11.11.2018. Es lebe Polen! 100 Jahre Wiedererlangung der Unabhängigkeit

SEHENSWERT

So gratuliert Mel Gibson So gratuliert die litauische Eisenbahn. Loks spielen die polnische Nationalhymne Und so klärt der polnische Botschafter in Tel Aviv die Israelis über das Jubiläum auf . Bitte auf die Titelzeile klicken.




Krimineller Export spült Arzneien fort

Polens Patienten sind die Leidtragenden.

Auch in Polen quellen die Apothekenregale über. Wenn jedoch Patienten die eine oder andere Arznei kaufen wollen, lautet die Auskunft oftmals: „Haben wir nicht“. Die Medikamentenmafia war, wieder einmal, schneller. Endlich soll es den Ganoven nun an den Kragen gehen.

Die Liste der Präparate, die schwer oder gar nicht zu bekommen sind, wies im Spätherbst 2018 knapp zweihundert Produkte aus. So läuft es seit Jahren, lediglich die einzelnen Arzneien im Verzeichnis variieren.

Mangelware in Polen, bei Veröffentlichung der letzten Übersicht, waren zum Beispiel: Diprophos – ein Hormonpräparat gegen starkes Rheuma. Rudotel – gegen Angstzustände. Elin – ein Verhütungsmittel neuester Generation. Die Liste umfasst auch Medikamente gegen Lungenerkrankungen (z.B. Berodual), Insuline (zwanzig Posten), Gerinnungshemmer (z. B. Clexane), Arzneien gegen Schizophrenie und Epilepsie, zudem Impfstoffe für Kinder und Milchersatzpräparate.

Fachleute sprechen von einer „umgekehrten Lieferkette“. Medikamente aus dem Groβhandel und aus Apotheken werden gesetzeswidrig nach Westeuropa verbracht, wo die Preise deutlich höher sind. Beispielsweise kostet der Gerinnungshemmer Clexane in Polen umgerechnet knapp 25 Euro, in Deutschland das Vierfache pro Packung und Neulasta gegen Folgen der Chemotherapie 715 Euro, in Deutschland hingegen 1.740 Euro. Wem es gelingt eine gröβere Partie über die Grenze zu bringen, der hat schnell einige Zehntausend Euro verdient.

Umgekehrte Lieferkette.

 

Polen – Westeuropa. Woher rühren solche Preisunterschiede?

Um die bis dahin extrem hohen Apothekenpreise bestimmter Medikamente zu drücken, wurde für diese verschreibungspflichtigen Arzneimittel in Polen 2012 eine Preisbremse eingeführt. Man findet diese Produkte im so genannten „Verzeichnis erstattungsfähiger Arzneimittel“, das seit September 2018 gut 4.300 Präparate umfasst (2012 waren es etwas mehr als 3.300).

Darunter befinden sich so genannte Grundarzneimittel, für die ein Pauschalbetrag von 3,20 Zloty (ca. 0,80 Euro) gezahlt wird, und so genannte ergänzende Arzneimittel, für die der Patient 30 beziehungsweise 50 Prozent des Preises zu entrichten hat. Für Medikamente auβerhalb des Verzeichnisses zahlen Patienten den vollen Marktpreis.

Das „Verzeichnis erstattungsfähiger Arzneimittel“ wird sechsmal im Jahr neu festgelegt und das Gesundheitsministerium verhandelt jedes Mal die Preise mit den Herstellern neu. Diese gewähren erhebliche Preisnachlässe, denn sie wollen unbedingt mit ihren Produkten in das „Verzeichnis erstattungsfähiger Arzneimittel“ aufgenommen werden, da ihre Medikamente auf dem freien Apothekenmarkt für die meisten polnischen Normalverbraucher, oft Rentner, schlicht unerschwinglich sind.

Die Preise sind genau festgelegt, die Gewinnmargen begrenzt, und zwar EU-weit auf das, nach Litauen (14 Prozent), zweitniedrigste Niveau in Höhe von 16 Prozent. Zum Vergleich: Deutschland 24, Griechenland 35, Luxemburg 48 Prozent.

Dementsprechend kosten in Polen Medikamente, wie Atrovent und Berodual (gegen Bronchitis) im Durchschnitt 42, beziehungsweise 50 Prozent weniger als in Deutschland. Fragmin und Fraxiparine (gegen tiefe Venenthrombose) 43, beziehungsweise 33 Prozent weniger. Vesicare (gegen häufigen Harndrang) 46 Prozent, Xarelto (gegen Venenthrombose) 40 Prozent weniger usw., usf.

Das Ergebnis: die Medikamentenpreise sind im EU-Vergleich niedrig, aber manche Arzneien kann man, wegen krimineller Machenschaften, nur schwer bekommen. Wobei gesagt werden muss: für die meisten polnischen Patienten sind die Preise vieler Medikamente aus dem „Verzeichnis erstattungsfähiger Arzneimittel“ immer noch sehr hoch. Für das besagte Vesicare müssen sie umgerechnet 25 Euro bezahlen, für Xarelto ca. 35 Euro pro Packung. Dabei betrug der in Polen statistisch am häufigsten gezahlte Lohn 2018 ca. 610 Euro brutto.

Deswegen wurde das Programm Medikamente 75 +, wie im Wahlkampf 2015 versprochen, noch von der Regierung Beata Szydło eingeführt. Knapp 1.200 Arzneimittel, die vor allem im hohen Alter benötigt werden, bekommen Rentner über 75 Jahre kostenlos verschrieben.

Lesenswert: „Wieviel verdienen die Polen 2018“

Der Dreh

Im Mai 2018 ist der polnischen Polizei eine siebenköpfige Bande ins Netz gegangen, die 2017 und Anfang 2018 landesweit Medikamente im Wert von umgerechnet 25 Millionen Euro zusammengetragen und auβer Landes geschafft hat. Der Fall ist exemplarisch für das Vorgehen der Betrüger.
Unter den Festgenommenen waren mehrere Apotheker, ein Arzt, der Eigentümer eines Pharma-Groβhandelsunternehmens und seine Mitarbeiter. Einige hundert Apotheken fungierten als Zulieferer.

Der Groβhandelsunternehmer gründete in einem heruntergekommenen Gewerbegebiet bei Lublin eine GmbH für Arztdienstleistungen. Sie bestand aus einem Zimmer. Einmal in der Woche, laut Info-Tafel an der Tür, war Sprechstunde zu der jedoch nie ein Patient erschien.

Statt Patienten zu behandeln war ein Arzt damit beschäftigt Blankorezepte zur Bestellung von Medikamenten für die „Praxis“ im Gewerbegebiet auszustellen. In „befreundeten“ Apotheken, die Abgesandte des Groβhändlers regelmäβig aufsuchten, wurden dann, gegen Vorlage der Rezepte, die Bestellscheine ausgefüllt, abhängig davon, was es gerade Interessantes im Angebot gab: Krebsmedikamente, Arzneien gegen Diabetes, Depressionen und ADHS, Impfpräparate. Die Polizei hat etwa 1.500 solcher Blankobestellscheine sichergestellt.

Die Kuriere bezahlten, lieβen einen satten „Aufpreis“ zurück, brachten die Ware ins Gewerbegebiet. In einer der „Praxis“ benachbarten Baracke wurde die Ausbeute für den Weitertransport nach Deutschland, Holland, Groβbritannien umgepackt und mit entsprechenden Aufklebern versehen. Immer wieder fuhren Kleintransporter vor.

Um den Schein von Legalität zu wahren, betrieben manche Apotheken eine betrügerische doppelte Buchführung. Andere täuschten die Entsorgung von Medikamenten vor oder hatten zusätzlich einen kleinen, befreundeten Ärzte- und Patientenring aufgebaut, der ihnen Rezepte beschaffte, damit sie den kriminellen Groβhandel beliefern konnten. Mit solchen Gefälligkeiten kann sich mancher Arzt und Patient scheinbar problemlos ein gutes Zubrot verdienen.

Untersuchungen gehen davon aus, dass etwa jede zehnte Apotheke in solche Machenschaften verwickelt ist. Der Wert des kriminellen Exportes wird auf umgerechnet 350 bis 500 Millionen Euro jährlich geschätzt. Derweil wurden noch 2016 eine halbe Million Patienten beim ersten Apothekenbesuch ohne die ihnen verschriebenen Gerinnungshemmer abgewiesen, eine Million ohne Mittel gegen Pankreatitis, so das polnische Justizministerium.

Bis 2015 standen auf Medikamentenschieberei bis zu zwei Jahre Gefängnis. Lange Zeit jedoch sahen Behörden und Gerichte meistens weg, genauso wie bei den riesigen Betrügereien mit der Mehrwertsteuererstattung. Zu Zeiten der Tusk-Regierung (2007 – 2015) galt beides als ein Kavaliersdelikt des aufstrebenden Kapitalismus. Kleine Geldstrafen wurden verhängt oder die Verfahren wurden wegen Geringfügigkeit eingestellt. Wie 2014 im Falle eines Apothekers, der illegal Medikamente im Wert von umgerechnet knapp 10 Millionen Euro auβer Landes gebracht hatte.

Was kann man tun

Die heimischen und ausländischen Hersteller der „gefragten“ Medikamente wollen ihre Lieferungen auf den polnischen Markt nicht erhöhen. Zum einen lässt sich die komplizierte und hochempfindliche Arzneimittelherstellung nicht so einfach von heute auf morgen hochschrauben. Zum anderen ist die Gewinnmarge in Polen, in Höhe von 16 Prozent, niedrig. Als Drittes machen ihnen die aus Polen „exportierten“ Arzneien Konkurrenz auf dem westeuropäischen Markt.

Der Markt wird’s nicht richten

Am einfachsten wäre es, das „Verzeichnis erstattungsfähiger Arzneimittel“ zu verwerfen, damit sich die polnischen Preise denen im Westen angleichen. Die Patienten müssten es nicht zu spüren bekommen, wenn der polnische Staat die gigantischen Zuzahlungen übernähme. Das jedoch ist nicht machbar.

Bewirtschaftung

Die Hersteller und der legale Pharmagroβhandel haben jetzt die Initiative ergriffen. Eigentlich müssen sie jede von den Apotheken bestellte Menge liefern. Mittlerweile wurden die Apotheker aber verpflichtet die Rezepte für „besonders nachgefragte“ Arzneien zu scannen und an den Groβhandel zu schicken.

Als zweite Variante wurden Limits eingeführt, bei denen höchstens drei bis vier Dutzend Packungen pro Monat geliefert werden. Will die Apotheke mehr bestellen, wird nur zum Marktpreis geliefert, und der ist sowohl für die Patienten, wie für die Schieber uninteressant.

Pharmaaufsicht. Der zahnlose Tiger

Lange Zeit war der Pharma-Kontrollmechanismus in Polen so angelegt, dass die kriminellen Exporteure fast unbehelligt agieren konnten. Drei Jahre lang, zwischen 2012 als das „Verzeichnis erstattungsfähiger Arzneimittel“ eingeführt wurde, und Ende 2015, bis zu ihrer Abwahl, hat die Tusk-Regierung diesen Zustand hingenommen. Manche sprechen gar von einem Schutzschirm, der über dem illegalen Prozedere aufgespannt wurde.

Der Haupt-Pharmainspekteur und seine Behörde in Warschau waren ausschließlich für die Kontrolle des Pharmagroβhandels zuständig. Er war nicht weisungsbefugt gegenüber den Woiwodschafts-Pharmainspekteuren und deren Behörden in den sechzehn polnischen Teilprovinzen. Letztere durften nur die Apotheken kontrollieren und mussten die Finger vom Pharmagroβhandel lassen.

Eine Bande, die unter ein und demselben Firmenschild Apotheken und Groβhandel betrieb, was sehr oft vorkam, konnte sich so getrost ins Fäustchen lachen. Bis sich die Behörde in Warschau und die im fernen Rzeszów auf eine gemeinsame Gegenkontrolle einigen konnten und wollten, vergingen Ewigkeiten. Bis dahin hatten die Ganoven längst ihre Zelte abgebrochen.

Wenn man noch hinzufügt, dass die Kontrolleure oft gar nicht in die Firmen reingelassen wurden, dass sie keine Amtshilfe der Polizei in Anspruch nehmen konnten, dass die Kontrolle nur stattfinden durfte wenn der Eigentümer anwesend war, dann hat man das komplette Bild der Machtlosigkeit des damaligen polnischen Staates im Kampf gegen eine straff organisierte Unterwelt vor Augen.

Ein strenges Strafrecht muss her

Erst kurz vor ihrer Abwahl, im April 2015, hatte die Regierung der Tusk-Nachfolgerin Ewa Kopacz ein Pharma-Antiausfuhrgesetz mit ihrer damaligen Parlamentsmehrheit beschlossen. Das Delikt wurde präzise umschrieben, der Apothekenverkauf an den Groβhandel verboten, eine laufend geführte Liste der fehlenden Medikamente eingerichtet. Gleichzeitig jedoch verschwand die bis zu zweijährige Freiheitsstrafe zugunsten von Geldstrafen. Die Pharmaunterwelt, in der Millionen von Euro umgesetzt werden, konnte erneut aufatmen.

Ein neues Pharma-Antiausfuhrgesetz ist seit Sommer 2018 im Parlament und soll bis Anfang 2019 verabschiedet werden. Erst jetzt kann es für die Ganoven eng werden, denn:

● strafbar macht sich jeder, der in irgendeiner Weise an dem Prozess beteiligt ist,

● die Strafen bewegen sich zwischen drei Monaten und fünf Jahren Haft. In besonders schweren Fällen beträgt die Spanne sechs Monate bis zehn Jahre Freiheitsentzug,

● auch Medikamentenverschiebungen aus Apotheken in den Groβhandel innerhalb einer Firma sind nicht erlaubt,

● ein umfassender Umbau der Pharmaaufsicht ist vorgesehen mit dem Ziel ein koordiniertes Kontrollsystem von oben nach unten zu errichten,

● Widerstand und das Erschweren von Kontrollen, Beseitigung von Beweisen, das Vorenthalten von Akten – soll mit einer Geldstrafe bis zu siebzigtausend Euro oder bis zu drei Jahre Gefängnis bestraft werden,

● die Kontrolleure haben freien Zugang zu allen Gebäuden, bekommen bei Bedarf Amtshilfe von der Polizei, die Anwesenheit des Eigentümers ist bei Kontrollen nicht mehr erforderlich,

● Medikamententransporte unterliegen, neben Alkohol, Zigaretten und Kraftstoffen, verschärften Kontrollverfahren der Polizei, des Grenzschutzes und der neuen integrierten Finanzverwaltung, die Zoll-, Finanzämter und die Steuerfahndung in einer Behörde vereint.

Es ist höchste Zeit, denn längst sind kriminelle Banden in das „Geschäft“ eingestiegen, die sonst Rauschgift-, Waffen- oder Menschenschmuggel betreiben. Und sie betreiben es brutal und skrupellos.

© RdP




Das Wichtigste aus Polen 30. September – 13. Oktober 2018

Kommentator Dr. Marcin Kędzierski und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Kommunalwahlen am 21. Oktober und 4. November. Chancen, Prognosen, Einschätzungen ♦  Die Hochschulreform ist am 1. Oktober 2018 in Kraft getreten. Ängste, Änderungen, Absichten. ♦ Brexit ante portas. Ein wichtiger EU- Verbündeter Warschaus geht von Bord. Knapp 1 Mio. Polen in Grossbritannien. Export kann einbrechen. Auch Polen bangt und fragt sich was weiter.

Lesenswert: „Manipulistan“. Kommunalwahlen 2014. Gefälscht, verzerrt, frisiert? 




Karl-Marx-Show oder die deutsche Verniedlichung des Bösen

Polen reibt sich die Augen.

Die wichtigsten deutschen Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag des Marxismus-Begründers in 2018 sind inzwischen vorbei. Polens Medien haben sie mit Aufmerksamkeit beobachtet. Die Bilanz: Karl Marx, der Begründer einer totalitären und verbrecherischen Ideologie, einst von Kommunisten vergöttert, heute als Souvenir von Kleinkapitalisten vermarktet und verramscht, ist in Deutschland vollends rehabilitiert.

Nach der lang anhaltenden Hochkonjunktur in der DDR, verlor Marx in Anbetracht der deutschen Wiedervereinigung erst einmal mächtig an Ansehen. Schlieβlich wurden seine Ideen in der DDR jahrzehntelang nimmermüde umgesetzt, bis zum bitteren Ende. Doch schon beim ZDF-Ranking „Unsere Besten“ kam Marx 2003 hinter Adenauer und Luther immerhin auf den dritten Platz.

Marx-Kult. DDR-Briefmarken von 1953 zum 70. Todestag von Karl Marx.

Im Herbst 2016 feierte Deutschland bereits, weil einhundertfünfzig Jahre zuvor Marx begonnen hatte „Das Kapital“ zu Papier zu bringen. Danach ging es beinahe nahtlos weiter, mit ausgedehnt üppigen Festwochen zum 200. Marx-Geburtstag am 5. Mai 2018.

Marx-Kult. DDR-Briefmarken von 1953 zum 70. Tosdestag von Karl Marx.

Aus diesem Anlass fuhr Piotr Semka, Kommentator und ein sehr wacher Beobachter des Geschehens in Deutschland, in die Geburtsstadt von Karl Marx – nach Trier und staunte nicht schlecht. Seine Eindrücke beschrieb er im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 24. Juni 2018.

Marx-Kult. Briefmarken der Polnischen Post von 1953 zum 70. Todestag von Karl Marx. Mehr zum Thema Marx hatte die Polnische Post im Kommunismus nicht zu sagen. Lieber huldigte sie Lenin.

So tut die ehrwürdige Stadt schön

„In die älteste Stadt Deutschlands, von den Römern gegründet, pilgerten einst Abertausende zur Reliquie des Heiligen Rocks von Jesu Christi. Heute pilgern dorthin Schaulustige, Bewunderer und Anbeter von Karl Marx. Im Straβenbild sind die verschiedensten Marx-Motive nicht zu übersehen. Es gibt sogar Fuβgänger-Ampeln mit Marx-Gesicht. Auf diese Weise tut die ehrwürdige Stadt an der Mosel den Achtundsechzigern und den chinesischen Touristen schön.“

Made in China. Neue Sitzgelegenheit in Trier.

Natürlich entging auch das neue Marx-Denkmal nicht der Aufmerksamkeit des Journalisten.

„Die Statue des »deutschen Propheten«, samt Sockel, misst 5,40 Meter, wiegt zwei Tonnen und ist ein Geschenk der Volksrepublik China. Sie wurde am 5. Mai, an Marx‘ 200. Geburtstag, enthüllt. Alle Bedenken, auch die Aufforderung die Enthüllung von der Freilassung Liu Xias, der Witwe des Friedennobelpreisträgers Liu Xiaobo abhängig zu machen, schob der Trierer SPD-Bürgermeister Wolfram Leibe schroff beiseite. Das Denkmal wurde wie selbstverständlich am wohl prominentesten Ort der Stadt, in unmittelbarer Nähe der Porta Nigra aufgestellt.

Marx-Kult. DDR-Briefmarken von 1968.

Triers Souvenirläden platzen geradezu aus den Nähten vor Marx-Devotionalien: Sein Porträt ziert Kaffeebecher, Pfefferminzdosen, Postkarten, Schokolade, Quietscheenten, Magnete und Mauspads. Im Angebot sind Büsten aus Keramik, als Kapital-Sparbüchsen geeignet und ein roter „Karl-Marx-Wein“, für den es sogar einen biografischen Anknüpfungspunkt gibt. Hatte doch Vater Heinrich Marx zusammen mit dem Arzt Julius Bernkastel um 1830 einige Weinbergflächen unweit von Trier erworben.

Marx monumental 1. Denkmal in Chemnitz, ehem. Karl-Marx-Stadt. DDR-Briefmarke von 1971.

Als die Chinesen vor drei Jahren Trier mit dem Denkmal beschenkten, zeigten sich die Stadtväter zuerst noch verdutzt. Mit der Zeit jedoch setzte sich die Meinung durch, dass der runde Marx-Geburtstag eine einmalige Chance biete, ein Mega-Event zugunsten der Tourismusförderung zu veranstalten. Moralische Bedenken gerieten schnell in Vergessenheit.“

Marx und Massenmord. Der Baum und die Früchte

Semka schreibt weiter: „Die in Rheinland-Pfalz seit 27 Jahren regierende SPD war sofort dabei, als die Idee aufkam Marx mit einer groβen Landesausstellung zu huldigen. Der SPD-Mann und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lieβ sich nicht zweimal bitten, die Schirmherrschaft über die Marx-Ehrungen zu übernehmen und lud zudem zu einem Symposium über die unvergängliche Aktualität des Marxismus in seinen Berliner Amtssitz Schloss Bellevue ein. Die Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD, die das Marx-Museum in seinem Trierer Geburtshaus betreibt, steuerte, wie es heiβt, enorme Summen für die Festivitäten bei“, so der „Do Rzeczy“-Autor.

Marx monumental 2. DDR-Briefmarke von 1973.

Mit dem Auftritt von Kommissionschef Jean-Claude Juncker beim Marx-Festakt in Trier wurden die Feierlichkeiten auf die höchste europäische Ebene gehievt. Juncker wiederholte das Dogma, wonach man Marx für die Verbrechen des Kommunismus nicht haftbar machen dürfe. „Das ist so, als wollte man behaupten, der Baum habe mit seinen Früchten nichts zu tun“, kommentierte bitter Polens gröβtes Wochenmagazin, das katholische „Gość Niedzielny“ („Sonntagsgast“) vom 20. Mai 2018.

Trier am 5. Mai 2018. Jean-Claude Juncker predigt Marx und der gekreuzigte Heiland in seiner unendlichen Barmherzigkeit lässt auch das über sich ergehen.

Als „noch unverständlicher“ bezeichnete das Blatt die „Absolution“, die Kardinal Reinhard Marx dem gleichnamigen Jubilar in einem FAZ-Interview erteilte. „In direkte Verbindung zur Lehre des späteren politischen Marxismus-Leninismus oder sogar zu den Straf- und Arbeitslagern im Sowjetreich kann man Karl Marx nicht bringen. Das wäre einfach nicht richtig und deshalb auch nicht gerecht.“

Der Baum und seine Früchte. Massenmörder Stalin unterm Marx-Portrait in seinem Arbeitszimmer im Moskauer Kreml 1932.

Doch es war Marx, der die Massenmorde an den wahren und vermeintlichen Gegnern der Französischen Revolution mit Begeisterung billigte. Marx war es auch, der den Begriff der „Diktatur des Proletariats“ prägte, die nach dem Sieg der Revolution errichtet werden müsse.

Denn „so lange das siegreiche Proletariat noch gezwungen ist die Ausbeuter zu bekämpfen, muss es einen eigenen Unterdrückungsapparat haben. Es wird die Zeit der Diktatur des Proletariats sein, in der die nackte Gewalt vom Proletariat zur Beseitigung der Klassen und zur Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft angewandt wird“, so oder ähnlich lautete die Kurzfassung der marxistischen Theorie der „Diktatur des Proletariats“, die in jedem Marxismus-Lehrbuch nachzulesen war, schreibt „Gość Niedzielny“.

Vom Klassenfeind geehrt. Westdeutsche Marx-Briefmarke zum 150. Geburtstag  1968.

„Das Proletariat“ verkörperten die Büttel der kommunistischen Geheimpolizei, „Ausbeuter“ war jeder der diesem „Proletariat‘ nicht passte. Das war der ideologische Freibrief, den Karl Marx ausgestellt hat für die späteren Mordorgien des Kommunismus in Russland, Ostmitteleuropa, Asien und woanders, denen schätzungsweise hundert Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Die Beseitigung des Kapitalismus, die Marx predigte, mündete im realen Sozialismus und der entpuppte sich als ein brutales Unterdrückungsregime, das den Arbeitern die Freiheit raubte und das Elend der Mangelwirtschaft brachte, wo es keine Meinungsfreiheit, keine Freiheit von Forschung und Lehre, keine Reisefreiheit, keine Religionsfreiheit gab.

Wie zum Hohn wurde der Festakt zu Ehren des Autors der These „die Religion sei Opium für das Volk“ in der Trierer Konstantinbasilika veranstaltet, heute eine evangelische Kirche. Dieser einprägsame Satz bildete die theoretische, marxistische Grundlage für die späteren grauenhaften Glaubensverfolgungen von Albanien, über Russland und die Mongolei bis hin in die entferntesten Winkel Koreas und Chinas.

Doch auch das katholische Bistum Trier hat es sich nicht nehmen lassen dabei zu sein. Das örtliche Diözesanmuseum organisierte als „Kooperationspartner“ eine Ausstellung mit dem Titel „LebensWert Arbeit“. Es ist ein Fotozyklus über die schweren Arbeitsbedingungen der Menschen auf der ganzen Welt.

Gelebt, geschrieben, die Welt erobert. DDR-Briefmarken zum 100. Todestag von Karl Marx 1983.

„Vor diesem Hintergrund“, so der „Do Rzeczy“-Autor  Semka„ machten die wenigen Gegendemonstranten von Opferverbänden des Kommunismus und der AfD den Eindruck, sie seien Menschen von einem anderen Planeten. In den Medien wurde von ihrem Protest berichtet als sei es eine skurrile Lappalie.“

Von Nero zu Marx

Der Reporter besichtigte auch die Marx-Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Trier.

„Nach dem Tyrannen Nero im Jahr 2016 widmete sich das Museum mit viel Engagement Karl Marx, dem geistigen Begründer der kommunistischen Tyrannei. Dreizehn geräumige Säle umfasst die dortige Ausstellung „Karl Marx 1818 – 1883. Leben. Werk. Zeit.“. Es geht vor allem um sein Werk und die Zeit, in der Marx gelebt hat. Über Marx selbst erfährt man, abgesehen von der Aufzählung seiner Lebensstationen, eher wenig.

Die Autoren gaben sich groβe Mühe vor allem den raubgierigen und gnadenlos ausbeuterischen Frühkapitalismus zu veranschaulichen. Ausgebeutete schlesische Weber, Kinderarbeit in den Fabriken, vom Elend gezeichnete Witwen der Bergleute, fehlende Sozialversicherungen, auf die Straβe geworfene Opfer von Arbeitsunfällen. All das hat den jungen Marx zurecht empört.

Der 100. Todestag von Karl Marx noch einmal gefeiert. DDR-Briefmarke von 1983.

Doch kein Wort fällt in der Ausstellung darüber, zu welch falschen Schlüssen Marx durch diese Beobachtungen gelangte. Er predigte, dass der Untergang des Kapitalismus eine historische Gesetzmäβigkeit sei. Der Kapitalismus werde an seinen Widersprüchen zugrunde gehen, und je länger es ihn gibt, umso gröβer werde die Verelendung der Arbeiterschaft sein. Marx glaubte den Todeskampf des Kapitalismus zu sehen, doch in Wirklichkeit sah er nur seine Geburtswehen.

Statt im Massenelend zu versinken, erfreuen sich die Menschen in den Hochburgen des Kapitalismus heute eines Massenwohlstandes, ausgebauter sozialer Leistungen, einer seit Marx-Zeiten um mehrere Jahrzehnte gestiegenen Lebenserwartung. Die Wandlungs- und Widerstandsfähigkeit des Kapitalismus hat die meisten Marx-Theorien widerlegt“, schreibt Semka in „Do Rzeczy“.

Marx hielt nichts von schrittweisen Verbesserungen. Er wollte die Revolution, die „Diktatur der Proletariats“ und er verherrlichte die Gewalt. Sein Denken war im Keim totalitär. Die Unternehmer, die „Kapitalisten“ entmenschlichte er als „Blutsauger“ und „Parasiten“. Von dort bis zur Vernichtung durch Massenmorde war kein weiter Weg. Der Klassenhass, den Marx predigte und den seine Nachfolger auf die Spitze trieben, machte es möglich.

Im Doppelpack mit Engels 1. DDR-Briefmarke von 1970.

„Keine Erwähnung fand der berühmte Marx-Aufsatz „Die Judenfrage“, in dem er hart mit dem unter Juden angeblich weitverbreiteten Kult des Profits und des Geldes ins Gericht ging“, schreibt der „Do Rzeczy“-Reporter.

Das Böse wird zum Guten, die Lüge zur Wahrheit

Nachdenklich habe ihn der Teil der Ausstellung gestimmt, so Piotr Semka in „Do Rzeczy“, gewidmet Karl Marx, dem Redakteur der „Neuen Rheinischen Post“, der sich mit der preuβischen Zensur abplagen musste. „Wie wahr sind die dort angebrachten empörten Marx-Zitate über das Wesen des Mundtodmachens der Presse. Doch das galt nur für den Kapitalismus. Nach dem Sieg der Revolution war die Zensur ein nützliches Mittel des Klassenkampfes“.

Es ist ein typisches Beispiel „für Marx‘ krude und verworrene Philosophie, genannt marxistische Dialektik“, schrieb am 30. April 2018 in ihrem Bericht zu den deutschen Marx-Feierlichkeiten die linksradikale „Gazeta Wyborcza“ („Wahlzeitung“).

„Von Marx erfunden und von seinen geistigen Nachfolgern vervollkommnet, machte die marxistische Dialektik das Böse zum Guten, die Lüge zur Wahrheit, die Willkür zur „historischen Notwendigkeit“. Die gröβten Verbrechen und Niederträchtigkeiten waren gut und nötig, wenn sie der angeblichen Beseitigung der Klassen und zur Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft dienten.

Die Zensur war vorgeblich für die Meinungsfreiheit unabdingbar.
Nomenklatura-Apparatschiks waren „die Elite“ der Arbeiterklasse.

Im Doppelpack mit Friedrich Engels 2. DDR-Briefmarke von 1975.

Eine „klassenbewusste“ Minderheit bekam schon von Marx das Recht verliehen Gewalt anzuwenden, jedwede Mitsprache zu beseitigen, wenn sie zu der Überzeugung gelangte, sie vertrete „den Geist der Zeit“ und sei der Vollstrecker „der historischen Zwangsläufigkeit“, die die Menschheit in die lichte Zukunft des Kommunismus führe.

Armut, Versorgungsmängel, primitive Lebensbedingungen wurden mittels der Dialektik ausgeblendet, dafür war ständig von den „Errungenschaften des Sozialismus“ die Rede usw. usf.“, schreibt  die „Gazeta Wyborcza“.

Marxismus-Kritiker unerwünscht

„Ein Saal im Rheinischen Landesmuseum in Trier“, berichtet Semka in „Do Rzeczy“ „ist der Notwendigkeit gewidmet, dass sich Arbeiter organisieren sowie dem »Kommunistischen Manifest«, der Schrift, aus der die Leitparole des Kommunismus stammt: »Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!« All das wird veranschaulicht in kindisch wirkenden Filmchen vom bösen Kapitalisten im Zylinder und Arbeitern, die sich zusammenrotten, um ihn zu verjagen.“

Im Doppelpack mit Lenin. DDR-Briefmarke von 1966.

„Dann folgen Säle“, so Semka weiter, „gewidmet den wichtigsten Thesen, die Marx aufgestellt hat: über den Mehrwert, die entfremdete Arbeit, die ursprüngliche Akkumulation. Es gibt keine Kommentare, die die Richtigkeit dieser marxistischen Dogmen beurteilen würden, so als wären es Offenbarungen. An keiner Stelle wagten es die Autoren der Ausstellung Marxismus-Kritiker zu Wort kommen zu lassen. Die Lehre von Marx wird salbungsvoll dargelegt, als würde der „Raubtier-Kapitalismus“ unverändert bis heute andauern.

Marx is my personal Jesus

Zum Schluss werden die Besucher gebeten zu schreiben wer Marx für sie sei. Ich lese: »Er war kein Marxist«, »Marx liegt heute richtiger als je zuvor«, »Ein Visionär«, »Ein Kämpfer für die Gerechtigkeit«, »Ein Realist«, und am Ende »My personal Jesus«. Die Ausstellungsmacher können zufrieden sein.

Im Dreierpack mit Engels und Lenin. DDR-Briefmarke von 1986.

Nebenan wirft ein Overheadprojektor Fotos von Persönlichkeiten an die Wand, die sich vom Marxismus haben inspirieren lassen. Die Autoren der Ausstellung haben weit ausgeholt. Da sind Lenin, Sartre, Nasser, Willy Brandt, Pol Pot, Pablo Neruda, Bertolt Brecht, Trotzki, Mao Zedong, Golda Meir und, man staune, ausgerechnet Lech Wałęsa, der Arbeiterführer mit der Muttergottes am Revers. Der Solidarność-Held ein Marxist? Im Trierer Landesmuseum reicht die Marxgläubigkeit sehr, sehr weit.“

Der Autor wurde auch im Museumsladen fündig. „Ich blättere in einem Comicheft über Karl Marx. Am Ende spricht ein kleiner Junge mit dem »Geist des Kommunismus«, einem in ein rotes Laken gehüllten Geschöpf:

Der Junge: Was wollte Marx?

Der Geist: Alles sollte dem ganzen Volk gehören. Es sollte keinen Unterschied mehr geben zwischen Armen und Reichen. Jeder arbeitet nach seinen Möglichkeiten und bekommt was er braucht.

Der Junge: Das klingt fantastisch. Warum ist es nicht gelungen?

Der Geist: Eine Gruppe eroberte die ganze Macht und verkündete, ihr Ziel sei es eine gerechte Welt zu errichten. Doch das zog gigantische Opfer nach sich. Das private Eigentum wurde den Menschen abgenommen und der Gemeinschaft übergeben. Etwas Eigenes zu besitzen galt als schlecht. Alle Versuche eine Gesellschaft aufzubauen, bei der man sich auf Marx berief scheiterten.

Der Junge: Eigentlich schade.

Im Viererpack mit Engels, Lenin und Stalin. DDR-Briefmarke von 1953.

Der Geist: Doch die Hoffnung und Bereitschaft für eine gerechte Welt zu arbeiten sind die schönsten Ziele der Menschheit.

Die Denkweise aus dem Comic spiegelt die wichtigste Botschaft der Ausstellung und der gesamten deutschen Marx-Feierlichkeiten wieder. Sie lautet: die Umsetzung der Ideen von Marx ist nicht gelungen, aber die Lehren des Meisters sind weiterhin nützliche Werkzeuge bei der Erforschung der modernen Welt und des Kapitalismus“, schreibt Semka.

Intellektuelle Täuschung

„Es steht auβer Frage, dass Marx eine Gestalt ist, die man nicht ausblenden kann. Doch eine Darstellung des Marxismus ohne eine Analyse der ihm eigenen bösartigen Eigenschaften, die später Furchtbares angerichtet haben, gleicht einer intellektuellen Täuschung.

Karl Marx zum 200. Geburtstag gesamtdeutsch postalisch geehrt mit Briefmarke…

Knapp dreiβig Jahre nach dem Ende der DDR gibt es in den östlichen Bundesländern immer noch 550 Straβen, Plätze und Alleen, die nach Marx benannt sind. Hinzu kommen einige Dutzend Marx Statuen und Büsten, mal mit, mal ohne Engels. Die linke Popkultur verbreitet mit Erfolg die Wahrnehmung, Marx sei im Grunde ein harmloser, sympathischer, bärtiger Vordenker-Opa gewesen“, so Semka.

… und Sonderstempel.

„Nicht zufällig“, schreibt der Autor, „hat man es in der Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Trier und in der deutschen Marx-Debatte zumeist tunlichst vermieden den Menschen Marx kritisch zu beäugen. Einen „Propheten“, der seine Theorien geschaffen hat ohne ein einziges Mal in einer Fabrik gewesen zu sein.

Den Ideologen des haβerfüllten Klassenkampfes, der dazu aufrief die Reichen zu enteignen, und selbst den Wohlstand genoss, dank üppiger Zuwendungen des Fabrikantensohnes Engels. Den Denker, der sich theoretisch der Befreiung und Gleichstellung der unteren Sozialschichten verschrieb, zugleich jedoch sein Dienstmädchen verführte, schwängerte und mit dem Kind sitzen lieβ. Seinen unehelichen Sohn wollte er nicht und hat ihn nie kennengelernt.

Auch Österreich, die Heimat des „Austromarxismus“ hat sich im Marx-Jahr 2018 postalisch nicht lumpen lassen.

Auch die berechtigte Kritik der Seriosität seiner ökonomischen, wissenschaftlichen Untersuchungen und Berechnungen wurde weder in Trier noch woanders im deutschen Marx-Jahr ernsthaft zur Sprache gebracht. Bei Marx heiβt es zum Beispiel, je arbeitsaufwändiger die Fertigungstechnologie, umso gröβer der „Kapitalistenprofit“. Diese Behauptung wurde noch zu seinen Lebzeiten widerlegt.

Das Argument und alle Beweise dafür, dass der technische Fortschritt das Los der Arbeiter verbessere, ließ er an sich abperlen. Sie passten nicht in sein Schema.

Der vielverschmähte Hollywood-Schauspieler, US-Präsident und überzeugte Antikommunist Ronald Reagan meinte dazu: „»Nicht Marx hat Kinder und Frauen aus den Kohleschächten Englands befreit. Es waren der Dampfmotor und die moderne Technik.«
Solche Behauptungen waren im deutschen Marx-Jubeljahr 2018 nicht zitierfähig“, beschlieβt der Autor seinen Bericht.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 9. September – 29. September 2018

Kommentator Dr. Michał Kuź und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Kommunalwahlen am 21. Oktober.  Warschau, Kraków, Wrocław und viele weitere Hochburgen der Opposition in Bedrängnis.  ♦ Staatspräsident Andrzej Duda in Washington. „Fort Trump“ – ständige US-Militärbasis in Polen ist möglich. Polen und USA gemeinsam gegen Nord Stream 2.  Je mehr US-Präsenz in Polen, umso größer die US-Interessen und die amerikanische Bereitschaft für Polen einzustehen. ♦ Gipfel der Drei-Meere-Initiative in Bukarest. Vor Kurzem noch, u. a. in Deutschland, kritisiert und belächelt. Inzwischen durchaus erfolgreich. USA von Anfang an dabei. Deutschland muss sich  seit diesem Jahr  mit Beobachterstatus begnügen. Wofür steht das Vorhaben?




Polens Nationalradikale. Besser nicht verbieten

Zum Stand einer politischen Debatte.

Gewiss, im Falle von ONR („Das Nationalradikale Lager“ – Anm. RdP) handelt es sich um eine radikale Organisation. Bis jetzt jedoch bewegt sie sich im Rahmen der polnischen Rechtsordnung. Ihr Verbot würde einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen, der in Zukunft Tür und Tor aufstoβen könnte, zum Entzug der Legalität anderer unbequemer Gruppierungen.

So zu lesen im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 2. September 2018, das damit seine Stimme in einer Debatte erhebt, die in Polen seit einigen Jahren immer wieder aufflackert: soll man ONR (polnisch Obóz Narodowo-Radykalny) verbieten? Nachfolgend die Übersetzung des Artikels mit geringfügigen Kürzungen.

Zum Jahrestag des Sieges über die Sowjets vor Warschau am 15. August 1920 hat ONR in diesem Jahr, zusammen mit anderen verwandten radikal nationalen Gruppierungen, zu einem offiziell angemeldeten und genehmigten Gedenkmarsch durch Warschau aufgerufen. Die radikale linke Krawallgruppe „Obywatele RP“ („Bürger der Republik Polen“ – Anm. RdP) stellte sich ihnen in den Weg.

„Nationalismus ist kein Patriotismus“. Von der Polizei aufgelöste Blockade des ONR-Marsches am 15. August 2018 in Warschau.

ONR-Marsch in Warschau am 15. August 2018.

Der Geistesgegenwart und der schnellen Reaktion der Polizei war es zu verdanken, dass es keine Ausschreitungen gab. Die Beamten leiteten die Gegner auf zwei Parallelstraβen aneinander vorbei. Sie trafen sich erst auf dem Schlossplatz, wo es der Polizei wiederum gelang sie voneinander fernzuhalten. Die Nationalradikalen grölten zu Füβen der Sigismundsäule die Nationalhymne und andere patriotische Lieder, die linken Krawallmacher brüllten in Sprechchören: „Warschau vom Faschismus frei“, „Es findet sich eine Keule für die Faschistenmäuler“, „Polizisten schützen Faschisten“.

Es war, als würde man an einer Zeitreise in die Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts teilnehmen. Damals gab es in Polen auch viele Zusammenstöβe zwischen radikalen Rechten und radikalen Linken, auch wenn sie bei weitem nicht das deutsche Ausmaβ aus der Weimarer Zeit erreicht haben.

Wie damals, meinen es die Widersacher auch heute todernst. Die einen sind davon überzeugt, sie seien der Vorposten des Polentums im Kampf gegen die jüdisch-bolschewistisch-Brüsseler Bedrohung. Die anderen sehen sich als das letzte Bollwerk im Kampf gegen eine vermeintliche braune Überflutung.

In Polen steht der Faschismus ausgesprochen niedrig im Kurs

Beide sind absolute Randgruppen. In Polen steht der Faschismus ausgesprochen niedrig im Kurs. Deswegen, um die Sprache der Volkswirtschaft zu bemühen, gibt es auch keine Nachfrage nach einem hysterischen Antifaschismus.

Den radikalnationalen Gruppierungen, wie dem ONR oder der Allpolnischen Jugend (Młodzież Wszechpolska – MW), gelingt es nur einmal im Jahr eine Groβveranstaltung auf die Beine zu stellen. Es ist der Unabhängigkeitsmarsch am 11. November in Warschau.

Unabhängigkeitsmarsch am 11.November 2018 auf der Poniatowskibrücke in Warschau.

An Polens Nationalfeiertag marschierten 2017 etwa sechzigtausend Menschen mit. Neben den Veranstaltern und den Fuβball-Ultras, die rote bengalische Feuer entzündeten, beteiligten sich Abertausende ganz normale Bürger, oft Familien mit Kleinkindern. Sie trugen an diesem Tag ihr Polnischsein zur Schau, gingen anschlieβend nach Hause und dachten nicht im Entferntesten daran, sich den Nationalradikalen anzuschlieβen oder sie zu wählen.

Bei Wahlen bekommen nationalradikale Gruppierungen in Polen meistens nicht einmal ein Prozent der Stimmen. Ebenso ergeht es ihren Kandidaten bei Präsidentschaftswahlen. Es sind politische Sekten und politische Sektierer, die ganz am Rande der polnischen Gesellschaft ihr Gehabe zur Schau tragen. Anders als von deutschen Medien gesehen, die sich über den Warschauer Unabhängigkeitsmarsch 2017 dermaβen aufregten, dass ihnen darüber jedes Gespür für die Verhältnismäβigkeit abhandenkam.

Im Vergleich zu den politisch bedeutungslosen polnischen Nationalradikalen vom ONR und der MW, sind die NPD oder DVU (2011 Fusion beider Parteien – Anm. RdP) geradezu politische Riesen, die im letzten Jahrzehnt immerhin viermal den Sprung in deutsche Landtage geschafft haben.

In Polen lebende Vietnamesen und Inder beim Warschauer Unabhängigkeitsmarsch am 11. November 2016.

Interessanterweise schwangen auch Schwarzafrikaner und Vietnamesen, die in Polen leben, in dem Unabhängigkeitsmarsch polnische Fahnen. Zwischenfälle gab es deswegen keine. Jeder kann kommen, Transparente werden nicht kontrolliert, deswegen tauchen auch manchmal Spruchbänder auf, die es besser nicht geben sollte, wie „Für ein weiβes Europa brüderlicher Völker“.

Der in Kraków lebende, behinderte Nigerianer Dr. Bawer Aondo-Akaa beim Warschauer Unabhängigkeitsmarsch am 11. November 2016.

Nicht genügend Beweise und Indizien

Das heiβt nicht, dass die polnischen Nationalradikalen ganz und gar harmlos sind. Es gibt unter ihnen Leute deren Denken und Tun man nicht gutheiβen kann. Das Nationalradikale Lager (ONR) bezieht sich auf eine faschistoide Organisation, die im Vorkriegspolen ihr Unwesen trieb, bis sie 1934 verboten wurde und ihre Anführer hinter Gitter wanderten. Auch heute pflegen ihre Nachfolger die Vorliebe für Uniformen, Armbinden und Fahnen. Doch so unappetitlich es vielen von uns vorkommen mag, das allein reicht nicht aus für ein Verbot.

Jedoch, es geht nicht nur um das Gehabe eines Randgrüppchens der Gesellschaft, sondern auch um die Schädlichkeit ihres Tuns. Wer niedrigen Instinkten wie Rassenhass frönt, und das auch noch kundtut, der schlieβt sich selbst aus der demokratischen Gesellschaft aus. So etwas ist unannehmbar, weil es die Gesellschaft spaltet, die Menschen verfeindet und sollte individuell geahndet werden.

Patriotismus heiβt sich zum eigenen Volk und Staat, zu seiner Geschichte und seinen Errungenschaften offen zu bekennen, ohne andere Staaten und Völker zu erniedrigen. Der Nationalismus hingegen erzielt seine erbauende Wirkung, indem er sich über andere erhebt.

Doch gibt es genügend Beweise und Indizien, um das ONR und ähnliche, noch kleinere Grüppchen, als Faschisten zu bezeichnen, das heiβt als solche, die dem demokratischen Staat gefährlich werden können? Als solche, die rechtswidrig handeln, weil sie ein totalitäres System einführen wollen und einen rassisch, ethnisch und religiös bedingten Hass anpreisen?

Die Antwort ist nicht so einfach. Gewiss, es gibt unter diesen Leuten Antisemiten oder Rassisten, doch das ist nicht die offizielle Ideologie dieser Gruppierungen. Wäre sie das, würden diese Organisationen von Gerichten nicht registriert und somit zugelassen werden. Auβerdem sind ihre Mitglieder sehr erfinderisch, wenn es darum geht mit den verbotenen Ideologien nicht in Verbindung gebracht zu werden.

Vorliebe für Uniformen, Armbinden, Fahnen, das Keltenkreuz.

Sie tragen Uniformen? Das tun sie, doch auch wenn die Uniformen an diejenigen aus den Dreißigerjahren anknüpfen, sind es keine faschistischen Uniformen. Sie tragen Armbinden mit einem Kreuz versehen? Ja, doch es ist kein Hakenkreuz sondern das Keltenkreuz. Nur eines gelang ihnen nicht, und zwar der Öffentlichkeit einzureden, der Hitlergruβ, den manche verwenden, sei in Wirklichkeit der Saluto romano, der römische Gruβ, der auch mit einem ausgestreckten Arm bezeugt wird.

Das Wichtigste jedoch ist, dass sie zumeist keine Gewalt anwenden, auch wenn sie dazu provoziert werden. Erinnern wir an den Gazeta-Wyborcza-Journalisten Jacek Hugo Bader, der sich das Gesicht schwärzte und einige Stunden lang unter Teilnehmern des Warschauer Unabhängigkeitsmarsches am 11. November 2016 herumlief, in der Hoffnung als „Neger“ zusammengeschlagen zu werden. Doch nichts passierte.

Journalist Jacek Hugo Bader mit geschwärztem Gesicht als „Neger“ getarnt beim Warschauer Unabhängigkeitsmarsch am 11. November 2016.

Schreckgespenst sehr erwünscht

„Antifaschisten“ haben Mühe stichhaltige Beweise für das faschistische Wesen des Nationalradikalen Lagers ONR und verwandter Organisationen zu erbringen. Anna Tatar von der Vereinigung „Nigdy Więcej“ („Nie wieder“ – Anm. RdP) berichtete in einem Gespräch mit dem linken Sender „Rado Tok FM“, dass ihre Organisation das ONR seit 2001 beobachtet und zählte die Sünden dieser Gruppierung auf: „Sie veranstalten xenophobe Demonstrationen, stören bei den alljährlichen Gleichheitsparaden der Schwulenbewegung verbreiten Hass im Internet, stören Veranstaltungen mit Schwulenaktivisten“.

Es fällt schwer in all diesen Aktivitäten Symptome des Faschismus zu entdecken. Genau das kann man auch den Krawallmachern vom „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ oder den „Bürgern der Republik Polen“ vorwerfen. Sie stören ebenso massiv Veranstaltungen der regierenden Nationalkonservativen, blockieren legale Demonstrationen, verbreiten Hass und Verachtung im Internet.

Antifaschistin Anna Tatar.

Anna Tatar stellte in dem Gespräch fest, das ONR sei „eine faschismusnahe Organisation“ und ihre Parole „Polen den Polen“ wird allgemein als „radikal nationalistisch und neofaschistisch“ angesehen. All das dürfte für die Gerichte viel zu wenig sein, um das ONR aus dem Vereinsregister zu streichen und somit ein Verbot auszusprechen.

Die Linke und die heutige polnische Opposition brauchen das Scheckgespenst des angeblich in Polen triumphierenden Faschismus. In Polen jedoch muss ein Häuflein von Idioten sich tief in einem Wald in Schlesien verstecken, weit weg von jeglicher Öffentlichkeit, um Hitlers Geburtstag zu feiern. Sie wurden dabei von einem TV-Sender gefilmt, aber sie wussten auch, jeglicher Versuch so etwas öffentlich zu tun, würde von Passanten und Polizei im Nu verhindert. Verbindungen zum ONR oder zur MW wurden in diesem Fall nicht festgestellt.

Im benachbarten Deutschland derweil sind es 2018 Tausende, die in die sächsische Stadt Ostritz fahren, um ganz offen dem Führer am 20. April zu huldigen.

Es geht hier nicht um Verharmlosung. Es geht nur um die Wahrung von Proportionen.

Polen, Deutschland und die Komplizenschaft

Die Linke in Polen erhebt zusammen mit der 2015 abgewählten Bürgerplattform immer wieder die Forderung das ONR zu verbieten. Dabei werden die Nationalradikalen immer wieder von ihnen, aber auch von den deutschen Medien, in die Nähe der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit gestellt. Ab und an wird beiden gar eine Komplizenschaft unterstellt.

Recht-und-Gerechtigkeit-Parlamentarier Waldemar Bonkowski. Wegen antisemitischer Bemerkung aus der Partei verstoβen.

In Wirklichkeit wird in Kaczyńskis Partei nicht mal ein Hauch von Antisemitismus hingenommen. Davon überzeugen konnte sich im Juni 2018 etwa der Parlamentarier Waldemar Bonkowski. Wegen einer antisemitischen Bemerkung auf seinem Twitter-Account wurde er umgehend aus der Partei ausgeschlossen. Für Kaczyński ist der Antisemitismus „eine Krankheit der Seele und des Verstandes, vom Teufel selbst übertragen“. Eine Krankheit, die „entschieden bekämpft werden muss.“

Warum also will die jetzige Regierungspartei das ONR, bei dessen Mitgliedern es an antisemitischen Äuβerungen nicht fehlt, nicht verbieten? Weil sie das ONR letztendlich doch als einen nützlichen, verdeckten politischen Verbündeten erachtet?

Niemand jedoch stellt die Frage, ob denn vielleicht die deutsche Politik und das Justizwesen nur so tun als seien sie gegen die NPD, und in Wirklichkeit stecken sie mit ihr unter einer Decke. Schlieβlich gab es sogar Verbindungen zwischen der NPD und der terroristischen Mordgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Dennoch ist die NPD, trotz aller Appelle und Verfahren, in Deutschland weiterhin legal.

Am Ende von zwei Verbotsverfahren (2001 bis 2003 und 2013 bis 2017) stellte das deutsche Bundesverfassungsgericht fest, die NPD sei zwar inhaltlich verfassungsfeindlich, angesichts ihrer Bedeutungslosigkeit im politischen Geschehen sei aber kein Verbot der NPD gerechtfertigt.

Umso mehr gilt diese Diagnose in Polen in Bezug auf das ONR (Nationalradikales Lager) und die MW (Allpolnische Jugend). Nicht zufällig vermeidet man in Westeuropa und in den USA so gut es geht Parteiverbote. Stattdessen werden die radikalen Gruppen beobachtet, mit V-Leuten der Staatschutzbehörden durchsetzt, öffentlich geschmäht und boykottiert. Ein Verbot ist stets das letzte Mittel.

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RdP




Nach der Sommerpause. Das Wichtigste aus Polen 29.Juli – 8. September 2018

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Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Kommunalwahlen. Erste Testwahl seit 2015 für die regierenden Nationalkonservativen und die Opposition ♦  Vor dem Besuch von Staatspräsident Andrzej Duda in Washington. Nord -Stream 2-Blockade, ständige US-Truppenpräsenz in Polen, mehr US-Investitionen. Donald Trump wird’s richten? ♦ Deutsche Kriegsreparationen für Polen. Der Dialog mit Deutschland kommt in Gang. ♦ Polen schaut auf die Ausschreitungen in Chemnitz.




Jazz, Drugs und ein Symbol

Am 29. Juli 2018 starb Tomasz Stańko.

Die rühmende, doch leider allzu oft überstrapazierte Behauptung, ein Jazzmusiker habe einen eigenen Klang entwickelt, an dem man ihn jeder Zeit sofort erkennen könne, traf in seinem Fall uneingeschränkt zu. Tomasz Stańko war zweifelsohne einer der größten Jazzer, Komponisten und Bandleader Polens. Als Jazztrompeter erlangte er weltweit Berühmtheit.

Fachleute ergingen sich seit Jahren in langen Elogen auf Stańkos Art Trompete zu spielen. „Das Instrument sei für ihn ein Mittel zur Übertragung und Erweiterung jener Möglichkeiten gewesen, wie sie die menschliche Stimme bietet – ausdrucksstark, inhaltsvoll und vor allem emotional“, hieß es.

„Er setzte nicht auf virtuose Technik.“ Sein Spiel war vielmehr „von einer unpolierten, naturbelassenen Rauheit, die seinen eigenen Stil, abseits der Mainstream-Konvention schuf und vor allem für eine unnachahmliche Atmosphäre und Bewegtheit der Musik sorgte.“

Sie verflocht „slawische Melancholie und den Blues“ miteinander. Stańkos eigene Klänge „waren von einzigartiger, dunkler, manchmal melancholischer Strahlkraft. Er spielte hervorragend und er spielte anders als die Amerikaner. Damit hat er Amerika erobert, das gelobte Land des Jazz, wo die Originalität so sehr zählt.“

Offenbarung im Rotunda Klub

Der Weg dorthin begann im März 1958. Tomasz Stańko, damals Schüler an der Musikmittelschule in Kraków, gelang es eine Eintrittskarte zum Konzert des schon damals weltberühmten US-Jazzpianisten Dave Brubeck und seines Quartetts im Studentenklub Rotunda zu ergattern. Für den Fünfzehnjährigen aus dem gut einhundertfünfzig Kilometer östlich gelegenen Rzeszów war Brubecks Klavierspiel mit seinen Blockakkorden und ungeraden Taktarten geradezu eine Offenbarung.

Dave Brubeck mit Ehefrau (links i. B.) auf dem Krakauer Hauptmarkt. März 1958.

Der 1942 geborene Sohn einer Lehrerin und eines Juristen, der mit sieben Jahren aus der Provinzstadt Rzeszów zu Verwandten nach Kraków geschickt wurde, um an einer Musikgrundschule das Geigenspiel zu erlernen, verwandelte sich in einen eingefleischten Jazzfan und aufstrebenden Jazzmusiker.

In der Zeit des Stalinismus, zwischen 1948 und 1956, war der Jazz im kommunistischen Polen faktisch verboten. Nach der Zeit der Unterdrückung und der Verfemung als ideologisches Zersetzungswerkzeug des US-Imperialismus, brach der Jazz sich nach 1956 auf der Welle der „Erneuerung“ Bahn, befreite sich aus dem Katakombendasein.

Beseelt von der Freude am Individuellen, Kreativen, nicht Vorgeschriebenen explodierte geradezu, mitten in der kommunistischen Tristesse, eine moderne und muntere Musikerbewegung. Vereint durch die Begeisterung für den Cool Jazz und den Hard Bop, beherrschten die Vorreiter des polnischen Jazz ihre Instrumente hervorragend und knüpften stark an die slawische Melodik an. Eine neue Stilrichtung entwickelte sich daraus nicht, aber auf jeden Fall eine musikalische Erscheinung, die den Jazz als solchen bis heute erheblich bereichert.

Die herrschenden Kommunisten betrachteten den Jazz nun als eines der Ventile der kleinen Freiheiten, durch die man den in Polen stets starken Druck der Unzufriedenheit kontrollierbar ableiten konnte.

Die künstlerischen Fackelträger dieser Bewegung waren seit den fünfziger und sechziger Jahren, teilweise bis ins zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, die Pianisten Krzysztof Komeda, Mieczysław Kosz, Adam Makowicz und Andrzej Trzaskowski, die Saxophonisten Zbigniew Namysłowski, Jan Wróblewski, Janusz Muniak, die Geiger Michał Urbaniak und Zbigniew Zeifert sowie der Trompeter Tomasz Stańko, auch er ein Symbol der goldenen Ära des polnischen Jazz.

Fünfundfünfzig Jahre auf den Brettern

Als er 1969 sein Studium an der Krakauer Musikhochschule absolvierte, war Stańko bereits ein bekannter Jazzmusiker. Der Start in die groβe Jazzkarriere fand 1963 statt. Damals stand er auf der Bühne des Warschauer Jazz Jamboree-Festivals, einer der wichtigsten europäischen Veranstaltungen dieser Art, die inzwischen Kultstatus erlangt hatte. Stańko war so gut, dass er schon damals mit den Besten des Landes spielen durfte, im Quartett des Pianisten Krzysztof Komeda. Ab dann stand er fünfundfünfzig Jahre lang unaufhörlich auf den Brettern, und blies seine Trompete.

Seit Stańko 1964 zum ersten Mal in den Westen fuhr, zu Konzerten in Belgien und Skandinavien, später immer wieder in die USA, hatte er auf Konzerttouren und Jazzfestivals Umgang mit den Besten der Jazzszene. „Es gibt keine bessere Art noch besser zu werden als mit den Meistern zu spielen“, diese Binsenweisheit war ihm stets der Wegweiser.

Sein furioser Auftritt bei den Westberliner Jazztagen 1970 brachte den Durchbruch und 1975 stieg Stańko in die Aristokratie des Jazz auf. Die namhafte Plattenfirma ECM entschied sich das Album „Balladyna“ seines damaligen Quartetts aufzunehmen. Vier weitere ECM-Scheiben sollten folgen.

Stańko verschrieb sich zunehmend dem Free Jazz in seiner extremsten Form. Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung Mitte der Achtzigerjahre, als er das „Freelectronic“-Quartett gründete. Seine Auftritte beim Jazz de Monrteux 1987 und beim Le Mans Jazz Festival 1988 markieren, wie es heiβt, durch ausgefeilte elektroakustische Effekte, den Beginn einer neuen Free Jazz-Ära.

„Wahnsinn hat mich in Beschlag genommen“

Stańko war damals Ende vierzig und nicht zu bremsen. Bis zum Umfallen spielte er Konzerte diesseits und jenseits des Atlantiks, berauscht nicht nur vom Erfolg. „Der Wahnsinn hat mich in Beschlag genommen. Ich habe mir die Taschen vollgestopft mit Haschischbrocken, Pfeifen, Amphetaminen, Pillen, Flachmännern“, berichtete er Jahre später.

Künstlerisch ging Stańko keine Kompromisse ein, blieb sich selbst treu, zornig und stur. Seine wilden Jahre waren voller Musik, die Anerkennung fand, und voller böser Exzesse. Demolierte Hotelzimmer. Sexorgien. Wilde Autorallyes durch finnische Wildnis mit seinem Freund, dem Jazzschlagzeuger, Konzert- und Rauschpartner Edward Vesala. Eine illegale, nächtliche Jamsession im indischen Tadsch Mahal-Mausoleum… Vesalas Tod 1999 brachte die Ernüchterung.

Stańko in seinen „wilden“ Achtzigerjahren.

Ehe gescheitert. Stańko mit Ehefrau Joanna und Tochter Anna Mitte der Siebzigerjahre.

Lange vorher jedoch ging die Ehe mit seiner Jugendliebe Joanna in die Brüche. Mit Tochter Anna nahm er erst Kontakt auf als sie sechzehn war. Anna war seine letzte Managerin und saβ an seinem Sterbebett.

Stańko mit Tochter Anna.

„Ich habe die Avantgarde verlassen, um als Klassiker zu enden“, sagte er in einem seiner letzten Interviews. Stańko brauchte viel Zeit, um zu der Überzeugung zu kommen, dass letztendlich nur die Musik zählt.

„Wie soll man sich heute noch von den anderen unterscheiden? Wir alle tragen Ringe in den Ohren oder in der Nase. Wir sind alle tätowiert und wir spielen ähnliche Musik. Früher brauchtest du nur ein guter Musiker zu sein und konntest dich ansonsten austoben. Jetzt musst du selbst organisieren, musst auf deine Manager aufpassen, musst sorgsam deine Karriere planen. Es ist zudem sehr schwer geworden Musik zu verkaufen, weil es auf dem Markt Unmengen an hervorragender Musik gibt. Ich hatte es in meinen Anfängen viel leichter.“

Spät erwachsen geworden

Knapp vor der Jahrtausendwende schaffte er es endlich seine Laster über Bord zu werfen, fand sein seelisches Gleichgewicht wieder beim unermüdlichen Joggen durch diverse Warschauer Parks. Von seiner Dachterrassenwohnung aus, unweit der Weichsel, genoss Stańko oft stundenlang den weiten Blick, stets begleitet von einer Kanne besten Tees, des einzigen Genussmittels, das er sich noch gönnte. „Ich bin erst mit gut fünfzig Jahren erwachsen geworden und habe mich aus der Umarmung des Teufels gelöst“, gab Stanko in einem Rundfunkinterview zu Protokoll.

Sein Ruf als auβergewöhnlicher Jazztrompeter, der Solokonzerte gab, war inzwischen unerschütterlich und belegt durch die hervorragende CD „Music from Tadj Mahal and Karla Caves“. Stańko wandte sich nun vom elektroakustischen Free Jazz ab, hin „zur Sanftheit, zur Vereinfachung, zur Kommunikationsfreudigkeit“, wie er es selbst formulierte.

New York von unschätzbarem Wert

Ein neuer Schub der Schaffenskraft ergriff von ihm Besitz, und die sehr wählerische ECM nahm ihn gern unter Vertrag. Die Platten, die er Ende des zwanzigsten, Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts für die ECM aufnahm, festigten seine Stellung in der Jazztrompeter-Weltliga. „Leosia“ wurde zur besten europäischen Jazz-CD des Jahrzehnts gekürt. Mit „Soul of Things“ eroberte er an der Spitze seines Quartetts mit sehr jungen polnischen Musikern noch einmal Amerika. „December Avenue“ war 2017 dann sein letztes CD-Album.

Tomasz Stańko in New York 2010.

Sein Talent hat ihn reich gemacht. Im Jahr 2008 kaufte Stańko ein Apartment unweit des Central Parks in New York und lebte eine Zeit lang mal dort, mal in Warschau. New York inspirierte ihn. „Diese Stadt vibriert, pulsiert unentwegt, verleiht Lebensenergie, bringt einen auf neue Ideen. Nach so vielen Jahren des Spielens ist das für mich von unschätzbaren Wert.“

 

Sein Land war ihm zuwider

So originell seine Musik war, so schablonenhaft und typisch für viele polnische Künstler, Wissenschaftler, Aktivisten, Erfolgsmenschen war seine tiefempfundene Scham für das eigene Land. Stańko kam jahrzehntelang zwar kaum mit der polnischen Wirklichkeit eines Billiglohnlandes, aus dem zwei Millionen Menschen innerhalb kurzer Zeit auf der Suche nach Arbeit geflohen sind, in Berührung. Für ihn, den Bewohner der New Yorker und Warschauer Lofts waren die Polen nur „rückständig“, wofür die Ergebnisse der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 2015, in seinen Augen, den endgültigen Beweis erbracht hatten.

Tomasz Stańko (in der Mitte) 2011 mit seinem politischen Idol Staatspräsident Bronisław Komorowski (links i. B.) nach der Ordensverleihung.

Vergeblich war sein starkes Engagement auf der Seite des kläglich gescheiterten Staatspräsidenten Bronisław Komorowski, der 2015 für eine zweite Amtsperiode gewählt werden wollte und dem Newcomer Andrzej Duda unterlag. Dass die Polen Duda sowie andere „Mutanten“ und „grausame Kanaillen“ seines Schlags, wie Stańko es zu formulieren pflegte, an die Macht gebracht haben, erfüllte ihn mit tiefer Abscheu.

Staatspräsident Andrzej Duda lieβ sich dadurch nicht beirren. Kurz nachdem die Nachricht von Tode Stańkos eintraf, twitterte das Staatsoberhaupt: „Heute früh ist Herr Tomasz Stańko von uns gegangen. Er war eine groβe Gestalt des polnischen Jazz, ein hervorragender Musiker mit groβen Verdiensten für die polnische Kultur. Solche Menschen sterben nicht, sie leben weiter ich ihren Werken. Ruhe in Frieden.“

Tomasz Stańko wurde auf dem Warschauer Powązki-Friedhof bestattet.

© RdP




Das Wichtigste aus Polen 8.Juli – 28.Juli 2018

Lesenswert „Polens Justizreform genau betrachtet 3. Das Oberste Gericht‘

Sehenswert: „Präsident Donald Trump in Warschau am 6. Juli 2017“ 

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Oberstes Gericht wird reformiert und warum das äußerst notwendig ist. ♦ Putin-Trump-Helsinki-Polen. Warum sich Polens Umgang mit Donald Trump bisher bewährt hat. ♦ Zwischen den Mühlsteinen der US- und der EU-Zölle sucht Polen seine Nische. ♦ Immer mehr Ausländer auf dem polnischen Arbeitsmarkt und wie man versucht die Fehler anderer nicht zu wiederholen.




Krähen erobern Polen

Es krächzt allerorten.

Über den Dächern polnischer Städte kreisen immer öfter nur noch die Krähen. Sie haben andere Vögel verdrängt. Bald jedoch werden auch sie verschwinden, denn schon sind die Raben im Anmarsch.

Das Wochenmagazin “Do Rzeczy“ (“Zur Sache“) vom 8. Juli 2018 hat dazu einen interessanten Bericht veröffentlicht, den wir hier in deutscher Übersetzung wiedergeben.

Das Gezwitscher der Spatzen, das Singen der Amseln, das Pfeifen, Schnalzen und Zischen der Stare ist dem Krächzen gewichen. Die Krähen sind aggressiv und clever, und nehmen inzwischen sogar Gegenden in Beschlag, die vorher von anderen Rabenvögeln beherrscht wurden, den Elstern.

Alfred Hitchcock lässt grüßen

Viele Warschauer fragen sich, weshalb sie inzwischen Vogelarten nicht mehr zu Gesicht bekommen, die sich vor zwanzig, ja sogar noch vor zehn Jahren in ihrer Umgebung zuhauf tummelten. Mehr noch, es kommt inzwischen immer wieder vor, dass Ärzte von Patienten berichten, die mit Pickwunden zu ihnen kommen. Auch Hunde und Katzen sind betroffen. Alfred Hitchcock, der Regisseur der Horrorstreifens “Die Vögel“, lässt grüßen.

“Die Vögel“ (1963) von Alfred Hitchcock, mit Tippi Hedren.

An der Warschauer Grundschule Nr. 175 musste im Frühjahr 2016 der Bürgersteig für einige Wochen gesperrt werden. „Die Brutezeit der Krähen dauert von März bis Oktober“, berichtet der Biologe Piotr Mostowski von der „Öko-Patrouille“, einer mehrköpfigen Einheit der Warschauer Kommunalpolizei, die bei Zwischenfällen mit Tieren einschreitet, die in der Millionenstadt ständig vorkommen.

Hinweis vor der Warschauer Grundschule Nr. 175. „Achtung. Aus Sicherheitsgründen ist die Benutzung des Bürgersteiges untersagt. Passanten werden von Krähen angegriffen. Die Schule trägt keine Verantwortung für eventuelle Schäden an Personen, die den Bürgersteig trotz des Verbotes betreten sollten.“

„Krähenattacken kommen in der letzten Zeit oft vor. Nebelkrähen sind auβergewöhnlich fürsorgliche Eltern. Wenn sie ihr Nest bedroht sehen, greifen sie Menschen und Tiere mit voller Wucht an“, so Mostowski.

Piotr Mostowski von der Warschauer „Öko-Patrouille“.

Dr. Andzrej Kruszewicz, Ornithologe und Direktor des Warschauer Zoos sagt, dass die Kräheninvasion schon älteren Datums sei. “Wir beobachten sie seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Krähen sind robust, erfinderisch, passen sich schnell an und fressen andere Vögel. Vor allem jedoch ist die Stadt anders geworden. Krähenfreundlich eben.“

Die wachsende Zahl der Krähen beunruhigt die Menschen. “Was sagt ihr zu unserem Marktplatz in Dobrzyń (fonetisch Dobschin – Anm. RdP)? Die schwarzen Monster haben ihn ganz und gar in Beschlag genommen. Die Bänke in der Grünanlage, die Spazierwege, der Parkplatz sind weiß von Krähenkot. Und dazu dieses unsägliche Krächzen am Morgen und am Abend, wie auf einem spukenden Gräberfeld“, so der Eintrag eines Bewohners auf dem Internet-Blog der Stadt Golub-Dobrzyń unweit von Toruń (Thorn).

Ornithologe Dr. Grzegorz Lesiński.

Fachleute jedoch sind einhellig der Meinung, dass die Krähen vor allem Warschau erobert haben. Noch vor nicht allzu langer Zeit gab es in der Hauptstadt die landesweit größte Elsterndichte, doch sie mussten den stärkeren Verwandten weichen. Ein gutes Beispiel ist die Warschauer Plattenbausiedlung aus den Sechzigerjahren, Wrzeciono (fonetisch Fschetsiono), wo der Ornithologe von der Warschauer Landwirtschafshochschule (SGGW) Dr. Grzegorz Lesiński seit 1984 seine Beobachtungen durchführt.

Hecken, Haine, Dickicht gibt es kaum mehr

In den Achtziger- und Neunzigerjahren waren hier die Elstern auf dem Vormarsch, zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen die Krähen und haben die Elstern vertrieben. Elstern gibt es heute nur noch wenige, die Krähen herrschen uneingeschränkt mit einer Dichte von sechzig Paaren pro einhundert Hektar.

“Tatsächlich gibt es in Warschau sehr viele Nebelkrähen, viel mehr als in anderen Städten“, sagt Krzysztof Janus, der sich in der Warschauer Landwirtschaftshochschule auf die Rabenvögel spezialisiert hat. Warum? “Wenn ich das wüsste, bräuchte ich mir um meine Doktorarbeit keine Sorgen zu machen! Aber im Ernst: es gibt wahrscheinlich viele Gründe. Nicht ohne Bedeutung ist die Art, wie die Grünflächen jetzt bewirtschaftet werden. Vorzugsweise werden Ziergehölze und Zierbüsche fremder Herkunft angepflanzt. Oft sind das Nadelgewächse. Hecken, Haine, Dickicht gibt es kaum mehr.“

Warschauer Zoodirektor Andrzej Kruszewicz.

Das bestätigt auch Dr. Kruszewicz. “In den Parks wird Gebüsch gelichtet, damit sich die Spaziergänger sicher fühlen. Doch wenn sich dort kein Sittenstrolch verstecken kann, dann können es die Mönchsgrasmücke und die Amsel auch nicht. Das Dickicht für die Vögel fehlt. Wir verwandeln unsere Umgebung, mit dem Ergebnis, dass sich die einen Vögel zurückziehen und sich solche wie die Krähen breitmachen. Seit einiger Zeit kommen vermehrt die Eichelhäher und es gibt immer mehr Raben, die letztendlich die Herrschaft übernehmen werden.“

Moderne Siedlungen, wo es nur noch gepflegte Rasen und einige wenige Zierbäume gibt, sind keine Orte, an denen Vögel sich verstecken und offene Nester bauen könnten. Für Elstern und Krähen eignen sie sich dagegen hervorragend.

Ein weiterer Grund ist, dass im Take-away-Zeitalter die Rabenvögel nie unter Nahrungsmangel leiden. Hinzu kommen die vielen Katzen und Steinmarder in Warschau. Vogeleier und Nestlinge sind für sie leichte Beute.

Höhlenbrüter leben länger, aber auch nicht lange

Die Kräheninvasion hat andere Vogelarten, die einst gerne ihre Nester in Städten angelegt haben, verdrängt. “Wir unterteilen die Vögel in Höhlenbrüter, die in Baumhöhlen, Häuserspalten und Vogelhäuschen nisten. Die anderen sind diejenigen, die offene Nester bauen: auf dem Boden, auf Bäumen, auf Gebäuden“, berichtet Krzysztof Janus.

Rabenvögel -Fachmann Krzysztof Janus.

“In Warschau, wo wir eine dermaßen überproportionale Herrschaft der Rabenvögel haben, können sich nur die Höhlenbrüter einigermaßen behaupten. Elstern und Krähen kommen an deren Eier und Nestlinge schwer heran. Wir sprechen hier von Spatzen, Feldsperlingen, Staren, Mauerseglern und Meisen. Ihnen gelingt es die Eier so lange zu bebrüten bis die Jungen schlüpfen und flügge werden. Doch dann geraten auch sie in Gefahr. Junge Spatzen, Feldsperlinge, Stare und Meisen zählen wir nur wenige. Die meisten fallen wahrscheinlich den Rabenvögeln zum Opfer“, so Janus.

In Łódź (Lodsch) oder in Skierniewice, einer knapp Fünfzigtausend-Einwohner-Stadt auf halbem Wege zwischen Łódź und Warschau, ist die Vogelwelt weitgehend noch eine heile Welt. Dort gibt es bis heute viele Vögel, die offene Nester bauen: Stieglitze, Grünfinken, Buchfinken, Drosseln, Amseln, Wacholderdrosseln, Turteltauben, Ringeltauben. “In Warschau findet man sie kaum mehr. Nur vereinzelt sieht oder hört man sie in Parks oder auf Friedhöfen“, sagt Janus. “Łódź und Skierniewice, wo ich als Ornithologe auch gezielt unterwegs war, hinken dem städtebaulichen Fortschritt noch deutlich hinterher. Für die Vogelvielfalt ist das lebensrettend.“

In Warschau gab es einst ziemlich viele Haubenlerchen, die ihre Nester am Boden bauen. Bis in die Achtzigerjahre ging es ihnen in der Hauptstadt ganz gut. Ab den Neunzigern, mit dem vermehrten Einzug der Elstern, ging ihre Zahl zurück. Das letzte Paar wurde in Warschau im Jahre 2005 gesichtet.

Wer war der Räuber?

Krähen vertilgen die Nestlinge anderer Vögel. Um das zu belegen, bauen die Ornithologen künstliche Nester, in die sie Wachteleier legen und ein Ei aus Plastilin. An ihm kann man ablesen, wer der Räuber war: ein Steinmarder, eine Katze oder ein Rabenvogel. Nicht selten greifen Elstern und Krähen die Nester anderer Vögel an, ausschließlich um sie zu verwüsten. Die Nestlinge werden tot gepickt und nach draußen geworfen, die Nester unbrauchbar gemacht.

Krähen-Attacke in Wrocław.

“Ich habe Krähen einige Male dabei beobachtet“, erzählt Janus. “Krähen können aber auch ohne weiteres eine Taube erlegen und sie vertilgen. Das sind Aasfresser. Wenn sie einen vom Auto überfahrenen Igel finden, vertilgen sie auch ihn. Sie brauchen viel Eiweiß beim Großziehen ihres Nachwuchses. Das finden sie dort.“

Dr. Andrzej Kruszewicz, der Warschauer Zoodirektor, kommt dienstlich viel herum und weiß, dass auch andere europäische Großstädte ein Krähenproblem haben. “In Wien gibt es kaum Nebelkrähen, wie in Warschau, dafür Schwarzkrähen in Massen. So ist es auch in Moskau, in Berlin.“

Abwarten bis es besser wird

Die Warschauer wollen nicht nur unter Krähen leben, doch die Fachleute geben sich keinen Illusionen hin. Eine Wende zum Besseren ist nicht absehbar. Das Umsiedeln von bedrohten Vogelarten in die Hauptstadt, das Zerstören der Krähennester oder gar das Abschießen haben keinen Sinn.

So lange die Lebensumstände für die Rabenvögel so günstig sind, werden sie immer wieder zurückkehren und anderen Vögeln den Lebensraum streitig machen. In Warschau gibt es inzwischen sehr viele Krähen, die keine Nester mehr bauen. Es gibt kein Platz mehr dafür, so groß ist die Krähendichte.

“Theoretisch kann man alles machen“, sagt Dr. Kruszewicz. “Ich habe vorgeschlagen Kräheneier gegen gekochte Hühnereier zu vertauschen, aber das ist nicht umsetzbar. Man müsste zur richtigen Zeit mit etlichen Hebebühnen vorfahren, um an die Nester heranzukommen. An viele kommt man sowieso nicht heran. Wer soll das koordinieren und vor allem bezahlen? Außerdem brauchte es Jahre bis sich die Lage bessert.“

Die Ornithologen sagen: abwarten.

Was soll man also tun? Die Ornithologen sagen: abwarten. Zum Beispiel härtere Winter, die erfahrungsgemäß die Krähen aus den Städten vertreiben. “Außerdem hat jede Gattung ihre eigene Dynamik“, sagt Krzysztof Janus.

“Es gibt Zeiten, in denen sie sehr zahlreich ist und dann verringert sich ihre Zahl von selbst auf Grund von Umständen, die wir oft gar nicht festmachen können. Außerdem müssen wir unbedingt auf eine vogelfreundliche Bepflanzung in den Städten setzten. Generell jedoch sollten wir uns noch auf lange Jahre des Krächzens einrichten.“

RdP




Schnell und stetig

Am 29. Juni 2018 starb Irena Szewińska.

Sie brach Weltrekorde, doch ihr Gesicht blieb unverzerrt wenn sie langen Schrittes leicht, einer Gazelle gleich, über der Laufbahn zu schweben schien. Polen verabschiedete Irena Szewińska auf ihrem letzten Lauf , wie es der Königin der polnischen Leichtathletik gebührte.

Staatspräsident Andrzej Duda und Gattin beteten kniend an ihrem Sarg in der Warschauer Feldkathedrale der polnischen Armee. „Ein Jahrhundert nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit verabschieden wir eine Sportlerin des Jahrhunderts“, sagte das Staatsoberhaupt während der Trauermesse in seiner Ansprache.

Staatspräsident Andrzej Duda und Gattin am Sarg Irena Szewińskas in der Warschauer Feldkathedrale der polnischen Armee.

„Sie war uns allen ein Vorbild. Wir sind ihr ewige Dankbarkeit schuldig“, so verabschiedete Ministerpräsident Mateusz Morawiecki Szewińska an ihrem Grab auf dem Warschauer Powązki-Friedhof.  Unter den Trauergästen sah man auch ihre einstige Erzrivalin,  die DDR-Läuferin Marita Koch.

Die gute Pani Irena

Kein Hochmut, keine Allüren. Einst überaus erfolgreich, ist sie bis an ihr Lebensende zurückhaltend und bescheiden geblieben. Sie suchte nicht das Rampenlicht, blieb stets bei ihren Leisten, nahm lautlos ihre Funktionen im Polnischen und im Internationalen Olympischen Komitee wahr, lieβ sich keine Stellungnahmen zur Klimaerwärmung, zum Robbensterben oder gar zur polnischen Innenpolitik entlocken.

Wie einst über der Laufbahn, schwebte sie über den Problemen und Konflikten. Die gute „Pani Irena“, „Frau Irena“. Sie wurde, wie in Polen im alltäglichen Umgang üblich, auch von den hochrangigsten polnischen Politikern mit dem Vornamen angesprochen gesiezt.

Mit Staatspräsident Lech Kaczyński.

Szewińska mied die Politik nicht, lieβ sich aber von ihr nur soweit vereinnahmen, wie es ihrem Renommee der grundanständigen, fairen und erfolgreichen Sportikone nicht abträglich war. Sie trat in den Achtzigerjahren General Jaruzelskis Patriotischer Front der Nationalen Wiedergeburt bei, einem Gebilde, das die Unterstützung der kulturellen, wissenschaftlichen und sportlichen Eliten für das Regime vortäuschen sollte. Sie sagte zu, als Lech Kaczyński sie vor den Präsidentschaftswahlen 2005, die er gewann, einlud in seinem Wahl-Ehrenkomitee Mitglied zu sein.

Doch so liebenswürdig sie auch war, sie verhielt sich wie eine Sphinx. Niemand konnte sagen, wo und wofür sie tatsächlich politisch stand, wenn das überhaupt der Fall war.

Geboren in Leningrad

Irena Szewińska kam 1946 im sowjetischen Leningrad zur Welt, das heute wieder Petersburg heiβt. Damals hieβ sie noch Irena Kirszenstein und war Tochter jüdischer Eltern. Vater Jakub Gustaw Kirszenstein (1922 – 2002) war Akustikingenieur und stammte aus Warschau. Beim Einmarsch der Deutschen in Polen am 1. September 1939 gelangte er in den Osten des Landes, den die Sowjets dann am 17. September 1939 besetzten. Da er sich demonstrativ und anscheinend sehr glaubwürdig zum Kommunismus bekannte, lieβ man ihn am Leningrader Institut für Kinoingenieure studieren.

Mutter Eugenia Rafalska (1922 – 1997) stammte aus Kiew und entkam mit ihrem polnischen Namen, wie durch ein Wunder, Stalins „Polen-Aktion“. Zwischen 1937 und 1938 haben die Sowjets fast alle, insgesamt gut 110.000 in der Sowjetunion lebende Polen umgebracht. Ihnen wurde kollektiv die Teilnahme an sowjetfeindlichen umstürzlerischen Aktivitäten vorgeworfen. Zur Festnahme und Ermordung reichte oft nur ein polnisch klingender Nachname, auch wenn sein Träger manchmal mit Polen nicht das Geringste zu tun hatte.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurden im Sommer 1941 das Leningrader Institut von Jakub Kirszenstein und die Kiewer Fabrik von Eugenia Rafalska nach Samarkand in Usbekistan evakuiert. Dort lernten sich die Eltern von Irena Szewińska kennen, heirateten und durften 1945 in ein Leningrader Studentenheim übersiedeln. Die Sowjets lieβen sie 1947 nach Polen ziehen.

Im Jahr 1953 lieβen sich Irenas Eltern scheiden. Der Vater war ein angesehener Fachmann auf dem Gebiet der Akustik, konzipierte und baute in den 60er Jahren u. a. das zu seiner Zeit ultramoderne Tonstudio in den Spielfilmateliers in Łódź. Irena lebte mit der Mutter im Warschauer Stadtzentrum, damals inmitten einer tristen Ruinenlandschaft, die sich nur sehr zögerlich wieder in eine normale Stadt verwandelte.

Backfisch mit Talent

Eigentlich war Literatur damals ihre Leidenschaft. Sie las viel, unternahm ihre ersten Versuche als Laiendarstellerin an einem Kindertheater. Das änderte sich schlagartig im Frühjahr 1961. Ihre Sportlehrerin lieβ die Klasse zum Hundertmeterlauf antreten. Irenas Zeit war so gut, dass sie glaubte ihre Stoppuhr sei defekt. Sie schickte Irena noch einmal los. Die Zeit war noch besser.

Der talentierte Backfisch am Anfang einer großen Karriere.

Die Lehrerin vermittelte Irena an die Leichtathletiksektion des Warschauer Sportklubs Polonia, dem Szewińska bis ans Ende ihrer Sportlerkarriere die Treue hielt. Trainer Jan Kopyto (geb. 1934), der es als Aktiver bei der Olympiade in Melbourne 1956 bis ins Finale des Speerwerfer-Wettbewerbs schaffte, erkannte sofort das phänomenale Talent eines Backfisches, der bisher den Lauf nie trainiert hatte. Ein Jahr später, sie war sechzehn, holte sie sich bei Leichtathletik-Jugendwettkämpfen im tschechischen Hradec Kralove ihre ersten Titel.

Im „Wunderteam“

Es vergingen noch zwei Jahre und am 21. Oktober 1964 stand sie bei den Olympischen Spielen in Tokio auf dem Siegerpodest. Zusammen mit Teresa Ciepły (1937 – 2006), Halina Górecka (geb. 1938) und Ewa Kłobukowska (geb. 1946) gewann sie für Polen die Goldmedaille in der 4×100-m-Staffel der Frauen. „Ich war achtzehn. Das war meine erste und schönste Olympiade“.

Mit der polnischen Frauen-100-m-Staffel auf dem Siegerpodest bei den Olympischen Spielen in Tokio 1964.

Jetzt war sie berühmt, und in der Zeit bis zu den Olympischen Spielen in Mexico 1968 regnete es Erfolge, wie aus einem goldenen Füllhorn. 1965 zwei Weltrekorde: 100-m in 11,2 Sekunden und 200-m in 22,7 Sekunden. 1966: drei Goldmedaillen bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in Budapest (200-m, Weitsprung, 4×100-m) und eine silberne (100-m). 1967: polnischer Landesrekord im Weitsprung 6,67 m.

Medaillen, Rekorde, Titel. Erfolge, wie aus einem goldenen Füllhorn. Irena Szewińska am Beginn ihrer Weltkarriere Ende der 60er Jahre.

Es war die Zeit zwischen 1956 und 1966 als Polen mit seinem „Wunderteam“ zu einer Leichtathletik-Groβmacht aufgestiegen war. Den Begriff prägte die westdeutsche Sportpresse, nachdem das anfänglich kaum ernstgenommene Polen-Team aus dem Ostblock die Bundesrepublik im Neckarstadion 1957 im Leichtathletik-Länderzweikampf bezwang.

Die Trainer- und Sportmanagerlegende Jan Mulak (1914 – 2005) hatte ein fabelhaftes Gespür für Talente. Es hagelte polnische Olympia-Medaillen und Weltrekorde im 3000-m-Hindernislauf (Krzyszkowiak), Diskuswerfen (Piątkowski), Dreisprung (Szmidt), Speer- und Hammerwerfen (Sidło und Rut) und natürlich in der Frauenleichtathletik, mit der jungen Kirszenstein an der Spitze.

Mit dem Begründer des polnischen Leichtathletik-„Wunderteams“ Jan Mulak 2004.

Fleiβ, Ehrgeiz, Zuversicht

In Mexico 1968 hatte das Pech es auf Irena abgesehen. Im Weitsprung schaffte sie es nicht ins Finale. „Ich war nicht mehr dieselbe, unbeschwerte junge Sportlerin wie in Tokio. Ich war reifer, erfahrener, aber auf mir lastete jetzt der Ballast der Verantwortung. Ich war Favoritin, und das ist eine sehr undankbare Rolle“.

Immerhin gewann sie auf 200-m Gold und auf 100-m holte sie Bronze, aber dann kam die Katastrophe. In der 4×100-m-Staffel der Frauen lagen die Polinnen klar vorn, doch beim letzten Wechsel glitt Irena der Stab aus der Hand. Aus der Traum!

Böse Zungen unterstellten sogar, sie hätte es absichtlich getan. Der Groll der drei anderen Mädchen aus der Staffel gegen sie war groβ. Irena hatte ihre Olympia-Medaillen, sie gingen leer aus.

Jung verheiratet. Mit Ehemann Janusz Szewiński.

Es galt das erste Tief in der Karriere zu überwinden. Sie heiratete den 400-m-Läufer und ihren späteren Trainer Janusz Szewiński, der sich auch einen Namen als herausragender Sportfotograf machen sollte. Der erste Sohn, Andrzej kam 1970 auf die Welt. Der zweite, Jarosław sollte 1981 folgen.

Der nicht ganz gelungene Auftritt in Mexico, mit seinem aufgrund der Höhenlage (2000 Meter über dem Meeresspiegel) für viele Sportler nur schwer zu ertragenden Klima, motivierte sie zu noch mehr Arbeit. Sie war jetzt Mutter, Ehefrau, studierte Wirtschaft an der Warschauer Universität und versuchte den Anschluss an die Leichtathletik-Weltspitze nicht zu verlieren.

Mit Sohn Andrzej.

„Es hätte keinen Erfolg gegeben ohne Irenas Fleiβ, ihren unglaublichen Ehrgeiz und eisernen Willen, ihre Zuversicht und ihre Zielstrebigkeit“, so der Leichtathletik-„Wunderteam“-Begründer Jan Mulak.

Training, Training und nochmals Training. Ehemann Janusz gibt die Anweisungen.

„Mein Mann und Trainer witzelt, dass ich mich wie eine übereifrige Schülerin benehme. Egal ob Hitze, Regen oder Schneeverwehungen, ich arbeite immer das geplante Trainingspensum ab. Nur so habe ich eine Chance wieder auf das Siegerpodest zu gelangen“, berichtete Irena Szewińska damals in einem Zeitungsinterview.

Doch die Belastung war enorm, und das Erklimmen der Siegerpodeste gestaltete sich dieses Mal schwierig. Von der Olympiade in München 1972 kam sie „nur“ mit einer Bronzemedaille auf der 200-m-Distanz zurück.

Olympische Spiele in Montreal 1976. Goldmedaille und Weltrekord. Comeback gelungen.

Das Comeback gelang erst bei den Olympischen Spielen in Montreal 1976: Gold auf der 400-m-Strecke und gleichzeitig neuer Weltrekord mit 49,28 Sekunden. Sie war die erste Frau, die diese Distanz in weniger als fünfzig Sekunden bewältigte. Olympiagold und Weltrekord, gröβer kann sich ein Sportler den Erfolg nicht erträumen.

Gedopte Rivalinnen

Ihre gröβte Rivalin war damals die DDR-Läuferin Renate Stecher. Szewińska bezwang sie einige Male, so in Potsdam im Juni 1974, als sie Stechers Weltrekord auf 200-m unterbieten konnte. Wie enorm diese Leistung eigentlich war, konnte man erst nach dem Zusammenbruch der DDR und der Einsicht in diverse geheime Unterlagen einschätzen. Stecher nämlich, so das Ergebnis der Recherchen, blieb „in das staatliche Dopingsystem der DDR eingebunden“. Sie war „Doping-Mitmacherin, zumindest Doping-Mitwisserin.“

Lesenswert dazu: „Stasi-Dokument zu Renate Stecher. Erst Doping-Injektionen erhalten, dann Testosteron-Spritzen abgelehnt”.

Dasselbe gilt in noch höherem Maße für eine weitere Szewińska-Erzrivalin, die DDR-Läuferin Marita Koch. Dass Irena sie 1977 auf der 400-m-Strecke in Düsseldorf beim Leichtathletik-Weltcup besiegen konnte galt schon damals als eine Sensation und ist es, nach dem heutigen Wissensstand, umso mehr.

Nach jahrelanger Suche in polnischen Stasi- und anderen einst nicht zugänglichen Archiven kann man heute eindeutig sagen, dass es im kommunistischen Polen zwar Einzelfälle von Doping, aber kein staatlich verordnetes und betriebenes Dopingsystem wie in der DDR gab. Szewińska ist während und nach ihrer aktiven Zeit niemals unter Dopingverdacht geraten, geschweige denn, des Dopings überführt worden.

Das Leben nach dem Ende

Sie war in Montreal dreiβig Jahre alt und es wäre ein glanzvolles Finale einer grandiosen Sportlerkarriere gewesen. Doch sie wollte es noch ein letztes Mal darauf ankommen lassen. Bei der Olympiade in Moskau 1980 musste sie dann jedoch beim 400-m-Lauf, nach einer Verletzung, hinkend die Laufbahn verlassen.

Bis zum Ende des Kommunismus in Polen 1989 trat sie eher selten in Erscheinung. Sie genoss es jetzt vor allem für die Familie da zu sein, die beiden Söhne groβzuziehen und begnügte sich mit einigermaβen gut dotierten Ehrenämtern in verschiedenen polnischen und internationalen Sportorganisationen.

Ihre Blauäugigkeit wurde ihr einmal, im Jahre 2008, zum Verhängnis. Damals stand Irenas vierjährige Amtszeit als Vorsitzende des Polnischen Leichtathletik-Verbandes (PZLA) kurz vor dem Ende und die Bilanz des Verbandes wies ein Defizit von umgerechnet knapp 220.000 Euro auf.

Szewińska konnte glaubwürdig nachweisen, dass sie ihr, für polnische Verhältnisse, sehr sattes Vorsitzenden-Gehalt von umgerechnet knapp 3.500 Euro bei Amtsantritt in dieser Höhe bereits vorgefunden hatte. Auβerdem hatten sie die Hauptbuchhalterin und die PZLA-Generalsekretärin über den Stand der Finanzen hinters Licht geführt. Durch das Halbieren ihres Gehaltes und weitere Sparmaβnahmen, die sie anordnete, konnte das Defizit am Ende ihrer Amtsperiode 2009 immerhin auf 120.000 Euro gesenkt werden. Dennoch, ein unguter Beigeschmack wirkte eine Zeit lang nach.

Für den polnischen Sport unermüdlich im Einsatz.

Irena Szewińska setzte sich unermüdlich für den polnischen Sport ein, vor allem für den Kinder- und Jugendsport. Mit viel Ausdauer eröffnete sie Wettbewerbe, übereichte Preise, ermunterte und tröstete die jungen Sportler, oft in der tiefsten Provinz. Ihr stets sympathisches, bescheidenes und zugleich würdiges Auftreten dort, genauso wie auf der Weltbühne, macht sie zunehmend zu einer Symbolfigur.

Sie plauderte unbeschwert mit der Queen, mit amerikanischen Präsidenten. Wladimir Putin rühmte sich, dass sie beide Leningrader seien. Der japanische Botschafter verlieh ihr den Orden der Aufgehenden Sonne, Senegals Präsident den Nationalen Löwenorden. Im Jahre 2016 ehrte sie Staatspräsident Andrzej Duda als erste polnische Sportlerin mit der höchsten polnischen Auszeichnung, dem Orden des Weiβen Adlers.

Sie kämpfte seit 2014 gegen den Krebs an. Eine Zeit lang schien es sogar als hätte sie die Krankheit bezwungen. Doch dem war nicht so.

Irena Szewińska gewann für Polen sieben Olympiamedaillen und stellte zehn Weltrekorde auf. Das Ausmaβ der Sympathie, die sie für sich und ihr Land erlangen konnte scheint schier unermesslich. Sie starb im Alter von 72 Jahren und wurde am 5. Juli 2018 feierlich auf dem Warschauer Powązki-Friedhof bestattet.

Sehenswert: Filmportrait Irena Szewińska (auf Englisch)

Sehenswert: Beeindruckend. Szewińskas Sieg auf 200 m bei der Olympiade in Mexico 1968

© RdP




Das Wichtigste aus Polen 24. Juni – 7. Juli 2018

Als Ergänzung zur Sendung empfehlen wir:

„Polens Justizreform genau betrachtet 3. Das Oberste Gericht‘

„Polen – Israel. Streit beigelegt, Wahrheit verbrieft“ 

 

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Die Wunde vernarbt nur langsam. Der unrühmliche Abgang der polnischen Nationalelf von der Fußball WM-Bühne in Russland und seine Folgen ♦ Die Reform des Obersten Gerichts: Argumente und Emotionen ♦ Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hält vor dem Europäischen Parlament eine Rede über die Zukunft der EU und erntet keinen Beifall ♦ Israel und Polen legen Streit über Holocaust-Gesetz bei ♦ Amerikaner erwägen Truppenverlegung aus Deutschland nach Polen. Die meisten Deutschen freuen sich. Die meisten Polen auch.