Freundes leiden, d. h. ein Selbstmord verursacht im Durchschnitt bei zwanzig Menschen das Problem, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Auch nach einem Tötungsdelikt ist die Zahl der Leidtragenden nicht gering.

Aber bei einem Selbstmord gibt es auch andere, akutere Trauermechanismen. Sie werden von Fragen geplagt: Warum hat er es getan? War es nicht meine Schuld? Haben meine Worte, Gesten, Vorwürfe dazu beigetragen? Viele Menschen haben deswegen starke Schuldgefühle.

Polen liegt bei der Selbstmordrate im europäischen Vergleich im Mittelfeld. Hat sich die Lage gebessert?

Es ist besser geworden als noch vor zehn Jahren. Seit etwa 2012 ist die Zahl der Selbstmorde zurückgegangen, damals hatten wir sogar mehr als 6.300 Suizide . Genau gesagt: 2020 gab es in Polen 5.156 Selbstmorde, 2022 – 5.201 und 2022 – 5.801.

Pro 100.000 Einwohner liegt Polen mit 11,1 Suiziden weltweit auf Platz 16. Vor uns befinden sich u. a. die traurigen Rekordhalter Südkorea mit 24,6, Litauen mit 21,6 und Slowenien mit 16,5, hinter uns, auf Platz 24., Deutschland mit 9,7 Fällen.

Die Selbstmordrate hängt in Polen stark mit der wirtschaftlichen Lage zusammen, vor allem mit der Arbeitslosenquote. Im Jahr 2012 betrug sie 13,4 Prozent. Jetzt, im April 2023, liegt sie bei 5,4 Prozent, und das trotz der enormen Zuwanderung ukrainischer Flüchtlinge, von denen Polen dauerhaft knapp zwei Millionen aufgenommen hat.

Die Arbeitslosigkeit wirkt sich dramatisch vor allem auf Männer mittleren Alters aus. Das ist ein weltweites Phänomen. Überall begehen Männer häufiger Selbstmord als Frauen, der Unterschied ist aber nicht so gravierend wie in Polen. In Westeuropa  sind es dreimal so viele, in muslimischen Ländern – eineinhalbmal Mal so viele Männer wie Frauen. In Polen hingegen – mehr als sechsmal so viele!

Kennen wir die Ursachen?

Zweifellos hat die Arbeitslosigkeit oder die drohende Arbeitslosigkeit einen großen Einfluss darauf. Männer mittleren Alters sehen ihre soziale Rolle noch immer traditionell. Der Mann soll der Haupternährer, der Familienvater sein, der eine materielle und schützende Funktion ausübt. Wenn er das nicht kann, fühlt er sich gedemütigt und nutzlos. Bei jungen Männern ist bereits ein deutlicher Wandel in der Einstellung zu dieser Familienrolle zu beobachten. Sie beteiligen sich stärker an der Kindererziehung, an der Pflege der Kinder. Eine echte Bindung zu ihren Kindern ist für moderne Männer in Polen ein Lebensretter. Ein weiteres Phänomen ist der Selbstmord älterer Menschen. Ein Fünftel der Selbstmorde in unserem Land begehen Senioren.

Ist das ein globaler Trend oder eine polnische Eigenart?

Universell. Er ist in den alternden westlichen Gesellschaften deutlich zu erkennen. Im Vereinigten Königreich gab es bereits vor der Pandemie umfangreiche Untersuchungen zum Phänomen der Einsamkeit als etwas, das es objektiv gibt, und der Einsamkeit als dem Gefühl, allein zu sein. Es stellte sich heraus, dass mehrere Millionen ältere Menschen ihren Haushalt allein führen und oft sehr einsam sind. Etwa 200.000 von ihnen haben im letzten Monat mit keiner anderen Person gesprochen. Das zeigt das Ausmaß des Problems, das auch in Polen vorhanden ist.

Welche Auswirkungen hatte die COVID-19-Pandemie auf die Selbstmorde?

Die Situation erinnerte damals ein wenig an Kriegszustände. Die rasche Abfolge von ungewöhnlichen Ereignissen konnte von anderen, insbesondere persönlichen Problemen ablenken. Jeder erlebte Zwänge, war verängstigt, wir bildeten sogar eine Gemeinschaft in dieser Angst. Während des Krieges stabilisiert sich die Selbstmordrate und nimmt sogar ab, was damit zusammenhängt, dass viel passiert, der Gemeinschaftssinn funktioniert, der Überlebenswille stark ist, das Leben einen höheren Wert hat. Wenn der Krieg zu Ende ist, steigt die Zahl der Selbstmorde.

In Polen hat sich die Zahl der Selbstmorde stabilisiert, aber das betrifft nicht die jüngste Generation, die am stärksten von der Pandemie betroffen zu sein scheint.

Wie soll man das verstehen?

Ich will keinen Alarm auslösen, aber die Situation ist nicht gut. Die Zahl der Selbstmorde unter Teenagern hat sich verdoppelt. Das sind für ein Land mit gut 38 Millionen Einwohnern immer noch keine großen Zahlen, jährlich etwa einhundert junge Menschen unter 18 Jahren, aber der hundertprozentige Anstieg bereitet ernsthaft Sorgen.

Das absolute Drama sind die Selbstmorde von Kindern bis zu 12 Jahren. Früher gab es 1 bis 2 solcher Selbstmorde pro Jahr, heute sind es 3 bis 4. Die Dunkelziffer der Selbstmordversuche ist viel höher. Fachleute schätzen, dass auf jeden Selbstmord eines Teenagers etwa einhundert Selbstmordversuche kommen.

In einem Teil der Fälle sind die Gründe für den Selbstmordversuch unbekannt. Nur einzelne Selbstmörder hinterlassen Abschiedsbriefe. Inwieweit ist es möglich, die Gründe zu erfahren?

Es ist unmöglich, sie in Prozentzahlen anzugeben. In den Polizeiberichten wird als Hauptgrund angegeben, was die Leute aus der unmittelbaren Umgebung des Selbstmörders denken: Missverständnisse in der Familie, die Untreue der Ehefrau, Probleme in der Schule, der Verlust des Arbeitsplatzes.

Jedes Mal ist die Kombination der Umstände, die dazu beigetragen haben könnten anders. Wenn man die Geschichte eines bestimmten Falles untersucht, stellt sich heraus, dass jemand nicht nur seinen Arbeitsplatz verloren hat, sondern dass er dort etwas Hässliches zu hören bekommen hat, dass jemand ihn betrogen hat usw., usf. Oft sind die Gründe völlig unbekannt. Für diejenigen, die dem Selbstmörder nahestehen, ist es ein großer Schmerz, eine völlige Überraschung. Er ging in den Wald und erhängte sich. Warum hast du das getan? Das ist die Grundfrage bei den Angehörigen.

Und die Abschiedsbriefe?

Abschiedsbriefe sind mit Vorsicht zu genießen. Nicht selten sind sie aggressiv im Ton und weisen die Schuld ganz konkret zu. Diejenigen, die sie finden, Polizisten, Feuerwehrleute, Rettungssanitäter, die als erste am Ort des Geschehens eintreffen, stehen vor dem Dilemma, ob sie sie der Familie geben sollen. Wenn auf jemanden konkret hingewiesen wird: „Du bist schuld“, wird der Betroffene sein Leben lang Schuldgefühle haben, und das kann wiederum auf dramatische Weise enden. Dabei muss es gar nicht an ihm gelegen haben.

Welche Anzeichen sprechen für einen bevorstehenden Selbstmord?

Die meisten von uns haben nicht einmal ein elementares Wissen über dieses Thema. Dabei gibt es, wie gesagt, nur selten einen Grund für einen Selbstmordversuch. Meistens handelt es sich um eine Reihe von Ereignissen, die in der Umgebung oder in der Psyche des Menschen selbst stattfinden. Ihr Auftreten führt dazu, dass eine Person nicht mehr leben will.

Die Mutter einer meiner Patientinnen, das Mädchen hatte versucht, sich das Leben zu nehmen, fand nichts dabei, dass ihre Tochter selbst an heißen Tagen in einem langärmeligen Sweatshirt herumlief. Die Frau war davon überzeugt, dass es sich um eine Modeerscheinung handelte, sodass sie fast in Ohnmacht fiel, als sie im Krankenhaus das Ausmaß der Selbstverletzungen an den Armen ihres Kindes sah.

Ein ähnlicher Mechanismus wirkt bei Ehefrauen, die es als normal ansehen, dass der Ehemann unter der Woche viel arbeitet und am Wochenende „faulenzt“ und viel Alkohol trinkt. Der Mann in unserer Kultur zeigt keine Schwächen. Er ist dazu da, die Familie zu beschützen, das nötige Geld für eine Wohnung, ein Auto, einen Urlaub unter Palmen zu verdienen. Dass er innerlich höllisch unter Druck steht, ausgebrannt ist, das wird er niemandem sagen. Daraus ergeben sich die Sucht, die Depression und schließlich der Schritt in den Selbstmord.

Und wenn man Symptome bemerkt, die für einen bevorstehenden Suizid sprechen?

Das oberste Gebot in einer Krisensituation lautet: Lass einen Menschen in Not nicht allein, egal ob es sich um einen Bekannten, einen Arbeitskollegen, einen Ehepartner oder ein Kind handelt.

Aber wie bringen wir die Person dazu, sich zu öffnen, sich uns  anzuvertrauen, mit uns reden zu wollen?

Optimal wäre es, sofort einen im Umgang mit Suizidgefährdeten erfahrenen Psychologen oder Psychiater einzuschalten. Das ist nicht immer möglich. Irgendwie muss man dem potenziellen Opfer den Weg zu ihnen bahnen.

Verhält sich zum Bespiel ein Kind seltsam, hat es sich verändert oder sagt, es wolle nicht mehr leben. Hat es ungewöhnliche Spuren an seinen Handgelenken und ist es wenig glaubhaft, dass sie die Katze verursacht hat. Vielleicht geht mit dem Kind etwas Besorgniserregendes vor sich? Das Wichtigste ist, solche Beobachtungen nicht zu ignorieren und nicht zu denken, dass wir schon reden werden, wenn wir die Gelegenheit dazu haben. Es ist bekannt, dass es schwierig ist, über Selbstmordversuche und Selbstverletzungen zu sprechen.

Wenn man von einem nahestehenden Menschen erfährt, dass er sich das Leben nehmen will, weiß man im ersten Moment nicht, was man sagen und tun soll.

Solche Informationen dürfen auf keinen Fall ignoriert werden. Man darf  keine Nervosität zeigen und sollte einen Ort suchen, an dem man in Ruhe reden kann. Nehmen Sie sich Zeit, denn ein solches Gespräch wird nicht kurz sein. Lassen Sie den anderen reden. Manche Menschen erzählen sofort, was mit ihnen los ist, andere brauchen viel Zeit, um über Schwierigkeiten, Kämpfe, Traurigkeit und Leid zu sprechen. Wenden Sie die Methode „vom Allgemeinen zum Speziellen“ an. Fragen Sie zunächst, wie sich die Person fühlt, wie lange sie schon Selbstmordgedanken hat und was passiert ist, dass sie diesen Gedanken hegt. Fragen Sie, ob die Person schon einmal versucht hat, sich das Leben zu nehmen, und wenn ja, was sie dann getan hat.

Die nächste Frage ist sehr wichtig: Wie kann ich helfen? Unterschätzen Sie diese Fragen nicht, denn man kann so einen Hinweis darauf bekommen, in welche Richtung man gehen soll. Weniger reden, mehr zuhören. Nicht unterbrechen, nicht urteilen, nicht kritisieren, keine Selbstmordabsichten leugnen. Keine Predigten halten und die Person vor allem nicht unbeaufsichtigt lassen. Sagen Sie auch nicht: „alles wird gut“ oder „übertreibe nicht“, „hör auf, dich zu beklagen“ oder „Kopf hoch”. Solches Gerede blockiert nur und verstärkt das Gefühl der Einsamkeit, des Unverständnisses und der Isolation. Versichern Sie, dass die Krise gelöst werden kann, aber versprechen Sie nicht, ein Geheimnis zu bewahren.

Die Kirche hat in letzter Zeit ihre Einstellung zum Selbstmord geändert. Die Zeiten, in denen Selbstmördern ein katholisches Begräbnis verweigert wurde, liegen aber gar nicht sehr weit zurück.

Dieser Wandel ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu beobachten. Gleichzeitig kann von einer veränderten Bewertung des Phänomens durch die katholische Kirche keine Rede sein. Kein Wunder: Es ist verheerend für die sozialen Bindungen, für die Gesellschaft, objektiv ist es das Böse.

Was wir jedoch erlebt haben, ist eine Revolution in der Art und Weise, wie die Kirche mit Menschen umgeht, die sich das Leben genommen haben. Die Fortschritte der Wissenschaft, insbesondere in der Psychologie und in der Psychiatrie, wurden berücksichtigt, die eindeutig zeigen, dass viele Menschen, die sich selbst Schaden zufügen, oft nicht vollständig erkennen, was mit ihnen geschieht.

Sie stehen also unter Einfluss von Alkohol, psychoaktiven Substanzen, Drogen?

Generell gilt: Sie haben die Situation, in der sie sich befinden, nicht unter Kontrolle. Ein erheblicher Teil von ihnen leidet an psychischen Störungen:  Depressionen, Schizophrenie, bipolaren affektiven Störungen, Demenzerkrankungen. Das muss man unbedingt berücksichtigen.

Es gibt viele unbeantwortete Fragen, was konkret im Kopf eines  Selbstmörders vorgegangen ist. Ein Mann, der allein lebte, mit dem es fast keinen Kontakt gab, hat sich das Leben genommen. Hat er das durchdacht oder war es eine Kurzschlusshandlung? Fühlte er sich an die Wand gedrängt, glaubte er keine andere Wahl gehabt zu haben? Dabei gibt es immer eine Wahl, eine Lösung. Selbstmord ist die schlechteste aller Möglichkeiten. Diese Menschen sehen das nicht, sie sind gelähmt aufgrund ihrer Situation, durch ihr Versagen, durch ihre Misserfolge, die sich oft im Laufe der Zeit angesammelt haben.

Die Kirche hat sich dem Thema auf eine neue Weise genähert, mit einer Reflexion über das Bewusstsein des Selbstmörders. Ein Pfarrer kann jedoch immer noch eine Bestattung auf geweihtem Boden verweigern, wenn er weiß, dass der Selbstmörder ein militanter Atheist, ein Satanist war oder einer okkulten Gruppe angehörte.

Und kommt so etwas vor?

Ja, das kommt vor. Aber wenn der Priester feststellt, dass die Person ein Gemeindemitglied war, dass sie immer wieder die Messe besuchte, die Sakramente empfing, dann gibt es keine Einwände gegen eine solche Beerdigung. Und das ist in der Regel auch der Fall.

Amerikanische Studien zeigen, dass Menschen die sich zum Glauben bekennen, viel seltener Selbstmord begehen als Atheisten oder Suchende. Wir können davon ausgehen, dass es sich bei den meisten Selbstmördern in Polen um getaufte Menschen handelt, die sich generell als Gläubige bezeichnen. Ich vermute jedoch, dass sie sich in den meisten Fällen vom Glauben und dem, wie man ihn praktiziert, abgewendet haben. Es gibt jedoch keine Untersuchungen zu diesem Thema.

Es gibt Selbstmorde unter Priestern. Das ist ein absolutes Drama.

Es sind Menschen aus Fleisch und Blut, die wie andere auch Schwächen haben und fallen, die vielleicht Probleme mit dem Alkohol haben, Probleme, die aus der Einsamkeit resultieren, aus der kritischen Haltung der Gläubigen, aus der fehlenden Akzeptanz für ihr Handeln. Es erfordert eine Menge Widerstandskraft, um damit fertig zu werden. Aus Gesprächen mit Priestern geht hervor, dass die alljährlichen seelsorgerischen Hausbesuche nach Neujahr nicht mehr wie früher zu angenehmen Gesprächen führen. Oft werden Anschuldigungen gegen Priester und die Kirche erhoben. Die Geistlichen sind keine Menschen vom Mars. Sie kommen aus der Gesellschaft, und daher sind deren Zustand, Probleme und Gefühle auch die ihren.

In dem von Pater Andrzej Pryba mitverfassten Buch „Selbstmord aus katholischer Sicht” schreiben Sie viel über die Rolle, die Seelsorger bei der Verhinderung von Selbstmorden spielen können und sogar sollten.

Unserer Meinung nach können Priester, Ordensleute und Nonnen in dieser Hinsicht sehr viel Gutes tun. Es geht nicht darum, dass sie zu selbst ernannten Psychologen oder Psychiatern werden. Wir haben diese Fachleute.

Die Situation ist für den Klerus sehr schwierig, denn ein Mensch, der sich das Leben nehmen will, spricht meist im Beichtstuhl darüber. Und dort gilt das Beichtgeheimnis. Es gibt keine Ausnahmen von dieser Regel. Der Beichtende weiß das. Das Beichtgeheimnis ist eine Garantie dafür, dass niemand von seinem Vorhaben erfährt.

Aber nichts hindert den Priester daran zu sagen: Ich werde dir deine Beichte abnehmen, aber bitte bleib danach und wir werden reden. Dann gibt es die Möglichkeit zur Weitergabe einer hilfreichen Telefonnummer oder zum Hinweis, dass man einen Psychologen aufsuchen sollte.

Ein Mensch, der in den Beichtstuhl kommt, weiß, dass Selbstmord eine schwere Sünde ist, und er kommt dennoch, um sich mit Gott zu versöhnen, obwohl er kurz darauf versuchen will, sich gegen das göttliche Recht auszusprechen. Das ist die innere Spaltung dieser Menschen.

Wie sind Ihre Prognosen? Müssen wir einen Anstieg der Zahl von Suiziden, vor allem bei Jugendlichen, befürchten?

Das kann niemand vorhersagen. Was wir tun können, ist vorbeugen. Dazu gehört vor allem die Sensibilisierung der Gesellschaft, das Aufmerksammachen auf das Problem und seine Symptome.

RdP

Das Gespräch erschien im katholischen Wochenmagazin „Niedziela” („Der Sonntag”) vom 19.02.2023.




Polen oder die Freiheit, mit Bargeld zu zahlen

Bis jetzt wird sie erfolgreich verteidigt.

Unter den vielen Gedenk- und Aktionstagen, die es auch in Polen gibt, wird am 16. August der Tag des Bargeldes begangen. Im Jahr 1794 wurden an diesem Datum die ersten polnischen Banknoten in Umlauf gebracht.

Die Umstände waren, wie so oft in der polnischen Geschichte, dramatisch.  Seit Mitte März 1794 kämpfte das russisch besetzte Restpolen um seine Existenz. Unter der Führung von General Tadeusz Kościuszko stellte sich das gemeine Stadt- und Landvolk an der Seite der wenigen regulären Truppen gegen die preußische, russische und österreichische Übermacht. Vorausgegangen war die zweifache (1772 und 1793) Zerstückelung Polens durch Preußen, Russland und Ӧsterreich (1.Teilung) sowie Preußen und Russland (2. Teilung).

Unter den ersten polnischen Banknoten war auch ein Einzlotyschein

Nach einigen wenigen gewonnenen Schlachten geriet der Aufstand immer mehr in die Defensive. Mitte Juli 1794 begann die zweimonatige, vorerst erfolgreich abgewehrte preußisch-russische Belagerung Warschaus. Weil es in der Stadt kein Gold und Silber mehr gab, um Münzen zu prägen, ließ der Oberste Nationale Rat Banknoten im Wert von 5 und 10 Groszy sowie 5, 10, 25, 50, 100, 500 und 1000 Zloty drucken. Insgesamt waren damals knapp elf Millionen Papierzloty, „gedeckt durch nationale Güter”, wie es hieß, in Umlauf und gewährleisteten so den Zahlungsverkehr.

Den ersten polnischen Banknoten war nur ein kurzes Dasein beschieden.  Auf die Niederlage und Kapitulation des Aufstandes im November 1794 folgte im Januar 1795 die dritte Teilung und damit das staatsrechtliche Ende Polens für 123 Jahre.

Die zum Portemonnaie greifende Minderheit und ihre Rechte

Am Tag des Bargeldes gibt es keine Feierlichkeiten, aber er bietet bargeldfreundlichen Politikern und Medien die Gelegenheit, auf die Notwendigkeit hinzuweisen, möglichst alle Münzen und Scheine in vollem Umfang beizubehalten. Das ist erforderlich, denn auch in Polen gibt es immer wieder viel diskutierte Überlegungen und Vorstöße gegen das Bargeld.

Im Jahr 2022 wurden in Polen 52,9 Prozent aller Zahlungen im Einzelhandel mit Karte und 46,4 Prozent bar getätigt. Somit befindet sich die elektronische Zahlungsweise eindeutig auf dem Vormarsch, umso mehr aber pocht die vorzugsweise zum Portemonnaie greifende Minderheit auf ihre Rechte.

Bargeldverteidigung. Plakat

Aus ihrer Sicht wird mit jeder Bargeldreduzierung dem Bürger die Möglichkeit geraubt, sich staatlicher Kontrolle zu entziehen. Bargeldtransaktionen schützen die Privatsphäre. Banknoten und Münzen sind außerdem die einzigen Geldformen, die ohne einen Vermittler gehalten werden können. Mit ihnen bezahlt man nicht nur in Echtzeit, sondern hat auch ständig die Kontrolle darüber, wie viel Geld ausgegeben wird. Es gibt keine bessere Art, finanzielle Disziplin zu üben, als zu sehen, wie die Geldbörse immer dünner wird.

Bargeldverteidigung. Buch. Titel: „Bargeld ist Freiheit“ Darunter: „Warum lohnt es sich, mit Bargeld zu bezahlen und elektronisches Zahlen einzuschränken?“. Autor: Rafał Ganowski.

An eine völlige Abschaffung des Bargeldes wird in Polen zwar nicht gedacht, sehr wohl gibt es aber immer wieder amtliche und privatwirtschaftliche Ideen, die zu einer schleichenden teilweisen Verdrängung des Bargelds führen würden.

Die Kleingelddebatte

Bereits 2009 und 2013, zu Zeiten der Tusk-Regierung, erwog die damalige Leitung der Polnischen Nationalbank (NBP), die Ein-, Zwei- und Fünfgroszymünzen aus dem Umlauf zu nehmen. Die Herstellungskosten überstiegen ihren Nominalwert. Den Menschen seien sie angeblich nur lästig, zu Hause wurden sie in Gläsern, Dosen, Kästchen und Schachteln gehortet. Die kleinen Münzen verschwinden zudem massenhaft auf Nimmerwiedersehen in Ritzen, Schlitzen, Fugen und Spalten von Möbeln, Autos und Gehwegen.

Angesichts der vielen „krummen Preise” bemängelt der Einzelhandel jedoch immer wieder das Fehlen des Kleingeldes. Allein im Jahr 2022 hat die Nationalbank 319 Millionen Eingroszy-, 42 Millionen Zweigroszy- und 109 Millionen Fünfgroszymünzen nachgeliefert. Geschätzt müssten allein 5,5 Milliarden Eingroszymünzen im Umlauf sein, doch ein beachtlicher Teil davon schlummert dauerhaft in den Haushalten und in der Natur vor sich hin.

In der damaligen Kleingelddebatte wurde auch auf die Beispiele Tschechiens, der Slowakei (noch vor der Einführung des Euro) und Ungarns verwiesen. Die Tschechen rangierten zwischen 2003 und 2007 ihre Zehn-, Zwanzig- und  Fünfzighellermünzen aus, die Slowaken die ersten beiden und die Ungarn alle Filler- sowie die Ein- und Zweiforintmünzen.

Letztendlich überwog in Polen die Angst davor, der Handel würde massenweise die Preise aufrunden und so die Inflation befeuern. Um Kosten zu sparen, ersetzt die Nationalbank seit März 2014 bei der Herstellung des kleinsten Hartgeldes das teure Manganmessing durch messingbeschichteten Stahl, ohne das Aussehen der Münzen zu verändern.

Wer bar bezahlte, sollte Schuldgefühle haben

Bis Ende 2015 wurde von offizieller Seite der bargeldlose Zahlungsverkehr eindeutig bevorzugt. Vorhaben des Handels, der Banken und verschiedener Dienstleister, durch Einschränkungen und Nachteile die „uneinsichtige” Bargeldkundschaft von ihrem „leidigen” Hang abzubringen, wurden von staatlicher Seite wohlwollend hingenommen, obwohl heute noch knapp 60 Prozent aller über sechzigjährigen Polen keine Kreditkarten benutzen.

Bargeldverteidigung. Plakat. Oben: „Lasst uns das Bargeld verteidigen“. Darunter (1. Handyzeile): „Bank Deiner Zukunft“, links unten „Konto gesperrt“, rechts unten Name des Inhabers: „Jan Sklave“

Unter diesem Trend zu leiden hatten vor allem ältere, arme, weniger gebildete Menschen, die zum Beispiel nicht mehr wie früher ihre Mieten, Gas- und Stromrechnungen direkt und ohne Provision an den Schaltern der Wohnungsgenossenschaften bezahlen konnten. Diese Schalter wurden geschlossen und wer online zahlte, bekam einen Rabatt. Kunden ohne Karte und Homebanking konnten sich an den Postschaltern anstellen, wo für jede Überweisung hohe Gebühren kassiert werden. Hier und da gab es Geschäfte, die Kartenzahlern kleine Rabatte einräumten, und solche, die sie am Eingang ausdrücklich willkommen hießen. Wer bar bezahlte, war lästig, sollte womöglich Schuldgefühle haben.

Die Bargeldbefürworter und ihre Erfolge

Die Lage änderte sich nach dem Wahlsieg der Nationalkonservativen im Herbst 2015 und der Wahl ihres Kandidaten, Prof. Adam Glapiński im Juni 2016 zum Präsidenten der Polnischen Nationalbank. Glapiński ist ein eindeutiger Bargeldbefürworter. Während die Europäische Zentralbank den Fünfhunderteuroschein aus dem Verkehr zog, brachte Glapiński Anfang 2017 den Fünfhundertzlotyschein in Umlauf. Immer wieder sprach er sich auch gegen die Benachteiligung von Bargeldzahlern aus.

Nationalbankpräsident Adam Glapiński

Gekrönt wurde Glapińskis Engagement durch eine von ihm angeregte Novelle zum Finanzdienstleistungsgesetz (Ustawa o usługach płatniczych), die der Sejm im August 2021 verabschiedete.

Sie besagt:

  1. Der Verkauf von Waren und Dienstleistungen darf nicht von einer bargeldlosen Zahlung abhängig gemacht werden.
  2. Die Annahme einer Barzahlung bis zu 5.400 Zloty (ca. 1.200 Euro – Anm. RdP) darf nicht verweigert werden.
  3. Es dürfen keine Gebühren auf Barzahlungen erhoben und keine Preisunterschiede zwischen Bar- und Kartenzahlungen gemacht werden.

Ausnahmen sind: Geschäfte im Internet, Orte, an denen ein Verkauf ohne Personal stattfindet, Massenveranstaltungen, bei denen vorher auf die Ausschließlichkeit bargeldloser Zahlungen hingewiesen wurde.

Einen weiteren Sieg konnten die Bargeldbefürworter Mitte Juni 2023 davontragen. Im umfangreichen Regelwerk zu einem Wirtschaftsförderungsprogramm brachten Beamte des Finanzministeriums Ende 2022 diskret zwei Bestimmungen unter, die die Verwendung von Bargeld deutlich eingeschränkt hätten.

Justizminister Zbigniew Ziobro setzt sich für das Bargeld ein

Zum einen sollte das Limit für Bargeldgeschäfte von 15.000 Zloty (ca. 3.300 Euro) auf 8.000 Zloty (ca. 1.800 Euro) gesenkt werden. Zum anderen war geplant, bei Geschäften, deren Gesamtwert 20.000 Zloty (ca. 4.400 Euro) übersteigt, auch wenn die Zahlungen regelmäßig unbefristet getätigt werden (z.B. beim Mieten von Wohnungen), nur das Zahlen per Überweisung, Dauerauftrag oder Einzugsermächtigung zu erlauben.

Das Vorhaben rief Justizminister Zbigniew Ziobro auf den Plan. Auf sein Betreiben wurden beide Bestimmungen bei der Verabschiedung des Förderprogramms durch den Sejm verworfen. Die alten Limits blieben in Kraft.

Plakat. „Verteidige das Bargeld“.

Auch in Polen erheben sich zahlreiche Stimmen, das Recht auf Bargeldzahlungen in der Verfassung zu verbriefen und so dem Beispiel der benachbarten Slowakei zu folgen, die den Euro seit 2009 als Zahlungsmittel verwendet. Das Land macht sich Sorgen, die geplante Einführung des digitalen Euro könnte der Anfang vom Ende des Bargeldes sein. Doch beim genaueren Hinschauen erweist sich das slowakische Vorbild als sehr fraglich. Denn es wurde dort eine Verfassungsbestimmung geschaffen, die sich selbst widerspricht. Während das Recht des Käufers auf Barzahlung geschützt wird, wird zugleich dem Verkäufer die Möglichkeit eingeräumt, die Annahme von Bargeld aus legitimen Gründen, die sich sehr weit auslegen lassen, zu verweigern.

Ob Ӧsterreich und die Schweiz, wo es ähnliche Absichten gibt, es besser machen werden? In Polen jedenfalls ist an eine Verfassungsänderung vorerst nicht zu denken. Die „totale” Opposition, wie sie sich selbst nennt, die aus Prinzip wahl- und ausnahmslos alles, was die nationalkonservative Regierung tut, ablehnt, würde auch in diesem Fall die Zusammenarbeit verweigern. Und für eine Verfassungsänderung braucht es auch in Polen eine Zweidrittelmehrheit.

Tatsache bleibt, dass die Freiheit, mit Bargeld zu bezahlen, ein kostbares Gut ist, das man wachsam im Auge behalten muss. Wie zum Beispiel in Polen.

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Auswanderer. Polen hat sie wieder

Was für die Heimkehr spricht.

Die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache. Seit 2020 sind unter anderem 30.000 Polen aus Irland, 40.000 aus Spanien, 50.000 aus Italien und 300.000 aus England in die Heimat zurückgekehrt.

Die verstärkte Rückkehrwelle macht sich auch in den Personalabteilungen polnischer Unternehmen und Institutionen bemerkbar. „Ich bearbeite Bewerbungen in einer großen öffentlichen Einrichtung, und wir hatten noch nie so viele Anfragen von Menschen, die aus dem Ausland zurückkehren. Das ist bereits ein Trend“, zitierte die Zeitung „Dziennik” im Juli 2023 eine Warschauer  Personalchefin.

Nach dem EU-Beitritt 2004 haben etwa 2,5 Millionen Menschen Polen auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand verlassen. Armut, Wohnungsmangel, hohe Arbeitslosigkeit, karge Löhne, fehlende Sozialleistungen und ein Arbeitsmarkt, auf dem Leiharbeit, Zeitverträge und die Scheinselbstständigkeit vorherrschten, ließen ihnen oft keine Wahl. Das Polen der Neunziger- und Nuller-Jahre war ein raubkapitalistisches Eldorado, wie es im Buche steht.

Inzwischen ist der Westen für viele polnische Emigranten nicht mehr attraktiv genug, um ein Leben in der Fremde zu führen. Sie werden angezogen von der guten Lage auf dem heimischen Arbeitsmarkt (Mai 2023: 2,7 Prozent Arbeitssuchende laut Eurostat), von den deutlich gestiegenen Löhnen und neuen Sozialleistungen. Die immer noch höheren Löhne im Westen werden inzwischen durch die erheblich gestiegenen Lebenshaltungskosten gemindert. Es bleibt kaum etwas übrig, um es auf die hohe Kante zu legen oder der Familie in der Heimat zu schicken.

Viele der Rückkehrer kamen zudem mit der Mentalität der vielen Migranten aus Afrika und dem Mittleren Osten nicht mehr klar, mit denen sie an ihren Wohnorten zusammenlebten. Nicht wenige sorgten sich um ihre Kinder in Anbetracht der ausschweifenden LGBT-Präsenz im öffentlichen Raum und im Schulwesen.  Die Rückkehr wird auch durch die Erlebnisse während der Pandemie beeinflusst, als die Trennung von geliebten Menschen besonders schmerzhaft war. Viele wollen so etwas in Zukunft nicht mehr erleben.

Ein harter Job

Marcin und seine Frau Maria hatten eine mittelgroße Firma, die Hotels, Privatwohnungen und Büros reinigte. Ihr Spezialgebiet waren Teppiche, Polstermöbel, Matratzen und Stoffe aller Art. Ursprünglich aus Lublin stammend, beschlossen sie vor mehr als einem Jahrzehnt auf Anregung von Freunden, ihr Unternehmen in England zu gründen.

„Verlockend waren vor allem Einnahmen, die höher waren als in Polen. Wir hatten immer im Sinn, jeden Monat etwas Geld zu sparen und eines Tages damit in die Heimat zurückzukehren. Die Preise für Dienstleistungen waren tatsächlich besser, und es gab auch viel mehr zu tun als an ähnlichen Orten in Polen. Es war einfach schmutziger, manchmal konnten wir uns nur schwer vorstellen, wie eine Wohnung in einen solchen Zustand gebracht werden konnte. In den Unterkünften in England sind viel mehr Menschen untergebracht als in Polen. Sie kommen  aus der ganzen Welt und  nehmen es oftmals mit der Hygiene weniger genau“, sagt Marcin. Auch die Arbeitsatmosphäre sei viel schlechter als in Polen. Die Briten brachten sehr deutlich zum Ausdruck, dass sie Außenseiter waren und nicht zu ihnen gehörten.

„Für mich war die Zahl der Migranten dort immer ein Problem. Außerdem war es nicht nur in den Wohnungen oder Hotels, die wir reinigten schmutzig, sondern auch auf den Straßen und in den Höfen. Nur die Zentren, die Innenstädte, sind gepflegt, der Rest ist weit mehr heruntergekommen als in Polen. Und welcher in England arbeitende Pole kann es sich leisten, eine Wohnung im Zentrum zu mieten? Wir wohnten in einem heruntergekommenen Außenbezirk der Stadt. Dort lebten auch Engländer, aber man sah vor allem Afrikaner, Inder und Araber auf den Straßen. Das war mir einfach nicht geheuer“, erinnert sich Maria.

Sie gingen 2013 nach England und kehrten Ende 2022 nach Polen zurück. „Wir hatten schon immer geplant, zurückzukehren. Allerdings wurde unsere Rückkehr durch die Pandemie beeinflusst, die unsere berufliche Tätigkeit zum Erliegen brachte und die Lebenshaltungskosten in die Höhe trieb, wir zahlten immer mehr Miete“, berichtet Marcin. „Unsere monatlichen Ausgaben stiegen um bis zu 800 Pfund pro Person.”

„Die derzeitigen Lebenshaltungskosten in Großbritannien erlauben es den Polen nicht, Ersparnisse beiseitezulegen, sodass es keinen Sinn macht, dort zu arbeiten, denn das Geld war eigentlich das Einzige, was uns und die meisten unserer Bekannten nach England lockte. Alles andere ist aus meiner Sicht eher von Nachteil, ich würde dort niemals dauerhaft leben wollen“, sagt Marcin. Er fügt hinzu, dass Auswandern in der Regel mit harter Arbeit verbunden ist. Und selbst wenn das Geld dafür entschädigt, hat man oft nicht die Kraft, noch etwas anderes zu tun, einmal das Land zu erkunden, in dem man sich befindet, soziale Kontakte zu knüpfen usw. Es ist unmöglich, auf Dauer so zu leben.

Flucht vor der Diktatur

Zofia lebte 28 Jahre lang in Kanada, ihr Mann 30 Jahre. Sie arbeiteten beide im Gesundheitswesen, sie als Krankenschwester, er als Krankenpfleger. Jahrelang führten sie in Kanada ein finanziell komfortables Leben. Die Gehälter waren hervorragend, dazu kamen zahlreiche Vergünstigungen. Dieses komfortable Leben wurde durch die Pandemie beendet.

„Der unmittelbare Grund, weshalb wir nach Polen zurückkehrten, war, dass wir uns nicht gegen Covid impfen lassen wollten. Uns drohte der Verlust des Arbeitsplatzes, unsere Tochter und unser Sohn konnten ohne die Impfung ihr Studium nicht fortsetzen, und unsere jüngste Tochter hätte nicht an außerschulischen Aktivitäten wie Schwimmen oder Volleyball teilnehmen können“, sagt Zofia.

„Wir wissen viel über die Viren, unsere ganze Familie hat Covid durchgemacht, meinen Mann hat es hart getroffen, aber wir haben alle überlebt, und wir haben beschlossen, dass die Impfung für uns keinen Sinn macht. Wir hatten nicht das Gefühl, dass es aus gesundheitlichen Gründen notwendig ist, wir wollten unsere Gesundheit nicht riskieren, denn wir kannten Menschen, bei denen es nach der Impfung zu Komplikationen kam oder die dadurch sogar gestorben sind. Wir hatten Familie in Polen, jemanden, zu dem wir zurückkehren konnten. Wir verkauften, was nicht nach Polen gebracht werden konnte, nahmen den Rest unserer Sachen mit nach Hause und begannen ein neues Leben“, berichtet Zofia.

Sie sagt, die Pandemie entblößte das wahre Gesicht der kanadischen Regierung. Für viele Polen war das ein Weckruf, sie erkannten, dass sich die Regierung zu sehr in das Leben der Menschen einmischt und versucht, die Bürger zu kontrollieren. Bisher war es ihr und ihrem Mann gelungen, die Familie und ihre Kinder zu schützen, z. B. vor dem Druck der Gender-Ideologie, aber in der Frage der Impfung beschloss die Regierung, Zwang anzuwenden. Die meisten ihrer Freunde haben sich impfen lassen, einige haben ihren Arbeitsplatz verloren, andere haben von sich aus aufgegeben.

„In Kanada haben sich diese ideologischen Veränderungen schrittweise vollzogen, wir haben uns an viele Dinge langsam gewöhnt, die für viele alltäglich geworden sind. Wir haben unsere eigenen Ansichten, und so haben wir auch unsere Kinder erzogen, aber die Gender-Ideologie und die frühe, oft ziemlich rabiate Sexualisierung der Kinder ließ sich sogar in einer katholischen Schule nicht vermeiden, wo im Juni neben der kanadischen Flagge immer eine Regenbogenfahne auf dem Dach wehte“, erzählt Zofia.

„Als ich im Sommer 2021 an den Protesten gegen die Impfpflicht in Kanada teilnahm, traf ich eine Lehrerin, die kurz davor war, ihre Stelle an der Schule zu kündigen, weil das, was die Regierung in das Bildungssystem einführen wollte, im Widerspruch zu ihren Überzeugungen stand und sie es nicht mehr unterrichten konnte. Eine andere befreundete Lehrerin erzählte mir, dass die Vermittlung der Gender-Ideologie in den öffentlichen Schulen mehr Gewicht hat als der Mathematik- oder Englischunterricht”, erinnert sich Zofia.

Das erste Jahr nach ihrer Rückkehr nach Polen war schwierig, denn es galt, einen Job und eine Wohnung zu finden, aber sie schafften es, alles unter Dach und Fach zu bringen. Heute haben Zofia und ihr Mann Arbeit und fühlen sich in Polen zu Hause. Hier denken die meisten Menschen wie sie, und so erziehen sie auch ihre Kinder. Auch Zofias Kinder, einschließlich der bereits erwachsenen, denen die Eltern ihre Entscheidung freigestellt hatten, wo sie leben wollten, haben den Weg zurück nach Polen gefunden.

Bekannte, zu denen sie viele Jahre lang keinen Kontakt hatten, sind ebenfalls aus Kanada nach Polen zurückgekehrt und leben jetzt nur 20 Kilometer von ihnen entfernt. So führt das Schicksal zerbrochene Bande wieder zusammen. „Ich glaube, dass alles, was in meinem Leben geschieht, nicht dem Zufall, sondern der Vorsehung zu verdanken ist und meinem Wohl dient. Und so ist es auch mit unserer Rückkehr nach Polen“, schließt Zofia.

Kindererziehung in Polen

Anna und ihr Mann lebten 17 Jahre lang in England, zuerst fand ihr Mann dort Arbeit, dann sie. Sie hatten nicht geplant, so lange im Ausland zu leben, aber es ergab sich anders. „Wir sind vor einem Jahr nach Polen zurückgekehrt, und der unmittelbare Grund waren die Kinder. Wir wollten sie dort nicht großziehen – wegen der völlig anderen Kultur und Mentalität. Britische Realität ist, dass es schwierig ist, Kinder im Glauben zu erziehen. Unsere älteren Töchter gingen zur Schule und hatten Religionsunterricht, aber in diesem Fach wurden alle Religionen in einen Topf geworfen und als eine Option unter verschiedenen Legenden und Märchen behandelt. Wir sind auch wegen der Familie, die in Polen lebt, zurückgekommen“, sagt Anna.

Die Anpassung an die Heimat nach so vielen Jahren der Abwesenheit fiel ihr leicht. Sie und ihr Mann hatten immer geplant zurückzukehren. „Wir haben uns beide in England nicht wohlgefühlt, also verlief die Rückkehr problemlos“, berichtet Anna.

Sie und ihre Familie waren in ihrer Gegend in England bei Weitem nicht die einzigen Polen, die heimkehrten. „Wir hatten acht Jahre lang eine Wohnung von Engländern gemietet, die acht Wohnungen besaßen und sie alle an Polen vergeben hatten, weil sie überwiegend gute Erfahrungen mit ihnen gemacht haben. Als wir abreisten, räumten alle Polen ihre Wohnungen und kehrten in die Heimat zurück“, erinnert sich Anna. Der britische Vermieter fragte sogar, ob die Polen noch auf die Inseln kommen würden, aber das ist in absehbarer Zeit eher unwahrscheinlich. Wegen des Brexits ist es einfacher, in der EU zu arbeiten, und der Verdienst in England ist nicht mehr so attraktiv wie früher. Ähnliche Summen lassen sich auch anderswo verdienen, sogar in Polen.

Anna ist mit ihrer Familie von England nach Rzeszów gezogen. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, fragte die Lehrerin ihrer Tochter, ob sie Angst hätten, so nahe an der Grenze zu leben. Aber ihrer Meinung nach ziehen es die Menschen in solchen Situationen vor, näher bei ihrer Familie zu sein, nicht weit weg, um sich nicht ständig fragen zu müssen, was mit ihren Angehörigen passiert. Das ist auch ein Beweggrund, der die Entscheidung zur Heimkehr beeinflussen kann.

Dieser Trend zur Rückkehr ist eine Chance, das Schrumpfen der polnischen Gesellschaft zu stoppen. Nach dem EU-Beitritt verließen 180.000 Menschen die Woiwodschaft Podlachien an der litauischen Grenze (10 Prozent der Bevölkerung) und 110.000 die Woiwodschaften Vorkarpatenland an der ukrainischen Grenze und Ermland-Masuren an der Grenze zum Kaliningrader Gebiet (8,5 bzw. 7,5 Prozent).

Das beste Mittel gegen Auswanderung ist, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass junge Polen dauerhaft in ihrem Heimatland bleiben wollen. Teilweise ist das bereits passiert, aber es gibt noch viel zu tun.

Lesenswert auch: „Polnisch, britisch, kritisch. Die Lage der Polen in Großbritannien gibt Anlass zur Sorge“.

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Polens Frauen. An der Schwelle zur Lohngerechtigkeit

Einkommensgefälle gering. EU-weit die meisten Frauen in Führungspositionen.

Aus den neuesten Daten des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) geht hervor, dass das polnische Lohngefälle, d. h. der Unterschied zwischen dem Verdienst von Männern und Frauen, mit 4,5 Prozent eines der niedrigsten in Europa ist. Der EU-Durchschnitt liegt bei 13 Prozent.

Von den 27 Mitgliedsstaaten weisen acht geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede von weniger als 10 Prozent aus. Dabei stehen nur vier Länder besser da als Polen auf, nämlich: Luxemburg (0,7 Prozent), Rumänien (2,4 Prozent), Slowenien (3,1 Prozent) und Italien (4,2 Prozent). Die größten geschlechtsspezifischen Verdienstunterschiede gibt es in Lettland (22,3 Prozent), Estland (21,1 Prozent), Österreich (18,9 Prozent) und Deutschland (18,3 Prozent). Zwischen 2015 und 2022 verringerte sich dieser Unterschied in Polen von 7,3 auf 4,5 Prozent, während er in der EU insgesamt von 15,5 auf 13 Prozent sank.

Im Jahr 2022 betrug der Wert in Polen nach Altersgruppen:

bis 25 Jahre – 8,2 Prozent,

25 bis 34 Jahre – 7,2 Prozent,

35 bis 44 Jahre – 9,4 Prozent,

45 bis 54 Jahre – 5,5 Prozent.

In der Altersgruppe 55 bis 64 Jahre besteht ein Lohngefälle zugunsten der Frauen. Es beträgt 6,8 Prozent.

Letzteres hängt mit dem niedrigeren gesetzlichen Renteneintrittsalter für Frauen (60 Jahre) zusammen. Das Renteneintrittsalter für Männer beträgt in Polen 65 Jahre. Frauen mit geringerer Qualifikation und Entlohnung, die oft körperlich schwer arbeiten müssen, neigen dazu, schnellstmöglich in Rente zu gehen. Damit tauchen sie in der Eurostat-Statistik nicht mehr auf. Frauen in höheren, gut bezahlten Positionen hingegen verlassen den Arbeitsmarkt deutlich später.

Unterschied zwischen dem Verdienst von Männern und Frauen in den 27 EU-Mitgliedsstaaten 2022. Bitte ggf. vergrößern.

Fortschritt ohne Vorschriften

„In Polen ist das Lohngefälle im Vergleich zu anderen EU-Ländern relativ gering. Ich erinnere mich an die Zeiten, als es im Durchschnitt 7 Prozent betrug. Es ist erwähnenswert, dass wir in Polen keine besonderen Vorschriften in dieser Hinsicht haben, wie es in den meisten EU-Ländern der Fall ist. Wenn es irgendwo ein ernstes Problem gibt, werden Vorschriften eingeführt, um negative Erscheinungen zu verhindern. In Polen werden keine zusätzlichen Vorschriften benötigt“, sagt Piotr Soroczyński, Chefökonom der polnischen Handelskammer. „Die größere Kluft in den westeuropäischen Ländern ist beispielsweise darauf zurückzuführen, dass Frauen häufiger als Männer in Teilzeit arbeiten, wodurch sich das Lohngefälle vergrößert. In Polen ist Teilzeitarbeit viel weniger verbreitet“, fügt der Experte hinzu.

„Die Forderung, die Lohnlücke zu schließen, ist absolut richtig. Unabhängig vom Geschlecht sollte gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt werden. Allerdings gibt es nirgendwo eine ideale Situation. Wenn wir uns die EU-Länder ansehen, steht Polen an der Spitze der Länder mit dem geringsten Lohngefälle“, sagt Barbara Socha, stellvertretende Ministerin für Familien- und Sozialpolitik. „In den westeuropäischen Ländern, die wir als weiter entwickelt betrachten, ist dieser Abstand viel größer als in Polen. In diesen Ländern ist auch die Erwerbsquote der Frauen niedriger. In Polen ist dieser Unterschied in einigen Branchen sogar negativ, d. h. Frauen verdienen mehr als Männer“, erklärt Socha.

Das ist zum Beispiel im öffentlichen Sektor (Verwaltung, Justizwesen, Bildung, Gesundheitswesen, Polizei, Armee) der Fall, wo der Gehaltsunterschied zwischen den Geschlechtern im Jahr 2022 zugunsten der Frauen ausfiel und 0,6 Prozent betrug. Anders ist es in der Wirtschaft. Hier liegt das Lohngefälle der Nachteil der Frauen bei 13 Prozent.

„Die Lücke in der Wirtschaft könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Frauen dort häufiger in Teilzeit arbeiten, während es im öffentlichen Sektor wesentlich üblicher ist, Vollzeit zu arbeiten. Wenn das der Grund ist, dann sehe ich kein Problem. Wären es andere Gründe, d. h. wäre die Lücke auf eine bewusste Politik der Unternehmen zurückzuführen, dann müsste man eingreifen. Ich beobachte den Arbeitsmarkt jedoch schon seit Langem und kann keine bewusste Negativpolitik der Arbeitgeber erkennen. Im Gegenteil. Als ich in Entscheidungspositionen tätig war und intern gebeten wurde, zu prüfen, ob es ein Lohngefälle gibt, stellte sich heraus, dass es in den Unternehmen, für die ich tätig war, überhaupt keinen Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen in denselben Positionen gab. Der Anteil von Frauen und Männern in Führungspositionen war gleich groß. In Polen ist der Anteil der Frauen in Führungspositionen recht hoch“, berichtet Piotr Soroczyński.

Beinahe jeder zweite Chef ist eine Frau

Das wird durch die Daten von Eurostat bestätigt, die zeigen, dass 2022 der Frauenanteil in Führungspositionen (im Alter zwischen 20 und 64 Jahren) in Polen mit 43,7 Prozent den höchsten Wert in der EU erreichte. Der EU-Durchschnitt liegt bei 35,6 Prozent. Nach Polen wurden die besten Ergebnisse in Bulgarien (43,4 Prozent), Lettland (43,1 Prozent) und Schweden (42,6 Prozent) verzeichnet. Am schlechtesten schnitten Kroatien (24,4 Prozent), Zypern (25,3 Prozent) und die Tschechische Republik (27,4 Prozent) ab.

Die Lohnunterschiede in Polen sind von Branche zu Branche unterschiedlich. Im Baugewerbe z. B. verdienen Frauen im Durchschnitt 9,6 Prozent mehr als Männer. Letztere verrichten auf den Baustellen die geringer bezahlten, schweren körperlichen Arbeiten. Frauen arbeiten im Baugewerbe hingegen fast ausschließlich in höheren Positionen, die spezifische und besser bezahlte Qualifikationen erfordern, z. B. als Ingenieure, Konstrukteure, Architekten, Logistiker, Verwaltungsangestellte.

Auf dem anderen Ende der Skala befindet sich die von Männern beherrschte polnische Informations- und Kommunikationsbranche, wo ein Auseinanderdriften der Gehälter von 27 Prozent zu Ungunsten der Frauen besorgniserregend ist.

„Polnische Frauen sind hochgebildet, fleißig und unternehmerisch denkend. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Die Kassandrarufe der turboliberalen Ökonomen und Politiker, die Einführung des 500+ Programms (500 Zloty monatlich für jedes Kind bis 18 Jahren) durch die nationalkonservative Regierung werde die Frauen vom Arbeiten abhalten, haben sich nicht bewahrheitet. Das genaue Gegenteil ist eingetreten“, sagt Barbara Socha, die stellvertretende Ministerin für Familie und Soziales.

Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Statistiken. Laut der Arbeitskräfteerhebung (AKE) von Eurostat lag in 2022 die Erwerbsquote von Frauen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren in Polen bei 72,3 Prozent, während der EU-Durchschnitt 74,1 Prozent betrug. Die Wachstumsrate der weiblichen Erwerbsquote in Polen war in den letzten sieben Jahren viel höher als im EU-Durchschnitt. Im Vergleich zu 2015 (64,7 Prozent) stieg sie in Polen um 7,6 Prozentpunkte. Der EU-Durchschnitt wuchs in dieser Zeit um 4 Prozent.

In den letzten zehn Kalenderjahren erhöhte sich die Beschäftigungsquote von Frauen (20-64 Jahre) in allen Bildungsgruppen. Am stärksten war der Zuwachs bei polnischen Frauen mit Hochschulabschluss: 7,9 Prozent. Im Jahr 2022 waren 87,9 Prozent berufstätig. Im Vergleich dazu, lag die Beschäftigungsquote von Frauen mit Hochschulabschluss in der gesamten EU in der gleichen Zeit bei 83,7 Prozent (am höchsten in Litauen mit 91,3 Prozent, am niedrigsten in Griechenland mit 74,9 Prozent).

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Wie mutig sind die Polen

Was würden Sie tun, wenn Russland Polen, so wie die Ukraine, überfallen würde?

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sieht sich Polen zum ersten Mal seit Jahrzehnten einer unmittelbaren Kriegsbedrohung ausgesetzt. Eine schnelle und umfangreiche Aufrüstung, gepaart mit einer merklichen Aufstockung des Personalbestandes der Armee haben inzwischen oberste Priorität bei den Regierungsvorhaben. In diesem Fall kann sich die Regierung einer breiten Unterstützung der Bevölkerung sicher sein. Doch wie steht es um den Kampfeswillen der Polen?

Die Frage ist wichtig, denn wie das ukrainische Beispiel zeigt, ist die allgemeine Bereitschaft, das eigene Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, ausschlaggebend für eine erfolgreiche Verteidigung. Wie fatal sich die fehlende Motivation der kämpfenden Truppe auswirken kann, sieht man andererseits am Beispiel der russischen Angreifer. Welchem Beispiel würden die Polen im Ernstfall folgen?

Im Vergleich mit anderen

In den sozialen Medien werden von Zeit zu Zeit Studien veröffentlicht, die zeigen, inwieweit verschiedene Nationen bereit sind, ihre Staaten zu verteidigen. Im Vergleich zu anderen Europäern sind die Polen durchaus kampfbereit. Während bei den Deutschen die Bereitschaft, die Heimat zu verteidigen, nur bei 18 Prozent liegt, beläuft sie sich bei den Polen auf 47 Prozent.

Polnische Aufständische werden nach Sibirien getrieben. Bild von Artur Grottger aus dem Jahr 1867.

Am Ural. Deportierte Polen nehmen Abschied von Europa. Bild von Aleksander Sochaczewski aus dem Jahr 1890.

Hier zeigt sich ein charakteristisches Muster: Je mehr schlechte historische Erfahrungen es mit Russland gibt, desto größer ist der Ansporn, sich dem Angreifer aus dem Osten entgegenzustellen. Fast ebenso motiviert wie die Polen sind die Letten (41 Prozent), noch deutlich motivierter die Finnen (74 Prozent). Andererseits scheinen die Tschechen, die viel weniger Erfahrung mit Russland haben, oder die Bulgaren, die historisch gesehen weit mehr Angst vor der türkischen Bedrohung empfinden, weniger mutig zu sein. Dort sind nur ein Viertel der Befragten bereit, ihr Land gegen Russland zu verteidigen.

Entdeckte Massengräber von den Sowjets ermordeter polnischer Offiziere. Katyn bei Smolensk 1943.

Von den Sowjets deportierte und „begnadigte“ Polen melden sich 1941 zur Anders-Armee.

Das historische Gedächtnis beeinflusst also die Wahrnehmung der Bedrohung und formt die Verhaltensweisen. Im Laufe der Zeit verblasst jedoch oft die Erinnerung, was gemeinsam mit der allgemeinen Verbesserung des Lebensstandards dazu führt, dass das Materielle immer mehr in den Vordergrund tritt. Das gilt für viele, aber beileibe nicht für alle Länder. Das einst von Francis Fukuyama versprochene „Ende der Geschichte“ durch den Siegeszug der Demokratie ist jedenfalls leider nicht eingetreten. Ein Beleg dafür ist die aggressive Politik Russlands, das den gerade beschriebenen Prozess offenbar verpasst hat. Der naive, von Wunschträumen geprägte Umgang mit Russland als einem normalen europäischen Staat hat letztendlich zu dem jetzigen Krieg geführt.

Heißt das, dass wir in Polen Angst vor Russland haben sollten? Lieber nicht, denn Angst behindert das rationale Denken und führt zu Fehlern. Nicht Angst, sondern ein ständiges Bewusstsein für die Bedrohung ist gefragt. Für die polnische Regierung bedeutet das, dass sie eine Politik verfolgen muss, die dieser Bedrohung ständig und in jeder Hinsicht Rechnung trägt. Und die Gesellschaft ihrerseits muss bereit sein, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Furcht und Mut

In der Vergangenheit fürchteten die Polen Russland, überschätzten gleichzeitig jedoch nicht dessen Macht. Daher waren sie nicht durch Angst gelähmt und konnten, wenn nötig, wirksamen Widerstand leisten während der antirussischen nationalen Aufstände von 1768, 1794, 1830 und 1863 oder im polnisch-bolschewistischen Krieg von 1920.

Sowjetisch-polnischer Krieg 1920. Von polnischen Einheiten eroberte sowjetrussische Truppenfahnen.

Eine ähnliche Haltung ist heute bei den Ukrainern zu beobachten, die, obwohl sie zahlenmäßig und militärisch schwächer als Moskau sind, die Aggression erfolgreich abwehren. Die Ukrainer erinnern an die Polen von 1920, nicht nur, weil sie wie die Polen damals für den Erhalt ihres Staates kämpfen, sondern auch, weil sie bis vor Kurzem Teil des Moskauer Imperiums waren und sich dessen innerer Schwächen bewusst sind.

Im Jahr 1920 war die Erinnerung an die russische Herrschaft in Polen ebenfalls noch frisch. Das hat sich inzwischen geändert. 1990 aus dem sowjetrussischen Machtbereich ausgebrochen, blicken die Polen seither zunehmend mit den ängstlichen Augen des Westens auf Moskau. Diese Haltung ist noch nicht vorherrschend, aber ihr Einfluss ist vor allem bei der jüngeren Generation (18-29 Jahre) spürbar. Laut einer Studie hat diese Gruppe die größte Angst vor einem russischen Angriff auf Polen (65 Prozent der Befragten in einer IBRiS-Umfrage für Onet vom 25. Februar 2022).

Das ist nicht überraschend. Sie wurden nach dem Ende des Kommunismus geboren, kennen Russland nicht und sind mit der Überzeugung aufgewachsen, in einer sicheren Welt zu leben. Ihnen fehlen die Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern. Zugleich trennen die Popkultur und die sozialen Medien sie von der Realität und oft auch vom Wissen ab. Kein Wunder also, dass sie über den plötzlichen Zusammenbruch der bestehenden Ordnung so entsetzt waren.

Von Social Changes im Auftrag des Portals wPolityce.pl im September 2022 durchgeführte Umfrage. Ggf, bitte vergrößern.

Doch auch wenn sie von einer Angst befallen sind, so sind sie keineswegs durch sie gelähmt. Junge Polen legen die größte Bereitschaft an den Tag, für die Verteidigung des Landes zu kämpfen. In einer anderen Umfrage, die kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine durchgeführt wurde (Umfrage für das Warsaw Enterprise Institute vom 3. März 2022), gehörte fast ein Viertel (24 Prozent) derjenigen, die im Ernstfall zur Verteidigung ihres Landes an die Front gehen wollten, zu den jüngsten Befragten (im Alter von 18 bis 24 Jahren). In anderen Altersgruppen war der Prozentsatz niedriger.

Allerdings muss das alles im richtigen Verhältnis gesehen werden. Die oben zitierte Umfrage zeigt, dass insgesamt nur 17 Prozent der Befragten (d. h. aus allen Altersgruppen) bereit sind, an die Front zu gehen. Wie verhält sich dies nun zu der zuvor erwähnten Umfrage, die besagt, dass sogar 47 Prozent der Polen bereit sind, ihr Heimatland zu verteidigen?

Die Hälfte ist bereit

Die erklärte Bereitschaft, das eigene Land zu verteidigen, ist ein recht weit gefasster Begriff. In der jüngsten Umfrage, die von Social Changes im Auftrag des Portals wPolityce.pl im September 2022 durchgeführt wurde, erklärten sich beispielsweise 44 Prozent der Befragten bereit, gegen einen Aggressor zu kämpfen, aber nur 13 Prozent von ihnen sind bereit, an die Front zu gehen, 12 Prozent würden sich an Partisanen- und Sabotageaktionen beteiligen, und 19 Prozent würden nicht direkt kämpfen, aber die Kämpfenden auf andere Weise unterstützen. Das Ergebnis der Umfrage, wonach fast die Hälfte der Polen bereit ist, ihr Heimatland zu verteidigen, bedeutet also nicht automatisch, dass alle zu den Waffen greifen wollen.

Zum Vergleich: In der Ukraine mit ihren 44 Millionen Einwohnern sind nach einer Erklärung von Wolodymyr Selenskyj vom Mai 2022 mehr als 700 000 Menschen direkt in den Krieg mit Russland verwickelt, was etwa 3 Prozent der kampffähigen Bevölkerung des Landes (26,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 64 Jahren) entspricht. Diese knapp 3 Prozent leisten tatsächlich Widerstand gegen den Angreifer.

Soldaten der Territorialverteidigung beim Manöver.

So gesehen sind die 13 Prozent der Polen in der September-Umfrage oder die 17 Prozent in der März-Umfrage für das WEI ziemlich viel. Dies zeigt sich auch an der relativ hohen Popularität der Territorialen Verteidigungskräfte, deren Stärke von 7.000 Soldaten im Jahr 2017 auf 32.000 Ende 2021 gestiegen ist. Letztendlich werden sie realistischen Annahmen zufolge voraussichtlich noch auf 50.000 Mann ansteigen.

Im Übrigen muss nicht jeder Soldat sein, und nicht jeder ist dafür geeignet. Durch ungeeignete Soldaten gibt es nur Ärger und Probleme, wie die russischen Angreifer in der Ukraine schmerzlich erfahren mussten. Hilfsdienste wie das Sanitätswesen, die Versorgung mit Munition, Lebensmitteln und Kleidung, spielen im Krieg eine ebenso wichtige Rolle wie die kämpfende Truppe. Selbst der besttrainierte Soldat ist ohne diese Unterstützung hilflos.

Auch ohne Waffe in der Hand kann man einen Beitrag zur Landesverteidigung leisten. Ein Helfer der polnischen Caritas nimmt ukrainische Flüchtlinge an der Grenze in Empfang.

Daher sind die Erklärungen derjenigen zu begrüßen, die zwar nicht mit dem Gewehr kämpfen wollen (weil sie eine schwache Gesundheit oder Angst haben), aber bereit sind, die Armee auf andere Weise zu unterstützen. So funktioniert es in der Ukraine. Ohne das große gesellschaftliche Engagement im Rücken wären die ukrainischen Soldaten nicht so erfolgreich gewesen. Jeder sollte so viel helfen, wie er kann.

Das macht den Unterschied zu einer mehr oder weniger strikten Verweigerungshaltung aus. Die zitierte Umfrage für das Portal wPolityce.pl zeigt, dass 17 Prozent der Befragten im Falle einer Bedrohung das Land verlassen würden, 5 Prozent würden in Polen untertauchen und 7 Prozent würden tatenlos die Entwicklung der Ereignisse abwarten. Diese Antworten machen insgesamt 29 Prozent aus, was im Vergleich zu den 47 Prozent, die bereit sind, sich in unterschiedlicher Form an der Verteidigung des Landes zu beteiligen, darauf hindeutet, dass die polnische Fähigkeit zur sozialen Mobilisierung im Falle eines Krieges sich durchaus sehen lassen kann.

Aber auch in diesem Fall ist es ratsam, von voreiligen Vorverurteilungen abzusehen und sich erneut dem ukrainischen Beispiel zuzuwenden. Nach dem Moskauer Angriff wurden Millionen von Menschen, vor allem Frauen und Kinder, aus der Ukraine evakuiert. Das wirkte sich sehr positiv auf die Moral der an der Front kämpfenden Soldaten aus, die sich um das Schicksal ihrer Familien nicht sorgen müssen. Der Schutz der Familie ist schließlich ein natürlicher Reflex eines jeden Menschen. Nicht jeder, der den Wunsch äußert, das Land zu verlassen, ist daher ein national Abtrünniger. Im Gegenteil, die Flucht der Schwächsten an sichere Orte wirkt sich insgesamt ausgesprochen positiv auf die Verteidigungsfähigkeit eines Landes aus.

Die Flucht der Schwächsten an sichere Orte wirkt sich insgesamt ausgesprochen positiv auf die Verteidigungsfähigkeit eines Landes aus.

Auch lohnt es sich, ehrlich darüber nachzudenken, ob wir bereit wären, das Wohlergehen unserer eigenen Familie in einer Notsituation zu opfern, wenn wir die Möglichkeit hätten, alle gemeinsam das Land zu verlassen. Sicherlich wird es solche Menschen geben, aber es ist nicht zu erwarten, dass sie die überwältigende Mehrheit ausmachen. Umso wichtiger ist es, denjenigen Anerkennung zu zollen, die bereit sind, sich in irgendeiner Form für ihr Land einzusetzen. Und das ist, Umfragen zufolge, fast die Hälfte. Ausreichend also für einen potenziellen Angreifer, um auf der Hut zu sein.

Geist und Gemüt

Die einzige Haltung, die man im Angesicht der Gefahr wirklich fürchten sollte, ist die Dummheit, die Polen in der Vergangenheit bereits mehr als einmal in die Katastrophe geführt hat. Sie kann zwei Formen annehmen. Die ideologisch geprägte Variante geht davon aus, dass der polnische Staat keinen Wert darstellt, den es zu verteidigen gilt, und dass die polnische nationale Identität ein schädliches Relikt ist. Die andere Form besteht darin, die Bedrohung aus Eigennutz zynisch zu verdrängen. Beides geht oft Hand in Hand miteinander und beides lähmt den Widerstandswillen der Gesellschaft.

Die Gefahr, der Polen heute ausgesetzt ist, betrifft also nicht nur das Leben, die Gesundheit oder das Eigentum, sondern auch den Geist, den Verstand, das Gemüt. Die militärische Bedrohung kann, wie das Beispiel der Ukraine zeigt, nur dann bewältigt werden, wenn eine Mobilmachung auch das richtige Denken beinhaltet.

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Zwei Millionen Flüchtlinge. Polen, was nun?

Es gilt vieles zu überdenken.

Polen gelang es, den ersten gewaltigen Ansturm der ukrainischen Kriegsflüchtlinge in geordnete Bahnen zu lenken. Wie ging das vonstatten? Welche technischen und organisatorischen Schwierigkeiten, welche Ängste und Vorbehalte der Ankömmlinge galt es zu überwinden? Wie will man diejenigen, die in Polen bleiben wollen, integrieren? Antworten bringt das nachfolgende Gespräch mit Paweł Szefernaker, dem Regierungsbevollmächtigten für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.

Paweł Szefernaker.

Paweł Szefernaker, geb. 1987. Jurist und Verwaltungsfachmann. Seit 2010 Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit. Zwischen 2014 und 2018 Chef der Parteijugend. Seit 2015 Sejm-Abgeordneter. Ab Januar 2018 Staatssekretär im Innenministerium. Seit April 2022 Regierungsbevollmächtigter für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine.

Wissen Sie noch, was Sie am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland die Ukraine überfallen hat, gemacht haben?

Paweł Szefernaker: Wir hatten uns schon viele Tage lang unter Hochdruck auf mögliche Fluchtszenarien vorbereitet. Am Vortag dauerte die Arbeit bis spät in die Nacht. Gegen sechs Uhr morgens weckte mich der Anruf meines Chefs Mariusz Kamiński, des Ministers für Inneres und Verwaltung. Er ordnete die Einrichtung von Auffangstationen an der polnisch-ukrainischen Grenze an.

Warum wurden ausgerechnet Sie mit dieser Aufgabe betraut?

Die Empfangsstellen für Flüchtlinge sollten die Woiwoden (Regierungspräsidenten – Anm. RdP) vorbereiten. Und die Aufsicht über die Woiwoden ist mein Tätigkeitsbereich im Ministerium.

Wann haben Sie begonnen, sich auf eine mögliche Flüchtlingswelle vorzubereiten?

Einige Wochen vor Ausbruch des Krieges begannen die regelmäßigen Videokonferenzen mit den sechzehn Woiwoden. Aktionspläne wurden aktualisiert, die vor Ort vorhandenen Ressourcen überprüft, Nachschub geliefert.

Die Opposition und deren Medien hatten noch vor dem russischen Überfall behauptet, die Regierung tue nichts gegen die möglichen Folgen des Krieges an den Grenzen. Die Regierung hat dazu geschwiegen. Warum?

Grenzwoiwodschaften Lublin (oben) und Karpatenvorland.

Das sind sehr sensible Themen. Zu viel Lärm kann Panik auslösen, ernsthafte wirtschaftliche Folgen haben. Deshalb haben wir uns auf konkrete Maßnahmen konzentriert, nicht auf Gespräche. Wichtig war vor allem, die vorhandenen Krisenpläne auf das Management großer Flüchtlingsströme anzupassen. Insbesondere die beiden Grenzwoiwodschaften Lublin und Karpatenvorland, wo es insgesamt acht Grenzübergänge in die Ukraine gibt, mussten vorbereitet werden, damit es dort nicht zu einer humanitären Katastrophe kommt.

Manch einer mag sich fragen: Warum waren diese Pläne veraltet?

Es geht nicht um Aktualität, sondern um eine spezifische Krisensituation, auf die man sich einstellen muss. Niemand auf der Welt hat das Coronavirus vorausgesehen, das innerhalb weniger Tage die ganze Welt eingefroren, Grenzen geschlossen, Flugzeuge am Boden gehalten und den Fernunterricht eingeführt hat. Ebenso hat niemand in Europa vorausgesagt, dass es Tage geben würde, an denen innerhalb von 24 Stunden mehr als 100.000 Flüchtlinge aus der Ukraine in Polen ankommen würden. Am Rekordtag waren es über 140.000. Die Pläne von vor einigen Jahren sahen viel kleinere Maßstäbe vor. Aber als sich der Wandel abzeichnete, haben wir sofort reagiert.

Welche Herausforderungen bringen solche Massen von Flüchtlingen in so kurzer Zeit mit sich?

Das Problem ist nicht nur die Zahl der Flüchtlinge. Es ist allgemein bekannt, dass viele von ihnen aus Kriegsgebieten kommen und deswegen dringend humanitäre und psychologische Hilfe brauchen. Unter ihnen befinden sich auch Menschen mit Behinderung. Einige Flüchtlinge kommen mit Autos an, die sie versichern müssen. Die Haustiere der Flüchtlinge müssen geimpft werden. Auch ein Problem, das wir an der Grenze dringend lösen mussten.

Behinderte auf der Flucht.

Doch die Grenze ist nur der Anfang der Herausforderung. Dann gibt es noch den Transport ins Landesinnere. Wir haben 1.500 Busse angemietet. Dazu die Unterbringung, die Koordinierung der Zentren, in die die Menschen geschickt werden können. Viele Aufgaben wurden von den lokalen Behörden übernommen, viele Städte und Gemeinden leisteten hervorragende Arbeit. Die Verantwortung für die ganze Sache lag jedoch bei der Regierung.

Tiere mit auf der Flucht.

Reporter der BBC, von Fox News, CNN und viele andere waren überrascht, dass bei Kriegsausbruch auf unserer Seite der Grenze die Infrastruktur für die Registrierung von Flüchtlingen bereits vorhanden war. Wartete alles in Lagerhäusern in der Nähe? Hat die Armee das arrangiert?

Viele Aufgaben wurden und werden in gemeinsamen Anstrengungen der Regierung, der Regierungspräsidenten, der Kommunen und der NGOs durchgeführt. Das funktioniert. Wir als Regierung hatten Zelte, Betten, Logistik vorgehalten. Wir haben auch die Krisenvorräte an Lebensmitteln im Voraus aufgefüllt. Alle erforderlichen Dienststellen des Innen- und des Verteidigungsministeriums waren in vollem Einsatz. Die Grenzpolizei, die Armee, einschließlich der Territorialkräfte, die Feuerwehr und die Polizei legten viel Professionalität und Engagement an den Tag.

Hilfsstation an der Grenze.

Dass die Aufnahmestellen an der Grenze, auf den Bahnhöfen und im Landesinneren so schnell eingerichtet werden konnten, war zur Überraschung vieler genau diesen Vorbereitungen zu verdanken. Die Verfahren waren geregelt, notwendige Maßnahmen wurden stündlich eingeleitet, je nachdem, wie sich die Situation entwickelte. Die Nichtregierungsorganisationen fügten sich hier nahtlos ein und errichteten an der Grenze ihre Hilfsstationen. Im Endergebnis hat Polen die schwierige Prüfung der ersten Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine gut bestanden.

Westliche Medien berichteten, dass am Tag des Kriegsbeginns die Alarmsirenen in Medyka ertönten.

Sie haben den Grund nicht verstanden: Es war die freiwillige Feuerwehr, die ihre Mitglieder zusammenrief, um zu Hilfsleistungen an die Grenze auszurücken.

Die Medien der totalen Opposition, wie sie sich selbst nennt, haben immer wieder behauptet, dass Freiwillige einspringen mussten, weil die Regierung nicht bereit war.

Das ist ein Irrtum. Die Herausforderung war so groß, dass es genug Aufgaben und Arbeit für alle gab. Das wurde von allen, die uns damals besuchten, betont. Sie sahen die großen staatlichen, kommunalen und freiwilligen Anstrengungen, und als Fachleute konnten sie auch die Effizienz der Regierung einschätzen. Vertreter des UNHCR, des UN-Flüchtlingshilfswerks, waren voll des Lobes.

Schwarzafrikaner auf der Flucht.

Die Medien haben die Komplexität der Situationen, mit denen wir konfrontiert waren, nicht immer verstanden. Nehmen wir zum Beispiel die Angehörigen von Drittstaaten, die aus der Ukraine geflohen sind. Es waren hauptsächlich junge Leute aus Afrika oder Asien, die dort studierten, es war eine wirklich große Gruppe. Andere hatten dort gearbeitet.

Es gab Anschuldigungen, dass es eine Rassensegregation an der Grenze gibt.

Das ist ein völliges Missverständnis. Die überwältigende Mehrheit der ukrainischen Flüchtlinge sind Frauen mit Kindern, die ein besonderes Gefühl der Sicherheit brauchen, einschließlich einer Zone der Intimität. Bei den Asiaten und Afrikanern handelte es sich um junge Männer, die schnell weiterziehen wollten. Will uns in diesem Zusammenhang wirklich jemand vorwerfen, dass wir beschlossen hatten, diese beiden Gruppen in verschiedene Zentren, in getrennte Säle zu schicken? Die Behauptungen einiger westlicher Medien, es handele sich um Rassensegregation, waren sehr unfair.

Haben Sie die Menschen beim Grenzübertritt kontrolliert?

Wir sind davon ausgegangen, dass jeder kontrolliert werden muss, schließlich ist die Sicherheit der Polen das Wichtigste. Aber nicht jeder hatte einen Pass, insbesondere Minderjährige. Einige Grenzübergänge, die nur für den motorisierten Verkehr geeignet waren, mussten plötzlich Tausende von Fußgängern aufnehmen. Auf der anderen Seite der Grenze bildeten sich Warteschlangen, so dass wir auch dorthin, in Zusammenarbeit mit den ukrainischen Grenzsoldaten, Wasser und Lebensmittel transportierten. Eine humanitäre Katastrophe wurde vermieden. Momentweise bestand diese Gefahr.

Heute sind wir stolz darauf, dass so viele Menschen gekommen sind und keine Flüchtlingslager errichtet werden mussten. Aber es gab eine Liste mit möglichen Standorten?

Wir haben immer noch Zehntausende freie Plätze in Sammelunterkünften. In der ersten Welle kamen hauptsächlich diejenigen, die einen klaren, präzisen Plan hatten. Das Zeichen dafür waren die Autos der Angehörigen, die an der Grenze auf sie warteten. Oft hatten sie bereits eine Anlaufstelle oder einen Reiseplan, oder sie beschlossen einfach, in Polen eine Unterkunft, eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz zu suchen. Zu diesem Zeitpunkt nutzten nur 5 Prozent der Grenzgänger die Aufnahmestellen.

Ukrainische Flüchtlinge, Warschauer Messehalle.

Später stieg dieser Prozentsatz stark an. Viele der Geflüchteten sind zum ersten Mal im Ausland, viele haben durch den Krieg ihr ganzes Hab und Gut verloren. Wenn jemand angibt, dass er keine Unterkunft hat, wird er an eine der Sammelunterkünfte verwiesen. Von Anfang an haben wir Pensionen, Hotels und Beherbergungsbetriebe angemietet, keine Messe-, Sport- oder Konferenzhallen. Allerdings kann eine solche Notwendigkeit noch eintreten, niemand weiß, ob wir nicht in einiger Zeit mit einer weiteren Flüchtlingswelle konfrontiert werden. Wir haben eine Liste mit mehreren Hundert solcher Einrichtungen und genügend Ausstattung für alle.

Von Anfang an hatten wir lediglich zwei Messehallen in Warschau und in Nadarzyn bei Warschau als Orte für mehrtägige Aufenthalte vorgesehen, da sehr viele Flüchtlinge explizit nach Warschau wollen. Die Messehallen werden von Reisebussen aus der Ukraine direkt angefahren. Menschen können sich dort ausruhen, ihre Familien und Freunde anrufen und weiterziehen. Es gibt immer noch viele solcher Menschen.

Egal, welche Welle es war, alle wollten in die großen Städte gehen.

Das ist verständlich. Sie kennen Polen nicht, sie haben Angst, irgendwo weit ab vom Schuss zu landen, ohne Kontakte und Kommunikation. Aus der Ukraine bringen sie die Erfahrung mit, dass die Großstädte boomen, während die Provinz dahinvegetiert. Ich erinnere mich an einen Bus voller Frauen mit Kindern, denen wir sagten, wir würden nach Bydgoszcz (Bromberg – Anm. RdP) fahren. Der Name der Stadt sagte ihnen nichts. Also schlugen wir Pułtusk vor, eine Stadt in der Nähe von Warschau. Sie zögerten auch, erst als wir ihnen auf der Karte zeigten, wie nah es an der Hauptstadt lag, konnten wir ihre Bedenken ausräumen.

Ist jemand in Ihren Wahlkreis, Koszalin (Köslin – Anm. RdP), gekommen? Oder noch weiter gefasst: in die Woiwodschaft Westpommern?

Natürlich gibt es in meinem Wahlkreis Flüchtlinge, die lokale Gemeinschaft hilft ihnen sehr, und Radio Koszalin hat mit großem Erfolg Polnischkurse organisiert. Aber unser Bestreben, Züge von Przemyśl aus in verschiedene Regionen des Landes zu bringen, und nicht nur nach Warschau, Katowice und Kraków, ist auf verschiedene Hindernisse gestoßen.

Es gab einen Fall, bei dem mehrere Hundert Menschen nach Szczecin reisen sollten, aber nur etwa ein Dutzend ankamen. Die meisten von ihnen stiegen unterwegs in großen Städten aus. Ähnlich verhält es sich mit Zügen, die beispielsweise nach Olsztyn, Gdynia und Bydgoszcz fahren. Aber auch das kann man verstehen. Viele dieser Menschen dachten, dass der Krieg nicht lange dauern würde, sie wollten so nah wie möglich an der Grenze bleiben.

Ukrainische Urlauber, jetzt Flüchtlinge. Landung in Szczecin.

In Szczecin hingegen landeten etliche Flugzeuge mit ukrainischen Staatsbürgern, die sich auf Urlaubs- oder Geschäftsreisen befanden und nach Ausbruch des Krieges dort festsaßen, und nicht in ihr Land zurückkehren konnten. Auch der Flughafen in Poznań empfing solche Flugzeuge. In den ersten Tagen nach dem 24. Februar landeten in beiden Städten Maschinen aus der ganzen Welt mit Ukrainern an Bord.

Was geschah dann mit ihnen?

Viele von ihnen hatten die Ukraine für ein paar Tage verlassen, um Ferien zu machen oder Geschäften nachzugehen. Plötzlich stellte sich heraus, dass sie in Polen ein neues Leben beginnen mussten. Wir haben uns genauso um sie gekümmert wie um die Menschen, die direkt aus der Ukraine kamen.

Bei den Ukrainern handelt es sich in der Regel um talentierte, hart arbeitende Menschen. Ich kenne den Fall einer Familie, die auf dem Flughafen Goleniów in der Nähe von Szczecin landete und zu einer polnischen Familie im Kreis Stargard gebracht wurde. Schon nach einigen Tagen ging der Mann in die örtliche Schreinerei, und seine Frau begann, gegen Bezahlung verschiedene Arbeiten im Haushalt zu erledigen. Das zeigt, wie sehr sich diese Einwanderung von den Stereotypen unterscheidet, die manche Menschen in ihren Köpfen haben. Eine westliche Hilfsorganisation kam mit dem Angebot, Wasser und Zelte zu schicken. Es dauerte eine Weile, bis wir verstanden, was sie meinten, und haben dankend abgelehnt.

Kein Wunder, dass sie dieses Bild im Kopf hatten, so ist es oft in der Welt.

Einverstanden. Zum Glück ist das hier anders. Die Ukrainer gehen sehr würdevoll mit der Situation um, in der sie sich befinden. Sie sind dankbar für die Hilfe, denn sie mussten ihr Leben fast von einer Stunde auf die andere ändern. Aber sie haben sich schnell von dem Schock erholt, fast alle wollen schnell wieder auf die Beine kommen, Arbeit finden, ein normales Leben beginnen. Wir können feststellen, dass jeder Vierte in der PESEL-Datenbank  registrierte Ukrainer im erwerbsfähigen Alter eine Arbeit aufgenommen hat. Das sind weit über 100.000 Menschen. Anspruchshaltungen sind äußerst selten.

Ukrainische Flüchtlinge auf dem Warschauer Ostbahnhof.

Es gab jedoch auch Fälle, in denen Migranten auf Bahnhöfen kampierten. Warum?

Auch das ist ein sensibles Thema. Wir haben allen Flüchtlingen immer eine Unterkunft unter normalen Bedingungen angeboten. Aber viele waren entschlossen, sofort weiterzureisen. Sie warteten am Bahnhof auf den Zug, obwohl er erst zwei Tage später kommen sollte. Sie hatten Angst, dass wir sie in irgendeine Halle in der Provinz bringen würden und sie dort festsitzen würden. Erst als sich herumsprach, wie die Dinge in Polen organisiert waren, änderte sich das. Anfänglich haben sie den Informationen, die wir ihnen gegeben haben, nicht geglaubt.

Welche Ängste gab es noch?

Die Frauen fragten sehr häufig, ob man ihnen ihre Kinder wegnehmen würde, wenn sie zur Aufnahmestelle kämen. Ich sage das, um jeden zu bitten, bei der Beurteilung bestimmter Situationen Zurückhaltung zu üben, denn manchmal stehen menschliche Traumata oder Ängste im Hintergrund. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Großbritannien erteilte Zehntausende von Einreisevisa, aber die Leute, die sie bekamen, reisten zumeist nicht dorthin. Es stellte sich heraus, dass diese Visa als eine Art Versicherungspolice betrachtet werden. Sie wissen noch nicht, ob sie sie nutzen wollen. Auch das muss man verstehen.

Haben die bereits in Polen lebenden Ukrainer dazu beigetragen, die Ängste ihrer Landsleute zu zerstreuen?

Sehr sogar. Ein ukrainischer Freiwilliger, der den Besuchern erzählt, dass er selbst in Polen lebt, und ihnen versichert, dass es wirklich so funktioniert, wie in der Broschüre beschrieben oder wie es am Infostand dargestellt wird, war immer eine große und wirksame Hilfe bei der Überwindung von Ängsten, Traumata und Missverständnissen. Deshalb haben wir die notwendigen Mittel schnell umgeschichtet, um Ukrainisch-Sprachkurse für polnische Helfer zu organisieren.

„Wir sind mit euch“. Briefmarke der Polnischen Post.

Der Impuls des Herzens befiehlt es, Flüchtlinge unterzubringen, zu ernähren und ihre dringlichsten Bedürfnisse zu erfüllen. Aber wie soll es weitergehen? Wie kann man diese Masse von Menschen in die polnische Rechts- und Wirtschaftsordnung einfügen?

Im Allgemeinen verändert sich die Art der erforderlichen Unterstützung mit der Zeit. In den ersten 60 Tagen musste man sich auf die Grundbedürfnisse konzentrieren. Die nächsten 60 Tage, um die wir die Bezuschussung (umgerechnet ca. 8 Euro pro Tag und aufgenommene Person – Anm. RdP) für den Aufenthalt von Ukrainern in polnischen Familien verlängert haben, werden ein Übergang zur Anpassungsphase sein. Ziel ist es, bis Ende Juni Mechanismen zu schaffen, die es unseren Gästen ermöglichen, auf eigenen Füßen zu stehen und sich einzuleben.

Wird die Zeit der Förderung für die Aufnahme von Flüchtlingen in Familien noch einmal verlängert?

Solange es keine weitere große Migrationswelle gibt, nicht. Wir wollen, dass bis Ende Juni jeder, der dazu in der Lage ist, unabhängig wird. Natürlich wird es weiterhin Unterstützung geben, aber in anderer Form. Viel hängt von den Ukrainern selbst ab. Sie müssen entscheiden, ob sie länger bei uns bleiben, ob sie in die Gebiete zurückkehren, aus denen sich der Krieg zurückgezogen hat, oder ob sie weiter auf gepackten Koffern warten wollen.

Sie haben erwähnt, dass es unter den Flüchtlingen sehr viele Frauen mit Kindern gibt. Wenn sie zur Arbeit gehen, wer wird sich um die Kinder kümmern?

Wir planen die Einrichtung von Vorschulhorten für ukrainische Kinder. Wenn uns z. B. die UNICEF fragt, wie sie helfen kann, wofür wir Geld brauchen, zeigen wir auf solche Vorhaben.

Nach Angaben des Bildungsministeriums sind 200.000 ukrainische Kinder in das polnische Bildungssystem eingetreten, und 500.000 lernen im ukrainischen Fernunterricht.

Die ukrainische Regierung möchte, dass so viele Kinder wie möglich bei der zweiten Lösung bleiben. Wir respektieren das und bauen keinen Druck auf, den Unterricht in polnischen Schulen aufzunehmen. Aber es besteht auch kein Zweifel daran, dass jeder Monat Aufenthalt in Polen mehr Menschen dazu ermutigen wird, sich bei uns niederzulassen und ein normales Leben in Polen zu beginnen.

Einige Politiker haben wegen angeblicher Privilegien, vorrangig im Gesundheitswesen, Alarm geschlagen. Wie viel Wahrheit steckt darin?

Das ist Unsinn. Jeder Flüchtling aus der Ukraine erhält eine Aufenthaltsgenehmigung für achtzehn Monate und ein einmaliges Begrüßungsgeld von 300 Zloty (ca. 65 Euro – Anm. RdP). Sie können sofort eine Arbeit aufnehmen, was auch unser BIP erhöht und Lücken auf dem Arbeitsmarkt schließt. Sie können ihre Kinder in den Schulen anmelden und die Gesundheitsversorgung nach den gleichen Grundsätzen in Anspruch nehmen wie die Polen. Wo sind hier die Privilegien? Möchte jemand mit ihnen tauschen? Das glaube ich nicht.

An manchen Tagen kamen bis zu 100.000 Ukrainer auf der Flucht in Polen an.

Wir sollten auch nicht vergessen, dass die Hilfe für Flüchtlinge aus der Ukraine heute auch eine Investition in die Sicherheit Polens ist. Jede Anstrengung, die wir unternehmen, um unsere überfallenen Nachbarn zu verteidigen, trägt dazu bei. Und wenn ich mir die Stimmung der Polen anschaue, dann verstehen wir das im Allgemeinen alle, unabhängig von unseren sonstigen Ansichten.

Einige politisch erhitzte lokale Kommunalpolitiker der totalen Opposition haben versucht, aus der Flüchtlingsproblematik politisches Kapital zu schlagen.

Es gab einige solche Versuche, die aber schnell beendet wurden. Sie sahen ein, dass es dafür keinen Platz gibt. Der Bürgermeister einer großen Stadt änderte seine Einstellung, als er von mir hörte, dass wir nicht im Amt sind, um Probleme zu suchen, sondern um sie zu lösen. Und wenn ich erst anfangen würde, in den Medien über seine Schwächen zu sprechen, dann würde ich das Fernsehstudio so schnell nicht verlassen. Schließlich kann jeder über jeden herfallen, aber es geht nicht um uns, sondern um Menschen, die Hilfe brauchen.

Die Kommunen in den Woiwodschaften Lublin und Vorkarpatenland haben hervorragende Arbeit geleistet. Hrubieszów, Chełm, Tomaszów Lubelski, Rzeszów, Lublin, Przemyśl, Ustrzyki Dolne. Von einem Tag auf den anderen erschienen in diesen Städten Massen von Menschen, die Hilfe brauchten. Und sie haben es geschafft.

Auf der breiten ukrainischen Eisenbahnspur direkt nach Olkusz. Ankunft der Flüchtlinge.

Eine große Bewährungsprobe hat zum Beispiel auch die Stadt Olkusz unweit von Kraków in der Woiwodschaft Kleinpolen bestanden. Dank Gleisen mit einer passenden Spurweite für ukrainische Züge, gebaut für die Belieferung der örtlichen Stahlwerke, konnten Personenzüge aus der Ukraine direkt hierher geleitet werden. Innerhalb von 24 Stunden konnten mehrere Tausend Menschen auf diese Weise dorthin gelangen. Der Regierungspräsident von Kleinpolen hatte dort eine perfekte Aufnahmestelle organisiert, und es standen sofort Busse bereit, um die Flüchtlinge auf ganz Kleinpolen und Schlesien zu verteilen.

Über politische und ideologische Trennungen hinweg wurde viel erreicht. Wir haben die Prüfung als Staat, als Nation und als Gesellschaft bestanden.

Lesenswert auch: „Ansturm. Ukrainische Kinder an polnischen Schulen“ und „Geflüchtete Ukrainer. Gut für die Wirtschaft“.

RdP

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 22. Mai 2022.




Geflüchtete Ukrainer. Gut für die Wirtschaft

Arbeitsplätze gibt es in Polen genug.

Mehr als zweieinhalb Millionen Ukrainer haben die polnische Grenze auf der Flucht vor dem Krieg überquert. Einige von ihnen wollen in andere Länder weiterreisen, aber der überwiegende Teil wird in Polen bleiben.

Die meisten Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Die Mehrzahl der Männer verteidigt ihre Heimat. Die enorme Herausforderung besteht momentan  darin, den Ankommenden zunächst einmal eine sichere Bleibe zu bieten, was dank der großen Solidarität der polnischen Gesellschaft gelingt. Auch die Behörden leisten Außerordentliches. Ohne die Hilfe der Armee und Territorialverteidigung, von Polizei, Feuerwehr, Grenzschutz, Gesundheitsdienst und der Kommunen, wäre eine riesige humanitäre Krise an der polnischen Ostgrenze nicht zu vermeiden.

Freiwillige, der Staat, die Kommunen, die Armee u.v.a. leisten Außerordentliches.

Die Logistik der Flüchtlingsaufnahme ist eine Herausforderung für das ganze Land. Kurzfristig wurde bereits viel getan, aber der verheerende Krieg kann länger dauern. Es ist daher wichtig, die Flüchtlinge in Arbeit zu bringen, damit sie ihren Lebensunterhalt verdienen können.

Ukrainische Arbeiter in Polen

Schon nach 2014 kamen vor allem Männer aus der Ukraine, um in Polen zu arbeiten. Die Einnahme der Krim durch Russland und der Krieg im Donbass hatten einen wirtschaftlichen Einbruch in der Ukraine verursacht. Zerstörte Industriezentren im Osten des Landes, der blockierte Handel mit Russland, der begrenzte Zufluss ausländischer Investitionen und die von der Inflation angeschlagene Landeswährung Hrywnja trugen zu einem enormen Rückgang der Wirtschaftsleistung in den Jahren 2014 und 2015 bei. Insgesamt betrug der Rückgang in diesem Zeitraum 16,5 Prozent. Die schlechte wirtschaftliche Lage motivierte Millionen von Ukrainern dazu, außerhalb ihres Landes nach Arbeit zu suchen, auch in Polen.

Statistiken belegen, dass die Ukrainer zunächst hauptsächlich einfache körperliche Arbeiten, einschließlich Saisonarbeit, in Polen verrichteten. Doch mit der Zeit kamen immer mehr Facharbeiter und Handwerker hinzu. Man schätzt, dass mittlerweile rund 60 Prozent der Arbeiter in der Bauindustrie aus der Ukraine stammen, mehr als 100.000 waren noch vor Kurzem in Polen als Fahrer tätig. Auch kamen immer mehr junge Leute von jenseits der Ostgrenze zum Studium nach Polen, von denen einige, gut ausgebildet und ausgestattet mit den entsprechenden Sprachkenntnissen, blieben.

Vor Ausbruch des Krieges lebten in Polen rund 550.000 Ukrainer, die hier legal beschäftigt waren und Sozialversicherungsbeiträge zahlten. Geht man davon aus, dass möglicherweise doppelt so viele Menschen keine Beiträge zahlten, also illegal arbeiteten, kommt man auf über 1,5 Millionen Ukrainer, die zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs am 24. Februar 2022 in Polen ihren Unterhalt verdienten. Die meisten von ihnen haben ihre Familien im Osten zurückgelassen. Das wird dadurch belegt, dass rund 60 Prozent der in Polen arbeitenden Ukrainer Geld nach Hause überweisen. Im Durchschnitt waren es mehr als 8.000 Zloty (ca. 1.700 Euro) pro Jahr. In den letzten Jahren beliefen sich die jährlichen Geldtransfers in die Ukraine auf insgesamt mehrere Milliarden Zloty.

Dank der allgemeinen Akzeptanz der Arbeiter aus dem Osten, ihrer guten Landeskenntnisse und der im Laufe der Zeit entstandenen Kontakte, war es für viele von ihnen selbstverständlich, Polen als den Ort zu wählen, an dem sie den Schrecken des Krieges entkommen konnten. Auch spürten sie die unter der polnischen Bevölkerung weitverbreitete Solidarität mit dem ukrainischen Volk, die nach der russischen Aggression gegen ihr Land entstanden war.

Mangel an Arbeitskräften

Die polnische Wirtschaft wächst in einem sehr schnellen Tempo. Die Arbeitslosigkeit ist eine der niedrigsten in Europa, die Unternehmen sind auf der Suche nach Arbeitskräften. Im Februar 2022 wurden täglich mehr als 600.000 Arbeitskräfte in Online-Stellenbörsen gesucht. Da auch anderweitig nach Arbeitskräften gesucht wird, sind die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt und der Bedarf an Arbeitskräften noch größer.

Informationen auf Ukrainisch in einem polnischen Arbeitsamt.

Die rasante Entwicklung bestimmter Wirtschaftszweige führt dazu, dass Fahrer, Verkäufer (einschließlich Kassierer), Hotel- und Gaststättenpersonal, Reinigungskräfte oder Produktionsarbeiter gesucht werden. Wichtig ist, dass es Arbeitsplätze sowohl dort gibt, wo eine besondere Ausbildung nicht immer erforderlich ist (Saisonarbeit wie Obstpflücken, Gartenarbeit, Gastronomie, Reinigung), als auch dort, wo qualifizierte Mitarbeiter (z. B. im Verkehrswesen oder auf dem Bau) und Fachleute (z. B. Programmierer oder Ärzte) benötigt werden.

Arbeitsplätze für Frauen

Arbeitsplätze für Flüchtlinge gibt es eigentlich genug, aber die derzeitige Situation ist spezifisch. Die meisten von ihnen sind Frauen mit Kindern. Dies wirft mehrere Probleme auf. Viele Angebote richten sich an Männer, nämlich genau dort, wo ukrainische Arbeitnehmer in den letzten Wochen nach Hause zurückgekehrt sind, um nach ihren Familien zu sehen und ihr Land zu verteidigen. Das ist insbesondere im Baugewerbe oder im Verkehrswesen der Fall. Viele Unternehmen dieser Branchen haben bereits jetzt Probleme mit der termingerechten Einhaltung laufender Aufträge. Schätzungen zufolge haben bereits mehr als 30.000 Fahrer aus der Ukraine Polen verlassen.

Nur wenn ihre Kinder versorgt sind, werden die geflüchteten Frauen arbeiten.

Damit Frauen arbeiten können, müssen sie nicht nur ein Dach über dem Kopf haben, sondern sie müssen auch dafür sorgen, dass ihre Kinder in das Schul- und Vorschulsystem einbezogen werden. Das stellt den polnischen Staat und die Kommunen vor eine große Herausforderung. Das Schulwesen ist in der Lage, Zehntausende ukrainischer Kinder und Jugendlicher aufzunehmen. Bei den Kinderkrippen und Kindergärten ist das bei Weitem nicht so.

Nur wenn ihre Kinder versorgt sind, werden Frauen arbeiten. Arbeit gibt es für sie genug. Polnische Lebensmittel-, Bekleidungs- und einige Produktionsunternehmen (z. B. für Hygieneprodukte) haben aufgrund des Konflikts an der Ostgrenze deutlich mehr Aufträge erhalten. Krankenhäuser suchen nach Hilfskräften, Logistikzentren und der Handel nach Verkaufspersonal, sowohl im elektronischen als auch im traditionellen Handel, und auch Reinigungsunternehmen haben einen Mangel an Arbeitskräften. Zudem werden die Fremdenverkehrssaison sowie die Saisonarbeit im Gartenbau und in der Landwirtschaft bald wieder beginnen.

Ein großer Teil der Flüchtlinge sind gut ausgebildete Arbeitnehmer mit viel Berufserfahrung. Leider ist zu erwarten, dass die meisten nicht entsprechend ihrer Qualifikation eingesetzt werden können. Ein großes Hindernis sind die mangelnden Kenntnisse der polnischen Sprache sowie der landesspezifischen Gegebenheiten (z. B. im juristischen Bereich), aber auch die Notwendigkeit, Diplome vorab zu validieren (z. B. bei Ärzten).

Man sollte sich ebenfalls darüber im Klaren sein, dass die meisten offenen Stellen auf dem polnischen Arbeitsmarkt sich im unteren Qualifikationsbereich befinden, ein Phänomen, das bei Massenauswanderung häufig anzutreffen ist. Die Polen kennen es selbst, aus Großbritannien oder Deutschland, wo sie sehr oft unterhalb ihres Bildungsniveaus beschäftigt sind.

Chancen und Gefahren

Arbeitnehmer aus der Ukraine beheben die Engpässe in verschiedenen Branchen der polnischen Wirtschaft. Sie verrichten auch Arbeiten, die die Polen nicht übernehmen wollen. Der Mangel an einheimischen Arbeitskräften tritt vor allem in den Regionen auf, die sich am schnellsten entwickeln, die Ansiedlung zusätzlicher Arbeitskräfte ist erwünscht. Es wird geschätzt, so ein Bericht der Polnischen Nationalbank, dass der Zustrom von Arbeitskräften aus der Ukraine jedes Jahr mit fast 0,5 Prozent zum Wachstum der polnischen Wirtschaft  beiträgt.

Knapp 670.000 Ukrainer arbeiten aktuell legal in Polen, zahlen Sozialbeiträge und Steuern.

Viele Ukrainer sind zwar illegal beschäftigt. Ein großer Teil von ihnen (Ende März 2022 waren es knapp 670.000) zahlt jedoch, wie bereits gesagt, Sozialbeiträge und Steuern, die in das polnische Rentensystem und in den Staatshaushalt fließen. Zum Vergleich: Die Gesamtzahl der Ausländer, die Ende März 2022 legal in Polen gearbeitet haben, betrug 932.000.

Es besteht aber auch die Notwendigkeit, mehr Geld aus dem Staatshaushalt für die Finanzierung des Aufenthalts von Flüchtlingen in Polen auszugeben. Menschen, die vor einem brutalen Krieg fliehen, muss geholfen werden. Angesichts einer nationalen Tragödie, wie sie die Ukraine erlebt, treten wirtschaftliche Aspekte normalerweise in den Hintergrund, dennoch muss Polen die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass die Belastung für den Staatshaushalt beträchtlich sein wird.

Die ersten Schätzungen belaufen sich auf über 2,2 Milliarden Euro bis Ende 2022. Unter diesen Umständen kann das bereits ein Jahr lang dauernde Zögern der EU-Kommission, die Polen zustehenden Gelder aus dem „Wiederaufbaufonds“ endlich freizugeben, nur als ein sehr unwürdiges Spiel bezeichnet werden.

Der plötzliche gewaltige Anstieg der Zahl der Menschen aus der Ukraine ist eine Herausforderung für die Regierung und die gesamte Gesellschaft. Er wird einerseits neue Möglichkeiten für die Wirtschaft, aber andererseits auch vorübergehend Probleme schaffen.

Wenn Polens Wirtschaft weiterhin wächst, werden die Flüchtlinge die Lücken auf dem Arbeitsmarkt füllen und nicht etwa polnische Arbeitnehmer verdrängen. Die Geschichte lehrt uns aber auch (man erinnere sich an John Steinbecks Buch „Früchte des Zorns“ über Bauern, die aus den von Dürre heimgesuchten Staaten nach Kalifornien flüchten), dass bei einer wirtschaftlichen Stagnation und einem Wettbewerb um knappe Arbeit, Enthusiasmus und Hilfsbereitschaft sehr schnell in Gleichgültigkeit oder sogar Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen umschlagen können. Auch das muss man stets vor Augen haben.

Lesenswert auch:  „Ansturm. Ukrainische Kinder an polnischen Schulen“,   „Ukrainer in Polen. Nutzen und Gefahren“.

© RdP




Ansturm. Ukrainische Kinder an polnischen Schulen

Es muss gehen.

Unter den mehr als zwei Millionen ukrainischen Flüchtlingen, die sich im Augenblick in Polen befinden, gibt es etwa siebenhunderttausend Kinder. Sie ins polnische Schulsystem aufzunehmen und es weiterhin funktionsfähig zu halten, gleicht einer Herkulesaufgabe. Dazu ein Gespräch mit Bildungs- und Wissenschaftsminister Przemysław Czarnek.

Przemysław Czarnek ist seit Oktober 2020 Minister für Bildung und Wissenschaft.

Wie beurteilen Sie die allgemeine Mobilisierung der jungen Polen, die zu Hilfe gekommen sind? Was lernen wir über sie?

Przemysław Czarnek: Ich bin stolz auf sie. Sie kümmern sich um ihre ukrainischen Altersgenossen, helfen ihnen. Ich besuche Schulen, spreche mit Schülern, Lehrern und Schulleitern. Ich stehe in ständigem Kontakt mit den Beamten der Schulaufsicht. Die Solidarität der Schulgemeinschaften ist wirklich ermutigend.

Jeden Tag kommen etwa zehntausend und mehr Schüler aus der Ukraine im polnischen Bildungssystem neu hinzu. Wie lange kann das noch so weitergehen?

Das System hat sicherlich seine Grenzen. Daran habe ich keinen Zweifel. Auch das nötige Geld steht nicht grenzenlos zur Verfügung. Es sei jedoch daran erinnert, dass das polnische Bildungssystem in den letzten fünfzehn Jahren aufgrund der demografischen Krise eineinhalb Millionen Kinder verloren hat, sodass es durchaus Möglichkeiten und Reserven gibt. Schulen wurden geschlossen, stehen leer und auch die verbleibende Infrastruktur wird derzeit nicht genutzt. Mit flexiblem Handeln und in aller Ruhe können wir eine Menge tun, um ukrainischen Kindern zu helfen. Ich möchte jetzt keine Kapazitätsgrenze für das System setzen, gebe aber zu, dass das Ganze sehr kompliziert ist und viele Herausforderungen mit sich bringt.

Einerseits müssen wir das Bildungssystem so flexibel wie möglich gestalten, um die ukrainischen Flüchtlinge aufnehmen zu können, aber wir müssen auch daran denken und dafür sorgen, dass polnische Kinder in polnischen Schulen, trotz dieser schwierigen Lage, ihre Ausbildung normal fortsetzen können.

So etwas war nicht vorherzusehen. Es gibt etwa zwei Millionen Flüchtlinge in Polen. Wir schätzen, dass fast siebenhunderttausend von ihnen Kinder sind. Sie werden nach und nach in polnische Schulen und Kindergärten aufgenommen. Natürlich ist die Entscheidung, eine Schule zu besuchen, nicht das Erste, was die Eltern beschließen. Kinder, die vor dem Krieg geflohen sind, müssen sich erst einmal ausruhen, um den erlebten Albtraum zu verarbeiten, und erst dann wird der Entschluss gefasst, zur Schule zu gehen.

Gehen die Kinder zunächst eher in normale Klassen oder in Vorbereitungskurse?

Vorläufig wurden die meisten von ihnen in bereits bestehenden Klassen untergebracht. Wir appellieren jedoch an die lokalen Behörden, Vorbereitungskurse einzurichten. Sie bieten den ukrainischen Kindern günstigere Bedingungen für die Eingliederung in das polnische System. Wenn sie zunächst einmal unter sich sind, fühlen sie sich besser und sicherer als in polnischen Klassen, insbesondere wenn sie die Sprache nicht sprechen.

Die Kenntnis der polnischen Sprache sollte das Kriterium für die Schulleiter sein. Wenn ein ukrainisches Kind Polnisch versteht, dann ist es natürlich kein großes Problem, mit polnischen Kindern in eine Klasse zu gehen. Versteht das Kind hingegen kein Polnisch, ist es besser, es in einem Vorbereitungskurs einzuschreiben.

Es gibt sie bereits an einzelnen Schulen, es gibt aber auch Kurse, die gemeinsam von mehreren Schulen oder sogar mehreren Gemeinden eingerichtet werden. Es kommt darauf an, wie viele Kinder es in einer Gegend gibt. Ein Vorbereitungskurs ist weniger stressig für diese Kinder, und es geht darum, dass sie keinen Stress mehr haben sollen, vor allem wenn man bedenkt, was sie durchgemacht haben.

Aber es besteht keine Verpflichtung, solche Vorbereitungskurse einzurichten?

Bis auf Weiteres besteht keine Verpflichtung. Wir wollen das System gerne flexibel halten. Die Situation ist in Großstädten anders als in kleineren Orten. Die Unterbringungs- sowie die finanziellen Möglichkeiten der lokalen Behörden sind unterschiedlich, ebenso wie die Bedürfnisse in Bezug auf die Anzahl der zu betreuenden Kinder.

Wir zwingen niemanden dazu, aber wir halten die Vorbereitungskurse für die bessere Lösung. Schließlich wissen wir nicht, wie lange die Kinder in Polen bleiben werden. Wir hoffen, dass dieser Krieg so bald wie möglich zu Ende ist und sie, und ihre Eltern, in die Heimat zurückkehren können. Unter diesem Gesichtspunkt macht es keinen Sinn, ukrainische Kinder in polnischen Klassen einzuschreiben.

Anders sieht es aus, wenn sie in den nächsten Monaten und Jahren in Polen bleiben. Die Vorbereitungskurse ermöglichen ihnen dann den schrittweisen Einstieg in das polnische Bildungssystem, sodass sie die polnische Sprache erlernen können und so, ab Beginn des Schuljahres am ersten September, in einer Klasse mit polnischen Kindern unterrichtet werden können.

In der öffentlichen Debatte taucht jedoch das Argument auf, dass die Kinder in den Vorbereitungskursen isoliert sind.

An Integration mangelt es nicht. Im Gegenteil. Die Kinder treffen sich auf dem Flur, während des Sportunterrichts, bei gemeinsamen Mahlzeiten, nehmen an Wettbewerben teil. Unsere Aufgabe ist es, uns um diese ukrainischen Kinder zu kümmern, damit sie so schnell wie möglich gesund und in guter Verfassung nach Hause zurückkehren können, denn sie werden in einer freien und unabhängigen Ukraine gebraucht. Integration ist sehr wichtig, aber sie sollte nicht mit Gewalt erfolgen und nicht auf Kosten von Kindern, die ein enormes Trauma erlebt haben.

Deshalb plädieren wir so nachdrücklich für die Einrichtung von Vorbereitungskursen. Die Aufnahme von Kindern aus der Ukraine sollte auch mit dem geringsten Schaden für das polnische Schulsystem erfolgen. Polnische Kinder brauchen einen ruhigen Unterricht, sie müssen sich auf Prüfungen, Zwischenprüfungen und Tests vorbereiten, und sie müssen ohne Ablenkung lernen können. Es ist äußerst wichtig, das Gleichgewicht zu halten.

Und wie wird die Einschulung der ukrainischen Kinder finanziert?

Der Betrag, der aus dem staatlichen Bildungszuschuss für den Unterricht von Kindern in Vorbereitungskursen bereitgestellt wird, ist um vierzig Prozent höher als der Betrag, der für einen Schüler in einer Grundschulklasse bereitgestellt wird. Das ist für die Kommunen von Vorteil.

Die Subvention fällt dadurch höher aus, weil die Zahl der Teilnehmer der Vorbereitungskurse geringer ist und es auch bleiben wird, und weil zusätzliche Lehrer, einschließlich Lehrerassistenten, eingestellt werden müssen. Auf jeden Fall werden bereits Lehrer aus der Ukraine, die Polnisch sprechen oder zumindest verstehen, für die Durchführung solcher Vorbereitungskurse eingesetzt.

Wann werden die Kommunen das Geld bekommen?

Die Überweisungen werden monatsweise erfolgen. Die Migration ukrainischer Flüchtlinge findet auch innerhalb Polens statt. Die Menschen sind auf der Suche nach dem besten Platz zum Leben. Nach der ersten Zeit der Unterbringung bei polnischen Familien wollen sie unabhängig werden. Daher die monatliche und nicht die jährliche Abrechnung, damit die Kommunen jederzeit über die notwendigen Mittel verfügen.

Was ist mit Lehrern aus der Ukraine, die in Polen arbeiten möchten?

Dank des vom Parlament verabschiedeten Flüchtling-Sondergesetzes sind die Regeln für die Einstellung von Lehrern aus der Ukraine sehr flexibel. Erforderlich ist lediglich die Erklärung der Lehrkraft, dass sie bereit ist, angestellt zu werden, und dass sie Polnisch spricht. Wir verlangen kein polnisches Sprachzertifikat. Solche Lehrkräfte werden auch als Hilfslehrer in den Vorbereitungskursen eingesetzt, damit die Schüler Kontakt zu Lehrern haben, die Ukrainisch oder Russisch sprechen.

Wir erstellen auch eine Liste ukrainischer Lehrer, die Arbeit suchen und an polnischen Schulen eingesetzt werden möchten. Ein solches Formular ist auf der Website des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft verfügbar. Auf diese Weise kann jeder Lehrer, der aus der Ukraine kommt und über einigermaßen gute Polnischkenntnisse verfügt, an einer polnischen Schule eingestellt werden. Lehrkräfte, die kein Polnisch können, es aber lernen möchten, können an den Sprachkursen teilnehmen, die wir gerade einführen. Später werden sie mit diesen Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Das Interesse an den Kursen ist groß. Es ist ein großes Anliegen ukrainischer Lehrer, im polnischen Bildungssystem zu arbeiten.

Vielleicht ist die Einstellung von Lehrern aus der Ukraine ein Mittel gegen den Personalmangel an polnischen Schulen?

Vielleicht. Ich wiederhole jedoch immer wieder: Es geht hier und heute nicht darum, die Lücken im polnischen Bildungssystem zu schließen. Es geht darum, sich um diejenigen zu kümmern, die der Hölle des Krieges entkommen sind. In einer freien Ukraine werden jedoch sowohl Kinder als auch Lehrer gebraucht, sobald der Krieg beendet ist. Solche Berechnungen können wir also nicht anstellen.

Wann wird die EU Polen helfen?

Je früher, umso besser, denn die Aufnahme ukrainischer Kinder in das polnische Schulsystem ist sehr teuer. Ich habe darüber mit den Bildungsministern der EU-Länder gesprochen und ich habe mit der EU-Kommissarin Gabriel gesprochen, die für Innovation, Forschung, Kultur, Bildung und Jugend zuständig ist.

Wir nehmen mehr als zwei Millionen Flüchtlinge auf und die EU-Kommission belegt uns mit Quasi-Sanktionen, indem sie die Auszahlung der Gelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds, der im Zuge der COVID-19-Pandemie 2020 beschlossen wurde, wegen überzogener Rechtsstaatlichkeitsvorwürfe willkürlich blockiert. Dieses Geld muss freigegeben werden. Ich habe auch an Kommissarin Gabriel appelliert, die zu Unrecht eingefrorenen Mittel freizugeben, da sich darunter auch Gelder für Hochschulbildung und Wissenschaft befinden. In Anbetracht der dramatischen Situation tragen wir alle Kosten und die EU schaut zu.

Wie sieht es mit den Abiturprüfungen und den Abschlussprüfungen am Ende der Grundschule nach der achten Klasse für Ukrainer aus?

Wir werden bei der Aufnahme in die Sekundarschulen und zum Studium keine Präferenzen für Kinder aus der Ukraine einführen. Polnische Kinder haben das Recht, die Schule ihrer Träume zu besuchen. Wenn wir ukrainischen Kindern eine privilegierte Position einräumen, würden viele Probleme und unnötige Spannungen entstehen. Daher werden ukrainische Schüler auf der gleichen Grundlage wie polnische Schüler behandelt.

Stehen Flüchtlingen aus der Ukraine die Türen zu polnischen Universitäten offen?

Ja, natürlich. Die Nationale Agentur für Akademischen Austausch verfügt über Gelder zur Unterstützung dieser Studenten. Wir haben uns im Rahmen des Sondergesetzes auch um polnischstämmige Studenten aus der Ukraine gekümmert, und das sind Hunderte, denen wir bereits einen Studienplatz an polnischen Universitäten zu finanziellen Bedingungen gesichert haben, die mit denen in der Ukraine vergleichbar sind. Die restlichen Gelder werden vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft bereitgestellt.

Zu welchem Zweck haben Sie den Rat für die Bildung von Flüchtlingen gegründet?

Dieser Rat setzt sich aus ehemaligen Bildungsministern und ihren Stellvertretern, aus Mitgliedern des Parlamentarischen Ausschusses für Bildung, Wissenschaft und Jugend, Kommunalpolitikern sowie Schulleitern aus verschiedenen Teilen Polens zusammen. Es geht um den Austausch von Erfahrungen, Ideen und Kommentaren. Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Situation. Wir alle lernen, in ihr zu leben. Deshalb ist es gut, auf erfahrene Menschen, Praktiker, zu hören, um die jetzige Flüchtlingskrise zu bewältigen. Wir haben immer mehr ukrainische Kinder in den Schulen. Wir müssen nach Lösungen suchen, die diesen Kindern zugutekommen, aber gleichzeitig die Bildung polnischer Kinder nicht beeinträchtigen.

Wann kehrt in die Schulen die Wehrerziehung zurück? Was werden die Kinder lernen?

Ab dem 1. September wird das Fach Wehrerziehung die wichtigsten Bestandteile der Ausbildung zur Verteidigung, gemeinsam mit Schießunterricht und verteidigungsbezogenem Wissen, umfassen. Das ist notwendig. Heute haben wir die Zustimmung der Gesellschaft zur Wiedereinführung der elementaren Wehrerziehung.

Die Kinder sehen, was um sie herum geschieht, sie wissen, dass hinter unserer Ostgrenze ein Krieg stattfindet. Wir können nicht so tun, als gäbe es dieses Thema nicht. Wir müssen mit den Kindern auf kluge Weise über den Krieg sprechen. Wir müssen betonen, dass wir nicht allein dastehen und sicher sind, dass wir dem stärksten Verteidigungsbündnis der Welt angehören, dass Polen sich noch nie in seiner Geschichte in einer besseren sicherheitspolitischen Lage befand. Aber wer Frieden will, muss sich auf den Krieg vorbereiten.

Lesenswert auch:Ukrainer in Polen. Nutzen und Gefahren“,  „Mehr Bildung durch Veränderung“

RdP

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 28. März 2022.




Auch wer nicht super ist, hat ein Recht auf Leben

Kaja Godek. Polens führende Pro-Life-Aktivistin im Portrait und im Gespräch.

Eine hübsche, weiche Schale umgibt einen granitharten Kern, in dem es keinen Platz gibt für Kompromisse, wenn es um das Lebensrecht ungeborener Kinder geht. Kaja Godek, Jahrgang 1982, Warschauerin und studierte Anglistin, ist die wohl bekannteste Gestalt der polnischen Pro-Life-Bewegung.

Kommt der heftige Abtreibungskonflikt in Polen zur Sprache, werden in den deutschsprachigen Medien ausnahmslos Befürworter der Tötung ungeborener Kinder mit viel bejahendem Engagement der Autoren portraitiert. Wer sich in Polen für das Leben einsetzt, das bleibt in diesen Berichten im Dunkeln. Es genügt ja, diese Gruppe allgemein als „katholische Extremisten“, „frauenfeindliche Eiferer“ oder gar als „Lebensfanatiker“ (!) in einem Nebensatz zu umschreiben. Dass „Fanatiker“ nicht wissen, was sie tun, und aus niedrigen Beweggründen agieren, versteht sich von selbst. Damit ist der Ausgewogenheit der Berichterstattung Genüge getan.

Darüber, ob Kaja Godek in dieses Schema passt, kann sich der Leser des nachfolgenden Gespräches mit ihr selbst eine Meinung bilden.

Wider die eugenische Abtreibung

Die Mutter von drei Kindern engagierte sich in der Pro-Life-Bewegung erstmals 2012, als sie zum zweiten Mal ein Kind erwartete. In Polen galt zu dieser Zeit, seit 1993, der sogenannte „Abtreibungskompromiss“.

Die Soziale Indikation, also im Grunde Abtreibung auf Wunsch, war ausgeschlossen. Ein ungeborenes Kind jedoch durfte getötet werden, wenn das Leben der Mutter bedroht sei, wenn es durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde oder wenn es schwere Behinderungen aufwies.

Vor allem der dritte Abtreibungsgrund stieß bei Lebensschützern auf heftigen Widerspruch. Ein großer Teil der in Polen jedes Jahr zwischen 1000 und 1200 legal durchgeführten Abtreibungen nahm ungeborenen Kindern mit dem Down- und Turner-Syndrom das Leben. Behinderungen, mit denen man leben kann, wurden zum legalen Tötungsgrund.

Der Begriff „eugenische Abtreibung“ machte zunehmend die Runde, und mit Schaudern blickten viele in Polen auf Länder wie Dänemark, die sich dessen rühmen, dass bei ihnen bis zu 99 Prozent aller ungeborenen Kinder mit dem Down-Syndrom „rechtzeitig eliminiert“ werden. Die „Selektion“ ist beinahe perfekt.

Kaja Godek wusste sehr gut, wogegen sie protestierte. Eines ihrer Kinder hat das Down-Syndrom. Sie schloss sich zuerst einer der größten polnischen Pro-Life-Organisationen an: „Pro – Prawo do Życia“ („Pro – Recht auf Leben“). An ihrer Spitze steht Mariusz Dzierżawski (fonetisch Dserschawski), eine weitere herausragende Persönlichkeit unter den polnischen Lebensschützern.

Gemeinsam stellten sie 2013 vor dem Sejm eine Pyramide aus Kartons auf,  darin 600.000 Unterschriften unter einer Bürger-Gesetzesinitiative. Ihre Gegner sprachen vom Abtreibungsverbot, das sie anstreben. Sie selbst sprachen vom Schutz des ungeborenen Lebens, das anderen hilflos ausgeliefert sei. Staat und Gesetz müssen ihm beistehen in einer Zeit, in der das Töten ungeborener Kinder sogar in der UNO immer öfter zu einem neuen „Menschenrecht“ erhoben wird, so ihre Argumentation.

Feuerprobe im Tollhaus

Werden mindestens 100.000 Unterschriften unter einer Bürger-Gesetzesinitiative gesammelt, muss das Parlament nach einer Debatte (erste Lesung) abstimmen, ob es die Initiative ablehnt oder an dem Gesetzentwurf in den Ausschüssen weiterarbeiten möchte.

Kaja Godek während ihrer politischen Jungfernrede vor dem Sejm am 23. September 2013.

Die bisher kaum bekannte Kaja Godek hielt am 23. September 2013, im Namen der Antragsteller, eine fulminante Rede im Sejm-Plenum, das mit jedem Satz, den sie aussprach, zunehmend einem Tollhaus glich. Sie ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, weder durch Fußstampfen, laute Buh-, Schmäh- und gehässige Zwischenrufe, durch das Poltern beim Verlassen des Saales unter Protest durch die Linke noch durch die ständigen Ermahnungen der Parlamentspräsidentin, sie möge nicht vom „Töten ungeborener Kinder“, sondern von „der Abtreibung“ sprechen.

830.000 Unterschriften unter einer Bürger-Gesetzesinitiative gegen die Abtreibung. Vor der Abgabe im Sejm am 30. November 2017.

Die Initiative wurde damals mit fünf Stimmen Mehrheit abgelehnt, aber ein selbstgeborenes rhetorisches und politisches Talent hatte die öffentliche Bühne betreten. Kaja Godek hat noch zweimal, im Juli 2016 (500.000 Unterschriften) und im November 2017 (830.000 Unterschriften in knapp drei Monaten zusammengetragen), Bürger-Gesetzesinitiativen gegen die Abtreibung im Sejm eingebracht.

Bittere Lehrstunden

Die Abgeordneten der seit 2015  regierenden Nationalkonservativen, die Godeks Rede von den Oppositionsbänken aus 2013 mit Standing Ovations honorierten, lehnten die beiden letzten Initiativen ab (2016) beziehungsweise bugsierten sie (2017) auf das tote Gleis eines parlamentarischen Sonderausschusses. Jetzt, da er an der Macht war, ging Jarosław Kaczyński die ganze Angelegenheit zu weit, war ihm politisch zu riskant.

Kaja Godek mitten im Jubel der Lebensschützer vor dem Verfassungsgericht in Warschau nach der Verkündung des Urteils über die Nichtzulässigkeit der eugenischen Abtreibung am 22. Oktober 2020.

Erst das Verfassungsgericht hat (nachdem es die Eingabe vier Jahre lang unbearbeitet ließ) auf Antrag von knapp einhundert Recht-und-Gerechtigkeit-Abgeordneten die eugenische Abtreibung am 22. Oktober 2020 aus dem „Abtreibungskompromiss“ von 1993 entfernt. Die nachfolgenden heftigen Proteste dagegen ebbten nach einigen Tagen ab.

Kaja Godek nahm auf diese Weise ihre bitteren Lehrstunden in Sachen Realpolitik. Auch als sie sich 2019, vor den Europawahlen, der nationalradikalen Partei Konfederacja (elf Abgeordnete) anschloss, in der Hoffnung, ihre Überzeugung ins Europäische Parlament tragen zu können. Ihre neuen politischen Freunde hatten aber nur ihre Popularität im Sinn. Godeks Überzeugungen waren ihnen eher ein Ballast. Man trennte sich schnell.

Ihre scharfe Zunge, ihre Schlagfertigkeit und mediale Gewandtheit, zugleich aber auch die Aura von Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit, die sie als Mutter eines Kindes mit dem Down-Syndrom umgibt, sind die Pfunde, mit denen sie wirkungsvoll wuchert.

Der Preis des Erfolgs

Seit 2016 leitet sie ihre eigene Pro-Life-Initiative, die Stiftung „Rodzina i Życie“ („Familie und Leben“). An Volontären fehlt es nicht und mit dem beachtlichen Spendenaufkommen aus dem großen konservativen Teil der polnischen Gesellschaft lassen sich spektakuläre Aktionen finanzieren. Gemeinsames Rosenkranzbeten und Mahnwachen vor Krankenhäusern, in denen Abtreibungen vorgenommen werden. Gezeigt werden dabei plakatwandgroße, farbige Transparente, auf denen makabre Fotos von zerstückelten Kinderleibern zu sehen sind, die aus dem Mutterschoß herausgerissen wurden. Immer wieder landesweite Unterschriftensammlungen, Flugblattaktionen, Medienkampagnen.

In ihrer Verteidigung der traditionellen Familie lehnt sich Kaja Godek, gerade in der Zeit der um sich greifenden politischen Korrektheit, immer wieder sehr weit aus dem Fenster. Als am 30. Mai 2018 während einer heftigen Fernsehdebatte im TV-Sender Polsat Plus, in Bezug auf die Homosexualität, aus ihrem Mund das Wort „Abartigkeit“ fiel, wurde sie von sechzehn Homosexuellen wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte verklagt. Da die Kläger jedoch nicht nachweisen konnten, dass sich Godeks Aussage auf sie persönlich bezog, hat das Warschauer Kreisgericht am 12. Januar 2021 die Klage abgewiesen.

Das LGBT-Milieu zahlt es ihr mit gleicher Münze heim. Wirkungsvoll in dem, was sie tut und was sie vertritt, ist Kaja Godek in ihren Augen ein schwer bezwingbarer Gegner, der seinen Weg geht und sich nicht einschüchtern lässt. Unermesslich sind daher der Hohn, Spott, sind die Schmähungen, mit denen sie in den sozialen Medien überzogen wird. „Jeder Erfolg hat seinen Preis“, so ihr Kommentar dazu.

„Es gibt nichts zu entscheiden.“ Kaja Godek im Gespräch

 

Was ging in Ihnen vor, als Sie erfuhren, dass Sie höchstwahrscheinlich ein Kind mit dem Down-Syndrom zur Welt bringen werden?

Ich habe eine Überweisung zu einem Screening bekommen und war weit davon entfernt anzunehmen, dass es irgendwelche Defekte meines Kindes aufdecken wird. Das war für mich eine weitere Routineuntersuchung, die während der Schwangerschaft gemacht wird. Das Ergebnis hat leider den Verdacht auf einen Defekt zutage gebracht.

Schon während der Überprüfung habe ich gespürt, dass es Probleme gibt. Der Arzt war sehr zugeknöpft. Als er anschließend das Resultat mit mir besprach, sagte er, dass man zur Sicherheit eine invasive Untersuchung machen könne, um alle Zweifel zu zerstreuen.

Ich und mein Mann, wir waren damals in einer Situation, in der wir uns überhaupt nicht vorstellen konnten, ein behindertes Kind großzuziehen.

Warum?

Wir waren ein junges Ehepaar, das früh geheiratet hat, noch während des Studiums. Als ich schwanger wurde, schrieb mein Mann gerade seine Magisterarbeit. Wir hatten nichts. Null Lebensstabilität. Die Schwangerschaft betrachteten wir als ein großes Glück, aber wir wussten auch, dass es nicht einfach sein würde. Ein behindertes Kind kam also überhaupt nicht infrage. Mein Kopf war voll mit Denkschablonen von einer lebenslangen Versklavung und davon, dass ich daran zugrunde gehen würde.

Sie hatten Angst um ihre Familie und sich selbst.

Ja. Ich bewundere Mütter, die behaupten, sie hätten sich damit sofort abgefunden. Ich war entsetzt. Es hat mich belastet. Ich konnte mich in dieser Situation nicht zurechtfinden.

Als wir davon erfuhren, haben mein Mann und ich angefangen abzuwägen, ob es sich lohnt, eine invasive Untersuchung zu riskieren, die ja mit einer Fehlgeburt enden kann. Zum Schluss sagten wir uns, dass ein halbes Jahr der Belastung und des Rätselns, ob ein gesundes Kind zur Welt kommt, dem Kind noch mehr schaden wird. Ich habe mir gesagt: „Du gehst zu dieser Untersuchung. Ganz sicher wird sich herausstellen, dass es falscher Alarm war und die Sache ist ausgestanden“.

Es war kein falscher Alarm.

Als endgültig feststand, dass ich ein Kind mit dem Down-Syndrom gebären werde, war ich fünfundzwanzig Jahre alt und meine Welt brach ganz und gar zusammen. Ich war überzeugt, dass ich diese Last nicht stemmen werde. Ich war weit entfernt davon zu denken, es geschieht etwas Grandioses, etwas Wunderbares, und ich werde dieses Kreuz heldenhaft schultern, werde mich diesem einzigartigen Kind widmen, es allen und vor allem mir selbst beweisen, was für eine außergewöhnliche Mutter ich sei.

Ich hatte nicht im Entferntesten solche Gedanken. Deswegen verstehe ich Frauen, die in einer solchen Lage in Verwirrung und Aufregung geraten. Ich kenne das sehr gut.

Was dachten Sie vor der Schwangerschaft über die Abtreibung?

Ich war immer dagegen. Der Mensch entsteht im Augenblick der Zeugung. Ich habe nie daran gezweifelt, dass man ungeborene Kinder niemals töten darf.

Und das unabhängig vom Glauben?

Ja. Der Widerspruch gegen das Töten ungeborener Kinder war für mich ein Gebot der Vernunft, der Moral und eine logische Schlussfolgerung. Was nichts daran änderte, dass ich, als ich von der Behinderung meines Kindes erfuhr, es Gott sehr übel nahm.

„Gott gab mir mein Kind“. Kaja Godek mit Ehemann Jan und Sohn Wojciech.

Ich habe mit Ihm nicht mehr geredet. Ich habe betont geschwiegen, als es bei der Heiligen Messe galt, dem Priester laut nachzusprechen. Ich stand auf, wenn alle aufstanden, ich setzte mich, wenn alle sich setzten, um keine Verwirrung zu stiften, aber ich habe geschwiegen. Ich habe Gott gesagt: „Du hast es mir angetan. Deswegen werde ich nicht mit Dir reden“.

Und was hat Gott dazu gesagt?

Er gab mir mein Kind und der Unfug war vorbei.

Haben die Ärzte versucht, Sie zur Abtreibung zu überreden?

Als Erstes fiel mir die Veränderung der Sprache auf, die sie verwendeten. Am Anfang der Schwangerschaft bekam ich zu hören, mein Kind sei schon fünf Millimeter groß, dann fünf Zentimeter. Als aber feststand, dass es das Down-Syndrom haben werde, dann war es nur noch ein Fötus. Es war nicht krank, es hatte einen „anomalen Karyotyp“. Sie sagten nicht, ich werde einen Jungen zur Welt bringen, sondern „einen Fötus mit einem männlichen Karyotyp“.

Sie haben Ihr Kind sprachlich entmenschlicht.

Ich glaube, sie wollten mich so auf die Abtreibung vorbereiten. Also haben sie aufgehört, Begriffe zu verwenden, die eine gefühlvolle Bindung an das Kind stärken könnten.

Als ich die Down-Syndrom-Diagnose bekam, war ich am Ende des vierten Monats schwanger. Die Ärzte sagten mir, dass die Situation nicht die schlechteste sei, weil man noch abtreiben könne. Ich sei noch jung, die Diagnose kam früh genug, „wir können Sie noch retten“. Als ich den Kopf schüttelte, sagten sie: „Ja, das ist schwierig, aber manchmal muss man eben ganz einfach eine Schwangerschaft beenden. Sie sollten sich an diesen Gedanken gewöhnen.“

Wie haben Sie reagiert?

Abtreibung kam für mich schlichtweg nicht infrage. Ich habe sofort abgelehnt. Es hat mich aufgebracht, dass sie mir überhaupt so etwas vorgeschlagen haben, aber ich war nicht in der Lage, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ich war psychisch am Ende. Obwohl ich abgelehnt hatte, haben die Ärzte ständig Andeutungen gemacht, dass man solche Schwangerschaften abbrechen sollte, und wenn jemand das nicht tun wolle, dann sei das eine Laune.

So war es bis zum Schluss, sogar als ich mit Geburtswehen ins Krankenhaus kam. Die Hebamme schaute in die Unterlagen und fragte verwundert: „Haben Sie nicht gewusst, dass man das hätte anders handhaben können?“

In einem Augenblick, wenn Du gleich ein krankes Kind zur Welt bringen sollst, von dem man nicht weiß, in welchem Zustand es sein wird, stellt sie so eine Frage. Es war eine Dreistigkeit ohnegleichen. Aber was soll man von einer Person erwarten, die mal einer Geburt, mal einer Abtreibung beiwohnt? Für sie ist es das Normalste von der Welt, ein Kind töten.

Mit anderen Pro-Life-Aktivistinnen anlässlich einer Anhörung im Sejm.

Was hat Sie an der Aussicht, ein Kind mit dem Down-Syndrom großzuziehen, am meisten erschreckt?

In meinem Kopf schwirrten die verschiedensten Gedanken. Ich hatte Angst, dass das Geld knapp werden könnte, dass wir das tagtägliche Leben nicht auf die Reihe bekommen werden, dass alle mit dem Finger auf mein Kind zeigen und sagen werden: „Was für ein hässliches Kind“. Wenn ich draußen jemanden mit dem Down-Syndrom sah, habe ich die Straßenseite gewechselt. Ich konnte mich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass ich ein solches Kind unter meinem Herzen trage.

Hatten Sie Augenblicke der Schwäche und haben die Abtreibung doch in Erwägung gezogen?

Nein, niemals. Hier gab es nichts zu entscheiden. Das Ergebnis einer Schwangerschaft ist die Geburt eines Kindes.

Ich habe es sehr übel genommen, dass man mich ständig darauf ansprach. Ich musste gerade mit einer sehr schweren Situation fertig werden, und die erzählten mir ständig etwas von ihrer Abtreibung.

Es verging die achtzehnte, neunzehnte, zwanzigste Woche. Das Kind bewegte sich. Ich habe es gespürt. Mein Mann und ich haben uns angeguckt und konnten es nicht fassen, dass man es immer noch ganz legal töten konnte.

Was hat Ihnen in dieser Situation die Kraft zum Durchhalten verliehen?

Ein Durchbruch war das Treffen mit einer Frau, die ein Kind mit dem Down-Syndrom adoptiert hatte. Ich habe den Jungen in die Arme genommen und er lächelte mich an. Es kam mir vor, als gäbe mir mein Kind so zu verstehen: „Mutti, ich lächle Dich an“.

Ich war sehr überrascht, als Wojtek zur Welt kam. Ich hatte ein Aussehen, ein Verhalten erwartet, die man mit dem Down-Syndrom verbindet. Indessen geschah etwas Unerwartetes. Ich sah, dass mein Kind die Augen vom Papa hat, dass seine Gesichtshaut sehr zart ist. Kurzum, ich habe all die Einzelheiten gesehen, die eine Mutter an ihrem Kind gleich nach seiner Geburt entdeckt.

Ja, es gab viele Probleme. Es war mein erstes Kind, zudem eines, das einer ganz besonderen Fürsorge bedurfte. Vieles habe ich nicht gewusst, nicht gekonnt und ich habe Fehler gemacht. Doch die Liebe zum Kind hat mir den Rücken gestärkt. Es gab nie einen Augenblick, an dem ich wollte, dass es ihn nicht gibt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er nicht da sein könnte.

Außer Wojtek haben Sie noch zwei Töchter.

Unsere Kinder sind emotional sehr miteinander verbunden. Wenn eins nicht da ist, sagen die anderen beiden, sie haben Sehnsucht. Aus der heutigen Perspektive denke ich mir, dass heute ein wichtiger Bestandteil unserer Familie fehlen würde, wenn ich so dumm gewesen wäre abzutreiben. Eine Lücke würde klaffen.

Wie ist es, Mutter eines Kindes mit dem Down-Syndrom zu sein?

Es gibt eine verbreitete, aber von Grund auf falsche Überzeugung, dass eine solche Mutter eine Rolle zu spielen habe. Aber ich bin ich. Ich habe meine Interessen. Ich bin außerhalb der Familie sehr aktiv. Meine Kindererziehung entspricht sicherlich nicht dem Ideal, aber ich erziehe sie so gut ich kann. Ich reife dank ihnen. Durch ihr Dasein bringen sie mir gutes Organisieren bei, die Fähigkeit, viele Aufgaben auf einmal zu bewältigen. Ich lerne durch sie, Situationen schnell und nüchtern einzuschätzen, flexibel zu reagieren. Das kommt mir auch außerhalb der Familie zugute.

Ich habe gelernt einige von Wojteks Problemen zu lösen und damit zu leben, dass ich andere Probleme, die er hat, nie werde lösen können. Ich will nicht behaupten, dass Kinder mit dem Down-Syndrom so sind wie alle anderen Kinder. Sie haben ihre eigenen Verhaltensweisen und Anforderungen, und sie haben ein Recht darauf. Es gibt bei ihnen krankheitsbedingte Entwicklungsgrenzen, die man nicht überwinden kann.

Wie ist Wojtek?

Wir, die Mütter von Kindern mit dem Down-Syndrom, müssen ständig beweisen, dass unsere Sprösslinge okay sind. Die Abtreibungsbefürworter wollen hören, wie sehr wir leiden. Die Befürworter des Lebens wollen hören, wie schön es ist.

Und wie ist Ihre realistische Einschätzung?

Ich bin von Wojtek eingenommen. Er ist super! Man muss aber eine Einschränkung machen. Der Mensch hat ein Recht auf Leben, auch wenn er nicht super ist.

Mein Sohn ist zwölf Jahre alt, aber wegen seiner Krankheit ist er nicht so wie ein gewöhnlicher Zwölfjähriger. Dafür hat er ein großes Bedürfnis der Nähe. Er braucht viel Umgang mit Menschen. Wenn er aus der Schule kommt und mich von Weitem sieht, schreit er lauthals „Mutti, ich liebe dich!“. Wenn er früh aus dem Haus in die Schule geht, dann sagt er, dass er Sehnsucht nach mir haben wird. Ich zeichne ihm daraufhin mit dem Kugelschreiber ein Herz auf die Hand und sage: „Wenn Du traurig bist, schaue auf das Herz von Mutti“.

Er verehrt den Fußball, liest Bücher über Fußballer, trägt Socken in den Farben seines Lieblingsfußballclubs. Er hat auch Launen. Kinder mit dem Down-Syndrom können sehr stur sein, in Rage geraten. Oft jedoch ist er sehr fröhlich, vor allem wenn er mich überreden will, ihm eine Cola bei McDonald’s zu spendieren. Dann ist er sehr schlitzohrig. Er erinnert mich sofort daran, dass er sein Zimmer schön aufgeräumt hat und eine Belohnung verdient. Wenn Probleme auftreten, dann werde ich sofort mit dem Down-Syndrom konfrontiert, aber im Alltag vergessen wir es schnell.

Warum haben Sie sich in der Pro-Life-Bewegung engagiert?

Ich habe Wanda Nowicka gehört, wie sie im Namen von Müttern behinderter Kinder sprach. Wie dramatisch ihr Schicksal sei und dass die Abtreibung, also die Tötung eines behinderten Kindes, die beste Lösung sei.

Konkurrentinnen auf Tod und Leben ungeborener Kinder. Im Sejm unterwegs vom (Wanda Nowicka) und zum Rednerpult (Kaja Godek r.) am 15. April 2020.

Konkret ging es um ein ungeborenes Kind, das die Ärzte in Poznań nicht töten wollten. Ein Krankenhaus in Warschau hat es daraufhin getan. Nowicka ging vor die Medien, um das in ihrem Sinne zu kommentieren. Wieso eigentlich? Umso mehr als gerade herauskam, dass sie von Abtreibungsfirmen bezahlt wurde. Einen solchen Anwalt will ich als Mutter eines Kindes mit dem Down-Syndrom nicht.

(Anm. RdP: Wanda Nowicka, Jahrgang 1956, ist eine der führenden Gestalten der polnischen Bewegung der Befürworter der Abtreibung auf Wunsch. Politikerin der postkommunistischen Linken, zwischendurch auch anderer ihr nahestehender Parteien und Bewegungen. Sejm-Abgeordnete 2011-2015 und seit 2019.

Wanda Nowicka.

Im Jahre 2009 wurde bekannt, dass die von Nowicka geleitete feministische Föderation für Frauen und Familienplanung (Federa) Spenden von ausländischen Herstellern von Abtreibungsbesteck und Abtreibungspillen bekommen habe. Aus diesen Geldern wurden bei der Federa Gehälter gezahlt.

Gerichte urteilten 2011 (erste Instanz) und 2012 (zweite Instanz), dass es rechtens sei zu behaupten, Nowicka handle nicht aus ideellen, sondern aus materiellen Gründen und „stehe auf den Gehaltslisten internationaler Abtreibungskonzerne“ – Anm. RdP).

Kaja Godek (Fortsetzung): Es ging darum, laut zu sagen, dass man, egal welche großen Probleme ein Kind bereitet, es deswegen nicht umbringen darf.

Ja, die Aussicht, ein solches Kind zur Welt zu bringen, verursacht viel Angst, viel Stress, aber am Ende kommt man damit ins Reine. Es passiert oft, dass ich die Kinder von der Schule abhole und wir im Stau stehen. Ich gucke in den Rückspiegel, sehe meine drei in den Kindersitzen, wie sie miteinander herumalbern und hebe buchstäblich ab vor Freude. Alle sind da, niemand fehlt, niemandem wurde Leid angetan. Wir wissen nicht, was uns erwartet, aber wir wissen, dass wir zusammenhalten werden. Wir haben einander.

Weitere interessante Beiträge zu dem Thema:

„Das Wunder des Abschiednehmens. Vom Umgang mit todkranken ungeborenen Kindern.“

„Allein für das Leben. Polnische Ärztin gegen den Staat Norwegen.“

„Das Wunder von Wrocław. Geboren 55 Tage nach dem Tod der Mutter.“

„Fenster mit Ausssicht auf Leben. Babyklappen in Polen.“

„Ein Priester kauft Windeln. Der Szczeciner Pfarrer Tomasz Kancelarczyk hat Hunderte ungeborene Leben gerettet.“

RdP

Das Gespräch, das wir, mit freundlicher Genehmigung, leicht gekürzt wiedergeben, erschien im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 27. Dezember 2020.

 




Das Wunder des Abschiednehmens

Vom Umgang mit todkranken ungeborenen Kindern.

Gespräch mit Tisa Żawrocka-Kwiatkowska, der Begründerin der Gajusz-Stiftung in Łódź/Lodsch.

Wie viele Kinder haben Sie gemeinsam mit deren Eltern auf dieser Welt in Empfang genommen und wie viele verabschiedet?

Die Gajusz-Stiftung gibt es seit mehr als zwanzig Jahren. Sie hilft unheilbar kranken Kindern, indem sie sie hospizmäßig zu Hause oder stationär betreut. Unser stationäres, pränatales, also vorgeburtliches, Hospiz besteht seit sieben Jahren. Inzwischen bin ich bei knapp zwanzig Geburten dabei gewesen, aber das sind beileibe nicht alle. Wir haben oder hatten insgesamt etwa einhundert Familien in Betreuung.

Tisa Żawrocka-Kwiatkowska.

Können Sie sich an alle erinnern?

Ich erinnere mich sehr gut an Vornamen und an die Geschichten. Ich lösche die Fotos auf meinem Handy nicht. Gemeinsam haben wir die schwierigsten und wichtigsten Augenblicke erlebt. Das verbindet, und zwar, das wird mir jetzt bewusst, über Jahre.

Welche Geschichte hat sich Ihnen am tiefsten eingeprägt?

Es waren viele. Zum Beispiel diese. Sie passierte kurz vor Ausbruch der Corona-Epidemie. Die Mutter war unter zwanzig, schön wie eine Madonna und ungewöhnlich erwachsen. Sie gebar einen Sohn, auf den sie sehnsüchtig wartete. Das ungeborene Kind war schwer krank und starb sofort nach der Niederkunft. Sie sagte zu ihm, als sie ihn im Arm hielt: „Wie gut, dass du nicht lebst, dass du nicht leidest. Ich hatte solche Angst davor. Ich habe für dich alles getan, was ich tun konnte.“

Und der erste Patient?

Er hieß Mieszko. Seine Mutter hatte zuvor zwei Fehlgeburten. Deswegen entschied sie sich dafür eine vorgeburtliche Untersuchung durchzuführen. Sehr schnell hatte sich herausgestellt, dass der Junge, der unter ihrem Herzen heranwuchs, einen genetischen Defekt aufwies. Die Diagnose wurde mehrere Male bestätigt. Man legte ihr die vorgeburtliche Tötung des Kindes nahe. Sie hat abgelehnt.

Es war eine Monosomie des 13. Chromosoms. Neunzig Prozent der ungeborenen Kinder mit diesem Defekt sterben daran bis zum dritten Schwangerschaftsmonat. Die verbleibenden zehn Prozent leben höchstens bis zum siebenten Monat. Etwa 0,4 Prozent kommen auf die Welt. Das am längsten lebende Baby mit diesem Defekt starb nach 29 Tagen.

Wie hat sich die Mutter entschieden?

Sie wollte es auf die Welt bringen. Sie genoss jeden Moment der Schwangerschaft. Sie freute sich über die Schwangerschaft, wie jede Frau, die ein Kind erwartet. Sie wollte die Zeit so gut es geht nutzen, denn ihr war klar, dass die Zeit umso knapper wurde, je näher die Geburt rückte. Der Tag der Geburt konnte zugleich der Todestag sein.

Also verbannte sie alle Kalender und alle Uhren aus ihrem Leben. Sie betete, dass Mieszko lebend geboren wird. Sie wollte, dass die Großeltern ihn sehen, dass er getauft wird, dass er die Liebe der Familie erfährt. Die Familie wollte von ihm Abschied nehmen.

„Ich hatte einen schönen Traum. Er währte 40 Wochen und 4 Tage lang. Ich will ihn bis in die kleinsten Einzelheiten in Erinnerung behalten. Mein Traum, mein Wunsch, mein allerliebster Sohn ist heute im Himmel und schaut von dort auf mich. Er umsorgt mich von dort, »mein kleiner Familienheiliger«. Er gab uns etwas Besonderes: den Glauben daran, dass es Wunder gibt, dass die Liebe siegt, dass die Menschen gut sind“, so hat sie ihre Geschichte beschrieben. Wir haben sie später veröffentlicht.

Hat sie es geschafft, Abschied zu nehmen?

Ja. Sie konnte einige Augenblicke mit ihrem Sohn verbringen. Ihn begrüßen und verabschieden. Die nächsten Angehörigen haben ihn kennengelernt. Er wurde getauft. Die Taufpaten haben ihn im Arm gehalten. Die Großeltern haben seine Händchen gestreichelt. „Ich bin stolz, dass ich einen solchen Sohn gehabt habe. Niemals würde ich anders handeln. Ich habe auf Dich nicht verzichtet, mein kleiner Sohn. Ich liebe Dich für immer. Deine Mutter“, schrieb sie später in ihrem Brief.

Einmal haben wir Zwillinge in unserer Obhut gehabt. Der Junge kam gesund und kräftig zur Welt, seine Schwester ohne ein Händchen und ohne Nieren. Die Eltern wollten sie würdig verabschieden, und so ist es geschehen. Das Mädchen lebte acht Stunden lang. Als es starb, weinte der Bruder eine Stunde lang so heftig, dass man ihn auf keine Weise beruhigen konnte.

Polens First Lady Agata Kornhauser-Duda besuchte die Gajusz-Stiftung im November 2015.

Da war auch Janek, der kurz vor Weihnachten geboren wurde. Er lebte zwanzig Minuten lang. Er hat es geschafft, sich an die Mutter anzuschmiegen, an seinem Fäustchen zu nuckeln. Er wurde getauft. Vater und Oma konnten ihn im Arm halten. Der Fotograf machte wunderschöne Bilder. Für die Eltern sind sie von unschätzbarem Wert, weil sie die Erinnerungen wachhalten. Janek starb im Arm der Mutter, angeschmiegt, still, ohne Schmerzsymptome. Er hörte auf, an seinem Fäustchen zu nuckeln. Jedes Kind ist eine andere Geschichte.

Halten Sie Kontakt zu den Müttern?

Ja. Jahrelang. Ich weiß, was sie machen. Einige nähen für uns wunderschöne Kleidchen und Steckkissen, in denen Kinder bestattet werden können. Von keiner der Mütter habe ich jemals gehört, sie würde es bereuen, ihrem Kind ermöglicht zu haben, auf die Welt zu kommen. Im Gegenteil, sie wähnen sich glücklich, weil sie ihre Kinder kennenlernen konnten.

Warum nehmen die Eltern das alles auf sich?

Ihnen ist die Gewissheit wichtig, alles was möglich war, und manchmal mehr als das, für ihr krankes Kind getan zu haben. Je schwieriger es am Anfang ist, umso leichter ist es danach, damit fertig zu werden. Sie haben ihr Kind gesehen, von ihm Abschied genommen und es, wie es sich für einen Menschen gehört, bestattet. Es tut furchtbar weh, aber sie sind mit sich im Reinen. Das verleiht Kraft. Sie können am Grab ihres Kindes trauern und irgendwann zum normalen Leben zurückkehren.

Ihr Kind wurde nicht wie medizinischer Abfall, zusammen mit amputierten Gliedmaßen und herausoperierten krebskranken Organen, entsorgt. Es ist nicht, nach Einnahme von Abtreibungspillen, die Toilette hinuntergespült worden. Mit diesem Trauma werden viele Frauen ihr Leben lang nicht fertig.

Gab es Eltern, die es bereut haben?

Sicher kann man nie sein. Ich habe von einer der Mütter gehört, dass sie ihr erstes ungeborenes Kind beseitigen ließ, als sie von seiner schweren Krankheit erfuhr. Das habe bei ihr sehr tiefe seelische Wunden hinterlassen, die die Zeit nicht heilen kann. Deswegen hat sie ihr zweites unheilbar krankes Kind bei uns auf die Welt gebracht.

Schrecken die Entstellungen der Kinder die Eltern nicht ab?

Manche sehr. Auf diesen Anblick muss man sich vorbereiten. Mit einer der Mütter haben wir Fotos solcher Kinder angeschaut. Sie wollte sich abhärten. Es war sehr schwierig.

Nach der Geburt habe ich die Kleine angezogen, sie in eine Decke gehüllt und habe sie erst dann der Mutter gegeben. Sehr langsam, in ihrem Tempo hat sie ihr Töchterchen enthüllt.

Manche Kinder kommen wirklich sehr entstellt zur Welt, aber für die Frauen, die sie geboren haben, sind sie ihre allerliebsten Schätze. Eine der Mütter hatte sehr große Angst, ihr Kind anzuschauen. Sie nahm es mit geschlossenen Augen in den Arm und begann ihm ein Wiegenlied zu singen, das sie während der ganzen Schwangerschaft gesungen hatte. Irgendwann öffnete sie die Augen, sah ihr Kind und sagte: „Mein Sohn, was bin ich für eine Mutter! Ich hatte Angst, dich anzuschauen, und du bist so schön“. Eine andere Mutter bat mich, allen Frauen in dieser Situation zu sagen, dass am Ende die Liebe stärker sein wird als die Angst.

Der Anblick ist manchmal kaum zu verkraften. Kann man die Mutter auf eine solche Begegnung vorbereiten?

Man kann, aber nicht immer. Für mich ist der Anblick eines schwer kranken Kindes nicht abstoßend. Unsere Hospiz-Mitarbeiter bereiten die Mutter auf das vor, was sie erwartet. Sie erfährt, wie ihr Kind aussehen wird, wie man ihm helfen kann, was und wie man es der Familie und den Geschwistern sagen soll, und ob sie ihre kranke Schwester oder ihren kranken Bruder zu sehen bekommen sollen. Was nicht heißt, dass die Mütter nicht leiden. Sie leiden, aber sie wissen, was sie erwartet, und haben Menschen um sich, die ihnen helfen.

Haus der Gajusz-Stiftung in Łódź.

Wann beginnt die Hilfe des pränatalen Hospizes?

Sie sollte gleich nach der Diagnose einsetzen. Zuallermeist jedoch passiert das später oder zu spät, weil der Arzt die Patientin nicht darüber informiert hat, dass es unsere Einrichtung gibt. Nur wenige Frauen erfahren von uns im Sprechzimmer. Der Rest gelangt zu uns über Facebook oder weil es ihnen jemand gesagt hat.

Dabei sollte die Standard-Verfahrensweise der Ärzte sein, einfach zu sagen: „Wir überweisen Sie in die Obhut des Pränatal-Hospizes. Die wissen dort, wie man verfährt. Sie haben Psychologen, Genetiker, Gynäkologen, Neonatologen, Kinderärzte und werden sich Ihrer professionell annehmen. Alles ist umsonst, es gibt keine Wartezeiten. Soll ich für Sie einen Termin vereinbaren?“ Leider passiert das sehr selten, auch wenn die Frau das kranke Kind auf die Welt bringen will.

Und was dann?

Die Folge dieser ärztlichen Nachlässigkeit und des fehlenden Prozedere sind große Tragödien. In einem der Krankenhäuser in Łódź gebar eine Mutter, die ihr krankes ungeborenes Kind nicht abtöten lassen wollte, ein hirnloses Baby. Leider hatte sie niemand darauf vorbereitet, was sie erwartet, niemand mit ihr geredet. Die Frau bekam Weinkrämpfe, schrie, wollte niemanden sehen, verfiel in Depression.

Uns ist so etwas niemals widerfahren, weil wir professionell und genau auf solche Fälle vorbereitet sind. Ein pränatales Hospiz ist nicht einfach nur eine Einrichtung. Das ist vor allem eine Art, darüber nachzudenken, wie zu verfahren ist, um den Eltern zu helfen, die auf die Geburt eines schwer kranken Kindes warten. Wir betreuen Schwangerschaften, an deren Ende keine glückliche Entbindung stehen wird.

Zu uns kommen zumeist Eltern, die bestürzt und betäubt sind vor  seelischem Schmerz, die nicht weiterwissen. Es gilt, mit dem riesigen Unterschied fertig zu werden, wie Frauen und Männer mit einer solchen Situation umgehen. Der Psychologe muss versuchen, eine schwere Ehekrise abzumildern oder zu verhindern. Unsere Ärzte müssen bereit sein, sich manchmal sehr viel Zeit für die Eltern zu nehmen, weil Menschen, die einem solchen Stress ausgesetzt sind, große Probleme haben, sich zu konzentrieren, sich zu merken, was ihnen vermittelt wird.

Es geht darum, eine fortwährende medizinische, psychologische und soziale Hilfe zu gewährleisten von der Diagnose an, während der ganzen Schwangerschaft bis zur Niederkunft, die von uns organisiert wird. Das geborene kranke Kind wird im Hospiz oder, wenn es möglich ist, zu Hause von uns betreut.

Kommt es vor, dass Fehldiagnosen gestellt werden und die Kinder gesund geboren wurden?

In den sieben Jahren hatten wir fünf solcher Fälle. Vier Mal wurden Kinder geboren, die nicht schwer, sondern nur leicht oder sehr leicht geschädigt waren. Ein Kindlein war völlig gesund. Wie man sieht, können sich Ärzte irren, können auch die modernsten Geräte für pränatale Untersuchungen irreführende Diagnosen herbeiführen. Es sind jedoch absolute Ausnahmen.

Kam es vor, dass trotz aller gutgemeinten Beratung, die Eltern sich dennoch für die Abtreibung entschieden haben?

Alles, was wir machen, ist auf die Erhaltung des Lebens ausgerichtet. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, ein Leben, das ihm vergönnt ist. Egal ob es zwanzig Minuten oder hundert Jahre lang währen soll. Wir sagen, wie wir helfen können, und wir sagen, dass wir helfen wollen. Aber wir missionieren nicht. Das ist nicht die Aufgabe eines pränatalen Hospizes. Von den etwa einhundert Familien, die zu uns kamen, haben zwei die Abtreibung vorgezogen.

Was muss einhergehen mit dem durch das Verfassungsgerichtsurteil am 22. Oktober 2020 auf kranke, ungeborene Kinder ausgeweiteten Schutz des ungeborenen Lebens?

Dieser ausgeweitete Schutz ist wichtig. Abtreibungen waren möglich, wie es hieß, aufgrund einer schweren Schädigung eines ungeborenen Kindes. Zu mehr als neunzig Prozent aber handelte es sich dabei aber um Kinder mit dem Down- und dem Turner-Syndrom. Lebensfähige ungeborene Menschen wurden aufgrund ihrer Behinderung getötet. Es gibt inzwischen Länder in Europa, die mit Stolz darauf verweisen, dass bei ihnen praktisch keine Kinder mit diesen beiden Krankheiten zur Welt kommen. Das soll bei uns nicht so sein.

Wir sprechen hier aber die ganze Zeit von diesen etwa fünf bis sechs Prozent der Fälle, in denen die Kinder nur geringe Überlebenschancen haben. Was wir jetzt brauchen, ist die Entstehung eines funktionierenden Systems. Die Ärzte überweisen nicht an pränatale Hospize, die Krankenhäuser arbeiten mit ihnen zusammen, mehr schlecht als recht. Das Personal ist nicht geschult im Umgang mit Müttern schwer kranker ungeborener Kinder. Die Mütter leiden sehr darunter, weil sie keine Ahnung davon haben, dass sie fachgerechte Hilfe in Anspruch nehmen können.

Woran mangelt es den pränatalen Hospizen in Polen?

Wir haben knapp fünfzig davon im Land. Es mangelt vor allem an einer guten Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern.

Tisa Żawrocka-Kwiatkowska mit Sohn Gajusz.

Wie entstand die Gajusz-Stiftung?

Sie entstand in einer unruhigen Winternacht des Jahres 1997. In der zweiten Etage des Krankenhauses in der Spornastraße in Łódź. Sie entstand aus Liebe und Angst. Mein mehrmonatiges Kind hatte keinen kompatiblen Knochenmarkspender und die Befunde wurden immer schlechter. Die Ärzte bereiteten mich auf das Schlimmste vor.

Damals kam mir die Idee, eine Stiftung zu gründen, die so heißen sollte wie mein drittes Kind, mein Sohn: Gajusz-Stiftung. Sie sollte kranken Kindern und ihren Familien helfen. Ich habe an ein Wunder geglaubt. Nach gut zehn Tagen wurden die Befunde besser. Gajusz wurde gesund. Er ist inzwischen 24 Jahre alt, fast zwei Meter groß, hat sein Studium in England abgeschlossen.

Kurz nach seiner Genesung habe ich bei Gericht die Registerunterlagen der neu gegründeten Gajusz-Stiftung abgeholt. Seitdem tue ich alles, damit kranke Kinder nicht allein bleiben, so wie das Mädchen aus dem Waisenhaus, das im Isolierzimmer gegenüber dem meines Sohnes starb, festgeklammert an die Hand der Stationshilfe.

Wie entwickelt sich die Tätigkeit der Stiftung?

Zu dynamisch. Wir betreuen mehr als fünfhundert Kinder. Wir lieben sie und wir versuchen mit dem lieben Gott ins Gespräch über eine Verlängerung von Tag und Nacht auf mindestens sechsunddreißig Stunden zu kommen.

Was haben Sie noch vor?

Auf keinen Fall noch größer zu werden. Wir brauchen schon jetzt mehr Mitarbeiter.

Als ich vor vier Jahren bei Ihnen war, habe ich Ania kennengelernt, ein schwer geschädigtes Mädchen, dessen Eltern die Kraft fehlte, es zu pflegen und zu erziehen. Was ist mit ihr passiert?

Es war wichtig, die Eltern zu unterstützen und darin zu bestärken, dem Kind das Leben zu schenken. Sie gaben es anschließend zur Adoption frei. Ania lebt heute in einer Pflegefamilie und ist glücklich. Wunder geschehen bei uns am laufenden Band.

Das Gespräch, das wir, mit freundlicher Genehmigung, leicht gekürzt wiedergeben, erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 8. November 2020.

RdP




Tschetschenien. Polens erkaltete Liebe

Ein Mythos und sein Ende.

Am 18. Oktober 2020 erstach und enthauptete ein 18-jähriger Tschetschene den Lehrer Samuel Paty unweit von Paris auf offener Straße. Die Polizei erschoss den Täter. Sein Name: Abdullach Nawzorow . Er war drei Jahre alt, als seine Familie in Polen den Asylantrag stellte. Sie wurde abgewiesen.

Die Familie Nawzorow kam im August 2005 nach Polen. Die Behörden schenkten den Schilderungen des Familienvaters keinen Glauben. Er soll den antirussischen Partisanen geholfen haben, dafür dann von uniformierten Männern entführt und einige Tage lang misshandelt worden sein. Als den Nawzorows das Asyl verweigert worden war, fuhren sie nach Russland zurück und versuchten es zwei Jahre später in Frankreich. Mit Erfolg. Dreizehn Jahre danach ereignete sich die Tragödie.

Abdullach Nawzorow.

Diese Geschichte, breit kolportiert von den Medien in Polen, dürfte einen Großteil der polnischen Öffentlichkeit wieder einmal darin bestärkt haben, es sei richtig, islamische Migranten möglichst nicht ins Land zu lassen und ihnen, wenn nötig, lieber vor Ort zu helfen. So mancher wird sich dabei auch mit Unbehagen an Zeiten erinnert haben, als in Polen ausgerechnet den Tschetschenen Tür und Tor offen standen, und ihnen eine Woge der Sympathie entgegenschlug. Knapp 95.000 von ihnen hat das Land seit Anfang der neunziger Jahre aufgenommen.

Hätte Abdullach Nawzorow auch in Polen seine Tat begangen? Terrorismus-Expertin Prof. Aleksandra Gasztold von der Warschauer Universität hält das für möglich. Der Auslöser, sagte sie dem Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“), müssten nicht Mohammed-Karikaturen sein, die der Lehrer Paty im Unterricht gezeigt hatte. In Polen finden diese keine Beachtung. Seinen Zorn hätte stattdessen z. B. ebenso einer der nicht selten erheblich manipulierten Dokumentarfilme auf Youtube über geheime CIA-Gefängnisse in Polen wecken können.

Aleksandra Gasztold.

Um terroristische Anschläge zu verüben, sind gewisse psychische Voraussetzungen notwendig. Die meisten radikalen Islamisten leben ihre Frustrationen und ihren Zorn im Internet aus und gehen nie darüber hinaus. Beim jungen Nawzorow nahm der Drang zur Tat überhand. Er ähnelte einer tickenden psychischen Zeitbombe, die letztendlich explodierte. So etwas kann überall passieren, meinte Prof. Gasztold.

Dr. Daniel Boćkowski von der Universität Białystok dagegen, einer der besten Kenner der tschetschenischen Gemeinde hierzulande, sagte in „Sieci“, dass der Jugendliche keine Gelegenheit gehabt hätte sein Attentat in Polen zu verüben. Schlicht und einfach deshalb, weil seine Familie, wie so viele andere, über kurz oder lang das Land ohnehin in Richtung Westeuropa verlassen hätte.

Daniel Boćkowski.

Wie wir heute wissen, fühlte sich die radikalisierte Familie Nawzorow wohl in Frankreich, in dem extrem islamistischen Milieu der Salafisten, das sie umgab. Abdullachs Großeltern, sein Vater und sein Bruder sind nach dem Mord schnell ins Fadenkreuz der französischen Polizei geraten. Auch ein Nachbar, der im Internet dazu aufgerufen hatte den Lehrer Paty zu „bestrafen“. Ebenso muslimische Schüler, die dem Attentäter Paty gezeigt haben sollen. Solche Parallelwelten gibt es in Polen nicht.

Die polnische Drehtür

Um zu verhindern, dass sie entstehen können, weigert sich die polnische Grenzpolizei seit einigen Jahren Asylanträge von Tschetschenen an der polnisch-weißrussischen Grenze entgegenzunehmen. Bis Corona ausbrach, kampierten Dutzende tschetschenische Familien wochenlang auf dem Bahnhof und in den umliegenden Billighotels im weißrussischen Brest. Jeden Morgen nahmen sie den Zug nach Polen und wurden an der polnischen Grenzstation Terespol als Wirtschaftsflüchtlinge zurückgeschickt. Nur ab und an durften einige wenige den Asylantrag stellen.

Tschetschenen im Bahnhof von Brest. Weißrussischer Polizist.

Im Juli 2020 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Polen deswegen zur Zahlung von jeweils 34.000 Euro an zwei tschetschenische Familien und einen Mann. Sie wurden zwischen 2016 und 2017 regelmäßig in Terespol abgewiesen. Das Land sei preiswert davongekommen, so der Tenor der Internet-Kommentare damals. Schließlich gehe es darum, potentielle Gefährder nicht ins Land zu lassen, da seien gut 100.000 Euro kein Geld.

Es heißt, solche Praktiken wie in Terespol widersprechen den geltenden internationalen Regelungen. Ein Asylantrag muss, von jedem der sich verfolgt fühlt, im ersten sicheren Staat entgegengenommen werden und wer ihn stellt, muss Aufnahme finden solange sein Ersuchen geprüft wird. Das dauert in Polen mindestens ein Jahr.

Leider widerspricht das Verhalten der allermeisten aufgenommenen Tschetschenen stark den geltenden Regelungen. Ohne auch nur den Beginn des Asylverfahrens abzuwarten, machen sie sich fast ausnahmslos auf und davon, vorzugsweise nach Deutschland, Frankreich, Belgien und Schweden. Dort leben ihre Verwandten aus dem Familienclan. Dort haben ihre Landsleute islamisch-tschetschenische Netzwerke geschaffen, die sich in Parallelwelten verwandeln. Ausnahmsweise einmal aufgegriffen und im Polizeikonvoi nach Polen überstellt, flüchten sie erneut. Drehtüreffekt nennt man das.

Der polnische Vertreter bei der Verhandlung in Straßburg hat diese Argumente vorgebracht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sie nicht berücksichtigt.

In Deutschland, wo inzwischen schätzungsweise 12.000 Tschetschenen leben, sind Berichte wie der vom Mai 2019 im „Spiegel“ fast schon an der Tagesordnung: „BKA warnt vor Tschetschenen-Mafia. Banden aus Tschetschenien sind in Deutschland auf dem Vormarsch – zu dieser Einschätzung kommt das Bundeskriminalamt in einer vertraulichen Analyse.“

„Brutal, vernetzt, abgeschottet. Bedrohung durch Kriminelle aus dem Kaukasus“, so der Titel eines ZDF-Berichtes im September 2019.

„Schutzgeld-Mafia: Lange Haftstrafen für Tschetschenen“ titelte im Januar 2020 die „Sächsische Zeitung“. Ähnliche Schlagzeilen aus deutschen Medien findet man im Internet zuhauf.

In Polen nicht heimisch geworden

In Polen haben zwischen 2003 und 2019 knapp 95.000 Tschetschenen um Asyl nachgesucht. Etwa 71.000 Verfahren wurden eingestellt, weil die Antragsteller nach Westeuropa ausgereist waren. Etwa 18.000 Fälle wurden negativ beschieden, woraufhin die Betroffenen Polen Hals über Kopf ebenfalls in Richtung Westen verlassen haben. Dasselbe taten die meisten der gut 6.000 Tschetschenen, denen in Polen Asyl gewährt wurde. Heute leben in Polen etwa 2.500 Tschetschenen mit Asyl oder Duldung. Hinzu kommen ca. 1.000, deren Verfahren noch laufen.

Doch ob in Polen oder in Deutschland, sie gelten den Behörden als eine besonders schwierige Gruppe und die tschetschenischen Männer als besonders gewaltbereit, weil sie schnell zum Messer greifen, ihre Frauen oder Kinder verprügeln. Der Hang zur Gewalt hat mit der Kriegermentalität, dem Ehrenkodex und dem ausgeprägten Männlichkeitskult der kaukasischen Bergbewohner zu tun. Zudem bleiben die Clan-Strukturen, in denen sie sich seit Jahrhunderten in ihrer Heimat organisieren, auch außerhalb der Heimat erhalten. In ihnen spielt sich das Leben der Tschetschenen auch in der Fremde ab.

So kommt es, dass, anders als die Vietnamesen, Weißrussen oder Ukrainer, sich die Tschetschenen in Polen nicht integrieren. Auch nach zehn und mehr Jahren Aufenthalt sprechen sie kein Polnisch, leben vom Geld, das ihnen Clan-Mitglieder aus Westeuropa schicken.

Tschetschenen in Łomża.

Als das Arbeitsamt in Łomża, in Nordostpolen, wo die meisten Tschetschenen in zwei Einrichtungen untergebracht sind, 2017 für achtzig von ihnen einen Lehrgang organisierte, nahm im Anschluss nur ein Teilnehmer eine reguläre Arbeit auf. Nicht anders war es im Jahr darauf.

„Als Einzelpersonen fallen sie nicht auf, sind zurückhaltend und höflich. Es genügt aber, dass sie zwei, drei Landsleute treffen, gleich werden sie laut, herausfordernd, streitsuchend, belästigen vorbeigehende Frauen. Obwohl Moslems, trinken sie so, wie man in Russland, von wo sie kommen, üblicherweise trinkt: viel und gerne, und dann wird es richtig gefährlich.“ In Łomża und Umgebung bekommt man das oft zu hören.

Raubüberfälle, Körperverletzung, Diebstahl, räuberische Erpressung, selten ein Mord. Wegen dieser Straftaten geraten Tschetschenen immer wieder in Polen hinter Gitter. Haben sie die Hälfte oder zwei Drittel der Strafe verbüßt, werden sie des Landes verwiesen, ohne Recht auf Rückkehr. Das rigide Vorgehen der Grenzpolizei an der weißrussischen Grenze und die Abwanderung der Tschetschenen in den Westen Europas, ersparte Polen das Entstehen von extrem gewalttätigen „Banden aus Tschetschenien“, vor denen das deutsche Bundeskriminalamt so eindringlich warnt.

Auch in Polen muss der Staatsschutz ein waches Auge auf die Tschetschenen haben. Mancher junge Asylant sucht den Kontakt zum Islamischen Staat, will als Kämpfer nach Syrien oder Afghanistan reisen. Es wird immer wieder mal Geld für den „heiligen Krieg“ gesammelt. Bis jetzt gelingt es solche Betätigungen im Ansatz zu unterbinden, aber Nachrichten darüber ruinieren den Ruf der Ankömmlinge zunehmend.

Dabei sind die Tschetschenen mit ihrem Ansehensverlust wahrlich von einem hohen Sockel gestürzt.

„Polen und der Kaukasus. Russlands offene Wunden“

In Polen, das selbst, unter den Zaren und unter den sowjetischen Kommunisten, knapp drei Jahrhunderte lang die brutale russische Vorherrschaft erleiden musste, wurde der tschetschenische Freiheitskampf Anfang der neunziger Jahre, kurz nach dem Zerfall des Ostblocks, mit großer Sympathie bedacht. Sie war so stark, weil zugleich ein Mythos wiedererwachte, der seit zweihundert Jahren immer wieder aufs Neue in Polen die Herzen höher schlagen ließ: Die Überlieferung von der polnisch-tschetschenischen, bzw. polnisch-kaukasischen Schicksalsgemeinschaft.

Fähnrich Leo Tolstoi.

Anfang des 19. Jahrhunderts hatte Russland zur endgültigen Eroberung des Kaukasus angesetzt. Sie verschlang knapp ein halbes Jahrhundert (1817 bis 1864), so erbittert war der Widerstand der Tschetschenen, Inguschen. Karatschaier, Mescheten und der anderen Kaukasus-Völker.

Ende Mai 1851 kam der junge Fähnrich Leo Tolstoi (1828-1910) dorthin. Bis Januar 1854 kämpfte er gegen die Einheimischen in einer Artilleriebrigade. Tolstoi verarbeitete seine Beobachtungen und Erfahrungen in den Kaukasus-Erzählungen. Mit ihnen begann sein Schriftstellerruhm.

In der Novelle „Hadschi Murat“ legt Tolstoi dem russischen Generalgouverneur der baltischen Provinzen, Baron Wilhelm Lieven, eine Aussage in den Mund, die im damaligen Russland eine weit verbreitete Überzeugung wiedergab. An der Tafel des Zaren Nikolaus I. (1796-1855) sagt Lieven zum preußischen Gesandten: „Polen und der Kaukasus, das sind die beiden offenen Wunden Russlands. Wir brauchen jeweils etwa einhunderttausend Mann in diesen beiden Gegenden“.

Iwan Paskewitsch.

An den zwei entgegengesetzten Rändern des russischen Imperiums brachen nämlich regelmäßig nationale Aufstände aus. Russische Truppen, die sie bekämpften, hatten nicht selten dieselben Kommandeure. Dazu gehörte Iwan Paskewitsch (1782-1856), einer der fähigsten und grausamsten russischen Heerführer im 19. Jahrhundert.

Der Feldmarschall unterwarf zwischen 1826 und 1830 nacheinander die Reste von Aserbaidschan und Armenien, und die Bergvölker Dagestans. Zar Nikolaus I. beorderte Paskewitsch im Frühjahr 1831 direkt aus dem Kaukasus nach Polen, zur Niederwerfung des Ende November 1830 ausgebrochenen großen nationalen Aufstandes.

Wie im Kaukasus säumten Hunderte von Galgen den Weg seiner Truppen, dazu Leichen von Opfern der Erschießungskommandos, Kolonnen in Ketten gelegter Aufständischer, die von berittenen Kosaken zu Fuß nach Sibirien getrieben wurden. Niedergebrannte Dörfer aber auch zerstörte katholische Kirchen und Klöster, da sie die lokalen geistigen Hochburgen des Widerstandes waren.

Der Kaukasus. Ort romantischer Sehnsucht, orientalischer Fantasien.

Im Zuge der Expansionspolitik des Zarenreiches entzückte und beflügelte der Kaukasus mit seiner atemberaubenden Bergwelt und den dort seit alters her ansässigen Völkern mit unterschiedlichen Religionen, Sitten und Gebräuchen die Fantasie der größten Größen der russischen Literatur und Dichtung. Für die Romantiker Alexander Puschkin, Alexander Bestuschew, Michail Lermontow war der vielgestaltige Kaukasus ein mit Mythen gesättigter Ort romantischer Sehnsucht, orientalischer Fantasien, eine majestätische, „imperiale Landschaft“, die nur des Zarenreiches würdig sei. Dort fanden auch die Kriegsteilnehmer Bestuschew (1837) und Lermontow (1841) den Tod.

Beim Knechten verheizt

Tolstois Erzählungen vom Kaukasuskrieg dagegen sind schonungslose Schilderungen von Heldenmut, Fanatismus, Rohheit, Gräuel und Verrat. In diese Hölle schickte das Zarenregime immer wieder Tausende von Polen. Der Freiheit beraubt und in russische Uniformen gesteckt, wurden sie beim Knechten der kaukasischen Bergvölker verheizt.

„Gibt es eine polnische Familie, die niemanden im Kaukasus hätte?“, fragte rein rhetorisch Hipolit Jaworski in seinen 1877 erschienenen „Erinnerungen aus dem Kaukasus“. Im 19. Jahrhundert waren solche Familien im russischen Teilungsgebiet Polens eine Seltenheit. Jaworski, Kämpfer im polnischen Nationalaufstand von 1830, bezahlte für sein patriotisches Engagement mit zwölf Jahren Zwangsdienst im Kaukasus.

Den Anfang aber machten einige Tausend gefangen genommene Teilnehmer der nationalen Erhebung von 1794. Es war ein verzweifelter Versuch die dritte Teilung Polens, die 1795 stattfand, und das Verschwinden des Landes von der Europa-Karte doch noch abzuwenden.

Auf russische Einheiten verteilt, gingen die Polen in Nordossetien und Nordtschetschenien nach und nach zugrunde. Kälte, Krankheiten und die Hinterhalte der Partisanen des Scheichs Mansur Uschurma und seiner Nachfolger rissen sie reihenweise aus dem Leben.

Ihnen folgten ab 1816 etwa 12.000 gefangene polnische Soldaten der Armeen Napoleons. Es waren die ersten Jahre des fast ein halbes Jahrhundert währenden Kaukasuskrieges. In den unzugänglichen Bergen, befeuert von radikalen Imamen, leisteten die Tschetschenen und zahlreiche Bergvölker Dagestans erbitterten Widerstand.

Wochenlange Märsche im rauen Hochgebirgsklima, durch schneebedeckte Gebirgszüge und über schwindelerregende Pässe, zermürbten die russischen Truppen. Ihre Kriegsführung wurde immer rücksichtsloser und grausamer. Ausrottung sollte dem Widerstand den Boden entziehen. Die ansässige Bevölkerung zahlte es den Angreifern mit gleicher Münze heim.

„Branka“ („Rekrutenfang“). Zeichnung von Artur Grottger aus dem Zyklus „Polonia“.

Danach kamen die besiegten Kämpfer der beiden großen polnischen Aufstände gegen die russische Herrschaft von 1830 und 1861 in den Kaukasus. Außerdem zogen die Russen seit 1835 in ihrem polnischen Teilungsgebiet Jahr für Jahr, mittels brutaler Razzien („Branka“), Rekruten ein. Wer ihnen in Fänge geriet, verschwand für 25 Jahre hinter russischen Kasernentoren. Nicht selten im Kaukasus.

„Branka“ („Rekrutenfang“) Bild von Aleksander Sochaczewski.

Der französische Konsul in der georgischen Hauptstadt Tiflis schätzte 1840 den Anteil der Polen im russischen Kaukasus-Heer, das zeitweise gut 200.000 Mann zählte, auf 16 bis 19 Prozent. In diesem Bereich schwankte die polnische Quote bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, als es den Russen gelang den Kaukasus vollends zu erobern.

Deserteure, Sklaven, Mitkämpfer

Auf Schritt und Tritt überwacht, oft drangsaliert, fielen die Polen zudem, genauso wie ihre russischen Kameraden, dem weit verbreiteten Hang der zaristischen Generäle zum Opfer, ihre Untergebenen in aussichtslosen Attacken und Verfolgungsmärschen sinnlos dem Tod preiszugeben.

Wie viele Polen in russischer Uniform in ihrer Verzweiflung zu den Kaukasiern übergelaufen sind oder sich von ihnen gefangen nehmen ließen, lässt sich im Nachhinein nicht feststellen. Sicher ist, dass sie ein ungewisses Schicksal erwartete.

Manchen gelang im Anschluss die Flucht nach Persien oder in die Türkei. Wegen ihres Dauerkonfliktes mit Russland begegneten die Türken den polnischen Freiheitsbestrebungen stets mit Wohlwollen. Die Türkei war jahrzehntelang Zufluchtsort Tausender polnischer Verfolgter des Zarenregimes. In Istanbul starb im November 1855 der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz als er dabei war eine polnische Legion, die gegen die Russen kämpfen sollte, mit aufzustellen.

Teofil Łapiński.

Im Februar 1857 kehrten etwa achtzig polnische Deserteure aus der Zaren-Armee unter der Führung des zum Islam übergetretenen Artillerie-Obristen Teofil Łapiński (Tefik Bey) aus der Türkei in den Kaukasus zurück. Bis zur Kapitulation des Widerstandführers Imam Schamil 1859 zogen sie zwei Jahre lang an seiner Seite ins Feld gegen die Russen.

Die zweite polnische Expedition aus der Türkei stand unter dem Kommando von Hauptmann Klemens Przewłocki (fonetisch Pschewuotski), auch er war als Klementi Bey zum Islam konvertiert. Als sie im August 1863 im Kaukasus auftauchten, begann der Widerstand zu erlöschen. Nach schweren Kämpfen, teilweise von den Russen aufgerieben, traten die Überlebenden im April 1864 den mühsamen Weg zurück in die Türkei an.

Schafften sie es nicht in die Türkei, gerieten viele polnische Deserteure aus der russischen Armee oft vom Regen in die Traufe. Manche Clanführer der Tscherkessen und Tschetschenen behandelten sie, vor allem am Anfang des 19. Jahrhunderts, wie Arbeitssklaven. Wer von den Geflüchteten in den entlegenen Bergdörfern überleben wollte, war gut beraten zum Islam überzutreten. Die Sitten dort waren streng, das Leben karg und eintönig, die Angst an die Russen ausgeliefert zu werden ein ständiger Begleiter.

Das konnte durchaus passieren, denn die Clans und Stämme kämpften zwar gegen die Eroberer, aber immer wieder kam es auch zu Auseinandersetzungen untereinander. Während solcher unerbittlichen Fehden stellte sich dann nicht selten die eine Konfliktpartei in ihrem blinden Hass auf den gegnerischen Clan auf die Seite der Russen. Blutrache, Verrat, Betrug, das Ausspielen der Clans gegeneinander, die Geschichte der russischen Kaukasuseroberung ist reich an solch düsteren Vorkommnissen.

Entsetzlich war das Schicksal der polnischen Deserteure, wenn sie unter diesen Umständen in die Hände der Russen gerieten. Vielfach zu Hunderten von Stockhieben verurteilt, starben sie einen grausamen Tod.

Imam Schamil.

Erst als es Imam Schamil (1797-1871), einem charismatischen religiösen und politischen Führer gelang den Widerstand der Bergvölker Dagestans und Tschetscheniens zu vereinigen, begann auch eine bessere Zeit für die Überläufer.

Nach einigen schweren Niederlagen begann Schamil um 1840 mit dem Aufbau eines mehr oder weniger geordneten Staates, um dem Widerstand eine solidere Grundlage zu geben. Dazu schuf er eine dreistufige Hierarchie von Dorfvorstehern, Gebietschefs und schließlich seiner eigenen Zentralregierung. Der Staat erhielt ein stehendes Heer, Postwesen, Steuerverwaltung und ein eigenes islamisches Gerichtswesen. Polnische Deserteure konnten nun ihr Können als Artilleristen, Pioniere, Kartografen oder Feldschere unter Beweis stellen.

Knapp zwanzig Jahre lang, in denen er der russischen Armee einige vernichtende Niederlagen zufügte, konnte Schamil sich halten. Etwa einhundertfünfzig Polen sollen ihm während dieser zwei Jahrzehnte beigestanden haben. Als er sich schließlich 1859 ergab, gingen noch etwa fünf Jahre ins Land bis die Russen den Kaukasus endlich ihr eigen nennen konnten.

Imam Schamil kapituliert am 25.08.1859 vor den Russen. Aquarell von Alexei Kiwischenko.

Jetzt konnten sie einen Großteil ihrer Truppen nach und nach abziehen, damit verkleinerte sich allmählich auch die Zahl der Polen im Kaukasus. Zudem reduzierten sechs Teilamnestien zwischen 1866 und 1883 die Verbannungsstrafen für verschiedene Gruppen polnischer Deportierter im Kaukasus und in Sibirien oder hoben sie ganz auf.

Geologen, Ingenieure, Architekten

Der Krieg war zu Ende. Russland begann den Kaukasus zu erschließen und verkehrstechnisch an das übrige Reich anzubinden. Jetzt schlug die Stunde der Landvermesser, Geologen, Kartografen, Ingenieure, Architekten, Bauplaner. Erneut waren unter ihnen die Polen überdurchschnittlich oft vertreten und wieder einmal hatte das mit der Situation im russischen Teilungsgebiet Polens zu tun.

Seit der Niederschlagung des großen nationalen Aufstandes von 1830 weigerten sich russische Behörden nämlich in ihrem Teil Polens die Gründung einer Technischen Hochschule zuzulassen. Im Rahmen derselben Vergeltungsmaßnahmen wurde 1831 die polnische Warschauer Universität geschlossen. Hochschulen galten den Russen als gefährliche Keimzellen des nationalen Widerstandes.

Kaiser-Nikolaus II.-Warschauer-Polytechnische-Institut. Heute Technische Universität Warschau.

Erst 1870 errichteten sie eine ausschließlich russischsprachige Kaiserliche Warschauer Universität. Das russischsprachige Kaiser-Nikolaus II.-Warschauer-Polytechnische-Institut wurde dann endlich knapp dreißig Jahre später, 1898 genehmigt, und das nachdem die Behörden der polnischen Bevölkerung die gesamten Entstehungskosten in Höhe von 3,5 Millionen Goldrubel durch Sammlungen abgenötigt hatten.

Im 19. Jahrhundert konnten Polen aus dem russischen Teilungsgebiet somit nur in Russland studieren, unter den wachsamen Augen der Ochrana, der russischen Geheimpolizei. Die meisten von ihnen lernten an den Petersburger Instituten für Zivilingenieure, Bergbau, Technologie und Medizin. Nur wenige waren vermögend genug, um das Studium bezahlen zu können. Der Rest wurde auf Staatskosten ausgebildet. Im Gegenzug durften die Behörden entscheiden, in welcher Gegend Russlands die Staats-Stipendiaten ihre ersten fünf Berufsjahre abzuarbeiten hatten.

Gemäß der zaristischen Teile-und-Herrsche-Politik wurden nach Russisch-Polen vorzugsweise Russen und Baltendeutsche beordert. Während die Polen vorwiegend in den neuen Industriezentren am Ural und im Kaukasus landeten. Dort arbeiteten sie in den Gouvernement-, Landkreis- und Stadtämtern, im Gesundheitswesen, bei der Staatlichen Technischen Überwachung, im Straßen- und Brückenbau, bei der Errichtung von Raffinerien und Kanalisationen.

19. bis Anfang des 20. Jahrhundet.  Die Hinterlassenschaft polnischer Architekten in Baku. Von oben links im Uhrzeigersinn. 1.Jungen-Gymnsium – Konstanty Borysoglebski . 2. Rathaus –  Józef Gosławki. 3. Tagiew-Mädchenschule – Józef Gosławski. 4. Melikow-Haus – Józef Gosławski. 5. Bankhaus Rotschild – Kazimierz Skórewicz. 6. Kuliew-Villa – Eugeniusz Skibiński. 7. Muchtarow-Haus – Józef Płoszko. 8. Hadscha-Sultan-Ali-Moschee – Józef Płoszko. Briefmarkenserie von 2019.

Die Rechnung der Behörden ging zumeist auf. Die Polen lebten sich ein, heirateten vor Ort und kletterten die Karriereleiter hinauf. Die erste allrussische Volkszählung von 1897 ergab etwa 60.000 im Nord- und Südkaukasus lebende Polen: Ehemalige Soldaten und Neuankömmlinge.

Stanisław Despot-Zenowicz.

Unter den letzteren befand sich der damalige Oberbürgermeister von Baku, Stanisław Despot-Zenowicz (1833-1900). Ebenso wie die Ingenieure Stanisław Kierbedź (1845-1910) und sein Vetter Michał Kierbedź (1854-1932), die Miterbauer der 2.500 Kilometer langen Wladikawkas-Bahn, die den Kaukasus mit Russland verband. Technischer Leiter der Bahn war lange Zeit der polnische Ingenieur Wacław Łopuszyński (1856-1929). In dem 1902 erstellten Verzeichnis des leitenden und mittleren technischen Personals der Wladikawkas-Bahn befanden sich unter den gut eintausend Namen 194 mit dem Vermerk „Nationalität: Pole“.

Józef Chodźko.

Beim Bau der Bahn verwendete man die ersten genauen Kaukasus-Karten, die Józef Chodźko (1800-1881) seit 1855 erstellt hatte. Der polnische Landkartentechniker aus Wilna verbrachte Jahrzehnte im Kaukasus und starb in Tiflis. Er brachte es im kartografischen Dienst der russischen Armee bis zum Generalleutnant und durfte seine Kaukasus-Karten Zar Alexander II. persönlich präsentieren. Nebenbei erwähnt: Ein anderer Pole, Ignacy Hryniewiecki, tötete Alexander II. und sich selbst in einem Bombenattentat am 13. März 1881 in St. Petersburg.

Ein Mythos entsteht,…

Als die Eroberung des Kaukasus durch Russland 1864 kurz vor ihrer Vollendung stand, erlebte Russisch-Polen eine Zeit verheerender Verfolgungen nach der Niederschlagung des letzten großen antirussischen Aufstandes, der im Januar 1863 ausgebrochen war.

Am 5. August 1864 wurden in Warschau die letzten fünf Anführer der Erhebung öffentlich gehängt. Etwa eintausend Hinrichtungen hatten bis dahin stattgefunden oder sollten noch folgen. 60.000 Bewohner Polen-Litauens traten damals zu Fuß den Weg in die Katorga, die oft lebenslange Verbannung zu schwerster Zwangsarbeit in Sibirien an. Zur Strafe verloren Tausende durch Zwangsenteignungen, Haus und Hof. Die polnische Sprache wurde aus dem öffentlichen Leben verbannt, der Name „Polen“ getilgt und durch „Weichselland“ ersetzt.

1863 „Todesnachricht“. Zeichnung von Artur Grottger aus dem Zyklus „Polonia“.

Es war eine Zeit der Verzweiflung, der nationalen Trauer und des sprachlosen Protestes. Dies äußerte sich im Tragen schwarzer Kleidung und darin, dass Frauen schwarzen Blech- und Eisenschmuck trugen. In den patriotischen Schriften sowie in der mündlichen Überlieferung von damals wurde der hartnäckige Widerstand der kaukasischen Bergvölker zu einem heroischen, urwüchsigen Kampf der Guten und Gerechten gegen die Niedertracht des Bösen verklärt. Zu einem Kampf, in dem auch die Polen, selbst im fernen Kaukasus, der russischen Despotie die Stirn boten.

…ein Mythos lebt auf.

Dieser Mythos lebte vier Generationen später auf, als Präsident Dschochar Dudajew (1944-1996) im Jahr 1992 die Unabhängigkeit Tschetscheniens ausrief und der Kaukasuskrieg gegen die Russen nach knapp 130 Jahren eine Neuauflage erlebte.

Dschochar Dudajew (i. d. Mitte).

Die Überlieferung von der Schicksalsgemeinschaft der beiden Völker war inzwischen um eine weitere Gemeinsamkeit reicher geworden: Die der grausamen sowjetrussischen Deportationen in die unendlichen, unwirtlichen Weiten Sibiriens, Kasachstans, Usbekistans. Etwa dreihunderttausend Polen fielen ihnen knapp zwei Jahre lang, nach dem Einmarsch der Sowjets am 17. September 1939 in Ostpolen bis zum Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges im Juni 1941, zum Opfer. Die Tschetschenen ließ Stalin im Februar 1944 mit brutaler Gewalt komplett nach Sowjet-Asien verschleppen. Sie durften 1957 zurückkehren.

Es war frappierend zu beobachten, wie sich die Geschichte in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts wiederholte. Erneut bekriegten sich die Tschetschenen untereinander und kämpften gleichzeitig gegen die Russen, die Mitte 1996 eine demütigende Niederlage hinnehmen und im Waffenstillstand von Chassawjurt die faktische Unabhängigkeit Tschetscheniens anerkennen mussten. Dschochar Dudajew schien der neue Imam Schamil zu sein.

Doch wie zu Schamils Zeiten war auch jetzt der eigene Staat nicht von Dauer. Besser vorbereitet, fielen die Russen im Oktober 1999 erneut in Tschetschenien ein. Sie brauchten zehn Jahre, um am 16. April 2009 den Endsieg zu verkünden. Die Kampfmethoden waren modern, dementsprechend war das Resultat aus Zerstörung und Töten um ein Vielfaches höher als vor einhundertdreißig Jahren. Grosny, die Hauptstadt Tschetscheniens, glich einem Ruinenmeer.

Die Ernüchterung

In fast allen polnischen Großstädten entstanden damals spontan Solidaritätskomitees mit Tschetschenien. Protestdemonstrationen und Mahnwachen vor russischen Vertretungen in Polen waren lange Zeit an der Tagesordnung, ähnlich wie polnische Hilfskonvois, die das Nötigste in das Kriegsgebiet brachten. Das sprach sich herum in Tschetschenien. In den Jahren 2000 bis 2007 haben gut 35.000 Tschetschenen in Polen um Asyl nachgesucht.

Tschetschenien-Demonstration in Warschau 2006.

Doch das Schwarz-Weiß-Schema, die klare Trennung: Hier das Gute, dort das Böse versagten zunehmend. Die Russen und ihre tschetschenischen Handlanger gingen barbarisch vor. Wohin sie gelangten, waren Gruppenerschießungen, Misshandlungen, Vertreibungen, Erniedrigungen, Vergewaltigungen, Raub, mutwillige Zerstörungen an der Tagesordnung.

Auf der Gegenseite jedoch verwob sich der Befreiungskampf zunehmend mit einem ausufernden Bandenwesen, mit dunklen Erdöl-, Rauschgift- und Waffengeschäften, mit Blutrache, Verrat und Betrug zu einem politisch-kriminellen Dickicht, vor dem es irgendwann auch den gutwilligsten Freunden des freien Tschetschenien graute.

Zudem führten die Selbstmordattentate vom 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center der Welt schlagartig die Gefahr des islamistischen Terrorismus vor Augen. Gerade zu dieser Zeit aber ergriff der islamistische Extremismus von der antirussischen Widerstandsbewegung in Tschetschenien Besitz.

Schon vorher, im Juni 1995 und Januar 1996, nahmen die tschetschenischen Feldkommandanten Schamli Bassajew und Salman Radujew Hunderte von Geiseln in den Krankenhäusern von Budjonnowsk in Südrussland und in Kisljar in Dagestan. In Budjonnowsk starben mehr als 120 Menschen, in Kisljar gut 200. Der Angriff eines Tschetschenen-Kommandos auf das Moskauer Dubrowka-Theater im Oktober 2002 kostete 130 Menschen das Leben. Beim Angriff auf die Schule von Beslan in Nordossetien im September 2004 fanden knapp 350 Geiseln, überwiegend Kinder, den Tod.

Das Bild der tapferen Kämpfer wich unter dem Eindruck dieser Tragöden dem Bild rücksichtsloser Terroristen und hat sich seitdem in Polen dauerhaft verfestigt. Auch wenn es in allen vier Fällen die russischen Spezialkräfte waren, die bei ihrer rücksichtslosen Erstürmung wahre Massaker angerichtet haben.

Dr. Daniel Boćkowski von der Universität Białystok hat die Haltung der Polen zu Tschetschenien und den Tschetschenen in den letzten fünfundzwanzig Jahren, bis 2020, untersucht. Es ist die Geschichte eines langsam erkaltenden Enthusiasmus und einer enttäuschten Zuneigung.

Während 1995 gut 70 Prozent der Polen den Kampf der Tschetschenen mit Sympathie verfolgten, waren es nach dem Angriff auf das Moskauer Dubrowka-Theater noch 26 Prozent. Nach Beslan 2004 sank die Zustimmung auf 13 Prozent. Heute rangiert sie bei etwa 5 Prozent.

Ein Tschetschenien-Freund wendet sich ab

„Wir hatten Glück, dass die Familie des Mörders von Lehrer Samuel Paty kein Asyl in Polen bekommen hat. Meine Einstellung zur Einwanderung aus Tschetschenien ist heute anders als früher, eindeutig negativ“, sagte dem magazin „Sieci“ Adam Borowski, Vorsitzender des Komitees Polen-Tschetschenien.

Adam Borowski.

Er war lange Jahre Ehrenkonsul der Tschetschenischen Republik Itschkerien in Polen, eines von den Separatisten 1991 ausgerufenen, international nicht anerkannten unabhängigen Staates. Im September 2010 geriet Borowski ins Rampenlicht der Weltpresse, als polnische Behörden Achmed Sakajew, den Chef der tschetschenischen Exilregierung in Warschau, aufgrund eines in Russland ausgestellten internationalen Haftbefehls, festgenommen haben. Sakajew kam nach Polen zum Weltkongress der Exil-Tschetschenen. Das zuständige Gericht lehnte den Antrag auf Untersuchungshaft ab. Sakajew kam frei, Borowski wich ihm damals nicht von der Seite.

Achmed Sakajew wird in Warschau im September 2010  nach seiner Festnahme freigelassen.

Seine Worte haben Gewicht. Der bekannte antikommunistische Solidarność-Aktivist im Jaruzelski-Polen, war lange Jahre die Galionsfigur der polnischen Pro-Tschetschenien-Bewegung. Danach gefragt wie vielen Tschetschenen er zur Einreise nach Polen verholfen habe, sagt er, es seien bestimmt mehr als zweihundert gewesen. Oft waren das sehr komplizierte Vorhaben, wenn es galt verwundete Kämpfer, die sich im Kaukasus versteckt hielten herauszuholen und in Polen zu betreuen.

„Das waren aber ganz andere Leute als diejenigen, die jetzt kommen wollen. Heute sind das im besten Fall Wirtschaftsflüchtlinge, im schlimmsten Fall russische Agenten oder Kriminelle“, sagt Borowski. Deswegen lehnt er es ab, sich für die an der weißrussischen Grenze abgewiesenen Tschetschenen zu engagieren, auch wenn ihm das humanitäre Organisationen sehr übel nehmen.

Dschochar Dudajew Kreisverkehr in Warschau.

Borowski beobachtet, wie sich das Benehmen der Tschetschenen in Polen verändert. „Noch vor einigen Jahren regelte das Adat, das ungeschriebene kaukasische Gewohnheitsrecht, das tägliche und zeremonielle Leben. Inzwischen tut dies zunehmend der Islam. Junge Frauen tragen immer öfter den Hidschab. Die Männer lassen sich Salafistenbärtchen wachsen und nehmen sich Zweitfrauen. Die Gemeinschaft kapselt sich immer mehr ab.“

„Die Missstände häufen sich“, so ein Beamter der Ausländerbehörde in Warschau, der seit langem mit den Tschetschenen zu tun hat. „Nicht wenige von ihnen bekommen verlockende Angebote aus der kriminellen Unterwelt und nehmen sie an. Die junge Generation begeistert sich zunehmend für den Dschihad. Manche sind nach Syrien in den Krieg gezogen. Einige weil sie religiöse Fanatiker geworden sind. Die meisten jedoch wollen sich als Söldner verdingen, weil sie auf Abenteuer und viel Geld hoffen.“

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Istanbul-Konvention. Warum Polen austreten sollte

Argumente die unterschlagen werden.

Warum plant die polnische Regierung den Austritt aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen? Die Antwort in der Berichterstattung über Polen fällt eindeutig aus: Frauenrechte sollen beschnitten, Gewalt gegen Frauen womöglich legalisiert werden.

Die Sichtweise der Befürworter des Austritts kommt in den deutschsprachigen medialen Darlegungen überhaupt nicht oder hochgradig entstellt zur Geltung. Böser Wille und niedrige Beweggründe, die ihren Ursprung im „katholischen Aberglauben“ haben, so der hartnäckig von den Autoren vermittelte Eindruck, seien die Motive.

Initiative „Nein für die Gender-Konvention“.

Dabei handelt es sich um eine Debatte, in der die Gegner der Konvention gewichtige Argumente, nicht gegen den Schutz von Frauen vor Gewalt, sondern die Art wie ihn die Konvention durchsetzen will, ins Gespräch bringen. Einen Appell, aus der Istanbul-Konvention auszutreten, haben in Polen bis Anfang August 2020 knapp zweihunderttausend Bürger unterschrieben.

Initiative „Frauen gegen die Antifamilien-Konvention“.

Deswegen, dem Grundsatz audiatur et altera pars („Man höre auch die andere Seite“) verpflichtet, sehen wir die Notwendigkeit, die Argumente der Befürworter des polnischen Austritts aus dem „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ darzulegen, und die Umstände, auf die sie verweisen.

1. Gewalt gegen Frauen. Die rechtliche Lage in Polen

Die regierenden Nationalkonservativen sagen, sie nehmen das Problem sehr ernst. Als Beleg dafür, verweisen sie darauf, dass ihre Regierung und ihre parlamentarische Mehrheit, die den Austritt aus der Istanbul-Konvention betreiben, ein Gesetz ausgearbeitet und am 30. April 2020 verabschiedet haben, das sehr radikal gegen häusliche Gewalt, die sich überwiegend gegen Frauen richtet, vorgeht.

Weder die postkommunistische Linke, die Polen zweimal regierte (1993 bis 1997 und 2001 bis 2005), noch die linksliberale Bürgerplattform von Donald Tusk (2007 bis 2015) haben sich zu einem solchen Schritt durchringen können.

Auf der Stelle Hausverbot

Aufgrund des neuen Gesetzes kann die herbeigerufene Polizei den Täter mit sofortiger Wirkung der Wohnung verweisen und ein Rückkehrverbot von bis zu vierzehn Tagen aussprechen. Die verwiesene Person darf die notwendigsten Sachen mitnehmen, muss die Wohnung verlassen und die Wohnungsschlüssel abgeben. Hat der Täter keine andere Unterkunftsmöglichkeit, wird er an das nächstgelegene Obdachlosenheim verwiesen.

Das Betreten der Wohnung, um weitere notwendige Gegenstände zu holen, ist nur in Polizeibegleitung möglich. Innerhalb von 14 Tagen muss ein Gericht entscheiden, ob der Wohnungsverweis aufgehoben oder verlängert wird.

Polizeieinsatz. Gewaltopfer.

Hält sich der Täter nicht an den Verweis, kann eine Geld- oder Haftstrafe gegen ihn verhängt werden. Er kann bei Gericht Beschwerde gegen die polizeiliche Maßnahme einlegen, die dann innerhalb von drei Tagen entschieden werden muss.

Damit ist eine wesentliche Lücke in der Bekämpfung häuslicher Gewalt in Polen von den Nationalkonservativen geschlossen worden. Die Opfer müssen nicht länger die Anwesenheit des Täters ertragen, während sie tagelang auf den Gerichtsbeschluss über ein Hausverbot warten.

Ein Argument gegen die Entfernung aus der Wohnung war oft, dass der Täter keine andere Bleibe habe. Gerichte beließen daraufhin die Täter in den Wohnungen und verhängten Auflagen, an die sich die Betroffenen, vor allem in betrunkenem Zustand, nicht hielten.

Das Verfahren der Blauen Karte

Zur Bekämpfung häuslicher Gewalt sind in Polen gesetzlich die Polizei, die Staatsanwaltschaften, Gerichte, Gemeinden, Sozialhilfestellen, die Schulen, das Gesundheitswesen und Nichtregierungsorganisationen verpflichtet.

Um ihre Zusammenarbeit zu koordinieren, hat man 1998 das sogenannte Verfahren der Blauen Karte eingeführt. Auch das geschah in einer Zeit, als Polen zwischen 1997 und 2001 von einem Bündnis aus der Gewerkschaft Solidarność und etlichen kleineren christlichen und nationalkonservativen Parteien regiert wurde.

Die Bezeichnung rührt daher, dass ursprünglich die zur Dokumentation verwendeten Formulare eine blaue Farbe hatten. Das Verfahren wurde 2005 auf seinen heutigen Stand gebracht.

Blaue-Karte-Koordinierungsteam Gemeinde Zbąszynek/Neu Bentschen, Woiwodschaft Lebus.

Wenn eine der erwähnten Behörden oder Einrichtungen von häuslicher Gewalt erfährt, ist sie verpflichtet, Anzeige bei der Polizei zu erstatten, die wiederum sofort tätig werden muss. Beamte, die so, oder bei einem Einsatz, häusliche Gewalt feststellen, legen eine Blaue Karte an, in der sie die Vorgänge in Anwesenheit des Täters dokumentieren. Die geschädigten Personen können später ihre am Tatort gemachten Aussagen nicht mehr zurückziehen, wozu die Täter sie oftmals im Nachhinein bewegen wollen.

Blaue-Karte-Koordinierungsteam Gemeinde Wińsko/Winzig, Woiwodschaft Niederschlesien. Oberes Schild.

Die beim Prozess der Blauen Karte vernetzten Behörden und Einrichtungen werden alle über jeden der Fälle in Kenntnis gesetzt und können tätig werden. Ihre Arbeit wird in jeder polnischen Gemeinde durch ein vom Bürgermeister berufenes Team (zespół interdyscyplinarny) koordiniert. Es sind zumeist Familien von Suchtabhängigen, mit denen das Team sich beschäftigen muss.

Blaue-Karte-Koordinierungsteam Gemeinde Dzwola, Woiwodschaft Lublin.

Das Verfahren der Blauen Karte garantiert vor allem, dass häusliche Gewalt in Polen schnell ausfindig gemacht und unterbunden werden kann. Hauptursache sind Alkoholprobleme der Täter, die es unter Kontrolle zu bekommen gilt, was sich oft als äußerst schwierig erweist.

Dass sich die Vorgehensweise der Blauen Karte bewährt, zeigt der stete Rückgang der häuslichen Gewalt.

Hilfsstellen für Verbrechensopfer

Die Nationalkonservativen verweisen auch darauf, dass in ihrer Regierungszeit, im September 2017, das Justizministerium den Gerechtigkeitsfonds (Fundusz Sprawiedliwości) ins Leben rief.

Gespeist aus Bußgeldern und Geldstrafen, finanziert der Fonds die Errichtung und die Arbeit von Hilfsstellen für Verbrechensopfer, unter anderem Frauen, denen Gewalt widerfahren ist. Im Jahr 2019 standen dafür 50 Millionen Zloty (aktuell ca. 11,5 Millionen Euro) zur Verfügung.

Landesweiter Notruf für Opfer häuslicher Gewalt.

Mittlerweile gibt es sechzig solche Hilfsstellen im ganzen Land. Sie unterhalten knapp einhundert Filialen in kleineren Gemeinden. Alle werden von Nichtregierungsorganisationen (Stiftungen, Vereinen) im Auftrag des Gerechtigkeitsfonds betrieben.

Opfer und Zeugen aller Verbrechen, sowie entlassene Strafgefangene finden hier kostenlose juristische, medizinische, psychologische und materielle Unterstützung. Es muss ein Termin vereinbart werden. Dann gilt der Grundsatz, dass das erste Gespräch zur Bestandsaufnahme innerhalb von vierzehn Tagen nach der Anmeldung stattfinden muss. Im Jahr 2019 waren etwa fünfzehn Prozent der bearbeiteten Fälle Gewaltverbrechen gegen Frauen.

Strafandrohung

Die Befürworter des Austritts aus der Istanbul-Konvention weisen darauf hin, dass die juristischen Voraussetzungen für die Verfolgung von Gewalt gegen Frauen in Polen nicht im Geringsten von den Standards abweichen, die in Deutschland, Schweden oder Dänemark gelten.

● Art. 207 des polnischen Strafgesetzbuches sieht für die Misshandlung nahestehender Personen Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten und zwölf Jahren vor.

● Im Mai 2019 wurde auf Antrag der nationalkonservativen Regierung der Art. 197 des polnischen Strafgesetzbuches umformuliert. Auf Vergewaltigung stehen jetzt maximal 15 statt 8 Jahre, auf einen mit besonderer Grausamkeit begangenen Missbrauch maximal 20 statt 15 Jahre.

● Opfer von Vergewaltigungen müssen keine Anzeige mehr erstatten. Diese Straftaten werden ab Mai 2019 von Amts wegen verfolgt.

● Opfer häuslicher Gewalt sind in Polen grundsätzlich von allen Prozesskosten befreit.

● Die Prozessschriftsätze werden dem Täter, wenn er die Annahme der Post verweigert, von der Polizei zugestellt.

2. Gewalt gegen Frauen in Polen konkret. Statistik

Die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt ist in Polen, laut Polizeiangaben,

von 105.332 (davon 72.786 Frauen) im Jahr 2014
auf
88.133 Fälle (davon 65.057 Frauen) im Jahr 2018 zurückgegangen.

Gewalt gegen Frauen. Wie steht Polen im EU-Vergleich da?

Die Befürworter des Austritts verweisen auf Antworten, die man in den Ergebnissen der EU-weiten Erhebung „Gewalt gegen Frauen“ finden kann. Sie wurde durchgeführt von der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA).

Die Autoren schreiben: „In jedem EU-Mitgliedsstaat nahmen mindestens 1.500 Frauen an der Erhebung teil. Zielgruppe war die Gesamtbevölkerung der Frauen zwischen 18 und 74 Jahren, die in der EU leben und mindestens eine der Amtssprachen ihres Wohnsitzlandes sprechen. Alle Befragten wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und die Ergebnisse der Erhebung sind sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene repräsentativ.“

Die umfangreiche Studie kann man in deutscher Sprache hier nachlesen.

Wir bringen als Beispiel drei Fragen und die Antworten darauf in ausgewählten Ländern. Sie sind repräsentativ für die Gesamtergebnisse.

1.  Frauen, die seit dem 15. Lebensjahr körperliche und/ oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft oder durch eine andere Person erfahren haben: EU-33 Prozent

Schweden – 46, Niederlande – 45, Frankreich – 44,  Großbritannien – 44, Deutschland – 35, Slowakei – 34, Ungarn – 28, Spanien – 22, Polen – 19.

2. Erfahrung von Gewalt in der Kindheit (vor dem 15. Lebensjahr) durch erwachsene TäterInnen: EU – 35 Prozent

Frankreich – 47, Schweden – 44, Deutschland – 44, Großbritannien – 40, Slowakei – 36, Niederlande – 35, Spanien – 30, Ungarn – 27, Polen – 18.

3.  Häufigkeit von Gewalt gegen Frauen in der Wahrnehmung von Frauen, „Die Gewalt gegen Frauen ist in meinem Land sehr verbreitet“: EU- 27 Prozent

Großbritannien – 35, Frankreich – 31, Spanien – 31, Niederlande – 25, Schweden – 24, Deutschland – 19, Ungarn – 18, Polen – 16, Slowakei – 15.

Obwohl es eine repräsentative EU-Umfrage ist, die von externen Wissenschaftlern, in strenger Anonymität durchgeführt wurde, wird sie von linken Aktivisten in Polen, auf die sich deutsche Medien berufen, in Frage gestellt.

Die ansonsten sehr resoluten und selbstbewussten Polinnen, so die Behauptung linker und feministischer Gruppen, haben ausgerechnet in diesem Fall massenhaft Angst, anonym die Wahrheit zu sagen. Handfeste Beweise für diese angeblich flächendeckende Furcht bleiben die EU-Umfrage-Anfechter jedoch seit Jahren schuldig.

3. Istanbul-Konvention. Polens Beitritt,…

Die Regierung Donald Tusk unterzeichnete die Konvention im Dezember 2012. Im Februar 2015 verabschiedete die Regierungsmehrheit im Sejm, bestehend aus Tusks Bürgerplattform und der Bauernpartei, das Ratifizierungsgesetz. Der damalige Staatspräsident Bronisław Komorowski unterzeichnete es im April 2015.

Staatspräsident Bronisław Komorowski nach der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention am 13. April 2015.

Sechs Wochen später verlor Komorowski die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen gegen den nationalkonservativen Herausforderer Andrzej Duda. Im Oktober 2015 erlangten die Nationalkonservativen bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit im Sejm. Die Wende war vollzogen.

Unterzeichnete Istanbul-Konvention. Kameraleute, Pressefotografen.

Sie sollte auch den Austritt aus der Istanbul-Konvention mit sich bringen.

…Polens Austritt und die Politik

So lautete jedenfalls schon damals ein Wahlversprechen der Nationalkonservativen. Vorher hatte Recht und Gerechtigkeit im Parlament gegen die Konvention gestimmt und sich an die Spitze der großen gesellschaftlichen Ablehnungsfront gestellt, die das Abkommen von Istanbul als gefährlich und schädlich betrachtet.

Nach der Wahl jedoch konzentrierte sich die siegreiche Partei Jarosław Kaczyńskis, mit großem Erfolg, auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik, nahm ebenfalls die Justizreform in Angriff. Dabei „vergaß“ sie sehr schnell ihre weltanschaulichen Zusagen.

Dass ein ungeborenes Kind als krank diagnostiziert wurde, sollte demnach in Polen kein Grund mehr dafür sein, es dem Tod durch Abtreibung preiszugeben. Recht und Gerechtigkeit hatte das zwar in diversen Wahlkämpfen immer wieder feierlich versprochen, brachte jedoch in all den Jahren seit 2015, keinen eigenen diesbezüglichen Gesetzentwurf ein. Mehr noch, Jarosław Kaczyńskis Partei torpedierte nacheinander drei entsprechende Gesetzentwürfe, die, mit Hunderttausenden von Unterschriften versehen, Pro-Life-Bürgerinitiativen im Parlament einbrachten.

Die heiße Kartoffel Abtreibungsrecht fasst Jarosław Kaczyński nur in Wahlkämpfen an. Dort macht er der sehr vielfältigen, rechnet man die Sympathisanten mit, in die Hunderttausende gehenden, öffentlichkeitswirksam auftretenden polnischen Pro-Life-Bewegung immer wieder Hoffnungen, die er dann anschließend enttäuscht. Die politischen Kosten im In- und Ausland erweisen sich, für den stets scharf kalkulierenden Machtmenschen Jarosław Kaczyński, jedes Mal als zu hoch.

Und so bleibt alles beim Alten. Doch wenigstens gibt es in Polen keine Tötung ungeborener Kinder auf Wunsch, und das ist in den Augen der Pro-Life-Bewegung schon sehr viel. Kaczyńskis Gegner würden sie sofort einführen. Also bekommt Kaczyński am Ende jedes Mal die Pro-Life-Stimmen, versehen mit der Hoffnung, dass es dieses Mal mit der Ausweitung des Lebensschutzes Ungeborener vielleicht doch klappen wird.

Nicht anders ist es mit der Istanbul-Konvention. Jarosław Kaczyński will sie nicht aufkündigen. Das wirbelt viel zu viel politischen Staub auf. Für ihn ist das ein unwichtiger Nebenkriegsschauplatz, auf dem er sich politisch keinesfalls verausgaben will.

Justizminister Zbigniew Ziobro. Antrag auf Austritt aus der Istanbul-Konvention.

Dort muss es genügen, den Gegner, sprich: die Konvention, durch Nichtbeachtung auszuschalten. Die polnische Regierung verfasst keine Jahresberichte, die die Konvention fordert. Sie setzt auch keine Maßnahmen um, die der Vertrag vorsieht. Die Losung heißt: „Unser nationales Recht schützt die Frauen vor Gewalt gut genug. Auch ohne Gender“. Wozu noch austreten?

Dieses Mal jedoch hat es Jarosław Kaczyński nicht nur mit starken Anti-Istanbul-Pro-Life-Bürgerinitiativen, sondern auch mit gewichtigen Anti-Istanbul Kräften im eigenen politischen Lager zu tun. Sie sind es leid, die treuesten der treuen Wähler an der Nase herumzuführen und wollen endlich zur Tat schreiten. Ihr Anführer ist Justizminister Zbigniew Ziobro. Er hat den Austritts-Antrag verfasst und ist damit am 27. Juli 2020 an die Öffentlichkeit getreten.

Um die Wogen zu glätten, verwies Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, ganz bestimmt nicht ohne zuvor Rücksprache mit Jarosław Kaczyński zu halten, die Istanbul-Konvention am 30. Juli 2020 an das Verfassungsgericht. Dort wird sie lange verweilen, ehe ein Spruch zustande kommt.

So war es auch mit der Anfrage von gut einhundert Sejm-Abgeordneten, ob die Tötung ungeborener, kranker Kinder mittels Abtreibung verfassungskonform sei. Die Anfrage wartete zwei Jahre lang auf eine Entscheidung. Dann ging die Legislaturperiode des Sejm zu Ende und damit verfiel der Antrag.

Warum Polen austreten sollte

Die Kritiker der Istanbul-Konvention beanstanden vor allem den Grundtenor dieses Regelwerkes, in dem sie vorrangig ein ideologisches Manifest sehen.

Sie beanstanden, dass die ganz konkreten Ursachen häuslicher Gewalt, wie Alkohol- oder Drogenmissbrauch, Arbeits-oder Spielsucht, Verwahrlosung durch Arbeitslosigkeit und Armut, Persönlichkeitsstörungen, ein verkommenes, kriminelles Umfeld, in der Istanbul-Konvention keine Erwähnung finden.

Wo wirksame polizeiliche, juristische und Therapiemaßnahmen notwendig sind, sagen die Kritiker, holt die Istanbul-Konvention zu einem linksradikalen weltanschaulichen Rundumschlag aus. Quellen der Gewalt gegen Frauen sind dort: „Kultur“, „Vorurteile“, „Bräuche“, „Religion“, „Traditionen“, „Rollenzuweisungen“, die es zu beseitigen gilt.

Das hehre Ziel und Vorhaben, häusliche Gewalt zu verhindern, gerät in diesem Dokument zum Fahrplan eines ideologischen Umerziehungs-Feldzugs, an dessen Ende ein radikaler Umbau der Gesellschaft stehen soll.

Gerade eine Gesellschaft wie die polnische, die den Kommunismus mit seinem Vorsatz einen „neuen Menschen zu schaffen“ schmerzhaft erfahren hat, ist da ein gebranntes Kind. Die damaligen Versuche, angeblich um der Gleichheit Willen, mit aller Gewalt „Bräuche“, „Religion“, „Traditionen“, „Rollenzuweisungen“ auszumerzen, haben tiefe Narben hinterlassen. Jetzt tauchen diese Begriffe wieder auf.

Zugleich wird schon wieder ein ganzheitlicher Anspruch erhoben, die Gesellschaft neu zu formen. Und so verpflichten sich „die Vertragsparteien die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Veränderungen von sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Frauen und Männern (…) zu bewirken.“

● Sie sollen „regelmäßig Kampagnen oder Programme zur Bewusstseinsbildung auf allen Ebenen“ fördern.

● Sie sollen „gegebenenfalls die erforderlichen Maßnahmen (…) auf allen Ebenen des Bildungssystems“ treffen.

● Sie sollen „die erforderlichen Maßnahmen (…) in informellen Bildungsstätten sowie in Sport-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen und in den Medien“ veranlassen.

Unter dem ehrwürdigen Vorsatz Gewalt bekämpfen zu wollen, greifen alle diese Maßnahmen sehr tief und von oben herab in die Privatsphäre ein. Die betroffenen Rechte der Eltern werden nicht einmal erwähnt. Dabei garantiert Art. 48 der polnischen Verfassung:

„Die Eltern haben das Recht, ihre Kinder gemäß den eigenen Anschauungen zu erziehen. Die Erziehung soll die Reife des Kindes, seine Gewissens- und Bekenntnisfreiheit sowie seine Anschauungen berücksichtigen“.

Allein um dem im Art. 12 der Konvention erhobenen Anspruch „(…) Bräuche und Traditionen, (…) die auf Rollenzuweisungen (…) für Frauen und Männer beruhen, zu beseitigen“ gerecht zu werden, müsste man große Teile der polnischen Literatur, Malerei, des Opernschaffens, vor allem des 19. Jahrhunderts, „auslöschen“. Man kann zwar aus den dort geschilderten „Rollenzuweisungen“ keine Ursachen der Gewalt gegen Frauen ableiten, aber in den heutigen Zeiten, wo sogar schon die Mathematik als rassistisch befunden wird, ist alles möglich.

In ihrer Auslegung der Istanbul-Konvention zielen die Befürworter des Austritts darauf ab, zu beweisen, dass das Abkommen äußerst dehnbare Begriffe verwendet, mit denen sich notfalls alles belegen und rechtfertigen lässt.

Es gilt • „Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen“, •  „einen Beitrag zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zu leisten“, • „einen umfassenden Rahmen sowie umfassende politische und sonstige Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung aller Opfer von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu entwerfen“.

„Alle Formen“, „jede Form“, „umfassender Rahmen“, „umfassende politische und sonstige Maßnahmen“. Wer soll diese „Formen“, „Rahmen“, „Maßnahmen“ festlegen? Wie weit reicht die in der Präambel festgeschriebene „tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern“?

Anti-Istanbul-Konvention-Initiative. Logo.

Eigentlich gilt die Istanbul-Konvention der Abwendung von Gewalt gegen Frauen. Doch in ihrem Text ist die Rede, nicht nur vom biologischen, sondern auch vom „sozialen Geschlecht“, von „sexueller Ausrichtung“ und von der „Geschlechtsidentität“. Wer ist letztendlich, fragen die Kritiker, der Schutzbefohlene der Istanbul-Konvention?

Zudem vermittelt sie ein Bild der europäischen Frau, als lebte sie in den hintersten Winkeln Anatoliens, in den Bergdörfern Afghanistans, Pakistans oder in China. Es ist die Rede von Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisierungen, Zwangsehen, von der Verstümmelung weiblicher Genitalien und von „Ehrenmorden“.

Diese makabren „Traditionen“ werden in einen Topf geworfen mit einem angeblich überkommenen Verständnis von Ehe als einer Verbindung zwischen Mann und Frau, wie sie die polnische Verfassung beschreibt. Von Familie, Vaterschaft und Mutterschaft, wie sie Millionen von Polinnen und Polen seit Generationen leben und als natürlich betrachten, ohne sich etwas Böses dabei zu denken.

Die Gender-Ideologie, so die Kritiker, die auch der Istanbul-Konvention zugrunde liegt, stellt das alles unter einen Generalverdacht.

Polen ist nicht allein

Die Ausstiegs-Befürworter in Polen fühlen sich bestärkt durch die Bedenken und den Widerstand in anderen Ländern. Das ungarische und das slowakische Parlament haben es abgelehnt die Konvention zu ratifizieren. Das bulgarische Verfassungsgericht hat sie für nicht verfassungskonform befunden. Selbst Staaten, die an ihr mitgearbeitet haben: die USA, Kanada, Japan, Mexico, der Vatikan haben sie nicht einmal unterschrieben.

Auch dort werden dieselben Bedenken und Argumente erhoben. Man muss diese nicht teilen, aber man sollte sie, der Redlichkeit halber, wenigstens erwähnen. Das gilt natürlich nicht für die stets „gut gemeinte“, „engagierte“ deutschsprachige Berichterstattung aus Polen.

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