Deutsche Reparationen an Polen. Wie viel und wofür?

Die erste vollständige polnische Verlustbilanz ist fertig.

Das polnische Regierungslager wird nicht müde, die Kriegsreparationsfrage zu beleben. Nun liegen die polnischen Forderungen auf dem Tisch. Welches Denken und Handeln verbirgt sich dahinter?

Arkadiusz Mularczyk

Arkadiusz Mularczyk wurde 1971 in Racibórz/Ratibor geboren. Er ist von Beruf Rechtsanwalt, seit 2005 Sejm-Abgeordneter der Partei Recht und Gerechtigkeit. Seit September 2017 bekleidet er den Vorsitz eines fünfzehnköpfigen Gremiums, der Parlamentarischen Arbeitsgruppe zur Schätzung der Polen von Deutschland zustehenden Reparationen. Das Interview mit Arkadiusz Mularczyk erschien im Wochenmagazin „wSieci“ („imNetzwerk“) am 19. Mai 2019.

Frage: Die laufende Legislaturperiode des polnischen Parlaments geht im Oktober 2019 zu Ende. Sie leiten im Sejm ein Expertengremium, das sich mit dem Thema deutsche Reparationen beschäftigt. Wie weit sind Sie? Wird Polen seine Zerstörung während des  Zweiten Weltkrieges in Rechnung stellen?

Arkadiusz Mularczyk: Daran arbeiten wir seit September 2017. Damals entstand, auf Anregung von Jarosław Kaczyński, die „Parlamentarische Gruppe zur Bezifferung der Höhe der Polen zustehenden deutschen Reparationen für Schäden, die dem Land während des Zweiten Weltkrieges zugefügt wurden“. Der vollständige Name unseres Gremiums klingt zugegebenermaßen etwas umständlich, er umschreibt aber genau seine Aufgaben.

Es ging darum, einen Bericht über die Kriegsverluste zu erstellen und dadurch unser Wissen darüber zu vertiefen. Nach eineinhalb Jahren

Sechzig Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Polnische Briefmarke von 2005.

kann ich reinen Gewissens sagen, dass wir diese Aufgabe erfüllt haben.

Wann werden wir den Bericht lesen können?

Der Bericht ist fertig. Mitgewirkt an ihm haben sehr angesehene Wissenschaftler. Entstanden ist ein umfangreiches Papier, das die Berechnungen polnischer Kriegsverluste ausführlich darstellt,  oft  geht es um unterschiedliche Bereiche, die keine Berührungspunkte aufweisen.

Am Anfang steht ein historischer Abriss, den eine Historikergruppe vom Institut des Nationalen Gedenkens (entspricht in etwa der deutschen Gauck-Behörde – Anm. RdP) unter Leitung von Prof. Włodzimierz Suleja erstellt hat. Dann folgt ein Rechtsgutachten. Dr. habil. Robert Jastrzębski (fonetisch Jastschembski) und Dr. Przemysław Sobolewski vom Juristischen Dienst des Sejm beschreiben die Rechtsgrundlagen unserer Reparationsansprüche an Deutschland. Es geht weiter mit einem Kapitel, das die Geschichte der Reparationsfrage seit Kriegsende in den polnisch-deutschen Beziehungen behandelt. Dann folgt die Aufstellung der Schäden und ihrer Kosten. Entstanden ist ein vielschichtiger Bericht, ein guter Ausgangspunkt für unsere weiteren Bemühungen um Reparationen und weitere Forschungen.

Siebzig Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Polnischer Briefmarkenblock von 2015.

Wann wird der Bericht veröffentlicht?

Zuerst bekommen ihn die wichtigsten Personen im Staat: der Staatspräsident, der Premierminister, auch der Vorsitzende der Regierungspartei Jarosław Kaczyński. Sie werden entscheiden, wie weiter verfahren wird. Ich bin mir sicher, sie werden ihn nicht lange der Allgemeinheit vorenthalten. Keine schlechte Idee wäre es, den Bericht am 1. September 2019, zum achtzigsten Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, zu veröffentlichen.

Gedenkstätte Auschwitz. Polnische Briefmarke von 1967.

Auf wie hoch beziffern Sie die gesamten polnischen Verluste?

Der Bericht des Büros für Kriegsentschädigungen von 1947 schätzte die polnischen Verluste auf 48 Milliarden US-Dollar. Heute entspricht das einer Summe von mehr als 850 Milliarden US-Dollar. Ich möchte jetzt den Betrag, auf den wir gekommen sind, nicht nennen. Zuerst sollen ihn die erwähnten Führungspersonen erfahren. Ich kann jedoch sagen, dass unsere Schätzungen diesen Betrag deutlich übersteigen.

Dreiβig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Polnische Briefmarke von 1975.

Ist das mehr als eine Billion US-Dollar?

Sie sind nahe dran.

Was verbirgt sich hinter dieser Summe?

Vor allem Schäden, die durch Bevölkerungsverluste entstanden sind . Zwei Wissenschaftler von der Universität Łódź (Lodsch – Anm. RdP), Prof. Jan Sztaudynger und Dr. habil. Paweł Baranowski, untersuchten den Verlust an Bruttoinlandsprodukt (BIP) durch die  verlorenen Gehälter der Getöteten.

Wir haben einen präzisen Ausgangspunkt genommen: Wie war die durchschnittliche Lebenserwartung im Vorkriegspolen, wie lang die durchschnittliche Lebensarbeitszeit und wie hoch waren damals die durchschnittlichen Löhne und Gehälter. Hinzugerechnet haben wir die Verluste, die aufgrund der kriegsbedingten Invalidität entstanden sind. Weiter hinzu kamen die Verluste, die Polen erlitten hat, weil gut zwei Millionen seiner Bürger Zwangsarbeiter waren. Dann die 200.000 geraubten und germanisierten polnischen Kinder, von denen nach dem Krieg gerade mal 30.000 wiedergefunden wurden.

Das alles hatte einen Einfluss auf die Produktivität unserer Gesellschaft sowie das BIP.  Zuvor mussten natürlich die Bevölkerungsverluste berechnet werden.

Polnische Briefmarke von 2018. Auschwitz-Birkenau ca. 1,1 Millionen Opfer.

Wer hat das gemacht?

Prof. Konrad Wnęk (fonetisch Wnenck) von der Jagiellonen Universität in Kraków. Aus seinen Berechnungen geht hervor, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg 5,2 Millionen polnische Bürger ermordet haben.

Bisher war immer von sechs Millionen die Rede.

Diese Zahl kursiert seit kurz nach Kriegsende. Damals, im kommunistischen Polen, hat man aus politischen Gründen die Opfer sowjetischer Verbrechen den Deutschen angerechnet. Die von Prof. Wnęk ermittelte Zahl von 5,2 Millionen, das sind polnische Staatsbürger, die Deutsche ermordet haben. Von ihnen waren 150.000 Soldaten, der Rest Zivilisten.

Gedenkstätte Vernichtungslager Auschwitz.-Monowitz. Ungefähr 25.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Die Zahl von 5,2 Millionen Menschen umfasst nicht die ukrainischen Wolhynien-Morde an etwa 100.000 Polen von 1943-1944, obwohl sie ebenfalls den Deutschen zugerechnet werden könnten. Schlieβlich passierte dieser Völkermord in Gebieten, die das Dritte Reich als Besatzungsmacht verwaltete.

Darunter befinden sich auch nicht, die polnischen Opfer sowjetischer Massendeportationen zwischen 1939 und 1941 im sowjetisch besetzten Ostpolen, die irgendwo in Sibirien, Kasachstan usw. ermordet wurden oder diejenigen, die aufgrund der schrecklichen Lebensbedingungen gestorben sind. Ebenso wenig das für die etwa 22.000 in Katyn, Charkiw, Twer, Kiew und Minsk von den Sowjets ermordeten polnischen Offiziere und polnischen Opfer anderer sowjetischer Verbrechen.

Vernichtungslager Majdanek. Polnische Briefmarke von 1946.

Wie groβ waren die polnischen Bevölkerungsverluste im Zweiten Weltkrieg insgesamt?

Bei Ausbruch des Krieges zählte Polen 35,3 Millionen Einwohner. Im Jahr 1946 waren es nur noch 23,9 Millionen. Die Einwohnerzahl hatte sich also um 11,4 Millionen verringert, von denen ein Teil in Ostpolen verblieben war. Dieses Gebiet wurde von der Sowjetunion am 17. September 1939 besetzt und 1944-1945 endgültig von ihr annektiert. Heute ist es Teil von Litauen, Weiβrussland und der Ukraine.

Verstehen wir das richtig? Es geht um die Gesamtbevölkerung Polens, ohne Berücksichtigung der nationalen Herkunft.

Gedenkstätte Vernichtungslager Majdanek. Ungefähr 80.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1962.

Selbstverständlich. Ob Polen, Juden, Weiβrussen, Ukrainer, Armenier, sie alle waren polnische Staatsbürger. Während des Zweiten Weltkrieges verloren in Polen jeden Tag durchschnittlich etwa dreitausend dieser Menschen das Leben.

Gedenkstätte Vernichtungslager Majdanek. Polnische Briefmarke von 1968.

Bezogen auf die Bevölkerungsverluste haben sie sich auf den dadurch hervorgerufenen  Verlust an Bruttoinlandsprodukt konzentriert. Gibt es in ihren Berechnungen keinen festen Wiedergutmachungsbetrag für genommenes Leben?

Nein. Es gibt auch keinen Betrag für den Verlust nachfolgender Generationen, der Kinder und Enkelkinder der Ermordeten. Unser Ausgangspunkt war, möglichst präzise, wissenschaftliche Kriterien anzuwenden, auch wenn diese uns in Anbetracht der menschlichen Tragödien schrecklich technisch vorkommen müssen.

Gedenkstätte Vernichtungslager Treblinka. Ungefähr 800.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1964.

Die Verluste an entgangenem Einkommen der Ermordeten und Verwundeten machen etwa Dreiviertel der Gesamtsumme der polnischen Forderungen aus. Das ist eine andere Gewichtung als in dem Bericht des Büros für Kriegsentschädigungen von 1947, in dem diese Verluste nur 25 Prozent der Forderungen ausgemacht haben.

Woher kommt dieser Unterschied?

Heute können wir viel genauer messen, wie sich der Tod eines Einzelnen auf die Minderung des BIP ausgewirkt hat. Es gibt da inzwischen eine ziemlich präzise, leicht nachprüfbare wissenschaftliche Methode.

Haben sie Fachleute aus dem Versicherungswesen hinzugezogen?

Das wurde erwogen, aber letztendlich haben wir uns für die Berechnung entgangener Einkommen entschieden. Den objektiven Wert eines Menschenlebens kann man kaum anhand von, zum Beispiel, einer hypothetischen Versicherungspolice ermitteln, weil Versicherungspolicen in unterschiedlicher Höhe abgeschlossen werden, abhängig vom Vermögen, dem sozialen Status, dem Gesundheitszustand, dem Alter des Versicherten usw.

Soll das heiβen, dass sie selbständig eine neue Vorgehensweise entwickelt haben?

Das war eine Pionierarbeit, die auf der Analyse einer riesigen Zahl statistischer Angaben beruhte: der Lebenserwartung, der durchschnittlichen Einkommen, der damals erwarteten Wachstumsdynamik der polnischen Wirtschaft und der Einkommen. In unseren Annahmen, das möchte ich ganz stark unterstreichen, waren wir sehr zurückhaltend.

Zum Beispiel wuchs Polens Wirtschaft in den letzten Vorkriegsjahren um bis zu zehn Prozent pro Jahr. Vorher jedoch war das Wachstum deutlich niedriger. Wir haben den Mittelwert für 1919-1938 genommen, obwohl man davon ausgehen kann, dass die gute Konjunktur noch eine Zeitlang angehalten hätte. Auch haben wir zu diesem Thema Gegengutachten angefordert.

Gedenkstätte Vernichtungslager Chełmno/Kulmhof bei Łodź/Lodsch. Ungefähr 200.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1965.

Und die materiellen Verluste? Das zerstörte Warschau, Dutzende andere Städte schwer beschädigt, Hunderte niedergebrannte Dörfer.

Damit beschäftigte sich die gröβte Fachgruppe unter der Leitung von Prof. Mieczysław Prystupa von der Warschauer Technischen Hochschule. Ihr fiel die wohl schwierigste Aufgabe zu. Sie musste die Zerstörungen von und an Wohngebäuden, gewerblich genutzten Bauten, Architekturdenkmälern, Kirchen, ingenieurtechnischen Bauten schätzen. Hinzu kamen die Verluste im Energieversorgungswesen, in der Industrie und im Handwerk.

Wiederaufbau Warschaus. Polnische Briefmarke von 1950.

Ein weiterer Gegenstand waren vernichtete Agrarflächen, kriegsbedingtes Nichtbewirtschaften von Agrarland, Ernteeinbuβen, die Enteignung und Beschlagnahmung von Höfen und lebendem Inventar. Die erzwungene regelmäβige, unentgeltliche Ablieferung von Getreide, Fleisch und Milchkontingenten durch polnische Bauern. Aus dem Generalgouvernement wurden allein 1942 und 1943 auf diese Weise 663.000 Tonnen Getreide, 27.500 Tonnen Zucker usw. ins Reich geschafft. In dieser Kategorie haben wir auch die massenweisen Raubrodungen von polnischen Wäldern erfasst.

Berechnet wurden ebenso entfallene Einkommen (Mieten, Pachten) aus zerstörten Gebäuden. Wir haben auch versucht, die Verluste an Vermögen der polnischen Armee, der Eisenbahn, Post, der staatlichen Verwaltung, der Forstverwaltung, des Flugwesens usw. zu ermitteln. Es sind riesige Summen und dennoch machen sie am Ende weniger als zwanzig Prozent aller polnischen Verluste aus.

Gedenkstätte Gefängnis und Durchgangslager Łódź/Lodsch-Radogoszcz/Radegast. Ungefähr 3.500 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Weniger als zwanzig Prozent?

Wir haben alle Wertermittlungen sowohl aus dem Bericht von 1947 als auch aus anderen Quellen zusammengetragen. Auch wir waren erstaunt, dass die materiellen Verluste weniger als zwanzig Prozent der polnischen Kriegsschäden ausmachen, aber das ergibt sich aus objektiven Berechnungen. Einen viel höheren Wert hat das verlorengegangene menschliche Kapital.

Beinhaltet die Berechnung von weniger als zwanzig Prozent der materiellen Verluste zum Beispiel auch das Königsschloss in Warschau?

Selbstverständlich. Die Verluste von Kulturgütern sind in einem separaten Kapitel aufgeführt. Wir unterstreichen darin, dass die Deutschen mit aller Rücksichtslosigkeit planmäβig die Vernichtung des gesamten polnischen Kulturwesens durchgeführt haben. Sie zerstörten alles: das Bildungswesen, Museen, Archive, Bibliotheken, Kulturdenkmäler, Theater, das Musikwesen, die bildenden Künste.

Es genügt nur zu erwähnen, dass die deutschen Brand- und Sprengkommandos, nach der Kapitulation des Warschauer Aufstandes Anfang Oktober 1944, das menschenleere Warschau  bis Anfang Januar 1945 planmäβig ausraubten und zerstörten. Noch am 14. Januar 1945 hatten sie die Zeit gefunden die Warschauer Stadtbibliothek mit Flammenwerfern in Brand zu stecken. Das Königsschloss, das Nationalmuseum und fast alle anderen Kulturdenkmäler Warschaus waren bereits vernichtet. Zwei Tage später marschierten die Russen ein.

Alles in allem handelte es sich um eine systematische Aktion der Kulturvernichtung, die gegen alle Bestimmungen des Völkerrechts verstieβ. Diese Verluste zu schätzen war nicht einfach.

Welche Methode haben sie gewählt?

Wir gingen davon aus, dass Meisterwerke eigentlich unschätzbar sind. Alles andere lässt sich beziffern, und das haben wir getan.

„Westverschiebung“ Polens 1945.

Polen wurde 1945 nach Westen „verschoben“. Welche Gebiete werden eigentlich in ihrem Bericht berücksichtigt?

Ausschließlich das heutige polnische Kernland, also weder die an die Sowjets verlorenen polnischen Ostgebiete noch die ehemaligen deutschen Ostprovinzen, die heute zu Polen gehören.

Menschliche Verluste, materielle Verluste, Kulturgüter. Was noch haben sie in ihrem Bericht erfasst?

Die Verluste im Banken- und Versicherungswesen, welche Prof. Mirosław Kłusek von der Universität Łódź berechnet hat. Wir hatten vor dem Krieg in Polen einige gut aufgestellte Banken, ein entwickeltes Versicherungswesen und ein weitverzweigtes Sparkassennetz. Alle ihre Bestände wurden geraubt: Einlagen, Reserven, Obligationen, Gold, Devisen, sie gelangten in den deutschen Wirtschaftskreislauf.

Gedenkstätte Gefängnis und Durchgangslager in der Rotunde von Zamość. Ungefähr 10.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1968.

Und kreisen dort bis heute.

Ein Teil davon ganz sicher. Diese Verluste wurden im Bericht von 1947 nicht erwähnt. Wir haben das nachgeholt. In unserem Bericht beschreiben wir auch den Mechanismus der wirtschaftlichen Ausbeutung Polens unter deutscher Besatzung. Er bestand darin, dass die gesamten Besatzungs- und Ausbeutungskosten durch Steuern, Kontingente, Zwangsarbeit, Raub usw. auf die polnische Bevölkerung abgewälzt wurden.

Wir haben zudem eine ganze Reihe von neuen Unterlagen ans Licht gebracht. Hier sind weitere Untersuchungen notwendig.

Wer soll sie durchführen?

Der polnische Staat sollte dazu eine Forschungseinrichtung ins Leben rufen, z. B. ein Büro für Kriegsentschädigungen, das sich der Sache systematisch und professionell annimmt. Jedes Mal, wenn wir eine neue Tür geöffnet haben, sahen wir dahinter einige weitere.

Man könnte viele interessante Forschungsmethoden anwenden, Vergleiche anstellen. Man kann, das haben wir in unserem Bericht getan, z. B. Polen und Spanien nebeneinander stellen. Beide Länder hatten 1938 eine vergleichbare Bevölkerungszahl, eine vergleichbare territoriale Gröβe und befanden sich auf demselben Niveau der Wirtschaftsentwicklung. Spanien war weder vom Zweiten Weltkrieg noch vom Kommunismus unmittelbar betroffen. Die spanische Wirtschaft belegt heute den zwölften Platz auf der Weltrangliste, die polnische den dreiundzwanzigsten. Wir entwickeln uns schnell, aber unser Nachholbedarf ist immer noch enorm. Das ist auch eine Folge des Zweiten Weltkrieges.

Gedenkstätte Vernichtungslager Stutthof. Ungefähr 65.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Haben sie in ihrem Bericht anhand konkreter Beispiele das Ausmaβ der Verwüstungen verdeutlicht?

Ja, er enthält einige Fallstudien. Da ist zum einen Warschau, dessen Verluste Ingenieur Józef Menes dargestellt hat. Seine Arbeit ist nicht zu unterschätzen.

Wir haben auch den Fall Wieluń dargestellt (Am frühen Morgen des 1. September 1939 hat die deutsche Luftwaffe die militärisch unbedeutende Kleinstadt gröβtenteils zerstört. 1.200 Menschen kamen ums Leben – Anm. RdP).

Auβerdem erwähnen wir die südostpolnische Kleinstadt Nowy Wiśnicz, wo deutsche Besatzer die Karmeliterkirche dem Erdboden gleichgemacht haben. Im benachbarten Nowy Sącz (Neu Sandez) haben deutsche Truppen das gesamte prächtige Schloss der polnischen Könige in die Luft gesprengt.

Wir erwähnen auch die Gegend um die Stadt Zamość, hinter Lublin, in Ostpolen, von wo etwa 110.000 Polen vertrieben wurden, um deutschen Kolonisten aus Bessarabien, Bosnien, Serbien Platz zu machen. Allein dort haben die Besatzer an die dreiβigtausend Kinder ihren Eltern entrissen und zur Germanisierung nach Deutschland gebracht. Etwa ein Sechstel der von dort vertriebenen Polen gelangte nach Auschwitz. Die meisten überlebten nicht. Wir verdeutlichen diese Tragödie am Beispiel des Dorfes Sochy.

Nehmen sie in dem Bericht Stellung zu dem polnischen Verzicht auf deutsche Reparationen vom 19. August 1953, auf den sich Deutschland immer wieder beruft?

Wir führen sehr ernst zu nehmende Argumente an, die belegen, dass dieser von den Sowjets erzwungene Verzicht nicht bindend sein kann. Sowohl der Inhalt des Sitzungsprotokolls des Ministerrates, der eiligst an einem Sonntagabend einberufen wurde, als auch die
offizielle Verlautbarung, die am 23. August 1953 in den Medien erschien, berufen sich in einem fort auf die Sowjetunion: „Die Regierung der UdSSR schlägt vor“, „Die Regierung der UdSSR beabsichtigt“, „Die Regierung der Volksrepublik Polen schlieβt sich voll und ganz der Meinung der Regierung der UdSSR an“ usw., usf. Das damalige Polen mit seinem kolonialen Status musste das tun, was die Kolonialmacht Sowjetunion wollte.

Bolesław Bierut. Sowjetischer Statthalter in Polen. Polnische Briefmarke von 1952.

Zudem ist die Art, wie der Beschluss des Ministerrates zustande kam, geradezu kurios. Unterschrieben hat ihn nur Bolesław Bierut, Stalins Statthalter in Polen, ein NKWD-Agent, der damals an der Spitze der Regierung stand. Der Beschluss wurde weder im Gesetzblatt der Volksrepublik Polen noch im Amtsblatt der Regierung veröffentlicht und auch nicht in der UNO registriert.

Der deutsche Historiker Karl Heinz Roth, der unsere Position für richtig hält, hat uns darauf hingewiesen, dass ein polnischer Verzicht auf deutsche Reparationen eines Vertrages mit den vier Siegermächten bedurft hätte. Sie haben Polen im Juli-August 1945 deutsche Reparationen während ihrer Konferenz in Potsdam  zuerkannt.

Die deutsche Seite behauptet, sie habe Polen längst entschädigt.

In dieser Hinsicht hat die Bundesrepublik jahrzehntelang sehr erfolgreich eine Hinhalte- und Ausweichpolitik betrieben. Lange Jahre hieβ es in Bonn, man könne nichts tun, weil es keine diplomatischen Beziehungen mit Polen gebe. Zudem haben westdeutsche Gerichte Entschädigungsklagen von Polen bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts stets abgewiesen, mit dem Hinweis, dass der künftige Friedensvertrag alle Entschädigungsfragen regeln werde.

Nach der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages im Dezember 1970, in dem die Bundesrepublik die Oder-Neiβe-Grenze anerkannt hatte, und nach der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen 1973 hieβ es, die Entschädigungsforderungen seien verjährt.

Gedenkstätte Konzentrationslager Łambinowice/Lamsdorf. Ungefähr 45.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Dann folgte der Zwei-plus-Vier-Vertrag vom September 1990, der faktisch einen Friedensvertrag mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzt hat?

Er wurde von der Bundesrepublik Deutschland und der DDR mit den USA, Russland, Frankreich und Groβbritannien abgeschlossen. Die deutsche Bundesregierung beeilte sich im Nachhinein zu erklären, sie habe „diesen Vertrag in dem Verständnis abgeschlossen, dass damit auch die Reparationsfrage endgültig erledigt“ sei.

Nur, Polen war an diesem Vertrag nicht beteiligt. Der Verzicht Polens auf, genau genommen, Kriegsreparationen aus der DDR, wurde 1953 von den Sowjets erzwungen und ist damit nicht bindend.

Was besonders empört: Nur die Polen wurden so behandelt.
Kurz nach Kriegsende hat Westdeutschland, in Folge des Pariser Reparationsabkommens von 1946 (an sechzehn Staaten), des Luxemburger Abkommens von 1952 (an Israel) und des Londoner Schuldenabkommens von 1953 (an siebzig Staaten), Reparationen gezahlt. Polen war nicht dabei. Darüber hinaus gab es auch zahlreiche bilaterale Abkommen der Bundesrepublik mit weiteren betroffenen Staaten.

Seit Kriegsende hat die Bundesrepublik den Opfern des Dritten Reiches insgesamt 75,5 Milliarden Euro gezahlt, wovon Polen nicht ganze zwei Prozent (1,41 Milliarden Euro) bekam. Das meiste bekam Israel, und zwar 35 Milliarden Euro.

Und polnische Gerichte?

Dort hieβ es, der deutsche Staat sei durch die staatliche Immunität geschützt. Diese verbiete es Bürgern anderer Staaten ihn vor ausländischen Gerichten zu verklagen. Tatsächlich gibt es ein solches Prinzip, aber es gilt nicht uneingeschränkt.

Welche Ausnahmen gibt es?

Das italienische Verfassungsgericht hat zum Beispiel in einem Urteil seinen Bürgern das Recht zugestanden, den deutschen Staat vor italienischen Gerichten wegen Kriegsverbrechen zu verklagen. Solche Verfahren gab und gibt es in Italien.

Gedenkstätte Kriegsgefangenenlager Żagań/Sagan. Polnische Briefmarke von 1967.

Kann Polen diesen Weg beschreiten?

Ja. Am 26. Oktober 2017 habe ich einen Antrag beim polnischen Verfassungsgericht (VG) gestellt, unterschrieben von einhundert Sejm-Abgeordneten der Partei Recht und Gerechtigkeit. Demnach soll die Anwendung der Staatsimmunität zum Schutz anderer Staaten verfassungswidrig sein, wenn polnische Bürger oder Behörden andere Staaten auf Entschädigung wegen Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die auf polnischem Staatsgebiet verübt wurden, verklagen. Ein solches VG-Urteil würde polnischen Bürgern den Gerichtsweg in Polen für deutsche Kriegsentschädigungen öffnen.

Wird Deutschland die Entschädigungsurteile polnischer Gerichte respektieren und umsetzen?

Auf Anhieb eher nicht, aber solche Urteile schaffen nach und nach eine Wirklichkeit, gegen die man sich in der heutigen Welt auf Dauer nicht so ohne Weiteres blind und taub stellen kann.

Der Bericht ist fertig. Wird sich ihre parlamentarische Gruppe jetzt auflösen?

Nein. Es gibt weiterhin viel zu tun und so lange es, wie bereits gesagt, keine ständige Forschungseinrichtung gibt, die das Thema weiterverfolgt, müssen wir weitermachen.

Sowohl in Polen als auch in Deutschland erheben sich viele Stimmen, dass ihre Reparationsinitiative die polnisch-deutschen Beziehungen belasten wird.

Als 1962 de Gaulle und Adenauer in der Kathedrale von Reims die französisch-deutsche Aussöhnung gefeiert und ein halbes Jahr später den Élysée-Vertrag unterschrieben haben, zahlte die Bundesrepublik an Frankreich Reparationen für den Ersten und für den Zweiten Weltkrieg. Niemand kam damals auf die Idee, sie als eine Belastung für Aussöhnung und Zusammenarbeit zu bezeichnen.

Die deutsche Politik behauptet immer wieder, sie möchte das Verhältnis zu Polen genauso gestalten wie die Beziehungen zu Frankreich. Ich denke, dem steht in diesem Fall nichts im Wege.

Wird der Bericht Deutschland offiziell vorgelegt?

Ich hoffe, die deutsche Seite wird ihn als eine gut gemeinte Einladung zum Dialog auffassen. Wir sind offen für Gespräche,  fachliche Diskussionen, für Anmerkungen und Vorschläge.

Lesenswert auch:

Deutsche Reparationen. Polnische Positionen. Teil 1.  Beweggründe, Argumente, Pläne.

Deutsche Reparationen. Polnische Positionen. Teil 2. Akten, Aufstellungen, Analysen. Was hat Polen in der Hand.

© RdP




Das Wichtigste aus Polen 28. April – 1. Juni 2019

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦  Nach der Europawahl 2019. Polnische Gewinner und Verlierer. Ursachen und Ausblicke ♦ Was wird aus Donald Tusk? ♦ Internationale jüdische Organisationen wollen nicht vererbtes jüdisches Eigentum der Holocaustopfer erben. Polen sagt „nein“.




Prozente, Mandate, Sieger, Verlierer. Europawahl 2019 in Polen

Auf einen Blick.

Die Europawahl 2019 galt in Polen vor allem als ein Vorlauf für die Parlamentswahlen im Herbst 2019 und die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2020. Als wichtigste Antagonisten standen sich die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit und die Europäische Koalition gegenüber.

Die Europäische Koalition hatte sich kurzfristig als ein Zweckbündnis aus fünf Parteien (Bürgerplattform, Postkommunisten, Bauernpartei, Nowoczesna – die Moderne und Grüne) sowie einigen linken Verbänden und Bewegungen zusammengeschlossen. Das Ziel dieser Einheitsfront war, mit dem Sieg bei der Europawahl 2019 gegen Recht und Gerechtigkeit eine politische Wende in Polen einzuleiten, um im Anschluss weitere Wahlsiege im Herbst 2019 und Frühjahr 2020 davontragen zu können. Dies ist vorerst nicht gelungen.

Insgesamt stellten sich sechs Parteien landesweit zur Wahl. Auβer den schon erwähnten zwei wichtigsten Gegnern, hatten nur noch zwei Parteien eine Chance die in Polen auch bei der Europawahl geltende Fünfprozentklausel zu überwinden.

Das war die im Frühjahr 2019 von dem Schwulen-Aktivisten Robert Biedroń gegründete Partei Wiosna – Frühling. Sie bekam sechs Prozent der Stimmen.

Auf der rechten Seite formierte sich die Konföderation, eine Sammelbewegung des nationalradikalen Lagers. Sie verfehlte mit gut vier Prozent knapp das Ziel die 5-Prozent-Hürde zu überwinden.

Die nachstehenden Schautafeln verdeutlichen die Ergebnisse der Europawahl 2019 in Polen und die wichtigsten augenblicklichen soziopolitischen Trends, die diese Wahl zutage gefördert hat.

Bitte ggf. vergröβern.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© RdP




Wieviel verdienen die Polen 2019?

Statistik und Wirklichkeit.

Ein Herr geht mit seinem Hund spazieren. Im Durchschnitt haben sie drei Beine. Diese Anekdote passt gut zum Thema „Der statistische Durchschnittslohn in Polen“.

Verglichen mit Deutschland, Groβbritannien, den Benelux- oder den skandinavischen Staaten ist Polen immer noch ein Niedriglohnland. Ein Pole verdient im statistischen Durchschnitt nur 23 Prozent dessen, was ein Luxemburger in der Lohntüte nach Hause bringt. Aus der Sicht eines Bulgaren jedoch ist ein Pole schon ein Krösus, denn er verdient mehr als das Zweifache seines bulgarischen Kollegen. Wie viel verdienen also die Polen?

Der jährliche Durchschnittslohn und seine Folgen

Das polnische Statistische Hauptamt (Główny Urząd Statystyczny – GUS) ermittelt am Ende eines jeden Jahres den sogenannten Statistischen Durchschnittslohn im Unternehmenssektor (SDLiU). Er ist eine sehr wichtige Gröβe. Anhand des SDLiU werden die pauschalen Mindestbeiträge für die Sozialversicherung ermittelt (Rente und Berufsunfähigkeit – 19,52 Prozent, der Beitrag zum Krankenfonds – 9 Prozent sowie der Arbeitslosenversicherungsbeitrag – 2,45 Prozent), die Millionen von Gewerbetreibenden jeden Monat zu entrichten haben.

Das Statistische Hauptamt GUS in Warschau.

Wer ein Gewerbe betreibt, frei jobbt, mit Werkvertrag, Zeitvertrag u. Ä. arbeitet, muss sich bei der staatlichen Sozialversicherungsanstalt (Zakład Ubezpieczeń Społecznych – ZUS) registrieren lassen und zahlt monatlich, egal wieviel er wirklich verdient, diese drei Beiträge, berechnet nach dem statistischen Durchschnittslohn im Unternehmenssektor (SDLiU).

Für Anfang 2019 betrug dieser Durchschnittslohn brutto, laut dem Statistischen Hauptamt (GUS), 4.585 Zloty (etwa 1.076 Euro). Das sind um 313 Zloty mehr als Anfang 2018, also ein Anstieg um 7,3 Prozent (inflationsbereinigt um 5,3 Prozent). Netto betrug der Durchschnittslohn  3.269 Zloty  (etwa 767 Euro) vor Steuern. Es handelte sich um den höchsten SDLiU-Zuwachs seit 2008. Im Jahr 2017 betrug dieser Zuwachs noch, inflationsbereinigt, 3,4 Prozent.

Achtzig Jahre Statistisches Hauptamt. Briefmarke der Polnischen Post von 1998.

Dementsprechend zahlen Gewerbetreibende, Freiberufler usw. von Januar bis Dezember 2019 monatlich 1.316 Zloty (ca. 309 Euro) an Sozialversicherungsbeiträgen. Sie müssen zahlen, egal wieviel und ob ihr Gewerbe überhaupt in dem jeweiligen Monat einen Gewinn erbracht hat oder nicht. Für Kleinstläden und kleine Dienstleistungsfirmen (Friseure, Schuster, Änderungsschneidereien, Gemüsehändler u. Ä.) ist das eine geradezu mörderische Regelung. Sie zwingt viele dieser Firmen zur Aufgabe oder in die Grauzone. Für sie sind 1.316 Zloty viel Geld, auch wenn dadurch der nicht arbeitende Ehepartner und die Kinder mit krankenversichert sind.

Die Kleinen werden geschont

Eine diesbezügliche Reform, die Ministerpräsident Mateusz Morawiecki Mitte April 2018 angekündigt hatte, wurde durch die nationalkonservative Regierungsmehrheit im Juli 2018 verabschiedet. Sie ist am 1. Januar 2019 in Kraft getreten und verheiβt den Betroffenen endlich eine Entlastung.

Hauptsitz der Sozialversicherungsanstalt ZUS in Warschau,

Anstelle des Einkommens werden die Einnahmen versteuert. Wer als Gewerbetreibender im Vorjahr weniger als das Dreißigfache des gesetzlichen Mindestlohns (2018 betrug er 2.100 Zloty ≈ 493 Euro) eingenommen hat (also 63.000 Zloty ≈ 14.789 Euro), zahlt 2019 von seinen Einnahmen, nach einem speziellen Umrechnungsmodus, effektiv etwa 10 Prozent an Renten-, Berufsunfähigkeits- sowie Arbeitslosenversicherungsbeiträgen (anstelle von knapp 22 Prozent berechnet auf das Einkommen). Lediglich den Krankenkassen-Minimalbeitrag von (für 2019) 342 Zloty (ca. 80 Euro) muss der Kleinstunternehmer weiterhin jeden Monat in voller Höhe aufbringen.

Siebzig Jahre seit der Einführung der Sozialversicherungen in Polen. Briefmarke der Polnischen Post von 1990.

Knapp 125.000 von insgesamt 175.000 dieser Kleinstbetriebe, die es in Polen gibt, haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, obwohl die Anmeldefrist für 2019 schon am 8. Januar ablief.

Drei Jahre lang kann man diese verminderten Sozialbeiträge nutzen. Dann zahlt man zwei Jahre lang wieder die regulären einkommensabhängigen Sätze und kann anschließend wieder drei Jahre lang die geringeren Beiträge auf die Einnahmen nutzen. Wer sein Kleinstgewerbeleben lang nur vermindert zahlen würde, der bekäme am Ende eine Hungerrente.

Darin liegt auch der Nachteil der neuen Regelung: Wer heute weniger in die Sozialversicherung (Rente und Berufsunfähigkeit) einzahlt, wird zukünftig im Alter und bei Berufsunfähigkeit geringere Versicherungsleistungen erhalten. Sie sind bereits heute, auch bei Vollzahlern nach mindestens 25 und mehr Jahren sozialversicherungspflichtigen Arbeitens, nicht gerade üppig.

Festangestellte und Beamte zahlen die insgesamt knapp 32 Prozent Sozial- und Krankenfondsbeiträge auf ihren tatsächlichen Bruttolohn. In Polen gibt es keine hälftige Teilung der Sozialversicherungsbeiträge zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, wie z. B. in Deutschland. Die Arbeitgeber tragen nur einen ganz geringen Anteil. Im Grunde kann man also sagen: Praktisch zahlt jeder voll für sich, egal ob selbständig oder abhängig beschäftigt.

Durchschnittslohn ist Fiktion

Leider berücksichtigt die staatliche Statistik bei der Berechnung des SDLiU nicht die Löhne und Gehälter in Kleinstfirmen mit bis zu neun Arbeitern oder Angestellten. Unter ihnen befinden sich viele Arbeitnehmer, die in die Scheinselbständigkeit gedrängt wurden, damit Arbeitgeber kein Kranken- und Urlaubsgeld für sie zahlen müssen. Auβer Acht gelassen werden auch alle Arbeitnehmer mit Werk- und Zeitverträgen. Bei der Berechnung des statistischen Durchschnittlohnes im Unternehmenssektor (SDLiU) werden also, sage und schreibe, Löhne und Gehälter von knapp fünf Millionen arbeitstätigen Polen nicht miteinbezogen.

Zudem wirft das Statistische Hauptamt GUS Löhne von Generaldirektoren, Managern, Vorständen in einen Topf mit Vergütungen von festangestellten Facharbeitern, Kassiererinnen und Putzfrauen. Bei einem Managergehalt von 20.000 Zloty (ca. 4.695 Euro) brutto, zehn Kleinangestelltenlöhnen von 2.300 (ca. 540 Euro) brutto und zehn Kleinangestelltenlöhnen von 2.600 Zloty (ca. 610 Euro) brutto, ergibt sich z. B.  ein Durchschnitt von 3.285 Zloty (ca. 771 Euro) brutto. Doch von den einundzwanzig Personen verdienen zwanzig deutlich weniger als den errechneten Durchschnitt, ganz zu schweigen vom SDLiU in Höhe von 4.585 Zloty.

Median…

Fachleute weisen darauf hin, dass der sogenannte Median oder Zentralwert viel besser als der SDLiU die Lohnrealität im Lande wiedergibt. Im Jahr 2017 betrug der Median für alle Löhne in Polen 3.510 Zloty brutto ≈ 824 Euro (der Statistische Durchschnittslohn im Unternehmenssektor SDLiU 2017 war 4.272 Zloty ≈ 1.003 Euro brutto).

Anders als den SDLiU berechnet das Statistische Hauptamt den Median nur alle zwei Jahre. Man muss sich also bis Ende 2019 bzw. Anfang 2020 gedulden.

Es gibt aber einen amtlich geschätzten Median für Ende 2018 und zwar 3.690 Zloty (ca. 866 Euro). D.h. die Hälfte der Polen liegt 2019 mit ihrem Lohn irgendwo über den 3.690 Zloty brutto (2.510 netto vor Steuern ≈ 590 Euro), die andere Hälfte irgendwo darunter.

… und Modus sind besser

Noch glaubwürdiger ist der Modus oder Modalwert. Er zeigt den am häufigsten gezahlten Lohn an. In Polen betrug der Lohnmodus Anfang 2018 genau 2.570 Zloty brutto (etwa 603 Euro). Das sind (die rund 32 Prozent Sozialversicherungsbeiträge abgezogen) fast 1.748 Zloty (ca. 410 Euro) auf die Hand, vor Steuern.

Auch der Modus wird nur alle zwei Jahre amtlich berechnet. Für Ende 2018 gibt es aber eine amtliche Schätzung: 2.710 Zloty (ca. 636 Euro) brutto oder 1.843 Zloty (ca. 433 Euro) netto vor Steuern. Das ist 2019 der in Polen am häufigsten gezahlte Lohn.

So bleibt also der offizielle SDLiU von 4.585 Zloty (ungefähr 1.076 Euro) brutto für etwa 70 Prozent aller arbeitenden Polen unerreichbar. Viele, vor allem in der Provinz, bekommen gerade mal den gesetzlichen Mindestlohn (GMiLo) von 2.220 Zloty (ca. 521 Euro) brutto, von dem netto, also nach Abzug der 32 Prozent Sozialabgaben, 1.510 Zloty (ca. 354 Euro) auf die Hand, vor Steuern bleiben. Das ist dramatisch wenig.

Einkommensteuersätze und Freibeträge

Die Einkommenssteuersätze betragen in Polen 18 Prozent bei einem Jahreseinkommen bis zu 85.000 Zloty (ca. 19.953 Euro). Wer im Jahr mehr verdient hat, zahlt 32 Prozent.

Das Finanzministerium in Warschau,

Die Steuerfreibeträge: Jahreseinkommen bis 6.600 Zloty (ca. 1.550 Euro) sind steuerfrei. Für Jahreseinkommen zwischen 6.600 Zloty und 85.000 Zloty beträgt der Steuerfreibetrag 3.091 Zloty (ca. 725 Euro). Für Jahreseinkommen über 85.000 Zloty gibt es keinen Steuerfreibetrag.

Eheleute können ihre Einkommensteuer gemeinsam abrechnen, was mit einem Ehepartner ohne oder auch mit einem nur geringen Einkommen den zu versteuernden Einkommensbetrag verkleinert oder sogar halbiert. Genauso verhält es sich bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern, die ihr Einkommen  zusammen mit ihren Kindern von bis zu 18 Jahren versteuern können.

Kinderfreibeträge werden von der zu zahlenden Jahreseinkommenssteuer abgezogen. Für das erste und zweite Kind sind dies jeweils 1.122 Zloty (ca. 263 Euro). Für das dritte Kind 2.000 Zloty (ca. 469 Euro). Für das vierte und jedes weitere Kind bis zum 18. Lebensjahr werden 2.700 Zloty (ca. 634 Euro) von der zu zahlenden Jahreseinkommenssteuer in Abzug gebracht.

Der gesetzliche Mindestlohn, der gesetzliche Stundenlohn und die Inflation

Ab dem 1. Januar 2019 ist der Gesetzliche Mindestlohn (GMilo) von 2.100 Zloty (ca. 493 Euro) auf 2.220 Zloty (ca. 521 Euro) brutto gestiegen. In Deutschland beträgt er 1.557 Euro. In Österreich, obwohl nur in den Tarifverträgen festgelegt, kann man von einem GMilo von 1.500 Euro ausgehen.

Gegenüber den westeuropäischen Staaten fällt der polnische GMilo gering aus. Er beträgt z.B. in Luxemburg 1.999, in Irland 1.614, in den Niederlanden 1.594, in Belgien 1.563, in Frankreich 1.525, in Groβbritannien 1.498 und in Spanien 1.060 Euro.

Im GMilo-Mittelfeld bewegen sich Malta 748 Euro, Griechenland 684 Euro und Portugal 677 Euro.

Unter den europäischen Schlusslichtern in Ostmitteleuropa jedoch liegt Polen mit seinen 521 Euro an der Spitze. In Estland erhält man einen Mindestlohn von 500 Euro, in der Slowakei 480, in Tschechien 469, in Kroatien 466, in Lettland 430, in Ungarn 418, in Rumänien 407, und in Litauen schließlich 400 Euro.

Im Jahr 2016 hat die Regierung von Recht und Gerechtigkeit zum ersten Mal nach 1989, ab dem 1. Januar 2017, einen Gesetzlichen Minimalen Stundenlohn (GMiS) von 13 Zloty (ca. 3,05 Euro) eingeführt.

Für das Jahr 2018 wurde dieser auf 13,70 Zloty (ca. 3,22 Euro) angehoben. Seit dem 1. Januar 2019 beträgt der Gesetzliche Minimale Stundenlohn in Polen 14,50 Zloty (ca. 3,40 Euro). In Deutschland beträgt er 9,19 Euro, in Österreich 10,90 Euro. In der Schweiz gibt es ihn nur in einigen wenigen Kantonen und dort variiert er.

Die Inflation betrug in Polen Anfang 2019 knapp 1,6 Prozent, die Arbeitslosigkeit lag bei 5 Prozent.

Das 500 Plus-Programm

Eine sehr wichtige staatliche Einkommenserhöhungsmaβahme der nationalkonservativen Regierung war die Einführung des allgemeinen monatlichen Kindergeldes in Höhe von 500 Zloty (ca. 117 Euro) für jedes zweite und weitere Kind bis 18 Jahren ab dem 1. April 2016. Ab dem 1. Juli 2019 kommen 500 Zloty auch für das erste Kind bis 18 Jahren hinzu.

Offizielles Emblem des 500 Plus-Programms.

Angesichts der zuvor geschilderten Einkommensverhältnisse in Polen hat dieses Programm die materielle Situation von Millionen von geringverdienenden Familien mit Kindern schlagartig verbessert. Gemäβ den Angaben des Statistischen Amtes der EU (Eurostat) waren Anfang 2016 knapp 25 Prozent aller Kinder in Polen von Kinderarmut betroffen. Inzwischen gehören noch 18 Prozent zu dieser Gruppe, genauso viele wie in Deutschland.

Von dem Programm profitieren insgesamt 6,2 Millionen Kinder und deren Familien. Die 500 Plus-Leistungen sind an keine Einkommensgrenzen gebunden. Sie werden auch nicht mit anderen Sozialleistungen verrechnet.

Mehr dazu in „Frau Szydłos neues Kindergeld“

 Einkommensunterschiede im Einzelnen

Das obere Einkommenssegment sieht in Polen 2019 folgendermaβen aus: Nur 1,9 Prozent der Polen verdienen 20.000 Zloty und mehr (ca. 4.695 Euro) brutto im Monat. Abzüglich der Sozialabgaben sind das 13.600 Zloty (ca. 3.192 Euro) vor Steuern. Knapp 9,8 Prozent verdienen zwischen 20.000 und 10.000 Zloty brutto (zwischen ca. 4.695 und ca. 2.347 Euro), also von 13.600 bis 6.800 Zloty (ca, 3.192 bis 1.596 Euro) auf die Hand vor Steuern.

Auf dem anderen Ende der Skala befinden sich ca. 1,5 Millionen, also 13 Prozent der arbeitenden Polen, die lediglich den Gesetzlichen Mindestlohn von 2.220 Zloty (ca. 521 Euro) brutto , also 1.510 Zloty (ca. 354 Euro netto), bekommen. Für sie, wenn sie Kinder haben, ist das neue Kindergeld von 500 Zloty (ca. 117 Euro) pro Kind geradezu ein Segen.

Die Verdienstlücke zwischen Frauen und Männern, neudeutsch „Gender Pay Gap“ genannt, beträgt 2019 in Polen, laut Eurostat, 7,2 Prozent (2,8 Prozent im öffentlichen Sektor) und gehört mit zu den niedrigsten in der EU. Der EU-Mittelwert liegt bei 16,2%.

Polen platziert sich mit seiner Lücke an fünfter Stelle hinter Rumänien 5,2 Prozent, Italien 5,3, Luxemburg 5,5 und Belgien 6,1 Prozent, weit vor Österreich 20,1, Groβbritannien 20, Deutschland 21,5, Tschechien 21,8 und Schlusslicht Estland mit 25,3 Prozent.

Bei privaten Firmen in Polen beträgt der Median (Zentralwert) der Löhne und Gehälter 4.700 Zloty (ca. 1.103 Euro) brutto und 3.196 Zloty (ca. 750 Euro) netto vor Steuern. Das heiβt, die eine Hälfte der Löhne liegt irgendwo darunter und die andere über 750 Euro netto nach Abzug der Sozialabgaben.

In Staatsunternehmen liegt der Median (Zentralwert) bei 4.066 Zloty (ca. 954 Euro) brutto und 2.765 Zloty (ca. 649 Euro) netto vor Steuern.

Bei kommunalen Unternehmen beträgt der Zentralwert 3.600 Zloty (ca. 845 Euro) brutto und 2.448 Zloty (ca. 575 Euro) netto vor Steuern.

In Nichtregierungsorganisationen (NGOs) gibt es schlieβlich einen Zentralwert von 4.238 Zloty (ca. 995 Euro) brutto und 2.882 Zloty (ca. 677 Euro) netto vor Steuern.

In mittelgroβen und groβen Unternehmen, oft ausländischer Herkunft, beträgt 2019 der Median für Manager 12.822 Zloty (ca. 3.009 Euro) brutto und 8.719 Zloty (ca. 2047 Euro) netto vor Steuern.

Wobei angemerkt werden muss, dass jeder vierte Manager mehr als 19.279 Zloty (ca. 4.526 Euro) brutto und 13.110 Zloty (ca. 3.077 Euro) netto vor Steuern verdiente. Vergünstigungen wie Dienstwagen, Fitness-Club, private Gesundheitsfürsorge usw., usf. wurden nicht eingerechnet. Ihrer Funktion entsprechend gilt dies auch für die nachstehenden Gruppen.

Produktionsleiter kommen in diesem Segment auf einen Zentralwert von 7.000 Zloty (ca. 1.643 Euro) brutto und 4.760 Zloty (ca. 1.117 Euro) netto vor Steuern. (25 Prozent von ihnen verdienen mehr als 10.000 Zloty brutto).

Abteilungsleiter: Zentralwert 6.650 Zloty (ca. 1561 Euro) brutto und 4.522 Zloty (ca. 1.062 Euro) netto vor Steuern. (25 Prozent verdienen mehr als 9.400 Zloty brutto).

Vorarbeiter/Meister: Zentralwert 4.500 Zloty (ca. 1.056 Euro) brutto und 3.060 Zloty (ca. 718 Euro) netto vor Steuern. (25 Prozent verdienen mehr als 5.645 Zloty brutto).

Arbeiter: Lohnzentralwert 3.205 Zloty (ca. 752 Euro) brutto und 2.179 Zloty (ca. 512 Euro) netto vor Steuern. (25 Prozent verdienen mehr als 4.100 Zloty brutto)

Am besten, abgesehen von den Managern, verdienen in Polen 2019 Programmierer, E-Commerce- und Telekommunikation-Fachleute. Der Zentralwert liegt in dieser Gruppe bei 6.000 Zloty (ca. 1.408 Euro) brutto und 4.080 Zloty (ca. 957 Euro) netto vor Steuern. Auch hier gibt es Ausreiβer (25 Prozent) mit mehr als 8.500 Zloty brutto sowie einem in dieser Branche üblicherweise sehr groβen Angebot an nichtmateriellen Vergünstigungen.

Pharma, Biotechnologie, Finanzdienstleistungen, Versicherungen: Zentralwert 5.500 Zloty (ca. 1.291 Euro) brutto und 3.740 Zloty (877 Euro) netto vor Steuern.

Schwerindustrie: Zentralwert 5.000 Zloty (ca. 1.174 Euro) brutto und 3.400 Zloty (ca. 798 Euro) netto vor Steuern.

Dienstleistungen für die Bevölkerung, Tourismus, Gastronomie: Zentralwert 3.500 Zloty (ca. 822 Euro) brutto und 2.380 Zloty (ca. 589 Euro) netto vor Steuern.

Auch räumlich gesehen gibt es in Polen ein beachtliches Lohngefälle. Während in Warschau der Median (Lohnzentralwert) 6.100 Zloty (ca. 1432 Euro) brutto beträgt (4.148 Zloty ≈ 974 Euro netto vor Steuern), liegt er in Wrocław bei 5.400 Zloty (ca. 1.268 Euro) brutto und 3.672 Zloty (ca. 862 Euro) netto vor Steuern.

In Kraków, Poznań und Katowice beträgt der Zentralwert 5.000 Zloty (ca. 1.173 Euro) netto und 3.400 Zloty (ca. 798 Euro) netto vor Steuern.

Am Ende der Skala rangieren Olsztyn, Kielce und Lublin mit einem Zentralwert von 3.750 Zloty (ca. 880 Euro) brutto und 2.550 Zloty (ca. 599 Euro) netto vor Steuern.

Will man den Zentralwert der Löhne und Gehälter auf dem Land auβerhalb der (hier nur beispielhaft)  erwähnten polnischen Groβstädte erfahren, dann muss man jeweils etwa zehn Prozent von den angegebenen Werten abziehen.

Gefragt, ob sie ihren Lohn als gerecht empfinden, antworteten Ende 2018 nur 4 Prozent der Polen mit „eindeutig ja“. 32 Prozent „eher ja“. 41 Prozent „eher nein“ und 21 Prozent mit „eindeutig nein“.

Der umstrittene Gini-Koeffizient

Lange Zeit galt in Polen die These, dass sich die Lohnunterschiede innerhalb der berufstätigen Bevölkerung verkleinern. Sie wurde untermauert von den Untersuchungsergebnissen des Statistischen Hauptamtes (GUS). Zwischen 2006 und 2016 soll der sogenannte Gini-Koeffizient, mit dem diese Unterschiede gemessen werden, von 33 auf 30 gefallen sein. Null bedeutet auf der Gini-Skala absolute Gleichheit. In Deutschland beträgt der Gini-Koeffizient 29, in Schweden 27, in Russland 41.

Die GUS-Untersuchungen erwiesen sich jedoch als unzulänglich. Sie wurden von Interviewern durchgeführt, die den Befragten Fragebogen zum Ausfüllen brachten. Diese schrieben hinein, was sie für richtig hielten. Die Reichen und Reichsten waren hierbei in ihren gut abgeschirmten Wohnsiedlungen und Residenzen meistens gar nicht erreichbar.

Die neusten gemeinsamen Untersuchungen des GUS und des polnischen Finanzministeriums stützen sich deswegen vor allem auf Steuerangaben.

Aus ihnen geht hervor, dass von 1989 bis 2018 die zehn Prozent der am besten verdienenden Polen ihren Anteil am Gesamteinkommen der Bevölkerung von 25 Prozent auf 40 Prozent erhöhen konnten. Dementsprechend stehen 90 Prozent der Polen nur 60 Prozent des Gesamteinkommens im Lande zur Verfügung. Das Ergebnis: Der Gini-Koeffizient beträgt in Polen 51.

Das wäre ein trauriger Rekord, der das Land in eine Reihe mit Botswana, Haiti und Namibia – jeweils um die 61 und dem Weltrekordhalter Südafrika mit einem Gini-Koeffizienten von knapp 64 stellen würde. Wäre da nicht die Tatsache, dass die Gini-Untersuchungen in den meisten Ländern nach derselben Methodik durchgeführt werden wie seinerzeit in Polen. So lange das so bleibt, taugen, wie es sich zeigt, alle internationalen Gini-Koeffizient-Vergleiche wenig.

Groβe Teile der polnischen Gesellschaft, die Arbeit haben, können nur sehr mühsam ihre elementaren Bedürfnisse befriedigen. Diese Gruppe von oft jungen Menschen kann sich nur das billigste Essen leisten, Second-Hand-Kleidung (in Polen sehr verbreitet) kaufen, die Monatskarte, um zur Arbeit zu kommen, erwerben. Zum Kauf einer neuen Waschmaschine müssen sie bereits einen Kredit aufnehmen. Sozialhilfe steht ihnen nicht zu, denn die bekommt man in Polen nur, wenn das Pro-Kopf-Einkommen in einer Familie unter 510 Zloty (ca. 120 Euro) liegt.

Gut zwei Millionen Polen sind seit 1990, auf der Suche nach Arbeit, dauerhaft ausgewandert. Durch die Emigration, durch die seit 1990 ständig fallende Geburtenrate und die gute Konjunktur, die seit 2015 anhält, fehlen zunehmend Arbeitskräfte.

Daraus ergibt sich ein steigender Druck auf die polnischen Arbeitgeber, die Löhne zu erhöhen, um Arbeitskräfte halten zu können oder neue zu werben. Die Firmen tun dies sehr widerstrebend, daran gewöhnt, dass die Menschen in Polen händeringend Arbeit suchten, und nicht umgekehrt. Inzwischen sind nicht nur Fachkräfte (vor allem Fernfahrer, Bauarbeiter und Programmierer), sondern teilweise auch Aushilfskräfte knapp geworden.

Mehr dazu in  „Auf gutes Geld programmiert“ 

2019 findet also ein Lohnanstieg statt, der zwar zu den höchsten seit 2008 gahört, sich aber dennoch in Grenzen hält. Der Grund: Viele Ukrainer, die auf Arbeitssuche nach Polen kommen. Ihre Lohnerwartungen sind etwas bescheidener. Geschätzt arbeiten bereits bis zu einer Million Ukrainer in Polen. Tendenz steigend.

Mehr dazu in „Billigpole wird unterboten“

 Hinweis: Der  EZB-Referenzkurs (Durchschnitt im Jahr 2018) betrug 1 Euro = 4,2615 Zloty. Für die Umrechnung der im Artikel aufgeführten Beträge in Euro wurde er (da Devisenkurse ohnehin ständigen Schwankungen unterliegen) auf zwei Nachkommastellen, d.h. 1 Euro = 4,26 Zloty, abgerundet.

Lesenswert auch:

„Wie reich sind die Polen 2018“

„Wie trinken die Polen“

„Weiss, weisser, deutsch“

„Was tragen die Polen“

„Was essen die Polen“ 

© RdP




Roter Prinz auf edlen Abwegen

Am 28. April 2019 starb Karol Modzelewski.

Er kam als Russe in Moskau zur Welt und wurde in Warschau als Pole zu Grabe getragen. Sein Leben handelte davon, wie ein Spross der „roten Bourgeoisie“ und fanatischer Jungkommunist sich in eine Symbolfigur des linken Aufruhrs gegen den real existierenden Kommunismus verwandelte und den Namen „Solidarność“ erfand.

Undank ist der Welten Lohn

Karol Modzelewski hat einen weiten politischen Weg zurückgelegt. Sein radikales Linkssein in Polen hat ihm zumeist Enttäuschungen eingebracht. Er hatte sich einen anderen Wandel erhofft. Für den Kapitalismus hätte er nie im Leben achteinhalb Jahre in kommunistischen Gefängnissen zugebracht, beteuerte Modzelewski immer wieder öffentlich.

Zuteil geworden ist ihm, was Polens romantischer Dichterfürst Adam Mickiewicz geradezu prophetisch in seinen „Lausanner Dichtungen“ (1839-1840) vorhersah:

„Fratzen, die im Namen des Volkes brüllen,

                                                                            werden dem Volke langweilig,

und die Gesichter, die das Volk belustigen,

                                                                                  werden vergessen eiligst.

Arme, die fürs Volk ringen,

                                                                                wird das Volk abschlagen,

und den vom Volk geliebten Namen

                                                                           wird sich das Volk versagen.

Alles wird vergehen. Nach dem Getöse, dem Rausch, der Pein,

werden andere Menschen das Erbe antreten:

                                                                      schweigsam, beschränkt, klein.“

(Übersetzung RdP)

Sowjetische Kindheit

Karol Modzelewski erblickte als Kirill Budnewitsch in Moskau das Licht der Welt, und zwar im schrecklichen Jahr 1937, „in dem alles möglich war, sogar dass jemand nicht verhaftet wurde“, so der Schriftsteller Ilja Ehrenburg. Auf Geheiβ Stalins durchzog damals eine Woge von Massenverhaftungen und Massenmorden die Sowjetunion. Das Land, bereits einiges an Grausamkeiten gewöhnt, wurde nun in einem noch nicht dagewesenen Ausmaβ „von Schädlingen gesäubert“.

Kirill Budnewitsch mit Mutter Natalia 1939.

Kirill Budnewitsch war knapp drei Wochen alt, als der NKWD seinen russischen Vater Alexander, einen angehenden Ingenieur und Fähnrich der Roten Armee, in der Kommunalwohnung, in der die Familie untergebrach war, abholte. Vor der Revolution hatte die Wohnung einem reichen Moskauer Kaufmann gehört.

Alexander Budnewitsch.

Jetzt hausten in den fünf Zimmern fünf Familien. Den gröβten Raum, geteilt durch Vorhänge und Wandschirme, belegten die Budnewitschs: der kleine Kirill, seine Eltern, Groβvater und Groβmutter, Tante Lola, Onkel Nikolai und Katia, das Kindermädchen. Gut dreiβig Personen lebten in der Wohnung, benutzten eine Küche, das Bad, die Toilette. Alles war öffentlich in dieser Hölle auf Erden, die das Zuhause sein sollte. Onkel Nikolai, das erfuhr Modzelewski erst Jahre später, hatte seinen Vater denunziert, um mehr Platz im gemeinsamen Zimmer zu schaffen.

Alexander Budnewitsch hatte Glück, wurde „nur“ zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. Zuerst musste er Bäume fällen. Genug zu essen gab es nur für die, welche die gigantische tägliche Arbeitsnorm bewältigten. „Schmarotzer“ und „Schwächlinge“ gingen an Unterernährung elend zugrunde. Primitivstes Werkzeug, zerlumpte Kleidung, Arbeitsunfälle zuhauf, Mitgefangenen-Terror, Erschieβungen für Vergehen, wie unerlaubtes Kartenspiel. Budnewitsch entkam dem sicheren Tod. Als angehender Ingenieur durfte er sich in einem Konstruktionsbüro des Straflagers nützlich machen.

Seine Frau Natalia, geb. Wilder (1912-1992), eine russische Jüdin, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin, fuhr zu ihm, wenn es eine Besuchserlaubnis gab, nach Baschkirien, gut fünfzehnhundert Kilometer von Moskau entfernt. Dass sie seit 1939 mit dem polnischen Kommunisten Zygmunt Modzelewski liiert war, sagte sie ihrem Ehemann nicht.

Modzelewski gehörte zu den etwa einhundert von knapp viertausend polnischen Kommunisten in der Sowjetunion, die Stalins Säuberungen überlebt hatten. Er war glimpflich davon gekommen, mit „nur“ zwei Jahren Untersuchungshaft, und wurde anschließend zu den treusten der treuen polnischen Stalinisten gerechnet. Leute wie ihn nahmen die Russen 1944/1945 in ihrem Tross mit nach Polen, damit sie dort unter deren Aufsicht ihrer polnischen Kolonie den Kommunismus aufzwingen konnten.

Zuvor jedoch kam es 1941 zu Hitlers Überfall auf die Sowjetunion. Vier Jahre verbrachte der kleine Kirill in einem Heim für Kinder ausländischer Kommunisten, etwa eintausend Kilometer östlich von Moskau. Die Erziehung war streng sowjetisch, die Mutter sah er sehr selten.

Aus Kirill wird Karol

Stiefvater Zygmunt Modzelewski als Politoffizier 1943.

Modzelewski war inzwischen Kirills Adoptivvater geworden. Die Ehe seiner Lebensgefährtin Natalia hatten die Behörden, ohne Wissen des inhaftierten („unbekannt verzogenen“) Ehemannes Alexander Budnewitsch, „annulliert“, die neue Ehe mit Modzelewski „registriert“. Eheschlieβungen und Scheidungen waren damals in der Sowjetunion eine schlichte Formalität.

Modzelewski war polnischer Funktionär in Moskau. Im Mai1943 beorderten ihn die Sowjets nach Seltzy, einem Dorf in der Nähe der Groβstadt Rjasan, knapp zweihundert Kilometer südöstlich von Moskau, an der Oka gelegen. Dort entstand die 1. Polnische Infanteriedivision, das Fundament einer künftigen polnischen kommunistischen Armee, die an der Seite der Sowjets in Polen einmarschieren sollte. Modzelewski wurde Hauptmann und Politoffizier.

Formierungslager der 1. Polnischen Infanteriedivivision in Seltzy 1943.

Als die Einheit im Herbst 1943 an die Front zog musste er nicht mit und erhielt im Januar 1945 die Ernennung zum Botschafter. In Moskau vertrat Modzelewski nun die von den Sowjets ins Leben gerufene provisorische polnische Marionettenregierung. Die Rote Armee stand zu der Zeit bereits kurz vor Warschau.

Kirill kam zurück nach Moskau. Die Familie Modzelewski wohnte im Botschaftsgebäude bis zum Sommer 1945. Der Krieg war seit Anfang Mai zu Ende. Zygmunt Modzelewski wurde nun nach Warschau geschickt, um den Posten des Auβenministers zu übernehmen. Aus dem russischen Jungen Kirill Budnewitsch wurde der Pole Karol Modzelewski.

Der Vater, die Lager und der Wodka

Seinen leiblichen Vater sollte er nur zwei Mal zu Gesicht bekommen. „Mutter nahm mich 1947 mit nach Moskau. Ich war knapp zehn. Wir sind in die Wohnung der Cousins meines Vaters gegangen, für mich zu völlig fremden Leuten. Sie zeigten mir einen Mann in verschossenem Armeemantel und sagten: »Das ist dein Vati. Jetzt musst Du entscheiden, ob du mit Vati in Russland oder mit Mutti in Warschau leben willst.« Ich bekam schreckliche Angst. An mehr kann ich mich nicht erinnern“, so Karol Modzelewski im Nachhinein.

Karol Modzelewski mit seiner Mutter in Moskau 1947.

Ein Wiedersehen gab es im Januar 1956, erneut in Moskau. „Er kam aus Baschkirien, wo er in einem petrochemischen Betrieb arbeitete. Er hat über seine Lagerzeit erzählt. Ich konnte nicht „Vater“ zu ihm sagen, obwohl er es sich sehr wünschte. Budnewitsch war ein fremder Mann für mich. Nur seine Lagerberichte haben mich interessiert. Er sagte, er habe eine neue Ehefrau in Baschkirien, eine Russin, und einen Sohn, also habe ich einen Bruder, Wladimir. Kurz darauf ist er gestorben. Mit 51 Jahren. Die Lager haben ihn umgebracht. Die Lager und der Wodka. Das war so in der Sowjetunion.“

Der gerechte Heiβsporn

Adoptivvater Zygmunt starb 1954. Bis 1951 war er Auβenminister, danach Rektor der Parteihochschule. In dem damals fürchterlich zerstörten Warschau, wo Menschen überwiegend in Kellern und Ruinen hausten, bewohnte die dreiköpfige Familie Modzelewski, abgeschirmt und bewacht, eine Neunzimmervilla in guter Lage.

Stiefvater und Auβenminister Zygmunt Modzelewski (l.) beim ersten Besuch Walter Ulbrichts in Warschau im Oktober 1948.

Dem „roten Prinzen“ Karol fehlte es an nichts und genau das war ihm peinlich. Der glühende Jungkommunist glaubte an die Idee, doch die stand in einem krassen Widerspruch zu seiner persönlichen Situation.

Jahrzehnte später beschrieb er ein bezeichnendes Ereignis aus seiner Jugendzeit. Man darf ihm glauben.

Es muss etwa 1951 gewesen sein, zur Zeit des tiefsten Stalinismus, als sich zwischen ihm und seinen Schulfreunden Tadeusz und Andrzej eine Grundsatzdiskussion ergab. Andrzej, Sohn einer damals namhaften Schriftstellerin, war in der Klasse Chef des kommunistischen Jugendverbandes ZMP, Tadeusz ein Arbeitersohn aus einfachen Verhältnissen.

Tadeusz schrieb ein Kampfgedicht gegen die sozialen Ungleichheiten im damaligen Polen. Sie saβen bei Karol zuhause. Andrzej, der ZMP-Klassenvorsitzende, machte Tadeusz klar, dass alle Produktionsmittel staatlich seien, dass es zwar noch soziale Unterschiede gäbe, aber keine Klassenunterschiede mehr. Schlieβlich habe die Partei alle Fabrik- und Groβgrundbesitzer verjagt.

Tadeusz darauf: „Aber Karol hat doch eine Villa“. Andrzej schwieg eine Weile, bis ihm die rettende Idee kam: „Schau mal, an diesem Schreibtisch ist ein kleines Metallschild befestigt: »Gehört zum Inventar des Auβenministeriums. Nummer sowieso«. Siehst du, nicht einmal dieser Schreibtisch gehört Karol“.

Stiefvater und Auβenminister Zygmunt Modzelewski spricht am 23. September 1948 von der UN-Generalversammlung im Pariser Palais de Chaillot über den Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die die Kommunisten nie eingehalten haben.

Tadeusz gab sich geschlagen, der „rote Prinz“ hingegen hegte weiterhin Bedenken. Im Januar 1953 darauf angesprochen, dass die gerade durchgeführte Aufhebung der Lebensmittelmarken gepaart war mit einer kräftigen Preiserhöhung, aber die Löhne die gleichen geblieben seien, sagte der Stiefvater: „Es geht darum, dass die Leute mehr arbeiten und weniger essen“.

„Er sprach wie der Klassenfeind“, so Karol Jahre später. „Ein ZK-Mitglied darf so nicht reden! Man hörte allerorten und ständig, der Klassenkampf verschärfe sich, Feinde nisten sich überall ein. Ist mein Stiefvater etwa auch ein Feind? Ich habe mir eingeredet, ich hätte mich verhört.“

Hoffnung kommt auf

Das Ende des Stalinismus, den „Polnischen Oktober“ 1956, erlebte Modzelewski als Student der Geschichte an der Warschauer Universität. Dramatisches ereignete sich in jenem denkwürdigen Oktober in Polen. Während das ZK tagte und den seit 1948 inhaftierten, dann ins politische Abseits gedrängten Nationalkommunisten Władysław Gomułka (1905-1982) zum Parteichef wählte, landete in Warschau unerwartet eine sowjetische Delegation mit Parteichef Nikita Chruschtschow an der Spitze.

Hoffnungsträger Władysław Gomułka bei der Kundgebung vor dem Warschauer Kulturpalast am 24. Oktober 1956. Polen lag ihm zu Füβen, vierzehn Jahre später jagten ihn Arbeiterproteste davon.

Gerüchte, sowjetische Truppen hätten ihre Stützpunkte in Westpolen verlassen und bewegten sich auf Warschau zu, erwiesen sich als wahr. Während in Budapest bereits der Aufstand gegen die Sowjets in vollem Gange war, schickten sich Teile der Armee und die Warschauer Arbeiterschaft an, die Stadt zu verteidigen. Im letzten Augenblick gelang es Gomułka Chruschtschow umzustimmen. Es sollte kein Blutvergieβen geben. Die russischen Panzer kehrten um, Chruschtschow flog nach Hause. Hunderttausende jubelten Gomułka bei einer Kundgebung vor dem Warschauer Kulturpalast zu.

Lechosław Goździk spricht zu den Arbeitern.

Modzelewski fuhr in jenen Tagen immer wieder nach Żerań (fonetisch Scheran). In diesem Warschauer Auβenbezirk, wo sich eine groβe Pkw-Fabrik befand, zog der charismatische, junge Arbeiterführer Lechosław Goździk (fonetisch Gosdsick, 1931-2008) Arbeiter und Intellektuelle gleichermaβen in seinen Bann.

Die wichtigste Losung und Hoffnung auf eine Demokratisierung des Systems in jener Zeit lautete „Arbeiterselbstverwaltung“. Wie in dem bis vor Kurzem noch verfemten, abtrünnigen Jugoslawien Titos sollten auch in Polen die Belegschaften den Direktor wählen, über Produktion, Löhne und Investitionen bestimmen.

Wahlen zum Arbeiterrat in einer Ziegeleifabrik in Zielonka bei Warschau im November 1956. Schon bald wird die Parteibürokratie die Arbeiterselbstverwaltung unterwandern und entmachten.

Es gab im „polnischen Oktober“ 1956 auch eine zweite politische Richtung: die Rückkehr zur traditionellen Demokratie, zur polnischen Tradition, zu mehr Unabhängigkeit von Moskau. Das wollten die Menschen auf der Straβe, aber das war nicht Modzelewskis Richtung. Die polnische Tradition lehnte er als klerikal und reaktionär ab. Er und seine Mitstreiter von der Uni, allen voran sein Freund Jacek Kuroń (1934-2004), fühlten sich als marxistische Revolutionäre.

Der antikommunistische Kommunist

Ihre Anschauungen bezogen sie aus Leo Trotzkis Gedanken von der „verratenen Revolution“. Aus Rosa Luxemburgs kritischen Schriften über die bolschewistische Revolution. Vom jugoslawischen Reformkommunisten Milovan Djilas (1911-1995), dessen tiefgehende Analyse des bürokratischen Kommunismus sowjetischer Prägung „Die neue Klasse“ 1957 wie eine Bombe einschlug. Auch in Polen, wohin die ersten Exemplare zuerst auf Englisch, Französisch und Deutsch, bald auch auf Polnisch auf illegalen Wegen gelangt waren.

Die erste polnische Ausgabe von Milovan Djilas „Die neue Klasse“ von 1958. In Paris herausgegeben, nach Polen geschmuggelt.

Diese Ideen erlaubten den Studenten Modzelewski, Kuroń, dem Ökonomen Włodzimierz Brus (1921-2007), dem Philosophen Bronisław Baczko (1924-2016) und anderen Regimekritikern von der Warschauer Universität gegen das System zu sein, ohne die marxistische Analyse und die politische Sprache, die marxistischen Symbole und Schlagworte preisgeben zu müssen. Sie hingen an ihnen und sie bekämpften das System mit seinen eigenen Waffen, stellten die „wahre Diktatur des Proletariats“, „die Arbeiterdemokratie“ der „Diktatur der Parteibürokratie“ entgegen. Sie wollten den Kommunismus nicht abschaffen, nur erneuern, „revidieren“.

Beide oppositionellen Richtungen: die „nationale“ und die „revisionistische“ liefen auf dasselbe hinaus: die Beseitigung des Allerheiligsten im Kommunismus: der „führenden Rolle der Partei“. Gomułka, ganz der Machtpolitiker, gestützt auf den Partei- und Polizeiapparat, setzte all diesen Träumereien und Hoffnungen bald ein Ende.

Noch beseelt von diesen Hoffnungen, trat Modzelewski im März 1957 der kommunistischen Partei bei. Als überzeugter Revolutionär dachte er nicht daran, den Glauben an die Erneuerung aufzugeben. Auch wenn sich ringsherum Resignation, Zynismus und die „kleine Stabilisierung“, wie sie in Polen genannt wurde, breitmachten. Kein Massenterror mehr, mehr Freiheit in der Kunst. Eine leichte Öffnung nach Westen: Film, Theater, Literatur, Jazz. Ein wenig mehr Konsum. Viele richteten sich in dem neuen, etwas gröβeren Käfig ein.

Der begabte Student Karol Modzelewski wurde 1962 Doktorand am Historischen Institut der Warschauer Universität. Sein Doktorvater, der angesehene Professor Aleksander Gieysztor (1916-1999), verhalf ihm zu einem damals sehr raren Privileg: einem Forschungsaufenthalt in Italien.

Karol Modzelewski 1962.

Modzelewski knüpfte dort Kontakte zu der groβen, vor Aktivitäten nur so schäumenden, trotzkistischen Bewegung und ihrem Guru Livio Maitan (1923-2004). Nach der Rückkehr hinter den etwas durchlässiger gewordenen eisernen Vorhang gab er an der Weichsel sein Wissen bereitwillig weiter, vor allem bei Vorträgen und Diskussionen im Politischen Klub der Warschauer Universität und im Klub des Schiefen Rades, so genannt nach des Krummen-Rades-Gasse in der Warschauer Altstadt, wo er entstanden war. Es handelte sich um letzte Foren der freien politischen Diskussion nach dem Oktober 1956. Beide wurden 1963 verboten.

Livio Maitan in den sechziger Jahren.

Adam Michnik (geb. 1946), damals Gymnasialschüler und schon sehr aktiv im Warschauer Revisionisten-Milieu, schrieb im Nachhinein: „Modzelewskis Auftritte waren hervorragend, mitreiβend. Er sprach klar, stets darum bemüht, verstanden zu werden. Er war glaubwürdig und authentisch. Seine Popularität wuchs und wuchs. Mit Nachdruck verurteilte er die Allmacht des Parteiapparates, erklärte das Konzept der Arbeiterräte, geiβelte soziale Ungleichheiten und Einschränkungen der Meinungsfreiheit“.

Brief an die Partei

Nach dem Verbot des Politischen Klubs an der Warschauer Universität protestierten Modzelewski und Kuroń in einer „Denkschrift“ dagegen. Sie enthielt zugleich eine Beschreibung der Zustände in Polen, aus der hervorging, dass eine Parteibürokratie das Land regiert und die Arbeiterklasse ausbeutet. Beide schloss man daraufhin im November 1964 aus der kommunistischen Partei aus. Modzelewski flog zudem von der Universität.

Karol Modzelewski (M.) und Jacek Kuroń (vorne r. im Bild) 1964.

Daraufhin reichten Modzelewski und Kuroń im Februar 1965 im Parteibüro und im Büro des kommunistischen Jugendverbandes der Universität ihren offenen „Brief an die Partei“ ein. Er solle, so ihre Forderung, allen Partei- und Jugendverbandsmitgliedern unterbreitet werden, damit sie sich selbst eine Meinung von den Autoren und ihren Auffassungen bilden können.

Warschauer Universität in den sechziger Jahren.

Der gut einhundert Seiten umfassende „Brief“, im schwer zugänglichen marxistischen Jargon verfasst, war ihr Protest gegen den Parteiausschluss. Zugleich stellte er eine niederschmetternde Diagnose der Parteiherrschaft und ihrer Folgen dar und beinhaltete ein ganzheitliches Konzept der Errichtung einer Arbeiterdemokratie in Polen.

Arbeiterräte wählen einen Zentralen Arbeiterrat anstelle eines Parlaments. Arbeiter genieβen Meinungsfreiheit, dürfen streiken und linke Parteien gründen, die miteinander konkurrieren. „Konservative, reaktionäre, klerikale Kräfte“ haben kein Recht, sich politisch zu betätigen. Dafür sorgt eine Arbeitermiliz. Die Armee wird durch eine Milizarmee ersetzt, bestehend aus bewaffneten Arbeitern. So nahm auf dem Papier nach und nach die Utopie Gestalt an.

„Der zunehmend dumpfe Gomułka-Sozialismus war schlimm, aber er war Gold wert im Vergleich zu dem, was uns widerfahren wäre, wären diese Leute an die Macht gekommen: etwas Vergleichbares wie die chinesische Kulturrevolution mit ihren wütenden Roten Garden“, so die Bewertung des konservativen Publizisten, Wissenschaftlers und Politikers Prof. Jacek Bartyzel (geb. 1956) in einem 2018 verfassten Essay.

Bereits vorher, 1995, zeigte sich Modzelewski vom Trotzkismus längst geheilt. „Ich mag diesen Text überhaupt nicht mehr. Er war abgehoben, weltfremd und ist für mich heute ganz und gar unannehmbar. Ich kann ihn nicht lesen. Das ist sehr traurig, aber es ist nun mal ein Teil meiner Biografie.“

Im Frühjahr 1965 jedoch schlug der „Brief an die Partei“ wie ein Bombe ein, auch wenn er nur in siebzehn Kopien existierte: abgetippt mit Kohlepapierdurchschlägen und einige von Hand abgeschrieben. Die meisten von ihnen konnte die Staatssicherheit abfangen. Kopiergeräte, Faxe, Internet, Handys, Satelliten TV, Kabelfernsehen, PC gab es damals noch nicht. Erst im Januar 1966 gelang es, den Text auf einem Mikrofilm in den Westen zu schmuggeln.

Karol Modzelewski. Polizeifotos nach der ersten Verhaftung im März 1965.

Die Behörden entfesselten eine heftige Propagandakampagne. Aus dem Kontext herausgerissene Fragmente wurden zitiert und feindselig kommentiert. Doch für die Menschen auf der Straβe waren Kuroń und Modzelewski unerschrockene junge Helden, die dem System die Stirn geboten hatten. Was sie im Einzelnen verbreiteten, war egal. Hauptsache, sie hatten es denen da oben gezeigt.

Die Partei nahm die Gelegenheit wahr, um ein Exempel zu statuieren. Alle „revisionistischen Aufwiegler“ sollten in die Schranken gewiesen werden. Beide Autoren wurden Mitte März 1965 verhaftet. Mitte Juli 1965 hat ein Gericht in Warschau, unter Ausschluss er Öffentlichkeit, Kuroń und Modzelewski wegen „Anfertigung und Verbreitung von Abhandlungen, die für den polnischen Staat schädlich“ seien, zu drei beziehungsweise zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.

Sie saβen ihre Urteile zusammen mit Kriminellen ab, wurden von Gefängnis zu Gefängnis verlegt, arbeiteten in Anstaltswäschereien und Schlossereien, lernten manchmal sehr schmerzhaft die Kehrseite der Gesellschaft kennen. Gebrochen hat sie das nicht. Ein Jahr der Strafen hat man ihnen erlassen. Zu heftig waren die internationalen Proteste. Kuroń kam im Frühjahr, Modzelewski im Herbst 1967 frei.

Ein zweites Mal ins Gefängnis

Die politische Landschaft, die sie nun vorfanden war gekennzeichnet von heftigen politischen Debatten an der Warschauer Universität. Studenten und Dozenten, auch viele Professoren, gaben nicht klein bei. Die Partei ebenso wenig.

Die Philosophen Leszek Kołakowski (1927-2009) und Krzysztof Pomian (geb. 1934) wurden aus der Partei entfernt, weil sie eine Gedenkveranstaltung zum 10. Jahrestag des polnischen Oktober 1956 an der Uni organisierten. Das rief Proteste hervor. Eine heftige Diskussion entfachte das 1965 erschienene Buch „Marxismus und das menschliche Individuum“ des Philosophen Adam Schaff (1913-2006).

Philosoph Adam Schaff.

Schaff ging es um den Menschen und dessen Streben nach Glück. Gewährt die sozialistische Gesellschaft dem Einzelnen wirklich bessere Chancen, ein weniger eingeschränktes, ein erfüllteres und würdigeres Leben zu führen? Hat der Marxismus, den man mit Theorien über Massen und Klassen, Kollektiv und Gewalt verbindet, das Glück des Einzelnen nicht vernachlässigt oder vergessen? Wie steht es mit der Freiheit des Einzelnen und wie mit der Freiheit von Religion, Wissenschaft und Kunst in einer Gesellschaft, die sich im Übergang vom Kapitalismus zu dem, was ihr als Sozialismus vorschwebt, diktatorischer Maßnahmen bedient? Dies waren in jener Zeit sehr heikle Fragen.

Studentenunruhen in Warschau im März 1968.

Anfang März 1968, nach weiteren Maβregelungen, Strafmaβnahmen und Repressalien der Behörden, entlud sich der schwelende Konflikt in tagelangen Unruhen und Studentendemonstrationen, vor allem in Warschau, aber auch in Kraków und Gdańsk. Eingefordert wurden vor allem die Meinungsfreiheit und eine freie Entfaltung der Kultur.

Die sogenannten „März-Ereignisse“ erfassten die Partei, groβe Teile des Kulturlebens, den Hochschulbereich. Der Protest wurde brutal niedergeknüppelt. Eine spürbare Verschärfung der Hochschul- und Kulturpolitik, der Zensur waren die Folgen. Das Land versank in Apathie. Eine, wie auch immer geartete, Erweiterung der Freiheit schien unmöglich.

Modzelewski, eine der Leitfiguren des Protestes, bekam dreieinhalb Jahre Gefängnis, die er bis auf den letzten Tag absitzen musste. Als er im Herbst 1971 freikam, war Polen schon ein ganz anderes Land.

Weg von der Politik, hin zum Mittelalter

Viele seiner Freunde waren gezwungen, ins Ausland zu gehen. Der Prager Frühling wurde im Sommer 1968 durch den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen gewaltsam beendet. Der Arbeiteraufstand vom Dezember 1970 fegte Parteichef Władysław Gomułka von der politischen Bühne. Sein Nachfolger, Edward Gierek, hatte es verstanden, neue Hoffnungen auf mehr Mitbestimmung und Wohlstand zu wecken.

Die intellektuelle Opposition war zerschlagen, leckte ihre Wunden. Die aus den Gefängnissen entlassenen Anführer der März-Rebellion von 1968 gingen arbeiten, nahmen das Studium wieder auf, agierten sehr vorsichtig.

„Nach zwei Gefängnisaufenthalten hatte ich einen solchen Hunger nach wissenschaftlicher Arbeit, dass mich Treffen im alten Kreis der Kollegen, die sich notgedrungen in Begegnungen nach dem Motto »wisst Ihr noch, als wir…« verwandelten, überhaupt nicht interessierten“, schrieb Modzelewski in seinen Erinnerungen.

Adam Michnik sah das ähnlich: „Karol ist damals zu seinen »März-Freunden« auf Distanz gegangen. Ich habe seine Einschätzungen nicht geteilt, dass Giereks Politik Aussicht auf Erfolg habe und dass die März-Unruhen von 1968 für die polnische Kultur und Wissenschaft zu hohe Schäden nach sich gezogen hätten. Ich war überzeugt, vielleicht zu Unrecht, dass Karol schlicht und einfach genug hatte von einem Leben, in dem man ständig mit einer Festnahme, Hausdurchsuchung und einem neuen Prozess rechnen musste“.

Modzelewski verschwand nach Wrocław, ans Institut für die Geschichte der Materiellen Kultur der Polnischen Akademie der Wissenschaften. 1974 erlangte er den Doktortitel, habilitierte vier Jahre später und begann sich einen Namen als Kenner des frühen Mittelalters zu machen. In seinem wichtigsten Werk „Das barbarische Europa. Zur sozialen Ordnung von Germanen und Slawen im frühen Mittelalter“ (deutsche Ausgabe 2011) konnte er nachweisen, dass der Beitrag der „barbarischen Völker“, der Germanen und der Slawen, zu dem, was in Europa in der Zeit der Völkerwanderung und des frühen Mittelalters entstand, deutlich gröβer war, als es die Wissenschaft bis dahin angenommen hatte.

Dieser Beitrag, so Modzelewskis These, wurde zugunsten des griechisch-römischen und des christlichen Erbes unterschätzt oder sogar übersehen. Der Professorentitel wurde ihm 1990 verliehen.

Stratege der Solidarność

Während Modzelewski in Wocław das Frühmittelalter erforschte, gärte und rumorte es im Lande zunehmend. Giereks Wirtschaftspolitik endete in der Zahlungsunfähigkeit Polens. Intellektuelle protestierten immer lauter gegen Bevormundung und Zensur. In Radom brach im Juli 1976 eine Arbeiterrevolte gegen die drastische Lebensmittelpreiserhöhung aus. Im Sommer 1980 erfasste schlieβlich eine gewaltige Streikwelle das Land. Gierek wurde gestürzt. Solidarność entstand und Modzelewski war wieder dabei. Gegen die eigene Natur kam er nicht an.

Karol Modzelewski als Pressesprecher der Solidarność Ende 1980.

In dem Abkommen, das Arbeiterführer Lech Wałęsa am 31. August 1980 in der Werft von Gdańsk mit Vertretern der Regierung unterschrieb, war die Gründung freier Gewerkschaften verbrieft. Modzelewski war klar, dass die Gewerkschaft, wenn sie den Kommunisten Paroli bieten will, sie stark sein muss.

Darum musste es eine allpolnische Gewerkschaft sein, mit einer Zentrale und einer Leitung, und nicht eine lose Föderation unzähliger Regionalgewerkschaften. Nur so könne man vermeiden, dass die neue Gewerkschaftsbewegung von innen manipuliert und entzweit würde. Nur ein solidarisches Zueinanderhalten verleihe der Gewerkschaft die nötige Kraft. Darum sollte sie Solidarność heiβen, so Modzelewskis Forderungen.

Dafür kämpfte er im September 1980 in Gdańsk wie ein Löwe, gegen den Widerstand vieler Aktivisten des gerade siegreich beendeten Streiks und ihrer Berater, denen angesichts der alles lähmenden kommunistischen Machtkonzentration jeder Zentralismus zuwider war. Er setzte sich durch. Der Beschluss, den er entworfen hatte, wurde am 17. September 1980 angenommen.
Modzelewski wurde Mitglied des Leitungsgremiums, des sogenannten Landesausschusses der Solidarność und dessen Pressesprecher. Tatsächlich zählte er zu den wichtigsten Vordenkern und Strategen der Bewegung.

In der riesigen Volksbewegung, in die sich die Solidarność mit ihren etwa zehn Millionen Mitgliedern verwandelte, tobten heftige Richtungskämpfe. Was soll Solidarność fordern und wie weit soll sie gehen? Die Diskussion darüber gestaltete sich schwierig.

Da war, zum einen, die ausgeprägte Basisdemokratie. Da waren, zum anderen, die Intrigen der regierenden Kommunisten, die durch ständiges Sabotieren getroffener Vereinbarungen Streiks und Streikdrohungen heraufbeschworen, um die Gewerkschaft und die Bevölkerung zu zermürben. Die Versorgungskrise und das stundenlange Anstehen vor den leeren Läden taten das Übrige. Zudem drohten unentwegt die Sowjets. Gut getarnte Spitzel und Provokateure der Staatssicherheit schürten Konflikte und extreme Tendenzen in der Gewerkschaft. Doch auch ohne sie gab es genügend Macht- und Geltungssucht, die sich in den Gewerkschafts- und intellektuellen Beratergremien breitmachte. Zudem wollten „Radikale“ auf die Barrikaden gehen, „Realisten“ versuchten immer wieder aufs Neue die kochenden Gemüter im Lande zu beruhigen.

Im streng zentralisierten und schwerfälligen kommunistischen Staatsgebilde war die freie Gewerkschaft Solidarność ein Fremdkörper. Sie konnte und wollte sich nicht in diesen Mechanismus einfügen, denn das wäre ihr Ende gewesen. Wo war die Lösung?

Die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie, die Beseitigung des Kommunismus kamen damals, 1980/ 1981, in Zeiten Breschnews und Honeckers, nicht in Frage. Die Parteiherrschaft musste bestehen bleiben. Das Machtfundament für eine dauerhafte, institutionelle Anwesenheit der Solidarność sah Modzelewski unter solchen Umständen in der Arbeiter- und in der kommunalen Selbstverwaltung. Auf Staatsebene regiert die Partei, unten, in den Betrieben und Kommunen, entfaltet sich die Volksdemokratie.

Es war auf jeden Fall ein originelles und aufbauendes Konzept. Es setzte jedoch die Kompromissbereitschaft der Kommunisten voraus. Ob sie zu jener Zeit dazu gewillt und fähig waren, ist sehr zu bezweifeln. Deren Ideen für den „Dialog“ mit Solidarność lieβen sich damals auf drei Schlagworte zurückführen: abwarten, zermürben, zerschlagen.

Anfang April 1981 legte Modzelewski seine Pressesprecher-Funktion im Landesausschuss der Solidarność nieder. Kurz vorher hatte ein informeller Zirkel aus „eingeweihten“ Funktionären und Beratern um Lech Wałęsa entschieden, dass ein geplanter Generalstreik abgesagt würde. Modzelewski hielt die Entscheidung für richtig. Die Art jedoch, wie sie getroffen wurde, unter Umgehung des in den Statuten vorgesehenen Weges, war für ihn unannehmbar.

„Lech Wałęsa ist das Symbol, die Galionsfigur der Bewegung, der König. So ist es nun mal, so hat es sich ergeben. Den König umgibt ein Hofstaat, und es gibt noch ein Parlament, den Landesausschuss. Da der König zum Absolutismus neigt, regiert der Hofstaat und nicht das Parlament. Das ist eine Absage an demokratische Regeln“, begründete Modzelewski seinen Rücktritt.

Karol Modzelewski im Gefängnis 1983.

Er blieb einfaches Mitglied des Landesausschusses, der am 12. Dezember 1981 im Grand-Hotel in Sopot tagte. Die Bereitschaftspolizei ZOMO umstellte in der Nacht zum 13. Dezember 1981 das Gebäude. General Jaruzelski rief das von langer Hand insgeheim vorbereitete Kriegsrecht aus. Die sechzehn Monate des Engagements vom September 1980 bis Dezember 1981, dieses Mal für die Solidarność, kosteten Modzelewski weitere zweieinhalb Jahre Gefängnis.

Zuerst wurden die Solidarność-Führung und ihr Beratergremium interniert. Im November 1982 erlieβ die kommunistische Staatsanwaltschaft Haftbefehl gegen Modzelewski, Kuroń, Michnik und zwölf weitere hochrangige Solidarność-Leute. Ihnen sollte ein Prozess wegen Hochverrats gemacht werden. Aufgrund heftiger internationaler Proteste lieβen Jaruzelskis Leute diese Idee kleinlaut fallen. Im Juli 1984 kamen die Eingesperrten frei.

Abkehr vom Kommunismus, aber wie?

Der Kommunismus in Polen war zu dem Zeitpunkt schon sehr mürbe, seine Jahre waren gezählt. Als Gorbatschow preisgab, die Sowjets können und werden ihren Vasallen in Osteuropa nicht beistehen, kam das Ende. In Polen vollzog sich die Abkehr vom Kommunismus friedlich. Am Runden Tisch, der von Februar bis April 1989 tagte. An den Wahlurnen am 4. Juni 1989, als sich die halbfreien Wahlen in ein antikommunistisches Plebiszit verwandelten. Im Parlament, wo Anfang September 1989 der erste nichtkommunistische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki vereidigt wurde.

Das Land war in einer derart desolaten wirtschaftlichen Lage, dass die neue Regierung den einzigen Ausweg darin sah, die Notbremse zu ziehen. Schmerzhaft, aber kurz sollte der Eingriff sein, den man den Balcerowicz-Plan nannte.

Die Erfolge stellten sich bald ein: die gigantische Inflation wurde gebändigt, der Zloty wurde zu einer konvertierbaren Währung, die Läden quollen über vor Waren, das BIP stieg langsam wieder an. Gleichzeitig explodierte jedoch die Arbeitslosigkeit. Armut, Kriminalität und Korruption griffen heftig um sich. Groβe Teile der Industrie lagen still, ausgeliefert einer diebischen Privatisierung.

Heute sind das längst vergangene Zeiten. Der Balcerowicz-Plan hat am Ende, zum groβen Teil, seine Richtigkeit unter Beweis gestellt. Polen entging so z.B. dem Schicksal der Ukraine, wo die Reformen so lange hinausgezögert und verwässert wurden, bis das Land dauerhaft in einer schweren Krise versank.

Modzelewski sah am Anfang nur die Kehrseite des Balcerowicz-Plans und war verbittert. „Ich entledige mich meiner Solidarność-Biografie nicht. Wenn ich jedoch das Finale betrachte, das bekanntlich ein Werk krönt, glaube ich Grund zu haben, mich zu schämen“, schrieb er 1993 in seinem viel beachteten Essay „Wohin vom Kommunismus aus?” (deutsche Ausgabe 1996).

Karol Modzelewski und Jacek Kuroń nach der Auszeichnung mit dem Orden des Weißen Adlers durch den postkommunistischen Staatspräsidenten Aleksander Kwaśniewski (r.) im März 1998.

Gut zehn Jahre später, 2008, brachte er jedoch den Mut auf, sich öffentlich zu korrigieren: „Theoretisch hätte man die Umstellung schonender durchführen können, aber 1989 stürzte das Gebäude der kommunistischen Diktatur ganz und gar ein. Damit das nicht auch dauerhaft mit der Wirtschaft passierte, war schnelles Handeln angesagt. Die sozialen Kosten waren enorm, aber wir haben das Jammertal schnell durchquert, sind nicht auf Dauer dort steckengeblieben.“

Eine unappetitliche Verbrüderung

So sprach ein prominenter, inzwischen gut situierter Auβenseiter, der sich wieder, vor allem, der Erforschung des Mittelalters und der Lehre an der Warschauer Universität widmete, sich mit wachsendem Alter gern auszeichnen und würdigen lieβ und der immer wieder öffentlich Stellung zur aktuellen Politik bezog.

Die polnische Tradition blieb für ihn bis zum Ende klerikal, reaktionär, bedrohlich. Die Gegner von einst, die Kommunisten, scheinen ihm letztendlich allemal vertrauter und geistig näher gewesen zu sein.

Prof. Karol Modzelewski nimmt 2006 eine hohe Geldprämie und ein Diplom in staatlicher Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen vom damaligen Ministerpräsidenten Jarosław Kaczyński entgegen.

Jedenfalls war jeder Versuch, Stasi-Zuträger und ihre Untaten offenzulegen, in seinen Augen ein Attentat auf den politischen Anstand, die Menschenrechte und die Toleranz. Die Herabsetzung der hohen Renten der Stasibeamten (gut 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus) auf das polnische Normalmaβ, auf dem sich seit eh und je die Renten ihrer Opfer befanden, empfand er als schreiendes Unrecht. Genauso bewertete er die Idee, ehemalige Parteifunktionäre im demokratischen Polen politisch zu isolieren, keine gemeinsame Sache mit ihnen zu machen. So etwas konnten nur „polnische Antikommunisten mit bolschewistischen Fratzen“ fordern.

Modzelewski und seine Weggefährten, wie Adam Michnik, wie der 2004 verstorbene Jacek Kuroń und Dutzende anderer einstiger Revisionisten haben sich in dem Kompromiss, den sie mit den Kommunisten am Runden Tisch 1989 eingegangen sind, gut eingerichtet. Sie haben sich mit ihnen verbündet und ihnen vergeben, auch wenn die Stasi-Leute und Parteifunktionäre nicht im Geringsten Reue oder Einsicht in ihre Schuld an den Tag legten, noch Besserung gelobten. War ihr Aufbegehren gegen die Kommunisten letztendlich nur ein Streit in der Familie? Sie haben sie integriert, man macht seitdem gemeinsam Geschäfte und Politik.

Karol Modzelewski spricht bei einer Demonstration gegen die nationalkonservative Regierung im Frühjahr 2016.

Damit haben sie einen tiefen Graben quer durch die polnische Politik gezogen. Von ihrer Warte aus gesehen sind diejenigen, die solche Kompromisse ablehnen, schlicht Populisten und Feinde der Demokratie.

Karol Modzelewski war ein mutiger Mann, der für seine Überzeugungen knapp ein Zehntel seines Lebens hinter Gittern verbracht hat. Er war ein intelligenter und letztendlich auch ein einsichtiger Politiker.

Meistens jedoch brauchte er viel Zeit, um zu erkennen, dass er falsch lag: als junger stalinistischer Eiferer, als Trotzkist, als er Edward Gierek einen Vertrauenskredit gewährte, als er den Balcerowicz-Plan rundum ablehnte. Die Zeit, zu der Einsicht zu gelangen, dass sich die bedingungslose Aussöhnung mit kommunistischen Tätern, Einpeitschern und Profiteuren einfach nicht gehört, war ihm nicht mehr gegeben.

Karol Modzelewski wurde am 8. Mai 2019 auf dem Warschauer Friedhof Powązki (phonetisch Powonski), unweit der Grabstätte seines Freundes und Weggefährten Jacek Kuroń, atheistisch beigesetzt.

© RdP




Das Wichtigste aus Polen 8. April – 27. April 2019

Kommentator Witold Krzesiński und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Der Generalstreik der Lehrer und sein klägliches Scheitern.  Einschätzungen, Tatsachen, Hintergründe ♦ Der Europawahlkampf in Polen. Innenpolitik hat als Thema den Vorrang. ♦ Wolodymyr Selenskyi, der neue Staatspräsident der Ukraine und was man in Polen dazu sagt.




Sonntage in Polen. Verschnaufen statt kaufen

Anders als in Ungarn, hat sich in Polen der Verzicht auf den Handel am Sonntag durchgesetzt.

Die heftige Auseinandersetzung ist fürs Erste entschieden. Mitte März 2019 fiel endlich das klärende Machtwort der Regierung. „Es gibt keine Absichten die Einschränkungen im Sonntagshandel zu lockern“. Bis dahin sah es zeitweise danach aus, als überkäme Polens nationalkonservative Regierende zunehmend die Angst vor der eigenen Courage.

Tatarenmeldungen im Kampf der Weltanschauungen

Es hieβ, aus Angst vor dem Unmut der Wähler wird die Regierung das Verbot der Sonntagsöffnung von Geschäften zurücknehmen, so wie es Viktor Orban 2016 tat. In Ungarn hatte die Sonntagsschließung gerade mal ein Jahr überdauert. Die Regierung in Budapest hob sie wieder auf, weil alles darauf hindeutete, dass sie eine von der Opposition angeregte Volksabstimmung zum Sonntagshandel verlieren würde.

Gekonnt arrangierte Medienkampagnen der Sonntagshandel-Lobbyisten hatten seit Anfang 2019 den polnischen Himmel über dem sonntäglichen Verkaufsverbot zunehmend getrübt. Tatarenmeldungen häuften sich. Die meisten Polen seien dagegen, so die Umfrageergebnisse. Tante-Emma-Läden, denen eigentlich auf diese Weise geholfen werden sollte, gingen noch schneller ein. Handelszentren würden verbluten, weil die Sonntagskundschaft ausbliebe.

Solidarność-Plakat. Oben: „Herrgott, bitte mach, dass Mutti am Sonntag mit mir zu Hause sein kann.“ Unten: „Eltern, kauft nicht am Sonntag ein.“

Woher die Angaben, auf denen diese Behauptungen fuβten eigentlich stammten, blieb ungeklärt. Auch die Methodik der Umfragen lag im Dunkeln. Wer sich genauer einlas, stieβ immer wieder auf das Wort „schätzungsweise“. Erste Angaben des Statistischen Hauptamtes, Anfang März veröffentlicht, sprachen da eine ganz andere Sprache.

Was aus westeuropäischer Sicht wie eine Lappalie aussehen mag, entwickelte sich in Ungarn und Polen zu einem heiklen Politikum. Hier und dort stilisierten Regierungsgegner die Diskussion über die Einschränkung des Sonntagshandels zu einer neuen Schlacht im Krieg der Weltanschauungen hoch. Obrigkeitsstaat, Bevormundung, klerikales Denken gegen Shoppingfreiheit, Selbstbestimmung und Modern Lifestyle.

In Polen, so die „Schreckensbotschaft“ der Gegner, standen dahinter die angeblich allmächtige katholische Kirche und die von ihr an der Leine geführten Gewerkschaft Solidarność samt der regierenden Kaczyński-Partei Recht und Gerechtigkeit. Allein das war schon ein Gegenargument.

Doch umgesetzt wurde hier, vor allem, eine weitverbreitete Forderung hunderttausender „Wochenend-Sklaven“, die nicht selten nur jeden vierten, fünften Sonntag zu Hause sein konnten. Das jedoch verschwiegen die Verfechter der Flexibilität, die selbst meistens jedes Wochenende frei haben, tunlichst.

Mit von der Partie waren auch die Verbände und Lobbyisten des Discounthandels mit ihren düstersten Vorhersagen. Bis zu 80.000 Angestellte im Handel würden arbeitslos, umgerechnet bis zu einer Milliarde Euro Steuereinnahmen könnten wegfallen, wenn die Läden nur noch an sechs Tagen geöffnet sein würden.

Solidarność-Plakat. „Gebt uns die Eltern am Sonntag zurük.“

Die überwiegend gegen die nationalkonservative Regierung eingestellten Medien trugen ebenfalls das Ihre dazu bei. Deren Lamento war laut. Ihre Darstellung der Notlagen und Unwägbarkeiten, die die Sonntagsschließung ganz sicher verursachen werde klang dramatisch. Entlassungen, Versorgungsengpässe, eine schmerzhafte Einschränkung der Lebensqualität, wo doch die ganze Welt den Handel von Einschränkungen befreie.

Versprochen ist versprochen

Recht und Gerechtigkeit, seit November 2015 an der Regierung, hatte im Wahlkampf versprochen die Sonntagsschließung einzuführen. Ihr wichtiger politischer Verbündeter Solidarność, der sich als eine christliche Gewerkschaft versteht, hatte darauf gedrängt. Die Freiheit der Verbraucher nämlich, konnte nur auf Kosten von 1,2 Millionen im Verkauf Beschäftigten funktionieren, von denen die meisten Frauen sind.

Immer wieder forderten auch Geistliche in Polen einen Stopp des Sonntagshandels, und zwar nicht nur Katholiken. Dieselbe Forderung beendete die alljährliche Woche der Gebete um die Einigkeit der Christen im Januar 2015, einer der wichtigsten ökumenischen Veranstaltungen im Lande. Damals und einige Male mehr, riefen Vertreter der katholischen, mehrerer protestantischer und der orthodoxen Kirchen dazu auf, dem Sonntag seinen besonderen Charakter zurückzugeben.

Solidarność-Plakat. „Deine Freiheit ist die Unfreiheit der anderen.“

Nach den Wahlen von 2015 versuchte die neue Regierungspartei die Umsetzung dieses Wahlversprechens erst einmal auf die lange Bank zu schieben. Sie befürchtete heftigen Widerstand, geschürt von der Opposition und deren Medien. Dabei hatte sie doch bereits den hitzigen Konflikt um die Justizreform am Hals. Hinzu kam die zornige Auseinandersetzung um einen besseren Schutz des ungeborenen Lebens, genauer, das Verbot kranke Kinder im Schoβ der Mutter zu töten.

Auch hier hielt sich Recht und Gerechtigkeit, entgegen ihren Wahlversprechungen, bedeckt. Es waren katholische Laienorganisationen, die mit gut 800.000 Unterschriften zweimal, 2016 und 2018, entsprechende Bürger-Gesetzentwürfe im Parlament eingebrachten. Zweimal brachte die Kaczyński-Partei sie zu Fall, aus Angst vor weiteren stürmischen Protesten der Abtreibungsbefürworter.

Solidarność-Plakat. „Lasst uns den Sonntag zurückgewinnen. Unterschreibe den Gesetzentwurf über die Einschränkung des Sonntagshandels.“

Als die Solidarność-Gewerkschafter in Sachen Sonntagshandel nicht locker lieβen, versuchten die Kaczyński-Leute sie mit dem Vorschlag zwei handelsfreie Sonntage einzuführen ruhig zu stellen. Das schlug fehl. Am Ende stand, anders als in Ungarn, eine stufenweise Einführung des handelsfreien Sonntags.

Das Gesetz vom 10. Januar 2018 legt fest: ab März 2018 gibt es noch zwei verkaufsoffene Sonntage im Monat. Und ab 2019 nur noch einen. Ab 2020 erfolgt dann die Reduzierung auf sieben offene Sonntage im ganzen Jahr (einer vor Ostern, zwei vor Weihnachten sowie jeweils die letzten Sonntage im Januar, April, Juni und August). Zudem dürfen Geschäfte an Heiligabend und Karsamstag nur noch bis 14 Uhr öffnen, damit die Angestellten rechtzeitig zu Hause sein können.

Keiner verhungert vor verschlossenen Ladentüren

Zweiunddreiβig Ausnahmen sieht das Gesetz vor, u.a. für Bäckereien, Konditoreien und Eisdielen, Tankstellen, Blumenläden, Zeitungs- und Tabakläden, Apotheken, Geschäfte in Bahnhöfen und Flughäfen u. e. m. Auβerdem dürfen alle Läden am Sonntag öffnen, in denen sich der Besitzer hinter die Theke stellt. Seine Angestellten müssen frei haben.

Die Befürchtungen der Regierung und die Hoffnungen der Opposition haben sich schnell zerschlagen. Dreiβig Jahre nach dem Ende des Kommunismus haben die meisten Polen offensichtlich ihren Kaufrausch ausgelebt. Jedenfalls nahmen sie, ganz anders als die Ungarn, die Sonntagsschließung erstaunlich gelassen und verständnisvoll hin, obgleich 76 Prozent von ihnen einräumten, wenigstens ab und zu am Sonntag eingekauft zu haben. Auch wenn oppositionelle Parteien und Medien emsig daran arbeiteten, es regte sich kein ernsthafter Protest.

Erste gut nachvollziehbare Angaben des polnischen Statistischen Hauptamtes (SH) zerstreuten die anfänglichen Befürchtungen. Im März 2018, dem ersten Monat, in dem die neuen Bestimmungen an zwei Sonntagen galten, stieg der Umsatz des polnischen Handels um 8,8 Prozent, im April 2018 um 8,1 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum in 2017, als noch an allen Sonntagen geöffnet war. Dieser monatliche Trend hat sich, mit einem Plus zwischen 6 und 8,5 Prozent, bis Ende 2018 und auch Anfang 2019 fortgesetzt. Die gute Wirtschaftslage und die deutlich erhöhten Sozialleistungen haben neue Kaufkraft erzeugt.

Solidarność-Plakat. Oben: „Am Sonntag kaufe ich nicht ein“. Unten: „Heute ist Sonntag und Mutti ist wieder zur Arbeit“.

„Die Kunden haben sich schnell auf die neuen Umstände eingestellt. So, wie seit eh und je in Deutschland, kaufen sie nun rechtzeitig für das Wochenende ein. Der Sonntagsumsatz verteilt sich überwiegend auf den Freitag und den Samstag. Wem sonntags dennoch etwas im Kühlschrank fehlt, der geht in den Tante-Emma-Laden oder zur Tankstelle“, so der Kommentar der Statistiker vom SH.

Es wird geheuert statt gefeuert

Von Massenentlassungen ist nichts bekannt. Zettel und Plakate an Schaufenstern mit „Verkäufer gesucht“ sind weiterhin oft zu sehen. Zudem gab das Statistische Hauptamt bekannt, dass 2018 im polnischen Handel 120.000 Arbeitsplätze entstanden sind.
Das Tempo der Schlieβung von Tante-Emma-Läden hat sich deutlich verringert. Im Jahr 2017, noch ohne Handelssperre am Sonntag, wurden 13.720 von ihnen aufgegeben. Im Jahr 2018, dem ersten teilweise ohne Sonntagshandel, schlossen 8.834. Trotzdem gibt es in Polen immer noch 25 Läden pro 10.000 Einwohner. In Spanien sind es elf, in Frankreich zwei.

„Entsklavung“ mit Lücken

Von den Angestellten im Handel befürworten 92 Prozent der Frauen und 90 Prozent der Männer die neue Regelung ausdrücklich. Sie klagen jedoch darüber, dass ihre Arbeitszeit an Sonnabenden bis 22, teilweise bis 24 Uhr verlängert wurde. Zudem zitieren manche Discounter ihre Angestellten am Montag für vier Uhr oder noch früher zur Arbeit.

Alfred Bujara.

Alfred Bujara, Solidarność-Chef der Sparte Handel, Banken, Versicherungen, seit Jahren das Gesicht des Kampfes um „Entsklavung“ im Handel, wie er es nennt, sagt dazu: „Das ist ein ernsthaftes Problem, vor allem in kleineren Orten, von wo aus es um diese Zeit keine öffentlichen Verbindungen gibt. Deswegen fordern wir nicht erst seit heute, dass der Sonntag für Angestellte im Handel am Samstag um 22 Uhr beginnt und am Montag um 5 Uhr früh endet. So ist es in vielen europäischen Ländern“.

Die Arbeitgeber im Handel fordern hingegen eine Regelung, die den Angestellten lediglich zwei freie Sonntage im Monat gesetzlich garantieren soll.

Bujara: „Das Ergebnis wäre, dass die Angestellten von Montag bis Sonnabend mit Arbeitsvertrag arbeiten würden. An ihren freien Sonntagen könnte man sie mit einem Werk- oder Zeitvertrag beschäftigen. Der „Wochenendsklave“ wäre wieder da.“

Die Verlierer sind…

Es gibt zwei eindeutige Verlierer der neuen Regelungen. Zum einen sind es Handelszentren, in denen an Sonntagen ganze Familien flanierten, einkauften, aβen, ins Kino gingen. Die Zentren haben weiterhin an allen Sonntagen geöffnet, aber in Anbetracht der geschlossenen Läden, ziehen Restaurants und Kinos alleine viel weniger Publikum an.

Zum anderen sind es Studenten. Schätzungsweise vierzig Prozent von ihnen jobben regelmäβig an Wochenenden. Nun entfällt der Handel teilweise für sie, es bleibt die Gastronomie.
Deutliche Vorteile verzeichnen dagegen generell Kinos, Konzertveranstaltungen, Zoos, Museen und andere Freizeiteinrichtungen.

Ohne Kampf kein Sieg

So also sieht das vorläufige Ergebnis im langen Kampf um die „Entsklavung“ im polnischen Handel aus. Nach dem Ende des Kommunismus, als der allgemeine Kaufrausch ausbrach und jahrelang immer neue Rekorde brach, blühte, bis zum Jahr 2007, der Handel ungezügelt an 365 Tagen im Jahr.

Solidarność-Plakat. „Ich kaufe nicht am Sonntag ein.“

Erst 2007 gelang es der ersten Regierung Jarosław Kaczyńskis, trotz Sturmfeuer der liberalen Medien und unzähliger Herolde der freien Marktwirtschaft, den Art. 151 §1 ins Arbeitsgesetzbuch zu bringen: „Die Arbeit an gesetzlichen Feiertagen im Handel ist nicht erlaubt”. Der politische Kampf um die zehn Worte war sehr heftig und Vorhersagen genauso düster, wie vor der Einführung des Verkaufsverbots an Sonntagen.

Dank Art. 151 §1 bekamen die Angestellten im Handel 2007 wenigstens an gesetzlichen Feiertagen frei. Bis dahin arbeiteten alle Discounterketten, Baumärkte, Möbelhäuser usw. auch an Allerheiligen, an Weihnachten, Ostern, Neujahr. Jetzt dürfen an den dreizehn gesetzlichen Feiertagen in Polen nur die Geschäfte öffnen, deren Eigentümer oder deren Familien sich hinter den Ladentisch stellen.

Die Sonntagsarbeit im Handel war ein ständig wiederkehrendes Thema der politischen Auseinandersetzung. Ihrem Ziel am nächsten waren die Befürworter des arbeitsfreien Sonntags im Jahr 2001. Damals verabschiedete das Wahlbündnis Solidarność (AWS: eine inzwischen längst Geschichte gewordene Allianz der Gewerkschaft und einiger Dutzend konservativer und liberalkonservativer Kleinparteien, die Polen zwischen 2001 und 2005 regierte) eine entsprechende Novelle im Arbeitsgesetzbuch.

Solidarność-Plakat. „Am Sonntag kaufe ich nicht ein.“

Der damalige, wie es hieβ, linke Staatspräsident, der Postkommunist Aleksander Kwaśniewski legte jedoch dagegen sein Veto ein, und das Wahlbündnis Solidarność besaß nicht die erforderliche 3/5 Mehrheit, um dieses Veto im Sejm niederzustimmen. Aldi, Lidl, Netto, die portugiesische Discounterkette Biedronka (Maikäfer), Praktiker, Rossmann u.a. konnten aufatmen.

Das letzte Mal vor 2018 stand die Sonntagsarbeit im März 2014 auf der Tagesordnung des Sejm. Mit den Stimmen der Regierungskoalition Bürgerplattform (PO) und Bauernpartei (PSL) unter Donald Tusk, unterstützt von den „regierungsnahen“ Oppositionsparteien, den Postkommunisten und der rabiaten Palikot-Bewegung, wurden zwei Gesetzesvorschläge zur Beseitigung der Sonntagsarbeit abgelehnt. Der eine war durch eine Bürgerinitiative entstanden und wurde von gut 120.000 Menschen unterschrieben, den anderen hatte die oppositionelle Recht und Gerechtigkeit (PiS) eingebracht.

Ob der Kampf beendet ist? Vorerst sicherlich ja, aber die Drohung der Opposition nach einem eventuellen Wahlsieg alles wieder rückgängig zu machen steht im Raum.

© RdP




Das Wichtigste aus Polen 17. März – 7. April 2019

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Gender und sexuelle Minderheiten: ein Spitzenthema des Europa-Wahlkampfes in Polen ♦ Lehrerstreik.  Keine Kompromissbereitschaft, überzogene Gehaltsforderungen, klare politische Absichten. Linke Lehrergewerkschaft auf hartem Konfrontationskurs. ♦ Polnischer Blick auf ukrainische Präsidentschaftswahlen.




Was tragen die Polen

Praktisch vor modisch.

Das Erscheinungsbild des Publikums auf den Straβen polnischer Groβstädte unterscheidet sich kaum mehr von dem in Westeuropa. Die Mode ist gleich, aber einige Unterschiede gibt es immer noch.

Das unförmige, graue, in den Kaufhäusern des Ostblocks erhältliche Outfit jedenfalls ist längst Vergangenheit, an die manchmal noch die Kleidung älterer Menschen in der Provinz erinnert.

Löcher stopfen, Löcher machen

Modische Polinnen in Warschau Anfang der Sechziger….

Die Polinnen haben übrigens während der Zeit des Kommunismus trotz aller Widrigkeiten ihr Modebewusstsein sehr eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Es wurde genäht, gestrickt, gehäkelt, umgeändert und gefärbt was das Zeug hielt. Gab es keine Schnittmuster, mussten Fotos aus westlichen Illustrierten und Modejournalen reichen, die ihren Weg hinter den eisernen Vorhang gefunden hatten. Es gab im kommunistischen Polen häufig Anlass sich nach schicken Mädchen umzudrehen. Besucher aus dem Westen waren ebenfalls sehr angetan.

…und in den Siebzigern.

Heute wissen junge Polen, teilweise auch schon ihre Eltern, gar nicht mehr, wie das Land ohne H&M oder Zara existieren konnte.

Längst verschwunden sind aus dem Straβenbild die kleinen Anlaufpunkte, in denen Laufmaschen in Damenstrümpfen- und Strumpfhosen repariert wurden. Maschenware war teuer und, wie fast alles im Kommunismus, schwer zu bekommen.

Laufmaschenstoppen. Irgendwo in Polen in den sechziger Jahren.

Noch vor fünfzig, sechzig Jahren war der Kauf eines Wintermantels für viele Familien eine wahre finanzielle Herausforderung. Der alte wurde also zu Hause oder in der Änderungsschneiderei aufgetrennt, hie und da aufgearbeitet, umgedreht, zusammengenäht und die jüngeren Kinder trugen ihn noch jahrelang. Die heutigen Winterjacken gibt es günstig im Angebot und umdrehen lassen sie sich auch nicht.

Groβmütter oder Mütter stopften abends Socken. Das ist jetzt nicht mehr so, und nicht nur weil sich die heutigen Socken nur schwer stopfen lassen. Heute machen sich auch polnische Jugendliche Gedanken darüber, wie sie Löcher in Markenjeans hinkriegen, weil zerrissene Jeans im Laden mehr kosten als solche die ganz sind.

Groβer Markt kleiner Geldsäckel

Der uniformlastige Kommunismus ging unter, der Kapitalismus kam und mit ihm die neue Vereinheitlichung des Outfits. Weltumspannende Bekleidungsketten ziehen die Polen genauso an, wie gleichaltrige Tschechen, Ungarn, Belgier, Deutsche. Knapp siebzig Prozent der Polen geben an dort Stammkunden zu sein.

Reserved-Filiale in Gdańsk.

Ein groβes Netz von Geschäften unterhalten auch Reserved, Cropp, House, Sinsay, Mohito. Hinter diesen ausgesprochen westlich klingenden Namen verbirgt sich das polnische Groβunternehmen LPP mit Sitz in Gdańsk. Es unterhält knapp zweitausend Filialen in Europa und Nahost, davon dreiβig in Deutschland unter dem Label Reserved. Der Umsatz beträgt inzwischen knapp 1,5 Milliarden Euro.

Jeder dritte Pole räumt ein, wenigstens einmal im Monat etwas zum Anziehen zu kaufen. Jeder elfte tut das seltener als einmal im Jahr. Für Kleidung geben die Polen im Durchschnitt umgerechnet 310 Euro pro Jahr aus, genauso viel wie Tschechen und Slowaken, und etwas mehr als die Ungarn, Serben und Bulgaren. Der EU-Durchschnitt liegt bei 800 Euro.

Dabei sind die Preise bei H&M, Zara oder P&C in Polen dieselben wie in Deutschland oder Skandinavien, manchmal sogar etwas höher. Deutsche oder Schweden geben jedoch, dank ihres deutlich höheren Einkommens, viermal so viel (etwa 1.200 Euro jährlich) für Bekleidung und Schuhe aus wie die Polen.

Knapp 50 Prozent der Polen sagen, dass sie weniger als zehn Prozent ihres Monatseinkommens für eigene Bekleidung ausgeben. Gut 30 Prozent beziffern ihre Ausgaben auf bis zu 25 Prozent des Monatseinkommens. Bei nur 6 Prozent erreicht dieser Anteil 40 Prozent des monatlichen Verdienstes.

Muss der Einzelne beim Shoppen zumeist kleine Brötchen backen, so ist der polnische Bekleidungsmarkt als Ganzes mit seinen etwa achtunddreiβig Millionen Verbrauchern durchaus verlockend. Immerhin wurden 2018 im Land, mit Bekleidung einschlieβlich Schuhen, umgerechnet gut acht Milliarden Euro umgesetzt. Das plaziert Polen an achter Stelle in Europa. Viele, nicht nur die Bekleidungsketten, wollen an diesem Kuchen teilhaben.

Basare, lumpeksy, Louis Vuitton

Jeder fünfte Pole versorgt sich mit Textilien überwiegend auf Märkten, die in Polen „bazar“ heiβen und wie in Nahost und Asien aus dem Straβenbild nicht wegzudenken sind. Zwischen Obst-, Gemüse-, Fleisch,- und Ramschständen gibt es Billiges zum Anziehen aus der Türkei, der Ukraine und aus Asien zu kaufen, fast ausnahmslos bei Vietnamesen.

Basar-Anprobe.

Vor allem die Provinz kleidet sich auf den Basaren ein. Zu Tausenden wiegen sich dort an der frischen Luft Nachahmungen von Modellen aus den groβstädtischen Bekleidungsketten: billige Stoffe, oft lieblos zugeschnitten und nicht gerade sorgfältig verarbeitet, aber preiswert.

Nicht jede Polin ist für Leggins geschaffen.

Bergeweise werden dort auch Leggins verkauft. Es ist die Lieblingskluft des femininen Teils der unteren sozialen Schichten. Und dieser scheint sich zumeist nicht im Geringsten darum zu scheren, wie er von hinten betrachtet aussieht.

Stark im Bekleidungsgeschäft vertreten ist die Second-Hand-Branche. Polens Städte sind sehr gut bestückt mit Läden, in denen im trostlosen Neonlicht zumeist kiloweise gebrauchte Kleidung angeboten wird. Im Volksmund heiβen sie „lumpeks“ (Mehrzahl „lumpeksy“). Leute mit wenig Geld geben sich dort die Klinke mit durchaus gut situierten Schnäppchenjägern in die Hand.

Lumpeks-Kundschaft vor…

…und im Laden.

Die „lumpeksy“ buhlen um Kundschaft, indem sie sich spezialisieren: auf „heiβe Klamotten direkt aus Amerika“, „gute deutsche Ware“ oder „echten französischen Chic“. Alles angeliefert in Groβcontainern von irgendwoher auf Welt.

Andererseits ist man, so ist es zu hören, bei Louis Vuitton in Warschau ebenfalls mit den Umsätzen sehr zufrieden. Ab und zu sollen in dem Verkaufssalon sogar Warteschlangen an der Kasse gesichtet worden sein. Rabattaktionen gibt es bei Louis Vuitton nie, denn offensichtlich gibt es genug Kunden, die bereit sind umgerechnet gut 400 Euro für Plastik-Flip-Flops zu bezahlen. Auch die berühmten Handtaschen verkaufen sich gut.

Fünf Hosen im Schrank

Zugleich brummt das Internet-Geschäft. Allein bei Allegro gehen 2019 in ganz Polen pro Stunde 170 Blusen, 183 Röcke und 39 Sweatshirts über den virtuellen Ladentisch. Ganze 75 Prozent der Käufer räumten ein, innerhalb der letzten sechs Monate vor der Befragung Kleidung im Internet gekauft zu haben. Mehr als die Hälfte von ihnen hat noch niemals auf diesem Wege gekaufte Textilien oder Schuhe zurückgeschickt.

In 63 Prozent der polnischen Kleiderschränke, man staunt, hängen nur bis zu fünf Paar Hosen sowie bis zu fünf Jacken oder Mäntel, stehen maximal fünf Paar Schuhe. Gerademal 14 Prozent der Befragten gaben an, bis zu zwanzig Stück der erwähnten Kleidung beziehungsweise Paar Schuhe zu besitzen.

Die Kleidung soll vor allem bequem, preiswert und geschmackvoll sein. Praktisch geht vor modisch. Nur 21 Prozent kaufen das was aktuell Mode ist. Etwa 18 Prozent erwerben ausschlieβlich beste Qualität, fast genauso viele geben an, mit den gekauften Sachen die Unvollkommenheiten ihrer Figur kaschieren zu wollen. Ausgefallenes mag und kauft jeder zwölfte Pole. Jedem/jeder Fünfzigsten ist es vor allem wichtig mit seinem/ihrem Outfit das andere Geschlecht zu beeindrucken.

Etwa ein Fünftel der Polen sagen von sich, sie seinen modebewusst. Noch vor gut zehn Jahren waren es einige wenige Internetportale und bunte Zeitschriften, in denen sie sich über neue Trends informieren konnten. Inzwischen ist deren Zahl fast schon unüberschaubar geworden, und auch die Trends ändern sich wie in einem Kaleidoskop.

Promis machen Mode

Die meisten Fashion-Fans machen es sich inzwischen leichter, indem sie die Prominenz der Regenbogenmedien nachahmen. Auch polnische Modeportale sind dazu übergegangen vor allem darüber zu berichten, was Promis bei Modeschauen anhatten. Was sich der Modeschöpfer ausgedacht und gezeigt hat, wird nur am Rande oder gar nicht erwähnt.

Promis machen Mode.

Auch die Farbvorlieben sind inzwischen gut erforscht. Die meisten Polen mögen’s nicht so schrill. Bevorzugt werden Sachen in Schwarz, Dunkelblau, Anthrazit, Indigoblau, Violett, Karminrot. Bei Frauen kommt noch Braun in verschiedenen Schattierungen hinzu. Man traut sich eben nicht aufzufallen, so sehen es jedenfalls die polnischen Modefachleute.

Plakat des polnischen Auftritts auf der Berliner Fashion Week 2019.

Natürlich gibt es auch in Polen eine kreative Modeszene, die sich im Januar 2019 auf der Berliner Fashion Week wieder einmal von ihrer besten Seite gezeigt hat. „Wear polish“ hieβ der polnische Auftritt auf der BFW. Im polnischen Pavillon präsentierten führende polnische Marken ihre nachhaltigen und unter ökologischen Gesichtspunkten kreierten Produkte. Orska, Pat Guzik, Nago, Surplus, Szymańska, Wearso.organic sind junge, vielversprechende Designer, die herausragendes Schneiderhandwerk mit Kreativität verbinden und sich zumeist an zeitlosen, minimalistischen Trends orientieren.

Der Einfluss solcher Mode-Künstler auf die allgemeinen Kleidungsgepflogenheiten ist in Polen jedoch genauso gering wie überall sonst auf der Welt. Zudem gibt es, wie überall so auch in Polen, auf dem Bekleidungsmarkt, wie bereits beschrieben, Erscheinungen, die einen auch nur halbwegs der Anmut verpflichteten Menschen die Flucht ergreifen lassen, sobald er ihrer ansichtig wird.

Um wegzurennen braucht man Schuhe und die, so Marktanalysen und Umfragen, sind für jeden vierten Polen ausschlaggebend für sein Aussehen. Sportschuhe befinden sich dabei eindeutig auf dem Vormarsch. Längst werden Nikes, Adidas, Pumas und Convers auch zum Anzug und zum Kleid getragen. Dass sie bei Jugendlichen zu Kultobjekten werden, ist ein ganz anderes Paar Schuhe.

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Das Wichtigste aus Polen 11. Februar – 16. März 2019

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Der Europa-Wahlkampf in Polen, ganz im Zeichen der Innenpolitik. Die Europawahlen im Mai gelten als Testlauf für die Parlamentswahlen im Herbst. ♦ Das neue große Sozialprogramm der Regierung: 500 Zloty monatlich bereits für das erste Kind bis 18 Jahre u. e. m. soll die Wähler von Recht und Gerechtigkeit mobilisieren. ♦ Die Opposition schlieβt sich zur Europäischen Koalition zusammen. Ihr einziger Kitt ist der Wille zum Machtwechsel „und dann sehen wir weiter“. ♦ Die neue Partei „Der Frühling“ des Schwulen-Aktivisten Robert Biedroń und ihr Programm: die Kirche muss weg, die „Homo-Ehe“ muss her. ♦ Emmanuel Macrons Programm der „Wiedergeburt Europas“ in Polen ohne große Aufmerksamkeit verhallt.




Froh die einen, andere betreten. Kommen nach Polen US-Atomraketen?

Nach dem Scheitern des INF-Vertrages.

Die SPIEGEL ONLINE-Redaktion hat zu dick aufgetragen, als sie am 1. Februar 2019 titelte: „Polens Auβenminister fordert US-Atomraketen in Europa“. Warschau schob kurz darauf eine Klarstellung nach: der Minister habe in dem SPIEGEL-Gespräch die Stationierung nicht gefordert, sondern „nicht ausgeschlossen“. Die Hamburger Redaktion besserte umgehend nach. Doch so oder so, die Frage, ob es in Polen schon bald US-Atomraketen geben wird bleibt bestehen.

Die Verstöβe Russlands gegen und daraufhin der Ausstieg der USA aus dem Washingtoner Abkommen über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) am 1. Februar 2019, haben jedenfalls eine Kette von Ereignissen in Bewegung gesetzt, die zur Stationierung amerikanischer Nuklearwaffen in Polen führen könnten.

US-Präsident Reagan (r,) und der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow (l.) unterzeichnen den INF-Vertrag im Weißen Haus am 8. Dezember 1987.

Das zu Grabe getragene amerikanisch-sowjetische (russische) INF-Abkommen vom Dezember 1987 galt als ein Meilenstein in Sachen Abrüstung und Rüstungskontrolle. Nach siebenjährigen Verhandlungen haben sich damals Amerikaner und Russen verpflichtet, alle bestehenden landgestützten Flugkörper kürzerer, beziehungsweise mittlerer Reichweite (500 bis 5.500 Kilometer) zu vernichten sowie keine neuen herzustellen und zu testen.

Briefmarke der sowjetischen Post von 1987 aus Anlass der INF-Vertragsunterzeichnung.

Mobil, genau, verheerend

Gerade die landgestützten Marschflugkörper gelten als besonders gefährlich. Ihr Start ist schwieriger auszumachen als Abschüsse von Flugzeugen oder Schiffen. Auf geländegängigen Lkw montiert, mit einem nuklearen Gefechtskopf versehen, steuert sich der Lenkflugkörper selbst ins Ziel und fliegt dabei in einer Höhe zwischen fünfzehn und hundert Metern so niedrig, dass er nur schwer vom gegnerischen Radar erfasst werden kann.

Abgefeuert werden können auch taktische ballistische Mittelstreckenraketen, die mit bis zu siebenfacher Schallgeschwindigkeit auf eine Höhe von bis zu fünfzig Kilometern gebracht werden, ehe sie in der absteigenden Flugphase das Ziel punktgenau anpeilen. In beiden Fällen sind sie blitzschnell am Ziel. Den Verteidigern bleiben lediglich Minuten, um sie zu vernichten.

Vertragsgemäβ haben bis Mai 1991 die Amerikaner 846 ihrer Pershing- und Gryphonraketen, die Russen 1.846 ihrer SS-4, SS-5, SS-20 und SS-22 Raketen zerstört. Die Franzosen folgten 1996 diesem Beispiel. Zum ersten Mal wurden keine Obergrenzen festgelegt. Stattdessen hat man eine ganze Waffenfamilie aus Europa verbannt und das mit wirksamen Kontrollverfahren verbunden, die im Mai 2001 endeten.

Russland steigt aus

Putin am 10. Februar 2007 während seiner berüchtigten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz.

Die Idylle dauerte jedoch nicht lange. Nach der Machtübernahme Wladimir Putins im Jahr 2000 begann Russland die INF-Verträge in Frage zu stellen. Vor allem, so hieβ es, weil Staaten wie China, Indien, Pakistan, Nordkorea oder Israel über diese Raketen verfügen. INF befriedige nicht mehr die Interessen Russlands. „Es ist offensichtlich, dass wir unter diesen Bedingungen darüber nachdenken müssen, unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten“, so Putin am 10. Februar 2007 in seiner berüchtigten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz.

Zudem gefielen den Russen die US-Pläne nicht, ein europäisches Raketenabwehrprogramm mit SM-3-Block-IIA-Raketen und X-Band-Radaren in Tschechien und Polen umzusetzen. Es sollte zwar ein Schutzschild gegen eventuelle Angriffe von Langstreckenraketen aus dem Iran und Nordkorea sein, aber Moskau gab vor, dem nicht zu trauen.

Aus amerikanischer- und Nato-Sicht hatte Moskau bereits Anfang der 2000er-Jahre beschlossen, den Vertrag auszuhöhlen, um erneut ein nukleares Drohpotential in Mitteleuropa aufzubauen. Schon 2013 bemühten sich die Amerikaner, auch Präsident Obama persönlich, die Russen von ihrem Vorhaben abzubringen. Wie leider üblich, so Dan Coats, Direktor der nationalen Nachrichtendienste im Januar 2018, „leugneten die Russen ihre Versuche. Sie gaben die Existenz des Marschflugkörpers erst dann zu, als wir ihnen zum Beweis die russische Bezeichnung des Geräts, 9M729, auf den Tisch gelegt haben“.

Startvorbereitungen einer Iskander-Rakete.

Im Juli 2014 machte das US-Verteidigungsministerium publik, Russland habe landgestützte Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern getestet und damit gegen das Verbot verstoßen. Medienberichten zufolge handelte es sich um 9K720 Iskander-K. Dieser Typ wurde erstmals bereits 2007 erprobt.

Im Februar 2017 hieβ es aus Washington, Russland habe den INF-Vertrag gebrochen, indem es Mittelstreckenraketen nicht nur herstelle und teste, sondern bereits zwei aktive Bataillone seiner Streitkräfte damit ausgerüstet habe. Die Waffen seien von Startvorrichtungen auf Lastwagen aus einsetzbar.

Apokalyptische Bedrohung für Polen

Seit Juni 2018 sind Iskander-M-Abschussvorrichtungen mit ballistischen 9M723-Raketen bei Tschernjachowsk/ Insterburg im Gebiet Kaliningrad stationiert. Ihre Reichweite beträgt mindestens 700 Kilometer. Mit siebenfacher Schallgeschwindigkeit erreichen sie jedes Ziel in Polen in spätestens drei bis vier Minuten. Das amerikanische Flugabwehrsystem Patriot ist weitgehend machtlos gegen sie.

Noch heikler wird die Lage werden, sollten die Russen ihre Drohung wahr machen und die Iskander-K-Abschussvorrichtungen mit ballistischen 9M729-Raketen in die Gegend von Kaliningrad verlegen. Mit ihrer Reichweite können sie jede beliebige Stadt in Westeuropa, mit Ausnahme Portugals, einäschern.

Für Polen ergibt sich daraus eine geradezu apokalyptische Bedrohung. Das in eine Atomartilleriefestung verwandelte Kaliningrader Gebiet erlaubt den Russen, Polen in eine atomare Todeszone zu verwandeln. Sie soll Russland wirksam von den übrigen Nato-Staaten trennen und diese Staaten davon abhalten eine Gegenoffensive zu starten.

Das INF-Ende läutet eine neue Runde im atomaren Rüstungswettlauf ein. Die Amerikaner werden sehr schnell neue Kurz- und Mittelstreckenraketen haben und sie in Europa stationieren wollen. Dass es sich dabei um eine wirksame Abschreckungsmethode handelt, beweist die Entstehungsgeschichte des INF-Vertrages. Moskau sah sich erst genötigt ihn zu unterschreiben, nachdem die USA 1983 ihre Preshing-2 Flugkörper, wider den gigantischen Proteststurm der „Friedensbewegung“, nach Westeuropa gebracht hatten.

So wird es wahrscheinlich auch dieses Mal sein. Doch wohin mit den neuen US-Kurz- und Mittelstreckenraketen? Polen wird einer der ersten Staaten sein, bei denen Washington nachfragen dürfte.

Was spricht für ein polnisches „Ja“?

Ein russischer Angriff auf die Abschussvorrichtungen in Polen, egal ob atomar oder konventionell, würde einen sofortigen Nato-Vergeltungsschlag nach sich ziehen. Ohne Nato-Raketen in Polen könnten Russlands Kriegsplaner dem Trugschluss erliegen, die Nato werde keinen Atomkonflikt für Polen riskieren, auch wenn sie in dem Land Stützpunkte unterhält und diese verloren geben müsste.

Testabschuss einer Iskander-Rakete.

Oder wäre es gar kein Trugschluss? Ein konventioneller russischer Blitzangriff aus dem Stand, die schnelle Einnahme der baltischen Staaten und Polens bis zur Weichsel, bevor sich die Nato zu einer Gegenoffensive aufrafft, sind ein Szenario, das in den russischen Stäben immer wieder durchgespielt wird. Unmittelbar darauf folgen, soll ein öffentlichkeitswirksames Ultimatum Moskaus: eine Nato-Gegenoffensive zur Befreiung der besetzten Gebiete werde einen russischen atomaren Angriff auslösen.

Man kann sich leicht den ungeheuren Druck der westeuropäischen Öffentlichkeit vorstellen mit Moskau zu verhandeln und die Nato-Ostflanke lieber den Russen zu überlassen. Umfragen sprechen da eine deutliche Sprache: knapp sechzig Prozent der Deutschen sind strikt dagegen, östlichen Bündnismitgliedern wie Estland, Polen oder Lettland militärisch beizustehen, wenn sie von Russland angegriffen werden.

So gesehen, würde die Stationierung amerikanischer Atomraketen in Polen die Hemmschwelle gegen einen russischen Angriff deutlich anheben. Stärke schreckt ab, Schwäche (siehe Georgien 2008, Ukraine – Krim 2014 und Donbass seit 2014) verleitet die russische Politik traditionell zur Gewaltanwendung.

Wird es zu einer Stationierung kommen? Sollte sie aufgrund eines gemeinsamen Nato-Beschlusses erfolgen, dürfte es schwierig werden. Vor allem ist ein vehementer Widerstand aus Deutschland geradezu vorprogrammiert.

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Fels in der Brandung

Am 7. Februar 2019 starb Jan Olszewski.

Er strahlte Würde aus, war höflich, gutmütig, behäbig und altmodisch. Seine Anzüge und Brillengestelle hinkten der aktuellen Mode mindestens fünfzehn Jahre hinterher. Doch wer sich von alldem täuschen lieβ und ihn nicht für voll nahm, der wurde schnell eines Besseren belehrt.

Seine wohlformulierten, zielgenauen Spitzen waren berühmt, seine Plädoyers lieβen so manchen kommunistischen Richter zusammenzucken. Dem Anwalt, Journalisten und Politiker Jan Olszewski gelang Beachtliches. Gradlinig und mit reiner Weste ging er beinahe ein halbes Jahrhundert lang seinen Weg im kommunistischen Polen.

Keine öffentlichen Äußerungen, die man ihm vorhalten könnte, wie dem ersten (1989-1990) nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki, der in der Stalinzeit der frühen Fünfzigerjahre in Presseartikeln die brutalen, kommunistischen Kirchenverfolgungen rechtfertigte. Keine Kungeleien mit der Staatssicherheit, auf die sich etwa der katholische Politiker und spätere Parlamentspräsident (1991-1993) Wiesław Chrzanowski einlieβ. Keine gutbezahlte Spitzeltätigkeit, wie die des späteren Arbeiterführers Lech Wałęsa (IM Bolek) zwischen 1970 und 1976.

Nichts dergleichen lässt sich den knapp drei Metern Akten entnehmen, die die polnische Stasi über Olszewski angehäuft hat. Stattdessen ein durchdachter, beharrlicher, Jahrzehnte dauernder Einsatz für ein unabhängiges Polen und die Menschen, die es, wie er, anstrebten.

Jung gewohnt, alt getan

Jan Olszewski kam 1930 in einer Gegend Warschaus auf die Welt, wo es nicht leicht war sich gute Manieren und intellektuellen Schliff anzueignen. Der Stadtteil Bródno (fonetisch Brudno) auf dem östlichen Weichselufer, eine kopfsteingepflasterte Arbeitersiedlung mit Holzhäusern, ohne Kanalisation, dafür übersät mit vielen Sandkuhlen und Lehmgruben, lag damals an der Peripherie der Groβstadt.

Bródno in Olszewskis Kindheit.

Der Vater, in zweiter Generation Eisenbahner und Sozialist, nahm den kleinen Janek mit zu Versammlungen, Arbeiterfesten, Fortbildungen. Was dort verkündet und vorgelebt wurde, dafür stand der groβe Jan sein Leben lang ein: soziale Gerechtigkeit, parlamentarische Demokratie, polnischer Patriotismus und polnische Unabhängigkeit, ein schlicht praktizierter katholischer Glaube und die klare Ablehnung des Kommunismus.

Olszewski war neun als der Krieg im September 1939 begann. Groβ genug um die Schrecken der drei Wochen lang (8. – 28.09.) dauernden deutschen Belagerung Warschaus bewusst wahrzunehmen. Die Hauptstadt lag unter schwerem Dauerbeschuss. „Ich hatte schreckliche Angst vor den Toten, die überall herumlagen“, so seine Erinnerung.

Tote Zivilisten nach einem deutschen Luftangriff auf das belagerte Warschau 1939.

Im vierten Besatzungsjahr, 1942, gelangte der Zwölfjährige durch vertrauliche Verbindungen in die Grauen Reihen (Szare Szeregi). So nannte sich der Polnische Pfadfinderverband im Untergrund. Konspirativ, ohne Uniformen, verknüpfte er die normale Ausbildung mit der sogenannten kleinen Sabotage. Parolenmalen auf Mauern und Zäunen („Deutschland kaputt!“). Nägelstreuen auf Fahrbahnen (Polen durften in der Besatzungszeit ohnehin keine Autos besitzen). Heimlich Flugblätter verteilen usw.

„Kleine Sabotage“ in Warschau unter deutscher Besatzung.

Olszewski war vierzehn, als am 1. August 1944 der Warschauer Aufstand ausbrach. Der Kampf auf dem westlichen Warschauer Ufer der Weichsel dauerte 63 Tage.

Auf dem östlichen Ufer, Praga genannt, wo sich auch Bródno befindet, war er nach drei Tagen zu Ende. In Anbetracht der riesigen deutschen Übermacht zerstreuten sich die Aufständischen und tauchten unter. Sechs Wochen lang, so beschreibt es Olszewski, dauerte anschlieβend der deutsche Terror.

Praga war Frontgebiet. Über den Fluss waren die schweren Kämpfe auf dem westlichen Ufer zu sehen und zu hören. Dorthin zogen sich am 13. September 1944 deutsche Truppen zurück und sprengten hinter sich alle vier Weichselbrücken.

Den Sowjets ausgeliefert

Kurz darauf zogen die Sowjets in Praga ein. Olszewski war Zeuge von Verhaftungswellen und brutalen Übergriffen. Die sowjetische Geheimpolizei NKWD stürmte in Bródno das Haus des Bruders seines Vaters, Remigiusz Olszewski. Den gut achtzigjährigen Groβvater Olszewskis prügelten sie dabei aus dem Haus. Er erfror in der kalten Herbstnacht. Remigiusz starb in einem Viehwaggon auf dem Weg nach Sibirien.

Der braune Terror war dem roten gewichen, während auf dem westlichen Ufer die Aufständischen bis zur Kapitulation am 3. Oktober 1944 weiterkämpften und vergebens auf wirksame sowjetische Unterstützung hofften.

Erst am 17. Januar 1945 setzten die Sowjets an das andere Ufer über und „befreiten“ das menschenleere Ruinenmeer. Gut drei Monate lang hatten sie vorher von der östlichen Flussseite aus tatenlos zugesehen, wie die Deutschen nach dem Ende des Aufstands zuerst alle etwa zweihunderttausend verbliebenen Einwohner vertrieben und danach den ausgestorbenen Westteil der Stadt planmäβig dem Erdboden gleichmachten.

Deutsches Brandkommando. Systematische Zerstörung Warschaus Oktober 1944 bis Mitte Januar 1945.

Mit fünfzehn Jahren erlebte Olszewski eine Gesellschaft, deren Zustand nach 1945 der Historiker und Literaturkritiker Jan Józef Lipski so beschrieb: „Der Schock nach dem Ende des Krieges war für Polen schrecklich. Polen, das erste Land, das sich Hitler entgegengestellt hatte. Die Polen, ein Volk, das an vielen Fronten des Krieges gekämpft hat. Polen, ein Land, das einen mächtigen Staat und eine Armee im Untergrund aufbaute. Es wurde von den eigenen Verbündeten, Groβbritannien und den USA, an den sowjetischen Angreifer ausgeliefert. Es war ein schreckliches Erlebnis und eine Demütigung, mit einer Schlinge um den Hals an den Sattel des Siegers geknüpft, in sein eurasisches Imperium gezerrt zu werden.“

Das letzte Aufbäumen

Drei Jahre lang dauerte es, bis die polnischen Kommunisten und ihre sowjetischen Auftraggeber es schafften 1948 das Land mit brutaler Gewalt nach stalinistischem Vorbild gleichzuschalten. Die Polen setzten in jener Zeit all ihre Hoffnung die Sowjetisierung abzuwenden, auf die einzige legale Oppositionskraft, die Bauernpartei PSL. Briten und Amerikaner hatten bei den Sowjets durchgesetzt, dass PSL-Chef Stanislaw Mikołajczyk aus dem Londoner Exil nach Warschau zurückkehren und in die von Kommunisten beherrschte Regierung als stellvertretender Ministerpräsident eintreten durfte. Es sollte freie Wahlen geben.

Stanisław Mikołajczyks (i. d. Mitte mit Blumenstrauß) Rückkehr im Juni 1945 versetzte Polen in einen Freudentaumel.

Mikołajczyks Rückkehr im Juni 1945 versetzte Polen in einen Freudentaumel. Sein Auto wurde auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt angehalten und von der Menge getragen. Olszewski, der einstige konspirative Pfadfinder der Grauen Reihen, pinselte nachts wieder Parolen an Häuserwände, verteilte Flugblätter, diesmal gegen die Kommunisten. Er bewachte mit anderen Freiwilligen die Warschauer Redaktion und Druckerei der „Gazeta Ludowa“ („Volkszeitung“), der einzigen unabhängigen Zeitung im damaligen Polen, um sie vor kommunistischen Übergriffen zu schützen. Im November 1947 wurde sie verboten

Ohnmächtig sahen die Briten und Amerikaner aus der Ferne zu, wie die Sowjets und ihre polnischen Handlanger die PSL erbarmungslos nach und nach ausschalteten. Bei den für den 19. Januar 1947 angesetzten, massiv gefälschten Parlamentswahlen bekam die PSL angeblich nur 10,3 Prozent der Stimmen. In Wirklichkeit, das kam erst nach 1989 heraus, waren es knapp 70 Prozent. Bald darauf wurde die PSL verboten. Mikołajczyk flüchtete im letzten Augenblick mit Hilfe der Warschauer US-Botschaft in den Westen.

Schauprozesse und Stalinhuldigungen. Stalinismus in Polen.

Die finstere Nacht des Kommunismus, der Schauprozesse, der Stalinhuldigungen, der unentwegten, allgegenwärtigen ideologischen Abrichtung breitete sich auch über Polen aus.

Nischendasein eines Einzelgängers

Dennoch gelang es Jan Olszewski, fintenreich und von viel Glück begleitet, zuerst das Abitur zu machen und dann, zwischen 1949 und 1953, das Jurastudium an der Warschauer Universität zu absolvieren. Ohne dem kommunistischen Jugendverband, geschweige denn der Partei beizutreten, ohne sich für die Propaganda und ihre Massenveranstaltungen vereinnahmen zu lassen. Es war ein ärmliches Nischendasein eines Einzelgängers, ohne Stipendium, stets vom Rauswurf bedroht, den er einige Male gerade so, durch seine sehr guten Leistungen, abwehren konnte.

Für Hochschulabgänger galt im kommunistischen Polen die sogenannte Arbeitsplatz-Pflichtzuweisung (nakaz pracy). Für drei Jahre gab man von Amtswegen vor, wo die Absolventen arbeiten sollten. Wiederum meinte es das Glück gut mit Olszewski. Anstatt in die tiefe Provinz, wurde er in ein, fernab jeder Wichtigkeit vor sich hin dämmerndes, Dezernat des Justizministeriums gesteckt.

Als Olszewski im Herbst 1953 seinen Juraabschluss machte, war Stalin seit gut einem halben Jahr tot. Nach einem Jahr der Verschärfung der Repressalien (u.a. wurde im September 1953 der Primas von Polen Kardinal Wyszyński verhaftet) machte sich sehr langsam aus Richtung Moskau ein politisches Tauwetter breit, wo Nikita Chruschtschow den verdeckten Machtkampf um die Stalinnachfolge gewonnen hatte. 1955, gegen Ende der Pflichtjahre Olszewskis im Justizministerium, war das Eis fast schon gebrochen. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 und Chruschtschows schnell publik gewordener Geheimrede, in der er mit den Verbrechen des Stalinismus abgerechnet hatte, gab es dann kein Halten mehr.

Und wieder stirbt die Hoffnung

Diesmal hieβ Polens Hoffnungsträger Władysław Gomułka. Der Reformkommunist, Ende der Vierzigerjahre aller Ämter enthoben, verhaftet und nur knapp einem Schauprozess entkommen, sollte  nun einen „polengerechten“ Sozialismus schaffen: ohne Kollektivierung der Landwirtschaft, nationalpatriotisch, mit einer ausgeprägten Arbeiterselbstverwaltung, statt wirtschaftlicher Zentralplanung, mit Kunst- und Medienfreiheit.

Hoffnungsträger Władysław Gomułka im Oktober 1956. Polen lag ihm zu Füβen.

Letztere praktizierte, sehr ausgiebig, die Wochenzeitschrift „Po Prostu“ („Ohne Umschweife“), früher das hölzerne Organ des kommunistischen Jugendverbandes, jetzt die wichtigste Tribüne der Reformer. Olszewski ging im Herbst 1955 hin und fand seinen Platz in der Redaktion, in der es zuging wie in einer Zentrale der Revolution.

„Po Prostu“-Redaktion.

„Po Prostu“. Titelseite.

Der berühmteste Artikel Olszewskis, gemeinsam geschrieben mit weiteren zwei Kollegen, trug den Titel „Den Leuten von der Heimatarmee entgegenkommen“ („Na spotkanie ludziom z AK“) und erschien im März 1956. Zehntausende Untergrundkämpfer der Heimatarmee (Armia Krajowa – AK), die während des 2. Weltkrieges der legalen polnischen Regierung im Londoner Exil unterstanden, hatten für ein freies und demokratisches Polen gekämpft. Nach dem Krieg wurden sie von den Kommunisten verfolgt, eingesperrt, hingerichtet, schikaniert, der Existenzgrundlage beraubt, dazu auf Schritt und Tritt als „Verräter an der Sache des Volkes“, „Dreckige Gnome der Reaktion“ verunglimpft. Das, so die Autoren, war ein schreiendes Unrecht.

Kommunistisches Plakat von 1945. „Der Riese und (unten) der dreckige Gnom der Reaktion“ .

„Po Prostu“, mit 150.000 Exemplaren verkaufter Auflage viel gelesen und beachtet, entwickelte sich zunehmend zu einem wichtigen politischen Machtfaktor im Kampf um Reformen. Gomułka, der im Oktober 1956, getragen von einer Woge der Begeisterung, an die Spitze der Partei trat, begann sehr schnell damit das Blatt auszubremsen. Im Oktober 1957, begleitet von heftigen und brutal auseinandergetriebenen studentischen Straβenprotesten, wurde die Zeitschrift auf Geheiβ der Partei eingestellt.

Die Freiräume schrumpften schnell. Einer der letzten war der Klub des Schiefen Rades. So genannt nach des Krummen-Rades-Gasse in der Warschauer Altstadt, wo er 1955 entstanden war. Er galt nach der Schlieβung von „Po Prostu“ als eines der letzten Foren der freien politischen Diskussion. Zu den Klubtreffen an jedem Donnerstag um 18.00 Uhr kamen Massen von Zuhörern. Jan Olszewski war im Klubvorstand und mit ihm, etliche ehemalige „Po Prostu“-Kollegen.

Die Schlieβung des Klubs 1962 markierte das endgültige Ende des politischen Tauwetters im kommunistischen Polen, das im Oktober 1956, mit dem Machtantritt Gomułkas, seinen Höhepunkt erreicht hatte. Die uneingeschränkte Parteiherrschaft war wiederhergestellt.

Verteidiger in Zeiten des Unrechts

Mitte 1959 bekam Jan Olszewski die Zulassung als Rechtsanwalt. Im kommunistischen Machtbereich durfte der Beruf nicht selbständig, sondern musste in staatlich vorgegebenen Sozietäten ausgeübt werden. Olszewski arbeitete in der Sozietät Nr. 25, die ihren Sitz am Warschauer Plac Zbawiciela (Erlöserplatz) hatte und im Ruf stand, die Crème de la Crème der hauptstädtischen Anwaltschaft zu versammeln.

Rechtsanwalt Jan Olszewski in den Sechzigerjahren.

Im kommunistischen Polen war die Zahl der Anwälte staatlicherseits begrenzt, aber die Rechtsanwaltschaft genoss immerhin eine gewisse Autonomie. Die meisten Berufsbelange regelten die Anwälte im Rahmen ihrer Selbstverwaltung, die das Justizministerium und die Partei aus der Ferne aufmerksam beobachteten und bei der sie, falls notwendig, hie und da eingriffen. Ein ständiges Ringen um die Grenzen der anwaltlichen Autonomie spielte sich ab.

Olszewski gehörte zu einer kleinen, in der Öffentlichkeit hochangesehenen Gruppe von Anwälten, die sich nicht scheute Mandate in politischen Prozessen zu übernehmen. 1964 verteidigte er den Schriftsteller Melchior Wańkowicz, der wegen seiner Kontakte zum polnischsprachigen amerikanischen Sender Radio Free Europe vor Gericht stand. Ebenfalls zu seinen Mandanten zählten die jungen Trotzkisten Jacek Kuroń und Karol Modzelewski, die 1964 in einem offenen Brief die Parteiführung mangelnder Marxismustreue bezichtigten. Zu seinen Klienten gehörte auch Janusz Szpotański, der wegen antikommunistischer Satire 1968 zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Und Adam Michnik, eine der zu drei Jahren Haft verurteilten Führungspersonen der Studentenproteste vom März 1968 sowie weitere Teilnehmer der Unruhen.

Ein Warnschuss sollte für Olszewski die zeitweilige (1968-1970) Entziehung der Zulassung als Anwalt sein. Ihn dauerhaft aus dem Beruf zu verbannen, wagten die Kommunisten dann doch nicht. Zu groβ war seine Autorität, zu gut sein Ruf, umso mehr, als er in politischen Prozessen seine Mandanten ohne ein Honorar verteidigte.

Ab Mitte 1970 durfte Olszewski wieder die Anwaltsrobe tragen. Sofort übernahm er ein Mandat im groβen politischen Prozess der Mitglieder der konspirativen Jugendorganisation Ruch („Bewegung“), die antikommunistische Parolen an Häuserwände malte, Flugblätter herstellte und geplant hatte ein Lenin-Museum in der Nähe von Kraków in Brand zu stecken.

Unruhen im Dezember 1970. Panzer auf dem Langen Markt in Gdańsk.

Im Dezember 1970 fegten schwere Arbeiterunruhen in den Küstenstädten Szczecin, Gdynia, Gdańsk und Elbląg den inzwischen greisen, sklerotischen und allgemein verhassten Parteichef Gomułka von seinem Posten. Die Unruhen waren durch eine starke Erhöhung der Lebensmittelpreise ausgelöst worden, die der neue Parteichef und Hoffnungsträger Edward Gierek wieder zurücknahm.

Parteichef und Hoffnungsträger Edward Gierek.

Bis Mitte der 1970er Jahre versank Polen in einem süβen Konsumtraum, verkörpert durch Coca-Cola, Marlboro-Zigaretten und dem „polnischen Volkswagen“, dem kleinen Fiat 125, finanziert von der Gierek-Mannschaft mit westlichen Krediten. Etwa 1975 war der Traum vorbei, die Volksrepublik Polen zahlungsunfähig und die Arbeiterschaft wieder auf den Straβen, wie in der Stadt Radom im Juni 1976. Auch die Intellektuellen protestierten erneut.
Festnahmen- und Verhaftungswellen rollten durch das Land.

Olszewskis Ratgeber „Der Bürger und die Staatssicherheit“.

Olszewski kam damals auf die Idee, den Ratgeber „Der Bürger und die Staatsicherheit“ zu verfassen. Stasi und Miliz hielten sich oft nicht einmal an die eigenen kommunistischen Gesetzte und Regularien im Umgang mit festgenommenen Oppositionellen. Olszewskis Fibel, im Untergrund massenweise gedruckt und vervielfältigt, half den sonst oft eingeschüchterten und hilflosen Opfern sich der Willkür entgegenzusetzen.

Wenig reden, Beistand leisten

Olszewski unterschrieb zwar Protestbriefe, unterstützte mit Rat und Tat verschiedene demokratische Initiativen, ohne jedoch öffentlich groβ in Erscheinung zu treten. Keine Interviews für ausländische Medien, keine Teilnahme an Protestaktionen. Olszewski verstand sich als ein Berater, der dem gewaltlosen antikommunistischen Widerstand juristischen Beistand leistete.

Wie wichtig dieser Beistand war, zeigte sich im Frühherbst 1980. Nach den Arbeiterprotesten im ganzen Land, die wieder einmal durch Lebensmittelpreiserhöhungen ausgelöst wurden und dieses Mal Parteichef Edward Gierek stürzten, entstand Solidarność, die erste freie Gewerkschaft im Ostblock. Olszewski war es, der die Delegierten aus Hunderten von Betrieben, die am 17. September 1980 in Gdańsk zusammenkamen, um über die Zukunft der gerade entstandenen Bewegung zu beraten, davon überzeugte, keine Regionalgewerkschaften, sondern eine landesweite Gewerkschaft zu gründen.

Nur so sei man stark genug, den Regierenden die Stirn zu bieten. Olszewski entwarf auch die Solidarność-Satzung und stand einer Gruppe von Juristen vor, die die Registrierung der Gewerkschaft beim Woiwodschaftsgericht in Warschau vornahm.

Olszewski bei der Registrierung der Gewerkschaft Solidarność beim Woiwodschaftsgericht in Warschau mit Lech Wałęsa und Solidarność-Berater Tadeusz Mazowiecki.

Nach sechzehn Monaten des „Solidarność-Freiheitskarnevals“ verhängte General Jaruzelski am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht in Polen. Solidarność wurde verboten, die volle Parteiherrschaft mit Hilfe von Panzern wiederhergestellt.

Wieder verbrachte Olszewski die Zeit bis 1989 als Verteidiger von Oppositionellen. Als Nebenkläger vertrat er die Familie von Pfarrer Jerzy Popiełuszko bei dem Prozess seiner Stasi-Mörder in Toruń 1984 bis 1985. Sein Schlussplädoyer (das Verfahren wurde im Rundfunk übertragen) hinterlieβ einen tiefen Eindruck.

Olszewski als Nebenkläger vertrat die Familie von Pfarrer Jerzy Popiełuszko bei dem Prozess seiner Stasi-Mörder in Toruń 1984 bis 1985.  Mit Rechtsanwaltskollegen Andrzej Grabiński (l.) und Edward Wende.

Im Auftrag der Kirche vermittelte er zwischen der Untergrund-Solidarność und den Behörden, half mit, den politischen Weg zu den Gesprächen am runden Tisch (6. Februar bis 5. April 1989) zu bahnen. Am Ende dieser Gespräche stand der Anfang vom Ende der kommunistischen Volksrepublik Polen: halbfreie Wahlen am 4. Juni 1989 und die Bildung der ersten nichtkommunistischen Regierung am 12. September 1989.

Probleme mit Wałęsa

Doch in der siegreichen Solidarność entbrannte ein schwerer Konflikt. Lech Wałęsa fühlte sich von Tadeusz Mazowiecki und der Beratergruppe um Prof. Bronisław Geremek, Adam Michnik und Jacek Kuroń übergangen. Wałęsa saβ in der Solidarność-Zentrale in Gdańsk, während die anderen in Warschau die groβe Politik machten. Mazowiecki als Regierungschef, Kuroń als Sozialminister, Michnik als Abgeordneter und Chefredakteur der nun führenden Zeitung des Landes „Gazeta Wyborcza“, Geremek als Solidarność-Fraktionschef im Sejm. Wałęsa dachte, er könnte Politik per Telefonanweisungen machen, doch keiner der Erwähnten nahm seine Anrufe entgegen.

Grollend drängte Wałęsa nun darauf, den im Juli 1989 gemäβ den Vereinbarungen am runden Tisch zum Staatspräsidenten gewählten General Jaruzelski durch zeitnah durchzuführende  Präsidentschaftswahlen abzusetzen. Diese fanden im Dezember 1990 statt und Wałęsa wurde Staatschef.

Vereidigung von Staatspräsident Lech Wałęsa vor dem Sejm und Senat am 22. Dezember 1990.

Olszewski unterstütze ihn in dem Konflikt. Er war überzeugt davon, Wałęsa werde seine Wahlversprechen einhalten und eine radikale Entfernung von kommunistischen Kadern, Stasi-Leuten und Stasi-Zuträgern aus dem Staatswesen vornehmen.

Niemand im Solidarność-Lager war sich damals bewusst, dass Wałęsa ein düsteres Geheimnis hütete. Zwischen 1970 und 1976 hatte er seine Arbeitskollegen in der Danziger Werft als Stasi-IM Bolek bespitzelt und denunziert und hatte dafür nachweislich Geldbeträge erhalten. Von der Angst getrieben enttarnt zu werden, tat Wałęsa genau das Gegenteil von dem, was er versprochen hatte.

Er umgab sich in seiner Präsidialkanzlei und in dem Teil des Staatsapparates, auf den er Einfluss hatte, mit zwielichtigen Figuren aus dem ehemaligen Partei- und Stasiapparat.
Daraufhin wandten sich seine bisher engsten Berater, die Brüder Kaczyński von ihm ab. Dasselbe taten viele andere Persönlichkeiten aus dem Solidarność-Lager. So auch Olszewski.

Mehr noch. Erschrocken von der Vorstellung, die Russen, die von seiner Spitzeltätigkeit ganz bestimmt wussten, könnten ihn durch gezielte Indiskretionen auffliegen lassen, begann Wałęsa Polens Bestreben der Nato und der EU beizutreten zu untergraben. Der KGB hatte in der kommunistischen Zeit Einblick in alle polnischen Stasi-Unterlagen, zog nach Herzenslust Kopien oder lieβ sich Mikrofilme anfertigen. Im Fall des weltberühmten Friedensnobelpreisträgers und Arbeiterführers Wałęsa war er ganz bestimmt auf dem Laufenden.

Und so ging Wałęsa, mir nichts, dir nichts, mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit eine Nato-2 und eine EU-2 für die ostmitteleuropäischen Staaten zu schaffen. Er sprach sich auch dafür aus, die russischen Armeestützpunkte in Polen in polnisch-russische Joint Ventures zu verwandeln. Das würde die russische Anwesenheit in Polen auf Dauer zementieren und den Nato-Beitritt endgültig begraben.

Der Politiker

Das war der Stand der Dinge, als Ende Oktober 1991 die ersten völlig freien Parlamentswahlen in Polen stattfanden. Möglichst viele politische Kräfte sollten bei diesen Wahlen berücksichtigt werden und so zogen neunundzwanzig Parteien in den 460-köpfigen Sejm ein. Darunter auch die Zentrumsvereinigung der Brüder Kaczyński mit dem Abgeordneten Jan Olszewski.

Unter diesen Umständen eine handlungsfähige Regierung zu bilden schien ein Ding der Unmöglichkeit, doch das Wunder geschah. Mitte Dezember entstand, nach vielem Hin und Her, ein Fünf-Parteien-Kabinett mit einer wackeligen Mehrheit und Jan Olszewski an der Spitze. Staatspräsident Wałęsa lieβ die Koalition zähneknirschend gewähren.

Bis heute war es die kurzlebigste polnische Regierung. Sie überdauerte nur 167 Tage (21. Dezember 1991 bis 4. Juni 1992). Doch keine Regierung vor und nach ihr, hat sich so tief in der neuesten politischen Geschichte Polens eingeprägt.

Olszewski verliest seine Regierungserklärung im Sejm am 21. Dezember 1991.

Olszewski brach mit dem hyperliberalen Programm seiner Vorgänger in der Wirtschaftspolitik und beschritt neue Wege in der Innen- und Auβenpolitik. Einstellung der raubbauartigen Privatisierung der Industrie. Der Satz aus seiner Regierungserklärung „Die unsichtbare Hand des Marktes ist oft die Hand eines Diebes“ gehört in Polen seither zu den geflügelten Worten.

„Wir wollen eine Marktwirtschaft, die in einem genau abgesteckten rechtlichen Rahmen funktioniert, damit christliche Familienwerte und die Werte anderer menschlicher Gemeinschaften geschützt bleiben. (…) Die Privatisierung darf nicht weiterhin ein Vorgang sein, der Reiche noch reicher macht und Arme noch mehr verarmen lässt“, hieβ es in Olszewskis Regierungserklärung vom 21. Dezember 1991.

Eine radikale Säuberung der Geheimdienste, der Armee, der Polizei und der staatlichen Verwaltung von alten kommunistischen Kadern sollte stattfinden. Ein klarer Kurs hin zu Nato- und EU-Mitgliedschaft wurde eingeschlagen. Alles was Lech Wałęsa nicht wollte.

Der vom ersten Augenblick an schwelende Konflikt loderte zum ersten Mal am 22. Mai 1992 auf. Wałęsa war seit einem Tag in Moskau, um gemeinsam mit Präsident Jelzin den polnisch-russischen Vertrag über Freundschaft und gut nachbarschaftliche Zusammenarbeit zu unterschreiben, der noch vor Olszewskis Amtsantritt ausgehandelt worden war. Ein Punkt, war die Umwandlung der russischen Armeestützpunkte in Polen in russisch-polnische Joint Ventures.

Staatspräsidenten Wałęsa und Jelzin in Moskau. Mai 1992.

Olszewski zögerte nicht, Wałęsa nach Moskau ein chiffriertes Telegramm zu schicken, das dem Staatspräsidenten unmittelbar vor der Unterzeichnung diskret zugestellt wurde. Darin stand, die Regierung entziehe Wałęsa die Unterzeichnungsvollmachten, sollte er den Joint-Venture-Punkt nicht aus dem Vertrag entfernen. Wutschnaubend bat Wałęsa Jelzin um Nachverhandlungen. Die Joint Ventures verschwanden aus dem Text, aber Wałęsa schwor damals Rache.

Die Möglichkeit ergab sich beinahe umgehend. Am 28. Mai 1992 stimmte der Sejm dem Ad-hoc-Antrag eines Abgeordneten zu, die Regierung zu verpflichten, in den damals nicht zugänglichen Stasi-Archiven innerhalb von sechs Tagen zu überprüfen, ob es im Kabinett und im Parlament Stasi-IMs gab.

Innenminister Antoni Macierewicz und seine Mitarbeiter erfüllten diesen Auftrag in hektischer Tag- und Nachtarbeit. Am 3. Juni 1992 brachte Macierewicz die Liste in einem versiegelten Umschlag in den Sejm. Lange blieb sie nicht geheim. Vierundsechzig Namen standen drauf. Ein zweiter Umschlag enthielt zwei Namen: den Wałęsas und den des Parlamentspräsidenten Wiesław Chrzanowski.

In einer Blitzaktion organisierte Wałęsa eine parteienübergreifende Koalition der Angst, die noch in derselben Nacht in einer Abstimmung die Regierung Olszewski zu Fall brachte. Es galt, die Büchse der Pandora schleunigst zu schlieβen, was auch gelang. Erst gut zehn Jahre später wurde eine polnische Gauck-Behörde gegründet, das Institut des Nationalen Gedenkens, und die Stasi-Archive wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Sofort danach befahl Wałęsa seinen Vertrauensleuten die eigentlich unzugänglichen polnischen Stasiarchive zu durchforsten. Er lieh sich seine Stasiakten aus und gab sie nach einiger Zeit mit herausgerissenen Seiten zurück. Doch alle Hinweise auf seine Spitzeltätigkeit, verstreut über verschiedene Dienststellen, Kataloge und Karteien konnte er nicht vernichten.

Wałęsa konnte auch nicht wissen, dass sein Partner bei den Gesprächen am runden Tisch, Innenminister und Stasi-Chef, General Czesław Kiszczak  die wichtigsten Beweise gegen ihn bei seiner Entlassung einfach mit nach Hause genommen hatte. All diese Unterlagen kamen nach und nach zum Vorschein und fügten sich etwa 2016 zu einem Bild, das keinen Zweifel mehr daran lässt. Wałęsa hat zwischen 1970 und 1976 seine Kollegen von der Werft gegen Spitzelhonorare denunziert, auch wenn er es vehement abstreitet. So gesehen blieb Olszewskis Sturz auf Dauer wirkungslos.

Das Symbol

Olszewski versuchte sich danach noch einige Male in der Politik. Ohne Erfolg. Je weiter jedoch seine kurze Regierungszeit zurücklag, umso deutlicher sah man, wie wichtig sein Anliegen war, die tiefe Verstrickung des kommunistischen mit dem neuen Polen zu beseitigen. Es war weitestgehend gelungen die DDR-Kader und Strukturen vom wiedervereinigten Deutschland fernzuhalten. Ob in der Justiz, in den Medien oder in der Wirtschaft. In Polen wurde diese Selbstverständlichkeit, bis heute, noch lange nicht umgesetzt.

Olszewski war der Jurist, Journalist und Politiker, der sich von den Kommunisten nie hatte korrumpieren lassen. Deswegen schlug ihm so viel Ablehnung und Hass all jener entgegen, die den Verlockungen und Drohungen der Kommunisten nicht gewachsen waren. Olszewski wurde mit der Zeit zur Symbol- und Leitfigur all derer, die sich nicht mit einem Polen zufriedengeben wollten, in dem Stasi-Agenten und Partei-Kader unter dem Deckmantel der Demokratie weiterhin das Sagen haben.

Beisetzungsfeierlichkeiten Jan Olszewskis. Staatspräsident Andrzej Duda hielt die Trauerrede in der Warschauer Kathedrale. Zehntausende gaben Olszewski das letzte Geleit.

Bescheiden, zurückhaltend, aber im Kern unverbrüchlich in seiner Haltung lebte er weitgehend zurückgezogen und in den letzten Lebensjahren, schwer krank, in Warschau. Zehntausende, die seine Auffassung vom Anstand in der Politik teilten, gaben ihm das letzte Geleit.

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