Nachdenklicher Jude, begeisterter Israeli, Polens guter Freund
Am 3. Februar 2023 starb Schewach Weiss.
Der Ruf eines Freundes Polens und der Polen eilte ihm voraus. Er wurde in Israel oft zu Rundfunkdebatten eingeladen. Eines Tages erteilte ihm einer der Moderatoren mit der spitzbübischen Bemerkung das Wort: „Und jetzt wird uns Professor Weiss, wie gewohnt, etwas Gutes über Polen erzählen“.
Schewach Weiss, der ehemalige israelische Botschafter in Polen, war ein „Kind des Holocaust“, ein namhafter israelischer Politiker, Diplomat, Professor der Politikwissenschaften, Autor zahlreicher wissenschaftlicher und literarischer Bücher, Publizist. Mit unnachahmlicher Geduld und Gutmütigkeit setzte er sich jahrzehntelang für die Annäherung zwischen Polen und Israel ein und war eine Autorität in polnisch-jüdischen Angelegenheiten.
Gerührt, wieder in Polen zu sein
Weiss kam 1985 zum ersten Mal nach vierzig Jahren nach Polen zurück, um das ehemalige deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz zu besuchen. „Es war eine surreale Situation, eine Reise hinter den Eisernen Vorhang, in ein damals graues, tristes, kommunistisches Land. Aus politischen Gründen unterhielt Israel zu jener Zeit, seit 1967, keine diplomatischen Beziehungen zu Polen. Moskau hatte nach dem Sechstagekrieg seinen Satellitenstaaten befohlen, jegliche Beziehungen zu Israel abzubrechen, also musste sich auch Warschau dem anpassen. Nur Rumänien hatte sich nicht gebeugt.
Eine Gruppe ehemaliger jüdischer Kinder, Opfer von Dr. Josef Mengele und die das Lager überlebt hatten, reiste nach Auschwitz. Ihnen konnten die kommunistischen Warschauer Behörden die Einreise nicht verweigern. Sie sollten von zwei Mitgliedern des israelischen Parlaments begleitet werden. Wie durch ein Wunder erhielten auch wir beide polnische Visa und fuhren nach Auschwitz. Es war schrecklich, diejenigen zu begleiten, die furchtbare Gräueltaten als Kinder überlebt hatten. Sie zeigten uns, wo Mengele sie gequält hatte, was er ihnen angetan hatte. Für jeden, der auch nur einen Funken Menschlichkeit in sich trägt, ist ein erster Besuch in Auschwitz ein Schock. Für mich war es eine doppelt schreckliche Erfahrung, gerade wegen dieser Kinder. So etwas vergisst man nie“, berichtete Weiss Jahre später.
„Ich war gerührt, nach so vielen Jahren wieder in Polen zu sein. Mein Polnisch war nach all den Jahren zu einem grammatisch fehlerhaften und dürftigen Idiom verkommen, aber jedes polnische Wort, das ich hörte, fühlte sich an wie die Rückkehr in eine verlorene Kindheit“, erinnerte er sich.
Von 2000 bis 2003 war Weiss israelischer Botschafter in Polen. „Ich hätte es in mehreren anderen Hauptstädten sein können, aber ich habe mich entschieden, nach Polen zurückzukehren. Ich fühle mich zu diesem Land, das einst meine Heimat war, hingezogen, zu seiner Natur und Kultur, zur polnischen Sprache. Andererseits war es schwer zurückzukehren, weil es für uns ein furchtbar trauriger Ort ist. Hier hat sich die größte Tragödie unserer Nation abgespielt“, sagte Weiss damals.
Er begann seine diplomatische Mission in Warschau in einer schwierigen Zeit, als um Jedwabne, einem Ort in Nordostpolen, eine heftige Kontroverse ausbrach. Am 10. Juli 1941, etwa drei Wochen nach dem deutschen Einmarsch, fand dort ein Pogrom an der jüdischen Bevölkerung statt. Angestachelt und begleitet vom deutschen Einsatzkommando des SS-Hauptsturmführers Hermann Schaper, durchgeführt von mehreren Dutzend polnischen Einwohnern. Mindestens 350 Juden wurden getötet; die meisten von ihnen starben in einer in Brand gesetzten Scheune.
Am 10. Juli 2001, während der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag dieser Tragödie, entschuldigte sich Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski in Anwesenheit des israelischen Botschafters Schewach Weiss offiziell in eigenem und „im Namen der Polen, deren Gewissen durch dieses Verbrechen berührt wurde“. Am Rande der Feierlichkeiten in Jedwabne sagte Weiss: „Es gab auch andere Scheunen, in einer von ihnen habe ich mich mit Erfolg versteckt.“
„Unter den Polen gab es viele Retter. Einige, wie Irena Sendler, retteten Tausende, andere retteten Einzelne. Vor allem aber dürfen wir nicht vergessen, was unser Talmud lehrt: Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“, sagte Weiss.
„Man wirft den Polen vor, nicht genug für die Rettung der Juden getan zu haben. Das sagen Leute, die keine Ahnung davon haben, in welchem schrecklichen Dilemma die Polen steckten, die Juden gerettet haben. Für Fremde mussten sie ihr eigenes Leben und das ihrer Familie riskieren, denn auf das Verstecken von Juden stand im okkupierten Polen die sofortige Todesstrafe für alle Familienmitglieder. Das gab es sonst nirgendwo im besetzten Europa. Die polnischen Gerechten waren große Helden. Aber niemand kann eine solche Haltung von der gesamten Gesellschaft verlangen“, schrieb er seinerzeit in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“.
Weiss protestierte scharf, als der Begriff „polnische Todeslager“ in westlichen Medien auftauchte. „Das ist eine schändliche Lüge und Niedertracht. Schließlich starben in diesen Lagern neben Juden auch Hunderttausende von Polen“, argumentierte er. „Das polnische Land, das für die Juden über achthundert Jahre lang ein Gebiet des gemeinsamen Lebens und des Friedens war, wurde von den Deutschen in ein verfluchtes Land verwandelt“.
21 Monate lang im Keller
Schewach Weiss wurde 1935 im damals polnischen Borysław (heute Ukraine) als Sohn eines vermögenden Lebensmittelhändlers geboren. Die Stadt zählte damals etwa 41.000 Einwohner, darunter ca. 13.000 Juden und war ein bedeutendes Zentrum der Erdölförderung.
„Bis 1939 hatte ich eine schöne Kindheit in Borysław: Mama, Papa, Familie, Bruder, Schwester, Opa eins, Opa zwei, Oma – fantastisch! Von September 1939 bis Juni 1941 war es hart, weil wir unter sowjetischer Besatzung waren, aber es war sehr gut, weil es nicht die deutsche Besatzung war.“
Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen am 1. Juli 1941 gelang der Familie Weiss die Flucht aus dem bald darauf eingerichteten örtlichen Ghetto. „Meine ganze Familie wurde gerettet, ohne die polnischen Helfer wäre das nicht möglich gewesen. Geliebte, wunderbare Menschen. Das sind meine Helden“, schrieb Weiss.
„Zuerst versteckten wir uns im Haus von Herrn und Frau Góral, dann im Haus von Frau Maria Potężna (phonetisch: Potenschna – Anm. RdP) und ihrem Sohn Tomasz. Sie waren unsere polnischen Nachbarn aus Borysław. Dann zogen wir in ein Versteck, eine Doppelwand, die mein Vater in unserem Haus gut vorbereitet hatte. Dort waren wir sieben bis acht Monate lang. Wir haben Frau Lasotowa, eine Ukrainerin, die Freundin meiner Mutter, gebeten, in unser Haus zu ziehen, ohne ihre Hilfe hätten wir nicht überleben können.“
Es gab dramatische Momente. „Eines Tages dachte ich, ich würde verrückt, ich schrie, ich will ein Bonbon haben. Mein Vater sagte zu mir wie zu einem Erwachsenen: »Schewach, wir sind hier acht, du wirst uns umbringen. Wenn du nicht still bist, werden wir dich erwürgen müssen.« In einer Sekunde hatte ich alles verstanden.“
„Als die Deutschen gelernt hatten, dass man in solchen doppelten Wänden Juden aufspüren kann“, folgten weitere Verstecke: ein von Großvater Jitzchak eigens eingerichteter Kellerraum in einem Nachbarhaus, dann ein Kuhstall, schließlich die örtliche Kapelle. „In dem Keller lebten wir 21 Monate lang. Seine Deckenhöhe betrug maximal sechzig Zentimeter, wir sind dort nur auf allen vieren gekrochen. Manchmal konnten wir ihn nachts kurz verlassen. Das Essen warfen uns die Górals und die Potężnys durch ein kleines Kellerfenster rein. Frau Lasotowa betrieb einen Laden und versorgte uns mit Zigaretten und mit Benzin für den Feldkocher“, erinnerte sich Weiss.
„Und dann meine Mutter. Sie war eine Anführerin. Ihre Weisheit, ihr Sinn für Sparsamkeit, wie man das Stück Brot für acht Leute aufteilt, wie man aus einer Kartoffel eine Suppe macht, wie man einen Teller, eine Gabel und einen Löffel für acht Leute benutzt, wie man die Hygiene in diesem schrecklichen Loch aufrechterhält!“
Schewach Weiss Vater lebte bis 1992 in Israel, die Mutter bis 1999. Sie gehörten zu den etwa vierhundert Borysławer Juden, die überlebt hatten.
Auf Umwegen nach Israel
Am 14. Juli 1944 besetzte die Rote Armee Borysław erneut. „Wir hatten bereits zwei Wochen zuvor Kanonendonner gehört. Frau Lasotowa hatte uns einen Zettel zugeworfen, auf dem stand, was gerade passierte. Am Morgen des 14. Juli sahen wir die ersten sowjetischen Soldaten durch unser Fenster. Wir gingen langsam aus dem Keller. Auf der Straße standen Hunderte von Autos, Pferdewagen, Panzern, Soldaten. Wir sahen aus wie Höhlenmenschen, nur Haut und Knochen, lange Haare, wir waren alle schmutzig, verlaust und wankten. Zum ersten Mal seit zwei Jahren konnten wir aufrecht stehen, mein Bruder hielt mich aufrecht. Ich werde diesen Sonnenschein nie vergessen, die Luft war wunderbar, nicht feucht. Ein Essenswagen hielt an und wir bekamen heiße Erbsensuppe von einem sowjetischen Major. Als ich Botschafter war und mit meinem lieben Fahrer Wojtek durch Polen reiste, hielten wir immer am Straßenrand an, um Erbsensuppe mit Brot zu essen. Für mich ist das, das beste Essen der Welt.“
Bald darauf wurden die polnischen Ostgebiete der UdSSR einverleibt. Zwischen 1945 und 1946 zwangen die Sowjets beinahe die gesamte polnische Bevölkerung Ostpolens zur Ausreise hinter die neu gezogene polnische Ostgrenze. Die dabei angewandten Methoden: Drohungen mit Deportationen hinter den Ural, administrative Schikanen, willkürliche Enteignungen; hinzu kamen gewalttätige Übergriffe einer entfesselten Soldateska. Die meisten geretteten Juden, die, wenn sie nicht Kommunisten waren, unter denselben Repressalien zu leiden hatten, schlossen sich diesem Exodus an, so auch die Familie Weiss.
Sie landete im oberschlesischen Gliwice, vormals Gleiwitz, und zog bald darauf ins niederschlesische Wałbrzych, zuvor Waldenburg, wo sich, auf Anregung jüdischer Aktivisten, ein Sammelpunkt von Holocaust-Überlebenden bildete. Gut zweitausend von ihnen hielten sich um die Jahreswende von 1945 auf 1946 in der Kohlegrubenstadt auf.
Mit stillschweigender Duldung der kommunistischen Behörden agierten in Wałbrzych und an anderen Orten Polens Vertreter der „Bricha“, einer konspirativen Organisation mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung Ost- und Ostmitteleuropas, die den Holocaust überlebt hatte, ins britische Mandatsgebiet Palästina zu bringen. Insgesamt etwa 70.000 bis 80.000 Juden verlieβen bis 1948 das zerstörte, von kommunistischer Willkür gekennzeichnete Polen auf den Bricha-Routen, auf der Suche nach einem besseren Leben.
Weiss berichtete: „Von Wałbrzych gingen wir über die tschechische Grenze, dann in die Slowakei, nach Bratislava. Es folgten Wien, ein Flüchtlingslager bei Linz und in Innsbruck. Von da an war ich nur noch mit meiner Schwester unterwegs. Meine Mutter und mein Vater blieben in Österreich, um meinen Vater behandeln zu lassen. Er war in unserem Kellerversteck an Tuberkulose erkrankt. Dann Italien, und schließlich bin ich mit einem falschen Pass allein nach Palästina gegangen. Meine Schwester hat in Italien auf meine Eltern gewartet. Wir hatten Kontakt, schrieben uns Briefe, schickten Fotos, aber ich sah meine Eltern erst vier Jahre später, 1952, wieder.“
Traktorfahrer in der Kinderrepublik
Der siebzehnjährige Schewach Weiss, ein Kind des Holocaust, erreichte Palästina ein halbes Jahr vor der Ausrufung des Staates Israel im Mai 1948. „Ich kam mit dem Schiff und sah die Lichter von Haifa. Das gelobte Land. Ich fühlte mich wie Mose auf dem Berg Nebo. Ich war glücklich, ich konnte nicht glauben, dass es wirklich passiert.“
Es war die erste, heroische Phase des dauerhaften jüdischen Fußfassens im „Land der Urväter“, die vom Pathos des Kibbuzim-Kollektivismus stark geprägt war. Das galt auch für die Landwirtschaftsschule in Hadassim, wo Weiss seine ersten sieben Jahre in Israel verbrachte.
„Das Erziehungssystem dort war von den pädagogischen Ideen Janusz Korczaks beeinflusst, die einige der Juden aus Polen mitgebracht haben. Die Schule und ihr Internat waren fast eine unabhängige Kinderrepublik. Dort lebten die Kinder wichtiger zionistischer Führer, wohlhabender Juden, Kinder von Leuten, die aktiv und beschäftigt waren und wollten, dass ihre Kinder Bildung auf hohem Niveau genossen.
Es gab auch eine Gruppe von Holocaust-Kindern. Gemäß der Vereinbarung mit der »Sochnut« (der jüdischen Agentur, die sich mit Emigrationsfragen befasste) machten wir etwa zehn Prozent der Schüler aus. Wir mussten die Räume und die Toiletten sauber halten, wir hatten Dienst in der Küche, wir trugen das Essen in der Kantine aus, aber das Wichtigste war, dass wir jeden Tag vier Stunden gelernt und vier Stunden lang in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Ich war Traktorfahrer und sehr besorgt um mein Ansehen als Kind des Holocaust, denn wir wurden verächtlich »sabonim« – Seife genannt. Es war eine schreckliche Gedankenverknüpfung, aber Kinder kennen nun mal oft kein Erbarmen. Ich wollte ihnen zeigen, dass ich keine Seife war. In Hadassim wurde ich der beste Sportler unter den jungen Israelis. Als Traktorfahrer fuhr ich übrigens einen alten polnischen „Ursus“-Traktor. Dann war ich in der Armee“.
Unteroffizier Weiss macht die größte Eroberung seines Lebens
In der Armee machte Schewach Weiss die größte Eroberung seines Lebens. „Zuerst sah ich sie 1956 auf der Titelseite einer sehr populären Wochenzeitschrift. Die Bildunterschrift lautete: »Ester Kachanowicz wurde zur schönsten Soldatin Israels gewählt«„.
„Haben Sie sich in das Mädchen auf dem Titelbild verliebt?“, fragte ihn die Journalistin der Zeitschrift „Viva“ im Juli 2017 in einem Interview.
„Mehr oder weniger. Ich diente zu dieser Zeit in einem Kommando im Norden des Landes, war für die Fahrzeuglogistik und für Kulturveranstaltungen zuständig. Eines Tages kam Ester zu unserem Kommando. Alle waren verrückt nach ihr: der Arzt, der Pressesprecher, die Offiziere. Und ich war nur ein Unteroffizier. Aber das Schicksal hat mich begünstigt. Der Kommandant der Nordtruppen, General Jitzchak Rabin, ordnete an, dass nach dem Seder Pessach, dem Pessach-Essen, etwas für die Soldaten organisiert werden sollte. Ich wandte mich an Ester und sagte: »Hier hast du das Buch von Natan Alterman. Heute Abend wirst du dieses und dieses Gedicht lesen.« Sie war einverstanden.
Und so fing alles an. Ich war 20 Jahre alt. Nach drei Jahren haben wir geheiratet. Und viele Jahre später erzählte mir Ester, dass sie, als sie mich ihrer Mutter vorstellte, von ihr hörte: »Nimm ihn, er wird Premierminister«“. Ich wurde zwar nicht Premierminister, aber ich bin immerhin Vorsitzender der Knesset geworden. Und Premierminister Jitzchak Rabin sagte, wenn er uns sah: „Ich bin euer Ehestifter“.
Sie waren siebenundvierzig Jahre verheiratet. „Dreizehn Jahre lang kämpften wir um ihr Leben. Es gab keinen Ort in Israel, in Europa, in der Welt, an dem wir nicht waren. Ester ist am Valentinstag 2005 verstorben. In den letzten anderthalb Monaten ihres Lebens waren wir ständig zusammen. Ich schlief neben ihrem Krankenhausbett. Wir haben bis zum letzten Tag miteinander gesprochen. Ich habe bis zum Schluss auf ein Wunder gewartet.“
„Wie war Ester so?“, lautete eine weitere Frage.
„Intelligent, freundlich, gut, wunderschön. Ich habe Ester immer geliebt, aber ich war in Jerusalem, sie war in Haifa. Nach ihrem Tod liebe ich sie noch mehr. Ich vermisse sie sehr. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich Tag und Nacht bei ihr sein wollen, um sie nicht einmal für eine Sekunde zu verlassen.“
„Heilt die Zeit nicht die Wunden?“
„Nein, es wird immer schlimmer. Ich schaue auf ihren Platz am Tisch. Er ist leer. Ich habe morgens immer das Frühstück vorbereitet, jetzt gibt es niemanden, für den ich es machen könnte. Ich habe ihr Dutzende von Briefen geschrieben, sie mehrmals am Tag angerufen. Nach ihrem Tod habe ich im Haus nichts verändert. All ihre Sachen, Mäntel, Schuhe, Kleider sind noch so, wie sie sie hinterlassen hat. Freunde sagen: »Schewach, wechsle die Wohnung«.“
„Wäre es danach einfacher für Sie?“
„Aber ich will kein leichteres Leben haben. Meine Ester im Grab, und ich soll ein leichteres Leben führen? Ein Paar sollte gemeinsam sterben.“
Sein Mentor war Jitzchak Rabin
Als 1968 die Awoda, die Arbeitspartei, eine zionistische Partei der linken Mitte, gegründet wurde, begann Weiss, sich in ihr zu engagieren. Er promovierte 1969, erhielt 1974 eine Professur und wurde Direktor für Politikwissenschaft an der Universität Haifa. Danach war er Dekan der Fakultät für Journalismus an derselben Hochschule. Anschließend ging er in die Kommunalpolitik, wurde Ratsmitglied in Haifa für die Arbeitspartei. 1981 hat man ihn für die Arbeitspartei in die Knesset gewählt. Weiss gehörte ihr fünf Wahlperioden lang an, bis 1999, davon zwei als stellvertretender Vorsitzender und eine (von 1992 bis 1996) als Vorsitzender.
„In dieser Zeit war Jitzchak Rabin der Mann, mit dem ich sehr eng verbunden war, der mich beeinflusst hat, und ich habe ihn auch beeinflusst. Er war einer der Führer der Arbeitspartei. Er war von 1974 bis 1977 Premierminister, dann verlor er die Wahl. Er kehrte 1984 als Verteidigungsminister in die Koalition, in die Regierung zurück und war Ministerpräsident von Israel von 1992 an bis zu seinem tragischen Tod, als er von einem Juden, dem Faschisten Jigal Amir, ermordet wurde. Wir standen uns bei der Planung der Koalition mit der linken Meretz und der ultraorthodoxen Schas-Partei sehr nahe; er schlug mich als Präsidenten der Knesset vor.
Jitzchak Rabin war eine beeindruckende Persönlichkeit. Ein politischer Falke, der sich in eine Friedenstaube verwandelt hat. 1993 begann er den Friedensprozess mit den Palästinensern. Als Vorsitzender der Knesset bin ich sechs Mal an der Seite von Rabin mit Jassir Arafat zusammengetroffen. Ich war 1994 in Oslo, als beiden der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Das waren wirklich hoffnungsvolle Zeiten. Leider gehören sie der Vergangenheit an.
Als Rabin am Abend des 4. November 1995 während der großen Friedenskundgebung auf dem Platz der Könige Israels in Tel Aviv ermordet wurde, stand ich nur wenige Meter von ihm entfernt. Wenn ich einen idealen Politiker wählen müsste, dann wäre es Jitzchak Rabin: sachlich, gründlich, pedantisch, eine Autorität. Er hat nicht zu viel geredet, bevor er etwas versprochen hat, aber wenn er etwas versprochen hat, hat er es gehalten. Ein sehr verantwortungsbewusster Mann! Wir haben uns so sehr geliebt! Es ist eine sehr, sehr traurige Sache!“, sagte Weiss in einem Interview für die Zeitung „Rzeczposopolita“.
Polen die Leviten gelesen
Nach dem Tod seiner Frau verbrachte Weiss immer mehr Zeit in Polen. Er richtete sich ein Büro in Warschau ein, in dem seine polnische Assistentin Ewa Szmal stets die Stellung für ihn hielt. Mit ihr bereitete er seine Vorlesungen und Seminare an der Fakultät für Politische Wissenschaften der Warschauer Universität vor. Sie führte seinen Terminkalender, der gut gefüllt war mit Medienauftritten und Gedenkveranstaltungen. Als Quartier diente dem grauhaarigen Ex-Botschafter das Warschauer Uni-Hotel „Hera“ am Łazienki-Park, wo man ihn oft bei ausgedehnten Spaziergängen treffen konnte.
Schewach Weiss blieb auch in seinem Ruhestand ein israelischer Patriot, der sich nicht scheute, seiner zweiten Heimat Polen die Leviten zu lesen, wenn sie sich mit der israelischen Politik auf Kollisionskurs befand.
Das betraf die, letztendlich zurückgenommene, Novelle zum Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens, die die pauschale Behauptung unter Strafe stellte, Polen als Staat oder die Nation als Ganzes hätten sich am Holocaust beteiligt. Er unterstütze auch das Anliegen Israels, das schwerst kriegsgeschädigte Polen solle jüdischen Organisationen Entschädigungen in Höhe von Abermilliarden von Euro für das Eigentum der drei Millionen von den Deutschen ermordeten polnischen Juden zahlen. Hier blieb Polen standhaft und verwies, unter Berufung auf stichhaltige Argumente, auf Deutschland als den eigentlichen Adressaten dieser Forderungen.
Andererseits nahm Weiss auch kein Blatt vor den Mund, wenn israelische Politiker oder Medien sich abfällig über Polen äußerten. Wohltuend an seinen Wortmeldungen in den oft sehr emotional geführten Debatten waren seine ruhige Art und auf die Schlichtung bedachte Wortwahl. Darauf beruhte der Respekt, den man ihm an der Weichsel zollte. Das hob auch Staatspräsident Andrzej Duda hervor, als er Schewach Weiss im Januar 2017 in Jerusalem mit der höchsten polnischen Auszeichnung, dem Orden des Weißen Adlers, dekorierte.
Schewach Weiss fand seine letzte Ruhestätte auf dem Jerusalemer Nationalfriedhof auf dem Herzlberg, unweit des Grabes seines Mentors Jitzchak Rabin.
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