Nachdenklicher Jude, begeisterter Israeli, Polens guter Freund

Am 3. Februar 2023 starb Schewach Weiss.

Der Ruf eines Freundes Polens und der Polen eilte ihm voraus. Er wurde in Israel oft zu Rundfunkdebatten eingeladen. Eines Tages erteilte ihm einer der Moderatoren mit der spitzbübischen Bemerkung das Wort: „Und jetzt wird uns Professor Weiss, wie gewohnt, etwas Gutes über Polen erzählen“.

Schewach Weiss, der ehemalige israelische Botschafter in Polen, war ein „Kind des Holocaust“, ein namhafter israelischer Politiker, Diplomat, Professor der Politikwissenschaften, Autor zahlreicher wissenschaftlicher und literarischer Bücher, Publizist. Mit unnachahmlicher Geduld und Gutmütigkeit setzte er sich jahrzehntelang für die Annäherung zwischen Polen und Israel ein und war eine Autorität in polnisch-jüdischen Angelegenheiten.

Gerührt, wieder in Polen zu sein

Weiss kam 1985 zum ersten Mal nach vierzig Jahren nach Polen zurück, um das ehemalige deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz zu besuchen. „Es war eine surreale Situation, eine Reise hinter den Eisernen Vorhang, in ein damals graues, tristes, kommunistisches Land. Aus politischen Gründen unterhielt Israel zu jener Zeit, seit 1967, keine diplomatischen Beziehungen zu Polen. Moskau hatte nach dem Sechstagekrieg seinen Satellitenstaaten befohlen, jegliche Beziehungen zu Israel abzubrechen, also musste sich auch Warschau dem anpassen. Nur Rumänien hatte sich nicht gebeugt.

Schewach Weiss in Auschwitz 1994.

Eine Gruppe ehemaliger jüdischer Kinder, Opfer von Dr. Josef Mengele und die das Lager überlebt hatten, reiste nach Auschwitz. Ihnen konnten die kommunistischen Warschauer Behörden die Einreise nicht verweigern. Sie sollten von zwei Mitgliedern des israelischen Parlaments begleitet werden. Wie durch ein Wunder erhielten auch wir beide polnische Visa und fuhren nach Auschwitz. Es war schrecklich, diejenigen zu begleiten, die furchtbare Gräueltaten als Kinder überlebt hatten. Sie zeigten uns, wo Mengele sie gequält hatte, was er ihnen angetan hatte. Für jeden, der auch nur einen Funken Menschlichkeit in sich trägt, ist ein erster Besuch in Auschwitz ein Schock. Für mich war es eine doppelt schreckliche Erfahrung, gerade wegen dieser Kinder. So etwas vergisst man nie“, berichtete Weiss Jahre später.

„Ich war gerührt, nach so vielen Jahren wieder in Polen zu sein. Mein Polnisch war nach all den Jahren zu einem grammatisch fehlerhaften und dürftigen Idiom verkommen, aber jedes polnische Wort, das ich hörte, fühlte sich an wie die Rückkehr in eine verlorene Kindheit“, erinnerte er sich.

Von 2000 bis 2003 war Weiss israelischer Botschafter in Polen. „Ich hätte es in mehreren anderen Hauptstädten sein können, aber ich habe mich entschieden, nach Polen zurückzukehren. Ich fühle mich zu diesem Land, das einst meine Heimat war, hingezogen, zu seiner Natur und Kultur, zur polnischen Sprache. Andererseits war es schwer zurückzukehren, weil es für uns ein furchtbar trauriger Ort ist. Hier hat sich die größte Tragödie unserer Nation abgespielt“, sagte Weiss damals.

Er begann seine diplomatische Mission in Warschau in einer schwierigen Zeit, als um Jedwabne, einem Ort in Nordostpolen, eine heftige Kontroverse ausbrach. Am 10. Juli 1941, etwa drei Wochen nach dem deutschen Einmarsch, fand dort ein Pogrom an der jüdischen Bevölkerung statt. Angestachelt und begleitet vom deutschen Einsatzkommando des SS-Hauptsturmführers Hermann Schaper, durchgeführt von mehreren Dutzend polnischen Einwohnern. Mindestens 350 Juden wurden getötet; die meisten von ihnen starben in einer in Brand gesetzten Scheune.

Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski in Jedwabne während der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Pogroms.

Am 10. Juli 2001, während der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag dieser Tragödie, entschuldigte sich Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski in Anwesenheit des israelischen Botschafters Schewach Weiss offiziell in eigenem und „im Namen der Polen, deren Gewissen durch dieses Verbrechen berührt wurde“. Am Rande der Feierlichkeiten in Jedwabne sagte Weiss: „Es gab auch andere Scheunen, in einer von ihnen habe ich mich mit Erfolg versteckt.“

Irena Sendler rettete etwa 2.500 jüdische Kinder.

„Unter den Polen gab es viele Retter. Einige, wie Irena Sendler, retteten Tausende, andere retteten Einzelne. Vor allem aber dürfen wir nicht vergessen, was unser Talmud lehrt: Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“, sagte Weiss.

„Man wirft den Polen vor, nicht genug für die Rettung der Juden getan zu haben. Das sagen Leute, die keine Ahnung davon haben, in welchem schrecklichen Dilemma die Polen steckten, die Juden gerettet haben. Für Fremde mussten sie ihr eigenes Leben und das ihrer Familie riskieren, denn auf das Verstecken von Juden stand im okkupierten Polen die sofortige Todesstrafe für alle Familienmitglieder. Das gab es sonst nirgendwo im besetzten Europa. Die polnischen Gerechten waren große Helden. Aber niemand kann eine solche Haltung von der gesamten Gesellschaft verlangen“, schrieb er seinerzeit in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“.

Weiss protestierte scharf, als der Begriff „polnische Todeslager“ in westlichen Medien auftauchte. „Das ist eine schändliche Lüge und Niedertracht. Schließlich starben in diesen Lagern neben Juden auch Hunderttausende von Polen“, argumentierte er. „Das polnische Land, das für die Juden über achthundert Jahre lang ein Gebiet des gemeinsamen Lebens und des Friedens war, wurde von den Deutschen in ein verfluchtes Land verwandelt“.

21 Monate lang im Keller

Schewach Weiss wurde 1935 im damals polnischen Borysław (heute Ukraine) als Sohn eines vermögenden Lebensmittelhändlers geboren. Die Stadt zählte damals etwa 41.000 Einwohner, darunter ca. 13.000 Juden und war ein bedeutendes Zentrum der Erdölförderung.

„Bis 1939 hatte ich eine schöne Kindheit in Borysław: Mama, Papa, Familie, Bruder, Schwester, Opa eins, Opa zwei, Oma – fantastisch! Von September 1939 bis Juni 1941 war es hart, weil wir unter sowjetischer Besatzung waren, aber es war sehr gut, weil es nicht die deutsche Besatzung war.“

Glückliche Kindheit in Borysław. Schewach Weiss (im Kinderwagen), Mutter (i.d.M), Tante Fajga, Schwester Mila, Bruder Aarin.

Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen am 1. Juli 1941 gelang der Familie Weiss die Flucht aus dem bald darauf eingerichteten örtlichen Ghetto. „Meine ganze Familie wurde gerettet, ohne die polnischen Helfer wäre das nicht möglich gewesen. Geliebte, wunderbare Menschen. Das sind meine Helden“, schrieb Weiss.

„Zuerst versteckten wir uns im Haus von Herrn und Frau Góral, dann im Haus von Frau Maria Potężna (phonetisch: Potenschna – Anm. RdP) und ihrem Sohn Tomasz. Sie waren unsere polnischen Nachbarn aus Borysław. Dann zogen wir in ein Versteck, eine Doppelwand, die mein Vater in unserem Haus gut vorbereitet hatte. Dort waren wir sieben bis acht Monate lang. Wir haben Frau Lasotowa, eine Ukrainerin, die Freundin meiner Mutter, gebeten, in unser Haus zu ziehen, ohne ihre Hilfe hätten wir nicht überleben können.“

Es gab dramatische Momente. „Eines Tages dachte ich, ich würde verrückt, ich schrie, ich will ein Bonbon haben. Mein Vater sagte zu mir wie zu einem Erwachsenen: »Schewach, wir sind hier acht, du wirst uns umbringen. Wenn du nicht still bist, werden wir dich erwürgen müssen.« In einer Sekunde hatte ich alles verstanden.“

Schewach Weiss mit Großvater Itzchak kurz vor Kriegsausbruch.

„Als die Deutschen gelernt hatten, dass man in solchen doppelten Wänden Juden aufspüren kann“, folgten weitere Verstecke: ein von Großvater Jitzchak eigens eingerichteter Kellerraum in einem Nachbarhaus, dann ein Kuhstall, schließlich die örtliche Kapelle. „In dem Keller lebten wir 21 Monate lang. Seine Deckenhöhe betrug maximal sechzig Zentimeter, wir sind dort nur auf allen vieren gekrochen. Manchmal konnten wir ihn nachts kurz verlassen. Das Essen warfen uns die Górals und die Potężnys durch ein kleines Kellerfenster rein. Frau Lasotowa betrieb einen Laden und versorgte uns mit Zigaretten und mit Benzin für den Feldkocher“, erinnerte sich Weiss.

„Und dann meine Mutter. Sie war eine Anführerin. Ihre Weisheit, ihr Sinn für Sparsamkeit, wie man das Stück Brot für acht Leute aufteilt, wie man aus einer Kartoffel eine Suppe macht, wie man einen Teller, eine Gabel und einen Löffel für acht Leute benutzt, wie man die Hygiene in diesem schrecklichen Loch aufrechterhält!“

Schewach Weiss Vater lebte bis 1992 in Israel, die Mutter bis 1999. Sie gehörten zu den etwa vierhundert Borysławer Juden, die überlebt hatten.

Auf Umwegen nach Israel

Am 14. Juli 1944 besetzte die Rote Armee Borysław erneut. „Wir hatten bereits zwei Wochen zuvor Kanonendonner gehört. Frau Lasotowa hatte uns einen Zettel zugeworfen, auf dem stand, was gerade passierte. Am Morgen des 14. Juli sahen wir die ersten sowjetischen Soldaten durch unser Fenster. Wir gingen langsam aus dem Keller. Auf der Straße standen Hunderte von Autos, Pferdewagen, Panzern, Soldaten. Wir sahen aus wie Höhlenmenschen, nur Haut und Knochen, lange Haare, wir waren alle schmutzig, verlaust und wankten. Zum ersten Mal seit zwei Jahren konnten wir aufrecht stehen, mein Bruder hielt mich aufrecht. Ich werde diesen Sonnenschein nie vergessen, die Luft war wunderbar, nicht feucht. Ein Essenswagen hielt an und wir bekamen heiße Erbsensuppe von einem sowjetischen Major. Als ich Botschafter war und mit meinem lieben Fahrer Wojtek durch Polen reiste, hielten wir immer am Straßenrand an, um Erbsensuppe mit Brot zu essen. Für mich ist das, das beste Essen der Welt.“

Bald darauf wurden die polnischen Ostgebiete der UdSSR einverleibt. Zwischen 1945 und 1946 zwangen die Sowjets beinahe die gesamte polnische Bevölkerung Ostpolens zur Ausreise hinter die neu gezogene polnische Ostgrenze. Die dabei angewandten Methoden: Drohungen mit Deportationen hinter den Ural, administrative Schikanen, willkürliche Enteignungen; hinzu kamen gewalttätige Übergriffe einer entfesselten Soldateska. Die meisten geretteten Juden, die, wenn sie nicht Kommunisten waren, unter denselben Repressalien zu leiden hatten, schlossen sich diesem Exodus an, so auch die Familie Weiss.

Sie landete im oberschlesischen Gliwice, vormals Gleiwitz, und zog bald darauf ins niederschlesische Wałbrzych, zuvor Waldenburg, wo sich, auf Anregung jüdischer Aktivisten, ein Sammelpunkt von Holocaust-Überlebenden bildete. Gut zweitausend von ihnen hielten sich um die Jahreswende von 1945 auf 1946 in der Kohlegrubenstadt auf.

Mit stillschweigender Duldung der kommunistischen Behörden agierten in Wałbrzych und an anderen Orten Polens Vertreter der „Bricha“, einer konspirativen Organisation mit dem Ziel, die jüdische Bevölkerung Ost- und Ostmitteleuropas, die den Holocaust überlebt hatte, ins britische Mandatsgebiet Palästina zu bringen. Insgesamt etwa 70.000 bis 80.000 Juden verlieβen bis 1948 das zerstörte, von kommunistischer Willkür gekennzeichnete Polen auf den Bricha-Routen, auf der Suche nach einem besseren Leben.

Weiss berichtete: „Von Wałbrzych gingen wir über die tschechische Grenze, dann in die Slowakei, nach Bratislava. Es folgten Wien, ein Flüchtlingslager bei Linz und in Innsbruck. Von da an war ich nur noch mit meiner Schwester unterwegs. Meine Mutter und mein Vater blieben in Österreich, um meinen Vater behandeln zu lassen. Er war in unserem Kellerversteck an Tuberkulose erkrankt. Dann Italien, und schließlich bin ich mit einem falschen Pass allein nach Palästina gegangen. Meine Schwester hat in Italien auf meine Eltern gewartet. Wir hatten Kontakt, schrieben uns Briefe, schickten Fotos, aber ich sah meine Eltern erst vier Jahre später, 1952, wieder.“

Traktorfahrer in der Kinderrepublik

Der siebzehnjährige Schewach Weiss, ein Kind des Holocaust, erreichte Palästina ein halbes Jahr vor der Ausrufung des Staates Israel im Mai 1948. „Ich kam mit dem Schiff und sah die Lichter von Haifa. Das gelobte Land. Ich fühlte mich wie Mose auf dem Berg Nebo. Ich war glücklich, ich konnte nicht glauben, dass es wirklich passiert.“

Es war die erste, heroische Phase des dauerhaften jüdischen Fußfassens im „Land der Urväter“, die vom Pathos des Kibbuzim-Kollektivismus stark geprägt war. Das galt auch für die Landwirtschaftsschule in Hadassim, wo Weiss seine ersten sieben Jahre in Israel verbrachte.

„Das Erziehungssystem dort war von den pädagogischen Ideen Janusz Korczaks beeinflusst, die einige der Juden aus Polen mitgebracht haben. Die Schule und ihr Internat waren fast eine unabhängige Kinderrepublik. Dort lebten die Kinder wichtiger zionistischer Führer, wohlhabender Juden, Kinder von Leuten, die aktiv und beschäftigt waren und wollten, dass ihre Kinder Bildung auf hohem Niveau genossen.

Es gab auch eine Gruppe von Holocaust-Kindern. Gemäß der Vereinbarung mit der »Sochnut« (der jüdischen Agentur, die sich mit Emigrationsfragen befasste) machten wir etwa zehn Prozent der Schüler aus. Wir mussten die Räume und die Toiletten sauber halten, wir hatten Dienst in der Küche, wir trugen das Essen in der Kantine aus, aber das Wichtigste war, dass wir jeden Tag vier Stunden gelernt und vier Stunden lang in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Ich war Traktorfahrer und sehr besorgt um mein Ansehen als Kind des Holocaust, denn wir wurden verächtlich »sabonim« – Seife genannt. Es war eine schreckliche Gedankenverknüpfung, aber Kinder kennen nun mal oft kein Erbarmen. Ich wollte ihnen zeigen, dass ich keine Seife war. In Hadassim wurde ich der beste Sportler unter den jungen Israelis. Als Traktorfahrer fuhr ich übrigens einen alten polnischen „Ursus“-Traktor. Dann war ich in der Armee“.

Unteroffizier Weiss macht die größte Eroberung seines Lebens

In der Armee machte Schewach Weiss die größte Eroberung seines Lebens. „Zuerst sah ich sie 1956 auf der Titelseite einer sehr populären Wochenzeitschrift. Die Bildunterschrift lautete: »Ester Kachanowicz wurde zur schönsten Soldatin Israels gewählt«„.

Schewach Weiss, Ehefrau Ester, Sohn Noam 1976.

„Haben Sie sich in das Mädchen auf dem Titelbild verliebt?“, fragte ihn die Journalistin der Zeitschrift „Viva“ im Juli 2017 in einem Interview.

„Mehr oder weniger. Ich diente zu dieser Zeit in einem Kommando im Norden des Landes, war für die Fahrzeuglogistik und für Kulturveranstaltungen zuständig. Eines Tages kam Ester zu unserem Kommando. Alle waren verrückt nach ihr: der Arzt, der Pressesprecher, die Offiziere. Und ich war nur ein Unteroffizier. Aber das Schicksal hat mich begünstigt. Der Kommandant der Nordtruppen, General Jitzchak Rabin, ordnete an, dass nach dem Seder Pessach, dem Pessach-Essen, etwas für die Soldaten organisiert werden sollte. Ich wandte mich an Ester und sagte: »Hier hast du das Buch von Natan Alterman. Heute Abend wirst du dieses und dieses Gedicht lesen.« Sie war einverstanden.

Und so fing alles an. Ich war 20 Jahre alt. Nach drei Jahren haben wir geheiratet. Und viele Jahre später erzählte mir Ester, dass sie, als sie mich ihrer Mutter vorstellte, von ihr hörte: »Nimm ihn, er wird Premierminister«“. Ich wurde zwar nicht Premierminister, aber ich bin immerhin Vorsitzender der Knesset geworden. Und Premierminister Jitzchak Rabin sagte, wenn er uns sah: „Ich bin euer Ehestifter“.

General Jitzchak Rabin 1967.

Sie waren siebenundvierzig Jahre verheiratet. „Dreizehn Jahre lang kämpften wir um ihr Leben. Es gab keinen Ort in Israel, in Europa, in der Welt, an dem wir nicht waren. Ester ist am Valentinstag 2005 verstorben. In den letzten anderthalb Monaten ihres Lebens waren wir ständig zusammen. Ich schlief neben ihrem Krankenhausbett. Wir haben bis zum letzten Tag miteinander gesprochen. Ich habe bis zum Schluss auf ein Wunder gewartet.“

„Wie war Ester so?“, lautete eine weitere Frage.

„Intelligent, freundlich, gut, wunderschön. Ich habe Ester immer geliebt, aber ich war in Jerusalem, sie war in Haifa. Nach ihrem Tod liebe ich sie noch mehr. Ich vermisse sie sehr. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich Tag und Nacht bei ihr sein wollen, um sie nicht einmal für eine Sekunde zu verlassen.“

„Heilt die Zeit nicht die Wunden?“

„Nein, es wird immer schlimmer. Ich schaue auf ihren Platz am Tisch. Er ist leer. Ich habe morgens immer das Frühstück vorbereitet, jetzt gibt es niemanden, für den ich es machen könnte. Ich habe ihr Dutzende von Briefen geschrieben, sie mehrmals am Tag angerufen. Nach ihrem Tod habe ich im Haus nichts verändert. All ihre Sachen, Mäntel, Schuhe, Kleider sind noch so, wie sie sie hinterlassen hat. Freunde sagen: »Schewach, wechsle die Wohnung«.“

„Wäre es danach einfacher für Sie?“

„Aber ich will kein leichteres Leben haben. Meine Ester im Grab, und ich soll ein leichteres Leben führen? Ein Paar sollte gemeinsam sterben.“

Sein Mentor war Jitzchak Rabin

Als 1968 die Awoda, die Arbeitspartei, eine zionistische Partei der linken Mitte, gegründet wurde, begann Weiss, sich in ihr zu engagieren. Er promovierte 1969, erhielt 1974 eine Professur und wurde Direktor für Politikwissenschaft an der Universität Haifa. Danach war er Dekan der Fakultät für Journalismus an derselben Hochschule. Anschließend ging er in die Kommunalpolitik, wurde Ratsmitglied in Haifa für die Arbeitspartei. 1981 hat man ihn für die Arbeitspartei in die Knesset gewählt. Weiss gehörte ihr fünf Wahlperioden lang an, bis 1999, davon zwei als stellvertretender Vorsitzender und eine (von 1992 bis 1996) als Vorsitzender.

„In dieser Zeit war Jitzchak Rabin der Mann, mit dem ich sehr eng verbunden war, der mich beeinflusst hat, und ich habe ihn auch beeinflusst. Er war einer der Führer der Arbeitspartei. Er war von 1974 bis 1977 Premierminister, dann verlor er die Wahl. Er kehrte 1984 als Verteidigungsminister in die Koalition, in die Regierung zurück und war Ministerpräsident von Israel von 1992 an bis zu seinem tragischen Tod, als er von einem Juden, dem Faschisten Jigal Amir, ermordet wurde. Wir standen uns bei der Planung der Koalition mit der linken Meretz und der ultraorthodoxen Schas-Partei sehr nahe; er schlug mich als Präsidenten der Knesset vor.

Schewach Weiss in Warschau am Ende eines ereignisreichen Lebens.

Jitzchak Rabin war eine beeindruckende Persönlichkeit. Ein politischer Falke, der sich in eine Friedenstaube verwandelt hat. 1993 begann er den Friedensprozess mit den Palästinensern. Als Vorsitzender der Knesset bin ich sechs Mal an der Seite von Rabin mit Jassir Arafat zusammengetroffen. Ich war 1994 in Oslo, als beiden der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Das waren wirklich hoffnungsvolle Zeiten. Leider gehören sie der Vergangenheit an.

Als Rabin am Abend des 4. November 1995 während der großen Friedenskundgebung auf dem Platz der Könige Israels in Tel Aviv ermordet wurde, stand ich nur wenige Meter von ihm entfernt. Wenn ich einen idealen Politiker wählen müsste, dann wäre es Jitzchak Rabin: sachlich, gründlich, pedantisch, eine Autorität. Er hat nicht zu viel geredet, bevor er etwas versprochen hat, aber wenn er etwas versprochen hat, hat er es gehalten. Ein sehr verantwortungsbewusster Mann! Wir haben uns so sehr geliebt! Es ist eine sehr, sehr traurige Sache!“, sagte Weiss in einem Interview für die Zeitung „Rzeczposopolita“.

Polen die Leviten gelesen

Nach dem Tod seiner Frau verbrachte Weiss immer mehr Zeit in Polen. Er richtete sich ein Büro in Warschau ein, in dem seine polnische Assistentin Ewa Szmal stets die Stellung für ihn hielt. Mit ihr bereitete er seine Vorlesungen und Seminare an der Fakultät für Politische Wissenschaften der Warschauer Universität vor. Sie führte seinen Terminkalender, der gut gefüllt war mit Medienauftritten und Gedenkveranstaltungen. Als Quartier diente dem grauhaarigen Ex-Botschafter das Warschauer Uni-Hotel „Hera“ am Łazienki-Park, wo man ihn oft bei ausgedehnten Spaziergängen treffen konnte.

Schewach Weiss in seinem Büro in Warschau mit Assistentin Ewa Szmal.

Schewach Weiss blieb auch in seinem Ruhestand ein israelischer Patriot, der sich nicht scheute, seiner zweiten Heimat Polen die Leviten zu lesen, wenn sie sich mit der israelischen Politik auf Kollisionskurs befand.

Das betraf die, letztendlich zurückgenommene, Novelle zum Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens, die die pauschale Behauptung unter Strafe stellte, Polen als Staat oder die Nation als Ganzes hätten sich am Holocaust beteiligt. Er unterstütze auch das Anliegen Israels, das schwerst kriegsgeschädigte Polen solle jüdischen Organisationen Entschädigungen in Höhe von Abermilliarden von Euro für das Eigentum der drei Millionen von den Deutschen ermordeten polnischen Juden zahlen. Hier blieb Polen standhaft und verwies, unter Berufung auf stichhaltige Argumente, auf Deutschland als den eigentlichen Adressaten dieser Forderungen.

Schewach Weiss am 18. Januar 2017 in Jerusalem nach der Verleihung des Ordens des Weißen Adlers mit Staatspräsident Andrzej Duda und Ehefrau Agata.

Andererseits nahm Weiss auch kein Blatt vor den Mund, wenn israelische Politiker oder Medien sich abfällig über Polen äußerten. Wohltuend an seinen Wortmeldungen in den oft sehr emotional geführten Debatten waren seine ruhige Art und auf die Schlichtung bedachte Wortwahl. Darauf beruhte der Respekt, den man ihm an der Weichsel zollte. Das hob auch Staatspräsident Andrzej Duda hervor, als er Schewach Weiss im Januar 2017 in Jerusalem mit der höchsten polnischen Auszeichnung, dem Orden des Weißen Adlers, dekorierte.

Polnische Delegation bei der Beerdigung von Schewach Weiss am 5. Februar 2023.

Schewach Weiss fand seine letzte Ruhestätte auf dem Jerusalemer Nationalfriedhof auf dem Herzlberg, unweit des Grabes seines Mentors Jitzchak Rabin.

© RdP




23.06.2022. Willkommen in Polen ohne jüdische Maschinenpistolen

Ein bekanntes Sprichwort sagt: „Es gibt nichts Schlimmes, was nicht gut ausgehen kann“. Das klappt nicht immer, aber manchmal zum Glück eben doch. Es kann also durchaus sein, dass es am Ende des gerade ausgebrochenen polnisch-israelischen Streits um die Wiederaufnahme israelischer Klassenfahrten nach Polen gelingt, eine neue Form für diese Reisen zu finden. Die bisherige ist aus polnischer Sicht unhaltbar.

Seit etwa 1988 bis zum Beginn der Corona-Pandemie kamen Jahr für Jahr Tausende israelischer Jugendlicher, um die Holocaust-Stätten in Polen zu besuchen. Sie kamen, besichtigten, was im Programm vorgesehen war, nahmen oft am Marsch der Lebenden in Auschwitz teil und reisten mit der Überzeugung ab, das „Land der Mörder“ besucht zu haben.

Auschwitz-Birkenau, Bełżec, Kulmhof, Majdanek, Płaszów, Sobibór, Stutthof, Treblinka und viele andere ehemalige deutsche Todeslager befinden sich auf polnischem Gebiet. Die Deutschen verwandelten das verkehrsgünstig gelegene, besetzte Polen in ein millionenfaches menschliches Schlachthaus. Sie karrten Juden aus Deutschland, Griechenland, Ungarn, Holland und weiß Gott woher heran, um sie im okkupierten Polen industriell umzubringen. Heutige Teenager, auch israelische, tun sich schwer mit solchen „Details“ wie der Tatsache, dass Polen besetzt war und seine Bewohner ebenfalls massenhaft ermordet wurden, unter anderem deswegen, weil sie Juden versteckt hielten, worauf nur im besetzten Polen automatisch die Todesstrafe stand.

Die jungen Besucher aus Israel sahen die Menschen, die heute rings um die Holocaust-Stätten leben, und an sie und ihre Vorfahren richteten sie ihre Vorwürfe. Sie sahen in ihnen die Täter oder zumindest wohlwollende passive Zuschauer des Holocaust.

Das war umso leichter, als sich die israelischen Ausbilder in Yad Vashem und die begleitenden Lehrer nicht sonderlich bemühten, den Kontext des Holocaust zu erläutern; mitunter entstand sogar der Eindruck, dass sie nichts dagegen hatten, dass die deutsche Täterschaft verdrängt oder verwischt wurde, während sie stillschweigend akzeptierten, dass die Polen als die Schuldigen hingestellt wurden. Umfragen jedenfalls, die unter den jungen israelischen Polen-Besuchern nach deren Rückkehr gemacht wurden, förderten teilweise Haarsträubendes zu Tage.

Verstärkt wurde diese Erscheinung durch die Besonderheit der Fahrten: Die Jugendlichen wurden von Agenten des israelischen Geheimdienstes geschützt. Die Busse waren streng bewacht, während der Fahrten durch Polen blieben die Gardinen zugezogen. In Zivil, jedoch mit Uzi-Maschinenpistolen bewaffnet und mit Diplomatenpässen ausgestattet, schritten die Bewacher sehr rüde ein. Sobald sie nur den geringsten Verdacht schöpften, waren sie mit Schlagstöcken, Handschellen oder gar mit der Waffe zur Hand. Schüsse fielen zum Glück nicht, aber zu Handgreiflichkeiten und teilweise erheblichen Körperverletzungen kam es immer wieder. Opfer waren ausnahmslos, so die polnischen Polizeiberichte, nicht etwa tätlich gewordene Antisemiten, sondern ahnungslose Passanten und Besucher von Gedenkstätten.

Es gibt einen Film, der auf YouTube zu sehen ist: „Defamation“. Der Regisseur, Yoaw Shamir, ist Jude und israelischer Staatsbürger; der Film selbst wurde auf Festivals mit vielen Preisen ausgezeichnet. Ein Teil dieses Werks ist einer israelischen Schülerreise nach Polen gewidmet. Shamir gelang es, seinen Kameramann mit versteckter Kamera als Betreuer mit auf die Fahrt zu schicken.

Wir beobachten also eine Gruppe von Kindern, die in einem Gefühl paranoider Bedrohung gehalten werden. Sie befinden sich in Polen in einem Land von Mördern, die ihre Vorfahren umgebracht haben, und sie wollen auch sie ermorden. „Entfernt euch nicht von der Gruppe, geht nicht außerhalb des Kreises der bewaffneten Wachen, verkehrt nicht mit den Einheimischen. Lasst auf keinen Fall zu, dass sie euch etwas geben, sie werden versuchen, euch zu vergiften.“

Die Jugendlichen wurden bereits in Israel vor jeglichen Kontakten mit der polnischen Außenwelt dringend gewarnt. Die Ausbilderin in Yad Vashem gibt in dem Film den Schülern folgenden Hinweis mit auf den Weg nach Polen: „Es werden Leute vom Sicherheitsdienst bei euch sein, damit ihr keine Berührung mit der einheimischen Bevölkerung habt. Ihr werdet auf Menschen treffen, die euch nicht mögen. Ihr werdet sehen, dass sie euch nicht mögen. Sogar heute mögen sie euch nicht.“

Frustriert verbrachten die jungen Israelis ihre Abende eingesperrt in Hotels, die sie nicht selten demolierten. Es entstand eine enorme, für zwölf- bis fünfzehnjährige Schüler geradezu unzumutbare emotionale Belastung, denn im Hintergrund wirkten die Bilder von Gaskammern, Krematorien und die Berichte von unsäglichen Grausamkeiten. Unter solchen Umständen kann man Polen nur hassen lernen.

Nach der Pandemie weigerte sich Warschau, die Reisen in ihrer alten Form fortzuführen, und bot den Israelis Verhandlungen an, die derzeit stattfinden.

Die polnische Position umschrieb unlängst der stellvertretende Außenminister Paweł Jabłoński.

Erstens: „Dass die Touren von schwer bewaffneten Wachen begleitet werden, vermittelt den Teilnehmern den falschen Eindruck, dass Polen ein gefährlicher Ort ist. Diese Behauptung entspricht in keinster Weise den Tatsachen.“

Zweitens: „Es ist nicht die Absicht Polens, Besuche israelischer Jugendlicher zu verhindern. Sie müssen jedoch zur Verbesserung der polnisch-israelischen Beziehungen beitragen und nicht, wie jetzt, zu deren Verschlechterung.“

Drittens: „Das Wissen um das tausendjährige, oft sehr gedeihliche polnisch-jüdische Mit- und Nebeneinander muss ein Teil des Besuchsprogramms sein. Polnische Reiseleiter und Einrichtungen, die sich um das jüdische Kulturerbe in Polen kümmern, müssen zur Vorbereitung und Durchführung der Fahrten herangezogen werden“.

Viertens: „Das Aufenthaltsprogramm muss Begegnungen mit polnischen Jugendlichen beinhalten.“

Es liegt an den Israelis, ob die Klassenfahrten zu den Holocaust-Gedenkstätten in Polen wieder aufgenommen werden. Und zwar ohne vorgehaltene Maschinenpistolen.

Lesen Sie mehr dazu: „Junge Juden schauen auf Polen oder: was israelische Schülerreisen an die Orte deutscher Verbrechen anrichten“

RdP




Das Wichtigste aus Polen 22.Dezember 2019 – 25.Januar 2020

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Putins pseudohistorische Generaloffensive gegen Polen. Der Amok hat Methode ♦ Staatspräsident Andrzej Duda fährt nicht zu den Holocaust-Feierlichkeiten nach Jerusalem ♦ Justizreform. Ein neuer Höhepunkt der Auseinandersetzung. Worum geht es? ♦ Der neue Senatspräsident Tomasz Grodzki: Hochmut und Korruptionsvorwürfe.




Das Wichtigste aus Polen 24. Juni – 7. Juli 2018

Als Ergänzung zur Sendung empfehlen wir:

„Polens Justizreform genau betrachtet 3. Das Oberste Gericht‘

„Polen – Israel. Streit beigelegt, Wahrheit verbrieft“ 

 

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Die Wunde vernarbt nur langsam. Der unrühmliche Abgang der polnischen Nationalelf von der Fußball WM-Bühne in Russland und seine Folgen ♦ Die Reform des Obersten Gerichts: Argumente und Emotionen ♦ Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hält vor dem Europäischen Parlament eine Rede über die Zukunft der EU und erntet keinen Beifall ♦ Israel und Polen legen Streit über Holocaust-Gesetz bei ♦ Amerikaner erwägen Truppenverlegung aus Deutschland nach Polen. Die meisten Deutschen freuen sich. Die meisten Polen auch.




Polen – Israel. Streit beigelegt, Wahrheit verbrieft

Warum die israelisch-polnische Regierungserklärung für Polen so wichtig ist.

Am 27. Juni 2018 gelang es Polen und Israel ihren seit einem halben Jahr brodelnden Streit über die polnische Sichtweise des Holocaust beizulegen. Das polnische Parlament entfernte die umstrittenen Ausschnitte des Gesetzes, die den Konflikt ausgelöst hatten. Gleichzeitig wurde eine gemeinsame Erklärung der Regierungschefs beider Länder veröffentlicht, in der Israel die wichtigsten polnischen Sichtweisen zum Holocaust teilt.

Wir schildern kurz den Konflikt und kommentieren die aus polnischer Sicht wichtigsten Passagen der gemeinsamen Erklärung. Der Gesamttext des Dokuments befindet sich am Ende des Beitrags.

Ende Januar 2018 verabschiedete das polnische Parlament eine Novelle zum Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens (polnische Gauck-Behörde). Ihm wurde der Artikel 55 A hinzugefügt, er lautete:

„Jeder, der öffentlich der polnischen Nation oder dem polnischen Staat faktenwidrig die Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen zuschreibt, die durch das Dritte Deutsche Reich begangen wurden, unterliegt einem Bußgeld oder einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren.“

Ausgenommen davon waren, so zwei weitere Bestimmungen, diejenigen die absichtslos gehandelt hatten, und jene die das im Rahmen künstlerischer oder wissenschaftlicher Aktivitäten taten.

„Polnische Vernichtungslager“

Beweggrund für die Gesetzesnovelle waren die sich seit Jahren in den Weltmedien häufenden Formulierungen, die Juden seien während des Holocaust in „polnischen Todeslagern“ oder „polnischen Vernichtungslagern“ ermordet worden. Was angeblich nur geografisch gemeint war (die Lager befanden sich im besetzten Polen), verselbständigte sich zunehmend zu einem festen Begriff.

Die Botschaft, die in der eng vernetzten Welt immer öfter zu lesen war, lautete: Nazis (deren Nationalität meistens unerwähnt blieb) haben den Massenmord an Juden in polnischen Vernichtungslagern durchgeführt. Das schürte zunehmend Missverständnisse und legte den Gedanken nahe, Polen als Staat und Nation sei an den deutschen Verbrechen beteiligt gewesen. Selbst in Israel wurde diese Umschreibung zunehmend gängig.

Die jüdische und die polnische Fahne wehen über dem kämpfenden Warschauer Ghetto. Briefmarke der Israelischen Post zum 70. Jahrestrag des Aufstandes im Warschauer Ghetto 2013.

Hinzu kamen Filme, wie der ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“, in dem die deutschen Hauptfiguren sich zwar an dem verbrecherischen Krieg beteiligen, stets jedoch von Zweifeln, Traumata, Gewissenkonflikten und Kummer geplagt werden. Die polnische Bevölkerung hingegen, egal ob Partisanen oder Zivilisten, besteht in dem Film ausnahmslos aus glühenden, primitiven Judenhassern, die geradezu mit Wonne Juden denunzieren, verfolgen und morden.

Geste des Zorns

Den Ideengebern der Gesetzesnovelle ging es darum, Behauptungen unter Strafe zu stellen, die die polnische Nation als Ganzes und den polnischen Staat als Beteiligte und Mitschuldige am Holocaust darstellen. Anders als im Falle Kroatiens, der Slowakei, Ungarns, Rumäniens, des Vichy-Frankreichs und einiger anderer, die mit Deutschland kollaborierten und ihre jüdische Bevölkerung „von Amts wegen“ den Deutschen zur Vernichtung „freigaben“, gab es im besetzten Polen keine staatlichen polnischen Strukturen.

Ein Teil seiner Gebiete (Pommerellen, Groβpolen, das östliche Oberschlesien) wurden direkt an das Deutsche Reich angeschlossen, der Rest in eine deutsche Kolonie namens Generalgouvernement verwandelt. Es gab keine polnische Regierung auf diesen Gebieten (nur eine Regierung im Exil in London), keine Verwaltung, keine polnische Armee. Die Deutschen regierten direkt.

Nicht gedacht war die Gesetzesnovelle für Einzelpersonen, die Juden denunziert oder erpresst hatten, einen Abschaum der Gesellschaft, der unter den grausamen Bedingungen der deutsche Besatzung auch in Polen in Erscheinung trat.

Als Vorlage dienten ähnliche Gesetze im Ausland, allen voran das israelische, aber auch das deutsche Gesetz über die Auschwitz-Lüge. Doch die Fassung des Artikels 55 A barg Probleme.

Zum einen hätte ein Staatsanwalt, bevor er eine Anklageschrift verfassen konnte, entscheiden müssen, ob die Tatsache, dass jemand faktenwidrig der polnischen Nation oder dem polnischen Staat die Mitverantwortung an den Verbrechen des Dritten Reiches zuschrieb Kunst war, beziehungsweise wissenschaftlichen Charakter hatte.

Zum anderen wäre die polnische Strafverfolgung solcher Delikte im Ausland ohnehin kaum möglich gewesen.

Das Gesetz war strafrechtlich weitgehend wirkungslos, von vorneherein eine symbolische Geste des Zorns einer Nation, die im Krieg furchtbares ausgestanden hat und jetzt dabei zusehen musste, wie sie selbst immer mehr auf die Anklagebank geriet. Der Sturm echter und gespielter Entrüstung im Ausland, den die Novelle auslöste überstieg jedoch alle Erwartungen und Befürchtungen.

Die Gesetzesänderung erwies sich unter diesen Umständen sehr schnell als kontraproduktiv. Um Polen seine Machtlosigkeit vor Augen zu führen, begannen Internet-Nutzer um die Wette Begriffe wie „polish death camps“ oder „polish Holocaust“ zu posten.

Die jüdisch-amerikanische Ruderman Stiftung drehte mit professionellen Schauspielern einen für Polen dermaβen beleidigenden Spot und stellte ihn ins Netz, dass sogar israelische Behörden sich von ihm entschieden distanzierten (hier zu sehen).

Polen konterte mit einem Spot, in dem Ministerpräsident Mateusz Morawiecki die polnische Position darlegte (hier zu sehen).

Die Kuh musste vom Eis

Schnell wurde klar, dass dieser verheerende Konflikt beigelegt werden muss und zwar so, dass beide Parteien ihr Gesicht wahren. Gut zwei Monate lang verhandelten Israelis und Polen unter strengster Geheimhaltung darüber. Die Öffentlichkeit erfuhr nichts davon, während sich drauβen die Auseinandersetzung langsam beruhigte.

Gemeinsame Briefmarkenausgabe der Polnischen und der Israelischen Post von 2009 zu Ehren von Berek Joselewicz (1764-1809), jüdischer Oberst polnischer Truppen und Kämpfer um die Freiheit Polens.

Um ein Ausbrechen neuer Kontroversen zu vermeiden, wurde vertraulich ein Überraschungscoup vereinbart. In Warschau rief der Parlamentspräsident für Dienstag, den 27. Juni 2018 eine auβerordentliche Sitzung ein. Dürrehilfen für Bauern und ein dringendes Mülldeponiengesetz, das der Abfallkriminalität das Handwerk legen soll, standen ursprünglich auf der Tagesordnung.

Erst bei Beginn der Sitzung wurde die Streichung des umstrittenen Artikels 55 A auf die Tagesordnung gebracht. In einer Blitzaktion, unter lautstarken Protesten der Opposition, die sich übergangen fühlte, paukte die Regierungsmehrheit in zwei Stunden die drei Lesungen der Gesetzesänderung durch. Noch am selben Tag willigte die obere Kammer des Parlaments, der Senat ein. Am Abend unterschrieb der Staatspräsident die Gesetzesnovelle.

Kurz danach verkündeten der polnische und der israelische Ministerpräsident ihre gemeinsame Erklärung in einer öffentlichen Video-Konferenzschaltung. Die Erklärung wurde zumeist mit Genugtuung aufgenommen, aber auf beiden Seiten gibt es auch Kritik.

In Polen kommt sie aus der rechtesten Ecke des Regierungslagers. Ministerpräsident Morawiecki trat ihr in seinen leidenschaftlichen Reden vor den beiden Häusern des Parlaments entgegen. Jarosłw Kaczyński verteidigte die Gesetzesänderung und erläuterte das Vorgehen in zwei ausführlichen Interviews. Die Proteste, ohnehin nicht allzu lautstark, haben sich schnell beruhigt.

Gemeinsame Briefmarkenausgabe der Polnischen und der Israelischen Post von 2018. Polen – 100 Jahre Wiederherstellung der Unabhängigkeit. Israel – 70 Jahre Unabhängigkeit.

In Israel ist die Kritik um einiges lauter und harscher. Der bekannte Holocaustforscher Prof. Yehuda Bauer rief in die Rundfunkmikrofone: „Die gemeinsame Erklärung, das ist Verrat, Verrat, Verrat!“

Das Wichtigste für Polen

Aus polnischer Sicht beinhaltet die gemeinsame Erklärung mit Israel wichtige Feststellungen, die mehr bewirken als die rückgängig gemachte Gesetzesnovelle, die faktenwidrige Behauptungen zu Polen und dem Holocaust unter Strafe stellte. Hier die Übersicht.

1. „Wir waren uns stets einig darin, dass Formulierungen wie „polnische Konzentrationslager” oder „polnische Todeslager“ grob falsch sind und die deutsche Verantwortung für die Errichtung dieser Lager mindern.“

2. „Die Regierung der Republik Polen im Exil war während des Krieges bestrebt diese Nazi-Aktivitäten zu bremsen, indem sie Versuche unternommen hat das Wissen über das systematische Morden an polnischen Juden unter den westlichen Alliierten zu verbreiten.“

Die offiziellen Protestnoten der polnischen Exil-Regierung, die Berichte über die Massenmorde an Juden, die die Exilregierung vom polnischen Untergrund erhielt, auch die mehrmals geäuβerten Vorschläge wenigstens die Zufahrtswege nach Auschwitz zu bombardieren, fanden bei den Briten und Amerikanern kein Gehör.

3. „Wir sehen ein und verurteilen jeden individuellen Fall der Grausamkeit gegen Juden, der von polnischen Bürgern während des Zweiten Weltkriegs begangen wurde.“

Individuelle Fälle dieser Art, die es zweifelsohne gab, werden hier genannt und eindeutig negativ beurteilt.

4. „Mit Stolz erinnern wir uns an heldenhafte Taten vieler Polen, insbesondere der Gerechten unter den Völkern, die unter Lebensgefahr Juden retteten.“

Unter den grausamen Bedingungen der deutschen Besatzung (auf Hilfe für Juden stand sofortige Erschieβung der Helfer und ihrer Familien, (siehe das Schicksal der Familie Ulma) wusste jeder der half, dass sein eigenes Leben auf dem Spiel stand. Etwa siebentausend Polen haben den Titel des Gerechten unter den Völkern verliehen bekommen. Der schwedische Forscher Gunnar Paulsson schätzt, dass etwa 100.000 Polen den Titel des Gerechten unter den Völkern verdient haben.

5. „Wir sind nicht einverstanden damit, dass Polen oder die polnische Nation als Ganzes verantwortlich gemacht werden für die Grausamkeiten, die die Nazis und ihre Kollaborateure aus verschiedenen Ländern begangen haben.“

Den polnischen Staat, den es ja nicht gab, und die polnische Nation als Ganzes trifft keine Schuld am Holocaust.

6. „Traurige Wahrheit ist leider, dass einige Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, damals ihr düsterstes Antlitz offenbart haben.“

Diese Feststellung wird ausgelegt, als ein Hinweis auf die auch in Israel hochkontrovers diskutierte jüdische Kollaboration beim Holocaust (jüdische Ghetto-Ordnungsdienste, Judenräte, Denunziationen von Juden durch Juden usw.), worauf schon Hannah Arendt in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen“ schonungslos hingewiesen hat.

7. „Wir wissen die Tatsache zu schätzen, dass die Behörden des polnischen Untergrundstaates, welcher der polnischen Regierung im Exil unterstand, den Mechanismus eines Hilfs- und Unterstützungssystems für Menschen jüdischer Herkunft geschaffen haben, und dass die Gerichte des Untergrundstaates, gegen Polen für die Zusammenarbeit mit deutschen Besatzungsbehörden, darunter auch für die Denunziation von Juden, Strafurteile gefällt haben.“

Die Anerkennung der Bemühungen der polnischen Regierung im Exil und der ihr unterstellten Strukturen des polnischen Untergrundstaates bei der Rettung von Juden hat für Polen einen hohen Stellenwert.

8. „Beide Regierungen verurteilen mit aller Entschiedenheit jegliche Formen des Antisemitismus und bringen ihre Bereitschaft zum Ausdruck ihn in allen seinen Erscheinungsformen zu bekämpfen. Beide Regierungen lehnen auch den Antipolonismus und andere negative nationale Klischees ab.“

Die Erwähnung des Antipolonismus neben dem Antisemitismus dürfte eine Reaktion auf Filme, wie die der Rudermann-Stiftung, aber auch maβlos antipolnische, oft von Hass und Verachtung für Polen nur so strotzende Äuβerungen in Israel sein.

Mit einem Satz: Vertreter zweier Völker, die im Zweiten Weltkrieg furchtbares durchmachen mussten, haben die historische Wahrheit verbrieft. Ob man diesem Neuanfang trauen darf?

Gemeinsame Erklärung der Ministerpräsidenten der Republik Polen und des Staates Israel vom 27. Juni 2018. Wortlaut.

„Erstens

Seit dreißig Jahren beruhen die Beziehungen zwischen unseren Ländern und Völkern auf dem festen Fundament des Vertrauens und Verstehens. Polen und Israel sind füreinander ergebene Freunde und Partner, die auf internationaler Bühne eng zusammenarbeiten, auch auf dem Gebiet der Erinnerungswahrung und des Lehrens über den Holocaust. Diese Zusammenarbeit verläuft im Geiste gegenseitiger Wertschätzung für die jeweilige Identität und geschichtliche Sensibilität, auch in Bezug auf die tragischsten Perioden unserer Geschichte.

Zweitens

Nach dem Gespräch zwischen den Ministerpräsidenten Netanjahu und Morawiecki begrüßt Israel die Entscheidung der Regierung der Republik Polen, eine offizielle polnische Kontaktgruppe für den Dialog mit israelischen Partnern über historische Fragen bezüglich des Holocaust zu berufen.

Es liegt auf der Hand, dass der Holocaust ein beispielloses Verbrechen war, das Nazideutschland am jüdischen Volk und allen Polen jüdischer Herkunft begangen hat. Polen hatte stets vollstes Verständnis für die Bedeutung des Holocaust, des tragischsten Abschnitts in der Geschichte des jüdischen Volkes.

Drittens

Wir sind der Meinung, dass es eine gemeinsame Verantwortung für die Freiheit der Forschung gibt, für die Förderung des Verständnisses und der Erinnerungsbewahrung an die Geschichte des Holocaust.

Wir waren uns stets einig darin, dass Formulierungen wie „polnische Konzentrationslager” oder „polnische Todeslager“ grob falsch seien und die deutsche Verantwortung für die Errichtung dieser Lager mindern.

Die Regierung der Republik Polen im Exil war während des Krieges bestrebt diese Nazi-Aktivitäten zu bremsen, indem sie Versuche unternommen hat das Wissen über das systematische Morden an polnischen Juden unter den westlichen Alliierten zu verbreiten.

Wir sehen ein und verurteilen jeden individuellen Fall der Grausamkeit gegen Juden, der von polnischen Bürgern während des Zweiten Weltkriegs begangen wurde.

Mit Stolz erinnern wir uns an heldenhafte Taten vieler Polen, insbesondere der Gerechten unter den Völkern, die unter Lebensgefahr Juden retteten.

Viertens

Wir sind nicht einverstanden damit, dass Polen oder die polnische Nation als Ganzes verantwortlich gemacht werden für die Grausamkeiten, die die Nazis und ihre Kollaborateure aus verschiedenen Ländern begangen haben. Traurige Wahrheit ist leider, dass einige Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, damals ihr düsterstes Antlitz offenbart haben.

Wir wissen die Tatsache zu schätzen, dass die Behörden des polnischen Untergrundstaates, welche der polnischen Regierung im Exil unterstanden, den Mechanismus eines Hilfs- und Unterstützungssystems für Menschen jüdischer Herkunft geschaffen haben, und, dass die Gerichte des Untergrundstaates gegen Polen bei einer Zusammenarbeit mit deutschen Besatzungsbehörden, darunter auch für die Denunziation von Juden, Strafurteile gefällt haben.

Fünftens

Wir sprechen uns aus für freie Meinungsäuβerung in Sachen Geschichte, für die Freiheit der Erforschung aller Aspekte des Holocaust, so dass diese ohne jede Furcht vor rechtlichen Hindernissen geführt werden kann. Dies gilt nicht nur für Studenten, Lehrer, Forscher und Journalisten, sondern zweifellos auch für die Überlebenden des Holocaust und ihre Familien. Sie werden keinerlei strafrechtlichen Verantwortung unterliegen, weil sie von ihrer Meinungs- und Forschungsfreiheit in Bezug auf den Holocaust Gebrauch gemacht haben. Kein Gesetz kann und wird das ändern.

Sechstens

Beide Regierungen verurteilen mit aller Entschiedenheit jegliche Formen des Antisemitismus und bringen ihre Bereitschaft zum Ausdruck ihn in allen seinen Erscheinungsformen zu bekämpfen. Beide Regierungen lehnen auch den Antipolonismus und andere negative nationale Klischees ab.

Die Regierungen Polens und Israels rufen dazu auf in der öffentlichen Debatte zum ruhigen Dialog zurückzukehren, dem die gegenseitige Achtung zugrunde liegen sollte.“

Auch lesenswert:

„Familie Ulma? Falscher Mythos, schämt euch, ihr Polen!“

„Kaczyński und die Juden“

„Junge Juden schauen auf Polen…“

RdP




Das Wichtigste aus Polen 25. März – 21. April 2018

Kommentatorin Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die  wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Polen bereitet sich auf die Kommunalwahlen im Herbst 2018 vor. Erster Urnengang an der Weichsel seit Oktober 2015.  Test für Regierung und Opposition. ♦ Pläne, Vorschläge, Drohungen. Die Wahlofferten der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit und der oppositionellen Bürgerplattform. ♦ Konflikt der EU mit Polen. Waffenstillstand zeichnet sich ab. ♦ Der Holocaust-Konflikt mit Israel. Stand der Dinge. ♦ Untersuchungen der Smoleńsk-Flugzeugkatastrophe vom 10. April 2010. Vieles spricht für eine Explosion.




Junge Juden schauen auf Polen…

… oder: was israelische Schülerreisen an die Orte deutscher Verbrechen anrichten.

Zehntausende junge Israelis begeben sich jedes Jahr auf die Spuren des Holocaust. Die „Reise nach Polen“ („Journey to Poland“) dauert eine Woche lang, führt durch mehrere Vernichtungslager, ehemalige Ghettogelände, beinhaltet zahlreiche Gedenkzeremonien. Polnische Verantwortliche und kritische israelische Soziologen warnen seit langem: die Reisen zu den Orten deutscher Verbrechen erzeugen und schüren eine tiefe Feindseligkeit zu Polen. Bis jetzt ist dies ein Rufen in der Wüste.

Die ersten zweihundert israelischen Schüler kamen 1988, fast am Ende der kommunistischen Ära. Gut zwei Jahrzehnte lang herrschte zwischen den Ländern des Ostblocks und Israel Funkstille. Die diplomatischen Beziehungen waren seit dem Sechstagekrieg von 1967, auf Geheiβ der Sowjets, abgebrochen. Nun begann sich eine Normalisierung einzustellen.

Was im Jaruzelski-Polen der späten Achtziger als ein Rinnsal begann, verwandelte sich nach 1989 in einen reiβenden Besucherstrom. Für 2018 werden in Polen gut vierzigtausend junge Israelis erwartet. Kommt nichts Unvorhergesehenes dazwischen, dürften es 2020 mehr als fünfzigtausend sein. Bis Anfang 2018 haben gut vierhunderttausend junge Israelis Polen besucht, die meisten von ihnen felsenfest davon überzeugt, sie seien im Feindesland gewesen.

Israelische Jugendliche am Eisenbahngleis in Birkenau.

Nationalpolitische Pilgerfahrten

Der Soziologe, Prof. Jackie Feldman von der israelischen Ben-Gurion-Universität hat bereits 2008 eine Studie dazu verfasst: „Above the Death Pits, Beneath the Flag: Youth Voyages to Poland and the Performance of Israeli National Identity“ („Über den Totengruben, unter der Flagge: Jugendreisen nach Polen und die Darstellung der israelischen nationalen Identität“).

Prof. Jackie Feldman.

Die israelischen Schülerfahrten nach Polen, so Feldman, begannen Ende der achtziger Jahre als die bisherigen wichtigsten Autoritäten der israelischen Gesellschaft, die Kämpfer für die Gründung Israels aus den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts und die ersten Siedler (Kibbuznikim) nach und nach verstarben. Im Zeitalter des Wohlstandes und einer immer hemmungsloser um sich greifenden Massenkultur begann das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl in der jungen Generation zu bröckeln.

„In Israel ist eine gehisste israelische Fahne für mich ein Symbol der Rechten. In Polen hingegen ist sie am richtigen Ort und sie vereint uns wirklich.“

Oded Cohen, ein hoher Beamter im israelischen Bildungsministerium, hatte damals die rettende Idee. „Auch wenn wir in sozialen, nationalen, ideologischen Angelegenheiten gespalten sind, in Auschwitz, Treblinka, Majdanek geht diese Spaltung unter. Dort sind wir ein Volk, das Volk der Ermordeten!“

Diese Strategie ist ganz und gar aufgegangen. Gut ein Vierteljahrhundert nach den ersten „Reisen nach Polen“ zitiert Jackie Feldman in seiner Untersuchung eine junge Israelin, es ist eine Stimme von Tausenden: „In Israel ist eine gehisste israelische Fahne für mich ein Symbol der Rechten. In Polen hingegen ist sie am richtigen Ort und sie vereint uns wirklich. Das, worüber wir zu Hause streiten, erscheint hier völlig zweitrangig. Das Wichtigste ist, dass wir den Krieg gewonnen haben, dass wir leben, dass wir ein eigenes freies Land besitzen.“

Der israelische Journalist Joseph Croitoru schreibt, dass man mittlerweile von einem Massenphänomen sprechen kann, „der Begriff nationalpolitische Pilgerfahrt wäre nicht unangebracht; die Vernichtungslager sind längst zum Ort kollektiver Identitätsfindung geworden.“

Vor der Reise nach Polen. Das Grauen der Vernichtungslager. Dokumentarfilm-Vorführung in Yad Vashem.

Die „Journeys to Poland“ sind mittlerweile fester Bestandteil des Unterrichtprogramms an israelischen Schulen und werden vom Staat bezuschusst. Trotzdem beträgt der Eigenanteil am Reisepreis pro Schüler immer noch etwa 1.400 US-Dollar. Es fahren also überwiegend Kinder aus besser situierten Familien mit, die später meistens in die gebildete Schicht des Landes aufrücken. Auch das vernimmt man in Polen mit Sorge.

Warum, das zeigt der Film „Defamation“ („Diffamierung“) des israelischen Dokumentarfilmers Yoav Shamir von 2009. Shamir hatte eine Gruppe israelischer Jugendlicher auf ihrer Reise nach Polen begleitet.

(Den Link zu dem Film „Defamation“, mit englischen und polnischen Untertiteln, finden Sie am Ende dieses Beitrags.)

Bevor sie sich nach Polen aufmachen, werden die Schüler in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem auf die Reise vorbereitet. Dies geschieht, wie es auch Joseph Croitoru beschreibt: „Die Schüler (…) bekommen eingeschärft, dass für Juden Israel der einzig sichere Ort auf der Welt sei und dass der Antisemitismus“ auf der ganzen Welt geradezu wüte. „Die Bewohner einer von Feinden umzingelten Enklave sollen in dem Glauben gefestigt werden, auf einen einsamen Planeten, Israel, zu leben“, so Jackie Feldman.

Alle diese noch halben Kinder, Mädchen ebenso wie Jungs, werden schon bald zum Wehrdienst eingezogen. „Der Antisemitismus existiert weiter. (…) Auch ihr als Juden, die nächste Generation, die in die Armee eingezogen wird, werdet diesem Aspekt eures Lebens die Stirn bieten müssen“, sagt im Film die Instrukteurin in Yad Vashem.

Die Kampfmoral der zukünftigen Soldaten zu festigen, ist ein erklärtes Ziel der „Journeys to Poland“. Prof. Adi Ophir von der Universität in Tel Aviv spricht von eindeutig zielorientierten Reisen mit einem quasi-religiösen Charakter. Die israelische Soziologin Hava Schechter stellte eine deutliche Radikalisierung der jugendlichen Teilnehmer nach der Rückkehr aus Polen fest.

Unmittelbar vor dem Abflug nach Polen sprechen die Schüler in Shamirs Dokumentation in die Kamera:

„Wir werden in dem Geist erzogen zu wissen, dass wir verhasst sind.“

„Alle wissen, dass die Juden verhasst sind. Wir werden so erzogen.“

Die Reise „wird mich als Israelin, als Zionistin, als Jüdin stärken. Ich hege keine Zweifel daran.“

Ihr werdet sehen, die Polen mögen euch nicht

Die Ausbilderin in Yad Vashem gibt in dem Film den Jugendlichen folgenden Hinweis mit auf den Weg nach Polen: „Es werden Leute vom Sicherheitsdienst bei euch sein, damit ihr keine Berührung mit der einheimischen Bevölkerung habt. Ihr werdet auf Menschen treffen, die euch nicht mögen. Ihr werdet sehen, dass sie euch nicht mögen. Sogar heute mögen sie euch nicht.“

„Die Israelis“, so Croitoru, „lernen, dass die Polen Antisemiten seien; ja Polen sei irgendwie für den Holocaust mitverantwortlich.“ Der israelische Historiker, Prof. Moshe Zimmermann meinte dazu: „Sie setzen das Gebiet, auf dem während des Zweiten Weltkrieges die Deutschen einige Millionen Juden ermordet haben, mit seinen Bewohnern und dem polnischen Staat gleich. So verwandeln sich die Polen und ihr Land in ihren Augen in Täter, die nicht minder schuldig sind als die Deutschen.“

Im Jahr 2008 führte Zimmermann eine breit angelegte Umfrage unter israelischen Gymnasialschülern durch. Gut ein Drittel von ihnen stand zu der Aussage: „Die Polen waren während des Zweiten Weltkrieges die Haupttäter. Die deutschen haben nur die Eisenbahnwaggons gestellt.“

Auf der Reise werden die Jugendlichen immer wieder dringend darauf hingewiesen, sie seien in einem für sie gefährlichen Land unterwegs. Diese Warnungen und das bis an die Grenze des Erträglichen mit Terminen überfrachtete Programm helfen sehr, die oft gerade pubertierenden Schüler im Zaum zu halten.

Israelischer Sicherheitsbeamter, Schützlinge in Lublin. Szene aus der Dokumentation „Defamation“.

Im feindlichen Polen. Szene 1.

Wie sich die Warnungen vor den Polen auswirken, wird im Film deutlich.

In Lublin geht eines der Mädchen auf drei auf der Bank sitzende ältere Männer zu. Sie verstehen ihre höfliche Anrede „How are you“ nicht. Einer der Männer sagt: „Israel? Dann sage, dass Du aus Israel bist und rede nicht mit uns auf Chinesisch“. Er ging offensichtlich davon aus, dass, wie einst in Polen, alle Juden Polnisch sprechen oder wenigstens verstehen. Das Mädchen und ihre Freundin verstehen ihn wiederum nicht und gehen, wie selbstverständlich, davon aus, der Mann rede schlecht über Israel, habe sie gar als „Nutten“ beschimpft. Der Sicherheitsbeamte eilt herbei und bringt die beiden zurück zur Gruppe.

Kurz darauf, auf dem Lagergelände von Majdanek, spricht der Filmemacher Shamir eines der beiden Mädchen an und zeigt auf einen mitlaufenden Mann:

„Weiβt Du wer das ist?“

„Es ist ein Mann vom Sicherheitsdienst.“

„Was macht er hier?“

„Er beschützt uns vor Antisemitismus, damit uns niemand etwas antut.“

„Könnte so etwas passieren“, fragt der Reporter.

„Ja, heute früh haben wir drei alte Männer auf einer Bank gesehen. Als sie hörten, dass wir aus Israel kommen, haben sie dumm geguckt. Sie haben uns „Affen“ und „Esel“ geschimpft. Fast hätten wir uns mit ihnen geprügelt.“

„Sie haben nichts dergleichen gesagt“, erwidert der Journalist.

„Nein?“, „Nein!“, „Doch.“, „Nein!“

„Das ist zu unserer Sicherheit. Wir dürfen nicht rausgehen.“ Abends im Hotelzimmer in Lublin. Szene aus der Dokumentation „Defamation“.

Im feindlichen Polen. Szene 2

Abends im Lubliner Hotel besuchte Shamir zwei junge Israelis auf ihrem Zimmer.

Shamir: „Warum geht ihr nirgendwo hin?“

Der Junge: „Wir sind müde.“

Das Mädchen: „Ich bin nicht müde. Ich würde gerne ausgehen. In Polen gibt es Neonazis. Sie sind eine Bedrohung. Wir sind in Gefahr. Sie könnten an unsere Tür klopfen, uns irgendetwas durchs Fenster ins Zimmer reinwerfen.“

Der Junge: „Das haben sie uns beim Mittagessen gesagt, sie warnten uns, wir seien in keinem freundlich gestimmten Land. Wir sind in einem verhältnismäβig feindseligen Land. Es gibt hier Demonstrationen. Sie könnten uns mit Steinen bewerfen. Vor zwei Wochen sind betrunkene Neonazis eingedrungen. Sie hämmerten gegen die Türen, suchten nach Juden. Das sagte man uns beim Mittagessen.“

Shamir: „Wer hat das gesagt?“

Der Junge: „Der Mann von Sicherheitsdienst. Er ist wahnsinnig! Wir haben gegessen, als er plötzlich verkündete, er habe uns etwas zu sagen und begann von Neonazis zu reden. Wir waren nicht fähig weiter zu essen.“

Das Mädchen: „Das ist zu unserer Sicherheit. Wir dürfen nicht rausgehen. Gleich nach dem Abendessen sollen wir auf unsere Zimmer gehen.“

Shamir: „Warum?“

Das Mädchen: „Weil sie Antisemiten sind.“

Der Junge; „Sie mögen uns nicht.“

Das Mädchen: „Eben.“

Der Junge: „Die Soldaten am Flughafen laufen wie Nazis, steif. Sie haben einen bedrohlichen Gesichtsausdruck. Diejenigen, die unsere Pässe abgestempelt haben, sahen wie SS-Offiziere aus.“

In Wirklichkeit gab es weder 2009 in Lublin, als der Film gedreht wurde, noch vorher oder nachher irgendwo in Polen einen Überfall auf ein von israelischen Jugendlichen bewohntes Hotel.

Die Bewacher schreiten sehr rüde ein

Orthodoxe Juden in Kraków.

Abgesehen von der polnischen Verkehrspolizei, gibt es keine besonderen Sicherheitsmaβnahmen wenn Abertausende von orthodoxen Juden aus der ganzen Welt jedes Jahr nach Leżajsk (200 Kilometer östlich von Kraków) und Lelów (am Nordrand Oberschlesiens) pilgern, um an den Grabstätten der chassidischen Zaddikim Elimelech bzw. Dawid Biderman ihre ekstatischen, inbrünstigen Gebete zu zelebrieren.

Orthodoxe Juden in Lelów.

Bärtig, mit langen Schläfenlocken, bekleidet mit weiβen Strümpfen, schwarzen Kaftanen, exotischen Fellhüten, nutzen sie die letzten Stunden vor dem Rückflug nach Tel Aviv oder New York, um durch die Straβen der Krakauer Altstadt oder des ehemaligen jüdischen Stadtteils Kazimierz zu schlendern. Zwischenfälle gibt es so gut wie nie.

Die israelischen Schülergruppen hingegen kommen mit einem, manchmal zwei Sicherheitsbeamten pro Bus. Sie, nicht die mitreisenden Lehrer, bestimmen das Geschehen. Sie sitzen vorne, geben immer wieder Sicherheitshinweise durchs Mikrophon, entscheiden wo angehalten wird. Überall in Polen lauern angeblich Gefahren, die künstlich erzeugte Atmosphäre der permanenten Bedrohung lastet wie Blei auf den Reisen.

In Zivil, jedoch schwer bewaffnet und mit Diplomatenpässen ausgestattet, schreiten die Bewacher sehr rüde ein, wenn sie nur den geringsten Verdacht schöpfen, sind schnell mit der Waffe zur Hand. Schüsse sind bis jetzt zum Glück noch nicht gefallen, zu Handgreiflichkeiten jedoch kommt es immer wieder.

Mike Urbaniak, Redakteur beim Internetportal „Forum der Polnischen Juden“, war Zeuge, wie die Sicherheitsleute einen jungen polnischen Juden zusammenschlugen, als er in der Remu-Synagoge im Krakauer Stadtteil Kazimierz am Sabbat beten wollte und fragte, warum er nicht rein darf.

Beata W., einer Angestellten, die in Kazimierz wohnt, entrissen Sicherheitskräfte die Handtasche und durchwühlten sie.

Der Italiener Roberto L., mit einer Polin verheiratet, ging in Kazimierz verärgert zu einem Bus, der unter seinen Fenstern parkte, und bat den Fahrer endlich den Motor abzustellen. Die Bodyguards legten ihm Handschellen an, traktierten ihn mit Fuβtritten und lieβen ihn so zurück, bis die Polizei ihn von den Handschellen befreite.

Bei der Aufklärung des Falls hieβ es, die Busfahrer müssten den Motor laufen lassen, um eine eventuell erforderliche Flucht zu beschleunigen. Auβerdem müsse die Kaffeemaschine an bleiben, damit die Jugendlichen jederzeit heiβen Kaffee bekommen könnten. Zwar gibt es in Kazimierz viele Lokale, aber dort dürfen sie aus Sicherheitsgründen nicht reingehen.

Die israelische Botschaft in Warschau äuβert nach jedem solchen Vorfall ihr Bedauern, aber es ändert sich nichts, denn, so wollen es die israelischen Behörden und vor allem, so heiβt es immer wieder, die Eltern.

Maciej Kozłowski, ehemaliger polnischer Botschafter in Tel Aviv, später Bevollmächtigter des polnischen Auβenministeriums für die Kontakte mit Israel, kennt das Thema gut:

„Wir haben darüber viele Male mit den Israelis gesprochen und vorgeschlagen stufenweise die israelischen Sicherheitsbeamten durch polnische zu ersetzen. Die Israelis blieben unnachgiebig. Das geschah eindeutig auf Druck der mächtigen Sicherheits- und Wachdienstlobby. Sie verdienen an den ausgiebigen Sicherheitsmaβnahmen bei den Reisen nach Polen viel Geld“, so Kozłowski.

Allein die mitreisenden Aufpasser bekommen gut zweihundert Dollar pro Tag plus Spesen.

„Wir erreichen Majdanek“

„Die Reise führt durch zwei Parallelwelten”, so Prof. Jackie Feldman. „Die innere Welt ist ein Stück Israel fern von daheim, umschrieben mit Begriffen wie »Sicherheit«, »Ablenkung«, »Herumtollen«, »israelische Musik«, »wir«, »Israel«. Im Bus, wo oft die Vorhänge während der Fahrt zugezogen sind, passiert alles, was zu einem Schulausflug heutzutage gehört. Es dröhnt die Musik, es wird gesungen, gegrölt, geschmust, geschlafen, Chips gegessen, Cola getrunken“

Ausgelassene israelische Jugendliche auf dem Weg nach Majdanek. Szene aus der Dokumentation „Defamation“.

Im Filmbericht von Yoav Shamir tanzen und singen die Schüler im Bus bis der Begleiter zum Mikrophon greift: “Ich spreche zu euch! Schaut mich an! Ich will den Ernst in euren Augen sehen. Wir sind an der nächsten Etappe angekommen und ich will, dass ihr ernst seid. Wir erreichen Majdanek.“

Prof. Jackie Feldman weiter: „Die jungen Leute verwandeln sich sofort in ernste Vertreter Israels, sobald sie die äuβere Welt, die sich auβerhalb des Busses und des Hotels erstreckt, beschreiten. Sie wird umschrieben mit Begriffen, wie »Fremdheit im fremden Land«, »ekelhaftes polnisches Essen«, »keine Musik«, »Bedrohung«, »Trauer«, »Tod«, »Israel repräsentieren«, »sie, die Fremden«.“ Polen verkörpert nur Negatives.

Druck macht sich Luft

„Wir fahren nach Polen, nur um an den Gräbern unserer Zaddikim zu beten, Todeslager und Ruinen der Synagogen zu besuchen. Das Programm sieht keine Freizeit vor für Geldverschwendung und Shopping“, heiβt es in einer Anleitung für Teilnehmer. Genauer gesagt, es gibt überhaupt keine Freizeit.

Herumtobende junge Israelis im Hotel in Lublin. Szene aus der Dokumentation „Defamation“.

Von früh bis spät dem Grauen ausgesetzt, ermuntert dazu in Rollenspielen Szenen aus dem Holocaust nachzustellen, werden die Jugendlichen einem enormen psychischen Druck ausgesetzt, der sich vor Ort oft in Weinkrämpfen entlädt.

Aggressionen werden abends immer wieder an Hoteleinrichtungen abreagiert. Die Zerstörungswut mancher Gruppen ist sehr groβ. Da sich die Veranstalter zumeist nicht zuständig fühlten und einfach abreisten, verlangen die Hotels seit geraumer Zeit hohe Kautionen für die Behebung eventuell entstandener Schäden oder sie geben vor ausgebucht zu sein.

Irgendwo aber müssen sich die Jugendlichen austoben. Beruhigungsversuche des Hotelpersonals und der israelischen Begleiter sind meistens vergebens. Im Film von Yoav Shamir versucht es der polnische Portier. Sein Argument, andere Hotelgäste werden am nächsten Morgen ihr Geld zurückverlangen, weil sie nicht schlafen können, und das Scheuchen der Jugendlichen in ihre Zimmer wirken meistens nur für wenige Minuten. Dann geht das Toben aufs Neue los bis spät in die Nacht. Aber, seien wir ehrlich, wäre es anders wenn man zwei, drei Busladungen polnischer oder deutscher Jugendlicher in einem Hotel einsperren würde?

Leere Kulissen und der wahre Holocaust

Auf der Reise durch Polen fahren die Gruppen Orte an, die von der tausendjährigen Anwesenheit der Juden in Polen zeugen. Die meisten von ihnen haben und brauchten sich nicht zu assimilieren. Sie lebten in ihrer zumeist orthodoxen jüdischen Welt der Schtetl, der Synagogen und Friedhöfe. Es sind Zeugnisse eines zumeist friedlichen, was nicht heiβt immer konfliktlosen, jahrhundertelangen Neben- und Miteinanders von Juden und Polen, doch das ist bei den Reisen kein Thema.

Junge Israelis auf einem jüdischen Friedhof in Polen,

In keinem Land der Welt war die Zahl der Juden so groβ wie in Polen. Sie machten 1938 zehn Prozent der Bevölkerung aus (in Deutschland knapp 0,8 Prozent).

Zu Hause befinden sich die israelischen Behörden in einem Dauerkonflikt mit den streng orthodoxen Charedim, die die zionistische Weltanschauung und teilweise sogar den Staat Israel als solchen ablehnen, den Militärdienst verweigern. „In Polen“, so Prof. Jackie Feldman, „sind sie keine Gefahr für die zionistische Staatsideologie, weil sie nicht mehr unter den Lebenden weilen.“

Den meisten Jugendlichen, das erwähnen die israelischen Forscher, kommen die materiellen Zeugnisse der kulturellen Blüte des jüdischen Lebens in Polen, wie leere Filmkulissen vor. Umso mehr, als das streng orthodoxe Judentum auch zu Hause nicht ihre Welt ist.

In Polen würde man gerne diesen Aspekt gleichwertig mit dem Holocaust in den Mittelpunkt der Reisen gestellt sehen, hofft auf die verbindende Botschaft, die davon ausgeht: Polen Jahrhunderte lang ein Zuhause für Juden, wo ihre Gemeinden eine Autonomie genossen, wie sie woanders in Europa undenkbar gewesen wäre. Es bedurfte einer langen Zeit, um zu begreifen, dass das erklärte Ziel der Reisen ein ganz anderes ist.

Im ehemaligen Vernichtungslager Majdanek angekommen, gibt eines der Mädchen in Yoav Shamirs Film fast schon erwartungsvoll von sich: „Jetzt erst beginnt die richtige Reise. Jetzt werden wir die wahren Dinge sehen. Bis jetzt haben wir Synagogen und solche Dinge angeguckt. Jetzt werden wir sehen, wie sie vernichtet wurden. Die Krematorien. Alles. Das wird schwierig sein.“

Lesenswert auch:

„Kaczyński und die Juden“ , „Das Schicksal der Familie Ulma“ , „Familie Ulma. Falscher Mythos. Schämt euch ihr Polen“ , „Holocaust. Polen. Historische Wahrheit. Bewegende Ansprache  von MP Mateusz Morawiecki. Video auf Englisch“.

 Israelische Jugendliche unterwegs in Polen. Film „Defamation“ ,    Teil 1 (ca. 10 Minuten). 

Israelische Jugendliche unterwegs in Polen. Film „Defamation“ ,    Teil 2  (ca. 10 Minuten). 

© RdP




Das Wichtigste aus Polen 25. Februar – 10. März 2018

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Der Holocaust, das Strafrecht und die historische Wahrheit. Polen und Israel reden miteinander, Amerika schaut aufmerksam zu.  ♦ Neue deutsche Regierung, alte polnische Bedenken: Nord Stream 2 und die französisch-deutschen Versuche alle Gewalt in der EU an sich zu reiβen.  ♦ Polnische Kinder, deutsche Jugendämter. Erste polnisch-deutsche Gespräche über ein wundes Problem. ♦ Degradierung oder Dienstgradherabsetzung. General Jaruzelski und seinen Komplizen wird dder Generalsrang aberkannt. Eine späte Genugtuung für ihre Opfer.




Das Wichtigste aus Polen 4. – 24. Februar 2018. Polen-Israel, Polen-Deutschland. Es stürmt

Kommentatorin Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die  wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Empörung, Proteste, Provokationen: Israel kämpft im Holocaust-Streit mit den härtesten Bandagen. Ministerpräsident Morawiecki am Pranger. Polen steht zu seinen Argumenten und behält die Ruhe. War das alles notwendig und wie geht es weiter?  ♦ Ministerpräsident Morawiecki in Berlin. Frau Merkel reicht Polen das Zuckerbrot (Aussicht im GroKo-Vertrag auf Partnerschaft wie mit Frankreich) und schwingt die Peitsche (EU-Gelder abhängig von der Migrantenverteilung).  Groβ sind die Erfolgsaussichten der Dompteurin nicht.




Das Wichtigste aus Polen 24. Januar – 3. Februar 2018. U.a. Die »Todeslager-Krise«

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Israelische Überreaktion – polnische Beharrlichkeit.  Polnische Argumente und Beweggründe. Wie es, trotz Vorab-Konsultationen mit Israel, zu der „Todeslager-Krise“ kam. Und was nun? ♦ US-Auβenminister Rex Tillerson in Warschau. Kopfschmerzen in Moskau und Berlin. Polen – USA: in der Energie- und Sicherheitspolitik auf einer Linie. ♦ Kompetent und schlagfertig in flieβendem Englisch. Beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos war Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in seinem Element. ♦ Gewerkschaft Solidarność am Ziel. Schritt für Schritt: auch die Angestellten im Handel sollen am Sonntag frei haben.




Kaczyński und die Juden

Ob für oder gegen Kaczyński, beide verfeindeten Lager der polnischen Juden fordern gleichermassen die Achtsamkeit des mächtigen Politikers ein.

Die einen preisen das heutige Polen als ein gutes Land für die Juden, die anderen warnen vor dem angeblich sprunghaft wachsenden Antisemitismus.

Dazu veröffentlichen wir ein Gespräch mit Jonny Daniels, erschienen im Wochenmagazin „wSieci“ („imNetzwerk“) vom 28.August 2017.

Jonathan Daniels, geboren 1986, lebte bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr in London, zog dann nach Israel. Er studierte den Talmud an einer Jeschiwa Hochschule, leistete Wehrdienst in der israelischen Armee und studierte anschlieβend Politologie an der Bar-Ilan-Universität in Tel Aviv. Daniels arbeitete als Assistent und Berater in verschiedenen höheren Behörden der israelischen Verwaltung. Eine Zeit lang beriet er Unternehmen, die in Israel Fuβ fassen wollten.

Mit dem polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda.

Vor einigen Jahren kam er nach Polen, ins Land seiner Vorfahren, die in dem Zweitausend-Seelen-Städtchen Dobrzyń nad Wisłą (Dobrin an der Weichsel), ungefähr sechzig Kilometer südöstlich von Toruń/Thorn lebten. Während der polnischen Teilungen gehörte Dobrzyń zu Russisch-Polen, in der Zwischenkriegszeit 1918-1939 zu Polen. Juden stellten zeitweise bis zu einem Drittel der Stadtbevölkerung. Die meisten von ihnen, darunter Daniels Vorfahren, wanderten um 1900 in die USA aus.

Mit Pater Tadeusz Rydzyk. Daniels pflegt den jüdisch-polnischen Dialog als Gast des Senders Radio Maryja und seines Fernsehablegers TV Trwam.

Daniels hat inzwischen seinen Lebensmittelpunkt nach Polen verlegt. Er gründete die Stiftung „From the Depths“ („Aus den Tiefen“) mit dem Ziel, diejenigen Polen, die Juden während der deutschen Besatzung retteten (worauf die Todesstrafe für die ganze Familie stand, siehe das Beispiel der Familie Ulma) ausfindig zu machen und zu ehren. Daniels, mit seinen exzellenten Kontakten in die höchsten Kreise der Politik in beiden Ländern, gehört inzwischen zu den wichtigsten Mittlern zwischen Polen und Israel.

War der von Ihnen organisierte Besuch jüdischer Führungspersönlichkeiten bei Jarosław Kaczyński (am 19. August 2017 – Anm. RdP) eine Reaktion auf den Brief der Vorsitzenden einiger jüdischer Gemeinden, in dem behauptet wird, in Polen hätten „antijüdische Haltungen“ an Bedeutung gewonnen?

Nein, das Gespräch war schon vorher geplant. Es traf sich jedoch gut, dass es gerade in dieser Zeit stattfand, denn so konnten wir, teilweise wenigstens, die unangenehmen Folgen des unklugen Vorgehens der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden abschwächen.

Treffen Jaroslaw Kaczyńskis mit Vertretern polnischer Juden am 19. August 2017.

Unklug?

Wie überall, gibt es zweifelsohne auch in Polen Antisemitismus, aber man sollte das rechte Augenmaβ behalten. Wir sitzen hier in einem koscheren Warschauer Restaurant. Um uns herum sind Juden mit Kipas. Niemand sieht beunruhigt aus. Die Tür zum Lokal ist weit geöffnet, das Schild über der Tür gibt eine eindeutige Auskunft darüber, was sich hier befindet. Es gibt keine Bewachung, weil sie nicht notwendig ist. So etwas ist mittlerweile in Paris und in vielen anderen westeuropäischen Städten unvorstellbar. Dort haben die Juden allen Grund Angst zu haben und sie haben Angst.

Wie steht es also um den Antisemitismus in Polen?

Er ist unvergleichbar schwächer und unvergleichbar weniger rabiat als in Westeuropa. Zudem, er nimmt nicht zu, wie es die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden behaupten.

Antisemitische Schmiererei.

Hat Polen also kein Problem mit dem Antisemitismus?

Kein Problem, das kann man natürlich nicht sagen. Auch die Regierung macht diesbezüglich Fehler, aber das bezieht sich ausschlieβlich auf die Öffentlichkeitsarbeit. Polen ist ein leichtes Ziel. In Sachen internationale Öffentlichkeitsarbeit hinkt es Israel und den amerikanischen Juden dreiβg Jahre hinterher.

Die polnische Regierung reagiert zu spät und zu schwach auf solche, eher seltenen Zwischenfälle, wie der öffentlichen Verbrennung einer Judenstrohpuppe in Wrocław (am

Staatspräsident Andrzej Duda an der Klagemauer in Jerusalem. Januar 2017.

19. November 2015, der Täter wurde zu drei Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt – Anm. RdP) oder den Überfall von Fuβballhooligans auf israelische Sportler (am 3. August 2017 in Płońsk bei Warschau, die zwei Opfer erlitten leichte Schürfwunden, die Täter wurden ermittelt und warten auf ihren Prozess – Anm, RdP).

In Zeiten von Twitter muss man sofort die 140 Zeichen mit einer eindeutigen moralischen Verurteilung veröffentlichen. Wenn es Opfer gibt, muss man sie spätestens am nächsten Tag besuchen. Es geht hier jedoch nur um Öffentlichkeitsarbeit. Wenn aber jemand der jetzigen nationalkonservativen polnischen Regierung Antisemitismus vorwirft, dann ist das eine niederträchtige Lüge.

Warum niederträchtig?

Weil die jetzige Regierung nicht nur nicht antisemitisch ist, sie gehört zu den pro-israelischsten auf unserem Planeten. Ich kann nicht über alles reden was ich weiβ, aber beide Staaten arbeiten auf vielen Gebieten auβergewöhnlich eng zusammen und begegnen sich mit groβer Achtung. Ich möchte unterstreichen: das gilt gerade für die jetzige Regierung von Recht und Gerechtigkeit.

„Die jetzige polnische Regierung gehört zu den pro-israelischsten auf unserem Planeten.“ Ministerpräsidentin Beata Szydło und Amtskollege Benjamin Netanjahu in Tel Aviv. November 2016.

Sehr bezeichnend ist eine Episode von vor einigen Jahren. Ich habe damals eine Reise von Knesset-Abgeordneten nach Polen organisiert und wollte nach den offiziellen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz noch eine halboffizielle Begegnung mit ranghohen polnischen Politikern arrangieren. Die damalige Tusk-Regierung war daran nicht sonderlich interessiert. Zu dem Treffen kamen schließlich ganz wenige Abgeordnete der regierenden Bürgerplattform, dafür aber sehr viele Sejm-Abgeordnete von Recht und Gerechtigkeit, sogar Europa-Abgeordnete dieser Partei, darunter der jetzige Staatspräsident Andrzej Duda. Das gab mir zu denken.

Das bedeutet noch lange nicht, dass man in Polen nicht mit Antisemitismus in Berührung kommt.

In der ersten Jahreshälfte 2017 haben einhundertfünfzigtausend israelische Touristen Polen besucht, meistens auβerhalb von Holocaust-Gedenkfeierlichkeiten. Es kamen auch achtundsiebzig israelische Journalisten. Polen ist dicht dran das touristische Reiseland Nummer eins der Israelis zu werden.

Weil es in Polen keine islamistischen Terroranschläge gibt?

Ja, das auch, aber kämen diese Menschen nach Polen, wenn es hier auf Schritt und Tritt eine antisemitische Stimmung gäbe? Außerdem kommen viele von ihnen ein zweites oder drittes Mal. Polen ist ein gutes Land für Juden.

Das „Tel Aviv“ in der Poznańskastrasse. Eines von zwanzig jüdischen Restaurants in Warschau.

Warum also schreiben die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden einen Brief, in dem sie das Gegenteil behaupten?

Vor allem deswegen, weil es Personen sind, die sich tief in dem innerpolnischen politischen Konflikt auf der Seite der jetzigen Opposition engagiert haben. Es genügt ihre Facebook-Profile einzusehen, um festzustellen, dass sie keine Gelegenheit auslassen ihre tiefe Ablehnung gegenüber der jetzigen Regierung kundzutun.

Handelt es sich also ihrerseits um eine Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs im Kampf gegen Recht und Gerechtigkeit?

Das was sie tun, ist nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Sie schreien „Der Wolf kommt, der Wolf kommt!“ und es gibt keinen Wolf. Wenn sie so weiter machen, und der Wolf sollte eines Tages doch auftauchen, wird niemand ihr Rufen ernstnehmen.

Wird ihr Rufen von den Juden im Westen nicht schon heute ernstgenommen?

Unser Treffen mit Jarosław Kaczyński hat die Wirkung des Briefes weitgehend reduziert. Viele einflussreiche jüdische Medien, wie zum Beispiel das amerikanische Wochenmagazin „The Forward“, haben sowohl das Gespräch, wie auch unsere entschiedene Kritik an diesem Schreiben wahrgenommen. Ein unguter Beigeschmack ist leider geblieben.

Dabei muss man berücksichtigen, dass es zwei wichtige Zentren der jüdischen Meinungsbildung gibt: Israel und die USA. In Israel überwog lange Zeit eine antipolnische Stimmung. Das hat sich geändert.

Ist es in den USA anders?

Leider ja. Bei den amerikanischen Juden war die antipolnische Stimmung immer deutlich stärker und aggressiver als in Israel. Jetzt wird dieser Unterschied noch gröβer, weil sich die Stimmung in Israel zum Besseren wendet, während sie in Amerika unverändert bleibt.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die Tatsache, dass viele amerikanische Juden mit der liberalen Linken sympathisieren und das macht sie automatisch zu Gegnern der jetzigen Regierung in Warschau.

In Israel dagegen hat die Linke sehr an politischer Bedeutung verloren. Dort ist der Brief kaum auf Resonanz gestoβen, in Amerika hingegen schon. In den USA wird er kolportiert und seine Aussagen werden verschärft durch entsprechende Kommentare der Anti-Defamation League (Antidiffamierungsliga – Anm. RdP). Sie ist immer noch eine der einflussreichsten jüdischen Organisationen, zu der jedoch immer mehr Juden wegen ihrer zunehmenden Linkslastigkeit auf Distanz gehen.

Zudem wissen die meisten amerikanischen Juden nicht, dass die Gemeinden nicht mehr die einzigen Vertreter der polnischen Juden sind. Das jüdische Leben in Polen wird immer vielfältiger.

Das alljährliche zehntägige Festival der Jüdischen Kultur in Kraków sucht seinesgleichen in der Welt.

Sie wissen wahrscheinlich auch nicht, dass die polnischen Juden heute politisch genauso gespalten sind, wie die gesamte polnische Gesellschaft, nämlich in Anhänger und Gegner der jetzigen Regierung. Der Brief der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden erweckt den Eindruck, eine solche Spaltung gäbe es nicht. Wurde er geschrieben und veröffentlicht, weil seine Verfasser der von ihnen ungeliebten Regierung zusetzen wollten?

Die Geldgeber der jüdischen Gemeinden in Polen sind fast ausschlieβlich linksliberale amerikanische Juden. Das wirkt sich eindeutig auf die politische Haltung der Vorsitzenden aus. Solche Attacken unter dem Vorwand der „Verteidigung der Juden“, wie der erwähnte Brief, sind so gesehen sehr lohnend. Man erhält leichter und auch mehr Geld, wenn die Geber überzeugt sind, dass das was sie sponsern bedroht ist.

Wie gesagt, die jetzige Warschauer Regierung ist auβerordentlich juden- und israelfreundlich, aber sie muss auf die gelegentlich vorkommenden antijüdischen Vorfälle entschiedener reagieren. Dieser Mangel diente den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden als Vorwand.

Das Verfassen des Briefes war eine politische Aktion mit dem Ziel die Aufmerksamkeit internationaler Medien zu wecken und ein Signal zu senden: „polnische Juden werden bedrängt“. Ansonsten hätten die Autoren ihren Brief nicht publik gemacht, und schon gar nicht sofort nachdem sie ihn abgeschickt hatten, ohne eine Antwort abzuwarten. Offensichtlich wollten sie der internationalen Öffentlichkeit einreden Kaczyński sei ein Antisemit, was einfach nicht wahr ist.

Staastpräsident Lech Kaczyński (1949-2010) mit dem Oberrabiner Polens Michael Schudrich (Mitte) am 21. Dezember 2008 in der Warschauer Synagoge am Beginn des Chanukkafestes.

Jarosław Kaczyński und sein ums Leben gekommener Bruder Lech hatten schon in ihrer Kindheit einige jüdische Freunde.

Ich sage es mit allem Nachdruck: wenn etwas den Antisemitismus in Polen erwecken kann, dann sind es solche Aktionen, wie der Brief der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden. Das wird deren Gewissen belasten.

Ihre Stiftung „From the Depths“ zeichnet Polen aus, die während des Krieges Juden gerettet haben. Woher diese Idee?

Bei meinen Reisen durch Polen bin ich ins Dorf Rekówka (ca. 150 Kilometer südlich von Warschau – Anm. RdP) gekommen. Nach dem Krieg war dort bisher kein Jude vor mir gewesen. In Rekówka haben deutsche Gendarmen zwei Familien, darunter sechs Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren, für das Verstecken von Juden ermordet. Ich war schockiert, weil niemand bis dahin den Nachkommen dieser Menschen auch nur ein offizielles Wort des Dankes gesagt hat.

Wie sind die Auszeichnungen Ihrer Stiftung im Vergleich zu dem Titel „Gerechter unter den Völkern“, den die Gedenkstätte Yad Vashem vergibt zu sehen?

Wir rivalisieren nicht mit Yad Vashem. Es soll einfach mehr Möglichkeiten geben solch tapfere Menschen zu würdigen.

RdP

Rede von Jarosław Kaczyński

am 18. September 2017 bei einer Gedenkveranstaltung im Warschauer Zoo. Dessen Direktor Jan Żabiński (1897 – 1974) und seine Frau Antonina (1908 – 1971) haben während der deutschen Besatzung einige Hundert Juden aus dem Warschauer Ghetto herausgeschmuggelt, sie auf dem weitgehend zerstörten Zoo-Gelände versteckt, um sie von hieraus an geheime Orte auf dem Land zu bringen. Dafür wurden sie 1965 mit dem Titel Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet. Bei der Gedenkveranstaltung, unter Beteiligung offizieller Vertreter Israels, wurden, meistens posthum, Polen geehrt, die Juden während der deutschen Besatzungszeit gerettet haben.

Kaczyński sagte unter anderem:

„Der Holocaust war ein unvergleichlich schweres Verbrechen, ein Ausdruck des Bösen in seiner radikalsten Form. Dieses absolut Böse trat in der Geschichte viele Male hervor, aber im zwanzigsten Jahrhundert zeigte es sein schrecklichstes Antlitz. Dem absolut Bösen widersetzte sich etwas, was man als das absolut Gute bezeichnen kann, ein Heldentum höchster Güte, das vor dem Tod nicht zurückwich. (…)

Der Antisemitismus von heute nimmt andere Formen an als früher. Der heutige Antisemitismus äuβert sich in der Feindschaft zum Staat Israel. Sie ist charakteristisch für die Linke und einige andere politische Kräfte in Europa. (…)

Jemand hat gesagt, Israel sei ein kleiner Staat. Nein, Israel ist nicht klein. Israel hat bewiesen, dass nicht das Territorium, sondern die Kraft des Geistes und die Entschlossenheit von der Gröβe eines Staates Zeugnis ablegen. Israel ist auf seine Weise ein groβer Staat. Diese Gröβe ist der Beweis für die Kraft des Geistes aber auch der Beweis dafür, dass es über uns eine höhere Kraft gibt, die über alles entscheidet, denn ohne sie könnte Israel nicht existieren. Das ist das Wunder unserer Zeit. Der heutige Antisemitismus richtet sich gegen Israel. (…)

Es ist sehr gut, dass es eine Stiftung gibt, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Würdigung derer, die diesen Heldenmut aufgebracht haben fortzusetzten und zu erweitern. Die Stiftung „From the Depths“ will, dass viele, die nicht die höchste Genugtuung erfahren haben, bisher nicht als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet wurden, doch noch aus der Vergessenheit geborgen und geehrt werden. (…)

Antonina und Jan Żabiński.

Diejenigen, die der Opfer des Holocaust gedenken, erinnern auch an jene, welche Menschen vor dem Holocaust retteten. Es waren die tapfersten der Tapferen. Dafür gebietet ihnen ewiger Ruhm. Ich verneige mich vor ihnen.“

Brief der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in Polen an Jarosław Kaczyński

Warszawa, den 4. August 2017

Herrn Jarosław Kaczyński Vorsitzender von Recht und Gerechtigkeit

Geehrter Herr,
mit groβer Beunruhigung nehmen wir in den letzten Monaten eine Zunahme von antisemitischen Haltungen in Polen wahr, eine Brutalisierung der Sprache sowie von Verhaltensweisen, von denen viele gegen unsere Gemeinschaft gerichtet sind.

Mit besonderer Empörung erfüllen uns die Ereignisse der letzten Tage, die die Befürchtung wecken, dass wir in einem für uns immer weniger sicheren Umfeld leben. Ein wachsender Antisemitismus in der öffentlichen Debatte, die dem Senator Marek Borowski vorgehaltene jüdischen Herkunft seiner Vorfahren durch die Journalistin des Polnischen Fernsehens Magdalena Ogórek, das Auftauchen faschistischer Fahnen und Parolen von ORN Falanga bei staatlichen Feierlichkeiten; dies alles weckt schlimmste Erinnerungen. Vor einigen Tagen verbreitete der Abgeordnete von Recht und Gerechtigkeit, Herr Bogdan Rzońca (fonetisch Schontza – Anm. RdP) über die sozialen Medien seine absurden, menschenverachtenden Gedankengänge: „(…) Ich überlege warum es, trotz des Holocaust, so viele Juden unter den Befürwortern der Abtreibungen gibt.“ Das zeigt einen vollkommenen Mangel an Sensibilität sowie ein Unverständnis dafür, was das Wesen des Holocaust war.

Dafür gibt es unsererseits keine Billigung. Polen ist unsere Heimat und wir wollen hier nicht unerwünscht sein, doch immer öfter haben wir diesen Eindruck. Der Vorfall von vor einigen Tagen, als israelische Sportler aus antisemitischen Beweggründen tätlich angegriffen wurden, zeigt, dass der Antisemitismus aus der Sphäre der Worte in die Sphäre der Taten übergeht. Wir haben Angst um unsere Sicherheit und unsere Zukunft in Polen, wir wollen keine Wiederholung des Jahres 1968.

Als Sie vor vierzehn Monaten bei den Gedenkfeierlichkeiten zum Jahrestag der Beseitigung des Ghettos von Białystok gesprochen haben empfanden wir Ihre Worte als ermutigend. Wir haben gehofft, dass Sie unsere Gemeinschaft unterstützen werden, dass wir Ihrerseits auf Verständnis sowohl für unsere Geschichte als auch für unsere jetzige Lage treffen würden.

Daher wäre für uns, Ihre starke und entschiedene Verurteilung des Antisemitismus, eine Stellungnahme zu unseren Gunsten, besonders wichtig.

Mit Hochachtung

Anna Chipczyńska, Vorsitzende der Jüdischen Glaubensgemeinde in Warschau
Lesław Piszewski, Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Glaubensgemeinden in Polen

RdP