Durchstich zur Freiheit. Von A bis Z

Der Kanal durch die Frische Nehrung wurde Wirklichkeit.

Polen baggerte am Frischen Haff, dicht an der Grenze zu Russland, einen Zugang zu seinem bis dahin weitgehend abgeschnittenen Hafen in Elbląg und beseitigte mit der Eröffnung des Durchstichs am 17. September 2022 die seit 1945 andauernde russische Blockade.

Auf den ersten Blick – die Frische Nehrung und das Frische Haff

Die Frische Nehrung (polnisch Mierzeja Wiślana, fonetisch Mescheja Wislana – „Weichsel-Nehrung“, russisch Baltijskaja Kossa – „Baltische Nehrung“) ist eine schmale, sandige Landzunge von rund 70 Kilometern Länge und einigen hundert Metern Breite (maximal 1,8 Kilometer). Sie verläuft in nordöstlicher Richtung und trennt das Frische Haff von der offenen Ostsee (Danziger Bucht) ab.

Quer über die Frische Nehrung und das Frische Haff führt die Grenze zwischen Polen und Russland (Kaliningrader Gebiet). Alle Siedlungen auf der polnischen Seite waren einst Fischerdörfer. Heute sind es Erholungsorte.

Mit einer Fläche von 838 Quadratkilometern ist das Frische Haff etwa anderthalbmal so groß wie der Bodensee. Zu Polen gehören 328, zu Russland 510 Quadratkilometer des Haffs. Bei 90 Kilometern Länge ist das Haff 7 bis 15 Kilometer breit und nur 3 bis 6 Meter tief (tiefste Stelle auf polnischem Gebiet: 4,40 Meter).

Pillauer Seetief. Luftaufnahme.

Das Pillauer Seetief, die einzige Verbindung zwischen dem Frischen Haff und der offenen Ostsee, befindet sich auf der russischen Seite der Frischen Nehrung. Das Pillauer Seetief ist 2 Kilometer lang, zwischen 450 und 750 Meter breit und 12 Meter tief. Über den Kaliningrader/ Königsberger Seekanal mit einer Fahrrinnentiefe von ungefähr 9 Metern gelangen die Schiffe nach einer knapp 45 Kilometer langen Fahrt nach Kaliningrad. Die Entfernung nach Elbląg durch die Pillauer Rinne beträgt knapp 85 Kilometer.

Vor allem bei Stürmen über der Ostsee dringt durch das Pillauer Seetief Meerwasser ins Frische Haff ein. Salzwasser macht zwei Drittel der gesamten Wasserzufuhr ins Haff aus. Der Rest wird gespeist durch die ins Haff mündenden Flüsse. Zu den gröβten zählen Szkarpawa/Elbinger Weichsel, Nogat, Elbląg/Elbing, Pasłęka/Passarge in Polen und der Pregel in Russland.

Das Brackwasser im Haff weist bei Baltijsk/Pillau einen Salzgehalt von 5,5 Promille aus. Auf der polnischen Seite, bei Frombork/Frauenburg und Krynica Morska/Kahlberg, sind es nur noch 2,2 Promille. Im Haff leben sowohl Süß- als auch Salzwasserfische: u. a. Aale, Barsche, Brassen, Dorsche, Heringe, Lachse, Meerforellen, Rotaugen, Stichlinge und Zander.

Polnische Fischer im Frischen Haff.

Im Jahr 2017 waren im polnischen Teil 123 Fischerboote zugelassen, mit denen gut 1.850 Tonnen Fisch gefangen wurden. Entsprechende Angaben aus dem russischen Teil des Haffs sind lückenhaft und oft widersprüchlich. Zwar legt jedes Jahr die Gemischte Polnisch-Russische Fischwirtschaftskommission Fangquoten im Haff fest, Russland weigert sich jedoch, gegenseitige Kontrollen zuzulassen.

Im polnischen Teil des Haffs spielt die Fischerei mittlerweile eine dem Fremdenverkehr untergeordnete Rolle. Die Versorgung mit frischem Fisch gehört jedoch zweifelsohne zu den regionalen touristischen Hauptattraktionen. Die gesamte Ausbeute wird direkt am Haff verspeist.

Die Ausschreibung 

Zum Bau eines Kanals reichten 2018 sieben Unternehmen Angebote ein. Dabei sprengten sie jedoch die 2016 kalkulierten Kosten von insgesamt 205 Millionen Euro, denn die Baupreise waren inzwischen deutlich gestiegen. Der Urząd (fonetisch Uschond) Morski w Gdyni (Seeamt in Gdingen) öffnete am 22. Mai 2019 die eingereichten Offerten, von denen er sechs in Betracht zog. Sie bezogen sich auf die erste Bauphase, für die 167 Millionen Euro angesetzt waren.

Seeamt in Gdynia. Sitz und Emblem.

Am kostengünstigsten waren mit je 231 Millionen Euro die Angebote der belgischen Gesellschaft BESIX gemeinsam mit zwei polnischen Firmen aus der NDI-Gruppe und das Angebot des polnischen Bauunternehmens Budimex S.A. gemeinsam mit der spanischen Ferrovial Agroman SA. Die teuerste Offerte stammte mit 267 Millionen Euro von einem Konsortium bestehend aus der polnischen Firma Polbud-Pomorze Sp. z o.o. und zwei chinesischen Gesellschaften. Zu den übrigen Bietern zählten weitere chinesische Akteure und Energopol-Szczecin S.A. aus Szczecin/Stettin.

Den Zuschlag bekam das belgisch-polnische Konsortium. Die Bauarbeiten begannen im Herbst 2019 und wurden im Sommer 2022 planmäßig beendet.

Das Bauvorhaben in toto

Neben dem Kanal mit einer Schleuse beinhaltete die Projektplanung den Bau eines zur Ostseeseite hin durch weit ausholende Wellenbrecher gesicherten Hafens, sowie Ankerplätze für wartende Schiffe an beiden Enden des Kanals und eine künstliche Insel (→ Insel) im Frischen Haff.

Weit ausholende Wellenbrecher schützen den Kanal von der Ostseeseite her.

Die zweite Bauphase sieht Arbeiten an den Ufern des Flusses Elbląg auf dem Gebiet der gleichnamigen Stadt sowie am sechs Kilometer weiter im Landesinneren liegenden Elbinger Hafen vor. Eine entsprechende Ausschreibung fand 2019 statt. Diese Arbeiten sollen bis Ende 2023 verwirklicht sein.

Bisher hat das Hafenbecken von Elbląg eine Tiefe von 2,5 Metern, was Schiffen mit einem Tiefgang von maximal 2 Metern das Anlegen erlaubt. Die fünf Kaianlagen, gut ausgerüstet und gepflegt, haben eine Gesamtlänge von 2,5 Kilometern.

Der dritte und letzte Projektabschnitt beinhaltet die Aushebung einer 10 Kilometer langen, 100 Meter breiten und 5 Meter tiefen Fahrrinne vom Kanal zum Hafen in Elbląg. Die Ausschreibung dafür hat im ersten Halbjahr 2021 stattgefunden. Diese Arbeiten sollen bis Mitte 2024 dauern. Erst dann ist das gesamte Vorhaben voll funktionsfähig.

Das Bauwerk nach Fertigstellung

Der Kanal hat eine Länge von 1,3 Kilometern, eine Breite von 40 Metern am Grund und 80 Metern an der Oberfläche, die Tiefe beträgt 5 Meter. Ihn können Schiffe von und nach Elbląg mit einem Tiefgang von bis zu 4 Metern, einer Länge von 100 Metern und einer Breite von 20 Metern durchqueren . Die Durchfahrt dauert maximal zwanzig Minuten.

Das  verkürzt den Wasserweg von Gdańsk/Danzig und Gdynia/Gdingen nach Elbląg um über 90 Kilometer und die Transportzeit um zwölf Stunden . (→ Chancen für Elbląg)

Bernstein am Bau

Die deutliche Beschleunigung der Vorbereitungsmaβnahmen für den Kanalbau ab 2016 wurde immer wieder von Sensationsmeldungen begleitet. Angeblich sollten riesige Mengen an Bernstein beim Ausheben der Kanaltrasse zum Vorschein gekommen sein. Damit könne man einen erheblichen Teil des Vorhabens finanzieren, hieβ es damals.

Groβe Erwartungen, wenig Bernstein.

Die im Sommer 2019 bekanntgegebenen Untersuchungsergebnisse jedoch waren mehr als ernüchternd. Ausgemacht wurden nur zwei Vorkommen mit jeweils 900 und 500 Kilogramm Bernstein. Ihr Wert insgesamt: umgerechnet etwa 350.000 Euro. Das waren etwa 0,17 Prozent der ursprünglich auf 205 Millionen Euro veranschlagten und zwischenzeitlich um bis zu 50 Prozent nach oben korrigierten Baukosten.

Blockade durch Russland. Die Fakten

Das Schicksal des Hafens in Elbląg war von 1945 bis zur Eröffnung des neuen Kanals auf Gedeih und Verderb von Russland abhängig.

Ob und wie viel Schiffsverkehr es auf dem Haff von Elbląg nach Kaliningrad gab, das entschieden russische Behörden willkürlich . Lang war die Liste polnischer Unternehmen, die sich auf eine regelmäβige Beförderung von Passagieren und Waren zwischen den beiden Häfen eingerichtet hatten und dann über Nacht aus Kaliningrad erfuhren, dass das nicht mehr geht.

Frische Nehrung. Polnische Grenzpolizei.

Noch rigoroser schnitten die Russen Elbląg von der offenen See ab.

Schon am 16. August 1945 unterschrieben die Sowjets und die von ihnen in Warschau eingesetzte kommunistische Vasallenregierung ein Zusatzprotokoll zum Abkommen über den Verlauf der neuen sowjetisch-polnischen Grenze. Das Abkommen sanktionierte die Abtrennung von etwa 45 Prozent des polnischen Vorkriegsterritoriums zugunsten der UdSSR. Es waren weitgehend jene Gebiete, die Moskau infolge des Hitler-Stalin-Paktes beim Überfall auf Polen am 17. September 1939 erobert hatte und nach dem deutschen Angriff auf die UdSSR am 22. Juni 1941 vorläufig räumen musste.

Das Zusatzprotokoll legte in Artikel 1 fest: „In Friedenszeiten bleibt das Pillauer Seetief offen für Handelsschiffe unter polnischer Flagge, von und nach Elbląg.“ Entgegen dieser sowjetischen Verpflichtung blieb das Pillauer Seetief zwischen 1945 und 1990 für polnische Handelsschiffe ausnahmslos gesperrt.

Über das Pillauer Seetief gelangte in diesen 45 Jahren  kein einziges Schiff nach Elbląg. Nach Kaliningrad lieβen die Sowjets in diesem Zeitraum ausschließlich eigene Handelsschiffe, aber kein einziges ausländisches durfte dort einlaufen. Das gesamte Gebiet Kaliningrad war eine für Ausländer unzugängliche Militärzone. Auch Sowjets aus anderen Teilen der UdSSR durften nur in Ausnahmefällen in das Gebiet reisen. In Baltijsk/Pillau errichteten die Sowjets die U-Boot-Basis ihrer Baltischen Kriegsflotte.

Ab 1991 begannen russische Behörden polnische Schiffe durch das Pillauer Seetief durchzulassen. Da sie jedoch zuvor jahrzehntelang die Pillauer Seerinne in Richtung Elbląg hatten versanden lassen, war und bleibt das bis heute ein riskantes Unterfangen. Hinzu kommt, dass es auf der russischen Seite der Haffgrenze keinen Winterdienst gibt, der mit Eisbrechern die Fahrrinne nach Elbląg offen hält.

Frische Nehrung. Russische Grenzpatrouille.

Polnische Reeder oder Kapitäne mussten zudem mindestens 15 Tage im Voraus einen Antrag auf Durchfahrt beim Hafenamt Kaliningrad stellen. Die Erlaubnis wurde erst einen Tag vor der Durchfahrt erteilt oder auch nicht: „aus Gründen der nationalen Sicherheit, des Umweltschutzes oder sonstiger.“

Die Einschränkung, dass nur Handelsschiffe unter polnischer Flagge das Pillauer Seetief von und nach Elbląg passieren dürften, traf Polen in doppelter Hinsicht schmerzhaft. Zum einen fuhren seit 1990 die meisten polnischen Handelsschiffe unter den Billigflaggen der Bahamas, Zyperns usw. Zum anderen waren ausländische Handelsschiffe, darunter die anderer EU-Staaten, von der Durchfahrt ausgeschlossen. Es sei denn, sie unterzogen sich noch komplizierteren Einreiseprozeduren als polnische Handelsschiffe.

Schiffe der polnischen Marine und des Grenzschutzes hatten bis zur Eröffnung des Durchstichs im September 2022 keinen Zugang zum polnischen Hafen in Elbląg.

Zudem schlossen die Russen erneut nach Gutdünken die Durchfahrt durch das Pillauer Seetief für polnische Handelsschiffe. In den Jahren 2003 und 2004 wurde der Durchgang von heute auf morgen für mehrere Monate gesperrt. Eine im Mai 2006 verkündete Schlieβung dauerte bis Juli 2009.

Am 1. September 2009 wurde im Beisein von Polens Ministerpräsident Donald Tusk und Wladimir Putin (damals gerade russischer Regierungschef) in Sopot/Zoppot, am Rande der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs, ein polnisch-russisches Abkommen über den Seeverkehr auf dem Frischen Haff unterzeichnet. Das Abkommen schrieb im Grunde die existierende Willkür fest, an der Handhabung der russischen Seite änderte sich nichts.

Aus heutiger, polnischer Sicht gibt es keinen Zweifel daran, dass die Russen das Abkommen von 2009 und die mit ihm verbundenen polnischen Hoffnungen nur dazu benutzt haben, den immer wieder in Betracht gezogenen Kanalbau zu verzögern oder ihn am besten zu stoppen. (→ Völkerrecht)

Chancen für Elbląg

Die Stadt Elbląg verspricht sich von der Verwirklichung des Projekts eine Vervierfachung oder sogar Verfünffachung des bisherigen Güterumschlags ihres Hafens. Dieser war, nach Angaben der Hafenverwaltung, zwischen 2014 von 358.300 Tonnen auf nur noch 99.100 Tonnen im Jahr 2017 drastisch gesunken. Zwei Drittel dieses Umschlags machte russische Steinkohle aus, die aus Kaliningrad kam.

Elbląg. Polnische Briefmarke von 1954.

Von den 660 Schiffen, die 2017 in den Hafen von Elbląg eingelaufen sind, gehörten 470 zur Weiβen Flotte (Sommerfahrten nach Krynica Morska/Kahlberg auf der polnischen Seite der Frischen Nehrung und zurück, mit insgesamt ca. 40.000 Passagieren). Nur 190 Schiffe transportierten Güter. Von ihnen gelangten nicht einmal zehn von der Ostsee über das russische Pillauer Seetief nach Elbląg.

Der Hafen von Elbląg führte bis September 2022 ein Schattendasein. Nicht einmal zwanzig Prozent seiner Kapazität wurden genutzt. Vor dem Zweiten Weltkrieg, zur deutschen Zeit, mit uneingeschränktem Zugang, betrug der Warenumschlag im Elbinger Hafen mehr als 500.000 Tonnen (1936). Dabei beschränkte sich damals sein Hinterland, das er sich zudem mit Königsberg teilte, lediglich auf das vom Reich abgetrennte Ostpreuβen.

Elbing. Schichau-Werft und Hafen in den Dreiβigerjahren.

Diese Zahl wurde nach dem Krieg nur einmal, 1997, überboten, als der Hafen von Elbląg einen Rekordumschlag von 641.000 Tonnen bekannt gab, dank des Imports russischer Steinkohle aus Kaliningrad über das Frische Haff. Es war ein einmaliger Ausreiβer. Um die oberschlesische Kohleförderung nicht zu gefährden, wurden diese Einfuhren schon im Jahr darauf mit Zöllen und Kontingenten belegt. Die Russen antworteten mit ähnlichen Maβnahmen für polnische Baustoffe. Der Warenumschlag stürzte im Folgejahr 1998 auf knapp 50.000 Tonnen ab.

Nach der Fertigstellung des Kanals soll der Elbinger Port, nun uneingeschränkt zugänglich, als ein Feederhafen fungieren, der Zulieferdienste für die beiden großen Meereshäfen von Gdansk und Gdynia leistet und diese entlastet. Das erfordert weitere Investitionen, was zum Beispiel auch deutschen Anbietern von Hafentechnik Zulieferchancen eröffnet.

Die Ausbaumaßnahmen werden der gesamten Region Auftrieb geben, zumal viele Firmen wie Speditionen, Verladebetriebe, die Bahn, Tankstellen oder direkt im Hafen von Elbląg angesiedelte Akteure davon profitieren werden.

Nicht viel los. Hafen in Elbląg vor 2022.

Zu den im Hafen bereits vertretenen Firmen, denen der Kanal einen neuen Verkehrsweg direkt vor ihren Toren eröffnet, zählt General Electric. Ihr Werk in Elbląg (die einstigen Schichau-Werke) produziert Groβturbinen und groβe Stahlkonstruktionen, u. a. Brückenpfeiler, die  bis zur Eröffnung des Kanals die Stadt umständlich auf dem Landweg verlassen mussten.

Auch der Tourismus soll durch die Nehrungsdurchfahrt neuen Auftrieb erhalten. Sie soll schwedische Jachtbesitzer locken, ihre Boote preiswert in Polen zu überwintern.

Deutsche Kanalpläne vor 1945

Als Erster hatte Friedrich II. den Kanalbau erwogen. Nach der ersten polnischen Teilung 1772 kam Elbing zu Preuβen, während Gdańsk bei Polen blieb. Der König wollte Elbing zu einem gewichtigen Konkurrenten der Stadt an der Motlau machen. Friedrich II. starb 1786, und 1793, nach der zweiten polnischen Teilung, kam auch Danzig zu Preuβen. Ein Kanalbau wurde überflüssig.

Im Jahre 1874 machte der damals sehr einflussreiche Danziger Stadtarchitekt Julius Albert Licht den Vorschlag, das Frische Haff weitgehend trockenzulegen und als fruchtbares Polderland landwirtschaftlich zu nutzen. Diesen Gedanken griff Ende der zwanziger Jahre der Elbinger Stadtrat auf und stellte 1932 eine „Denkschrift über die Trockenlegung des Frischen Haffs und den Durchstich durch die Frische Nehrung bei Kahlberg“ vor.

Frisches Haff trockenlegen. Denkschrift von 1932.

Etwa 65 Prozent des Haffs sollten trockengelegt werden. Auf rund 540.000 Hektar Neuland könnten anschlieβend  bis zu 13.000 angeworbene Siedlerfamilien wirtschaften, geschützt durch Deiche, Pumpwerke und Meliorationsgräben. Bestehen bleiben sollten nur die Gewässer am Pillauer Seetief mit der Fahrrinne nach Königsberg. Elbing würde ein 6 Meter tiefer Kanal zum Nehrungsdurchstich bei Kahlberg mit der Ostsee verbinden. Ein zweiter Kanal durch die trockengelegte Nehrung war nach Königsberg geplant. Nach Hitlers Machtübernahme 1933 geriet der Plan schnell in Vergessenheit.

                                                          Die Eröffnung

Der Durchstich wurde feierlich am 17. September 2022 freigegeben. Das Datum wurde mit Bedacht gewählt. Genau 83 Jahre zuvor, am 17. September 1939, hatte die Sowjetunion das seit dem 1. September 1939 gegen den deutschen Überfall kämpfende Polen vom Osten her angegriffen.  Die vierte Teilung Polens war vollbracht.

Die ersten Schiffe passieren am 17. September 2022 den Kanal. An der Spitze das Flaggschiff des Seeamtes Gdynia „Zodiak II“.

An dem Festakt nahmen die Spitzen aus Politik, Militär und Wirtschaft teil. Die Ansprachen hielten u. a. Staatspräsident Andrzej Duda, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und der Vorsitzende der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit Jarosław Kaczyński, einer der wichtigsten Befürworter des Kanalbaus (—> Kaczyński, Tusk, der Kanal und die polnische Politik).

Als erstes passierte das Flaggschiff des Seeamtes Gdynia „Zodiak II“ den Kanal. Einige Zehntausend Menschen beobachteten das Eröffnungsgeschehen.

Der Durchstich by night.

Die EU und der Kanal 

Anfang März 2019 meldeten polnische Medien, die EU-Kommission habe Polen aufgefordert, alle Arbeiten am Kanalbau so lange einzustellen, bis man sich in Brüssel eine endgültige Meinung über die Zweckmäβigkeit der Investition gemacht habe, die ja auf einem Natura 2000-Gebiet vorgenommen würde.

Kanaltrasse ohne Bäume.

Ausgelöst wurde die angebliche Brüsseler Unmutsäuβerung seinerzeit dadurch, dass am 15. Februar 2019, kurz vor Beginn der Vogelbrutzeit (am 1. März), die Behörden die Erlaubnis erteilt hatten, den zum Bau vorgesehenen Streifen zu roden. In der 200 Meter breiten Schneise wurden knapp 25 Hektar Wald (0,5 Prozent der Waldfläche auf dem polnischen Teil der Nehrung) gefällt und dabei 6.500 Kubikmeter Holz gewonnen.

Kanalbaustelle im April 2021.

Der mediale Wirbel um den „EU-Baustopp“ rief Anfang April 2019 Marek Gróbarczyk, den polnischen Minister für Seewirtschaft und Binnenschifffahrt, auf den Plan, der in einer längeren Erklärung eine Klarstellung vornahm und die Wogen glätten konnte.

Marek Gróbarczyk, Minister für Seewirtschaft und Binnenschifffahrt.

Gróbarczyks damalige Äuβerungen kann man wie folgt zusammenfassen:

1. Die EU-Kommission erwägt keinen Baustopp, sondern bat um Beantwortung einiger Detailfragen zum Bau im Rahmen eines Dialogs, der seit längerer Zeit zwischen Warschau und der EU-Kommission geführt wird. Anlass war der Vorstoβ des russischen stellvertretenden Landwirtschaftsministers Ilja Schestakow, der in Brüssel um einen Baustopp nachgesucht hatte.

2. Polen finanziert den Kanal ausschlieβlich aus eigenen Mitteln.

3. Polen beruft sich bei dieser Investition auf Art. 4 des Vertrages über die Europäische Union: „Die Union achtet … die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit fällt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedsstaaten.“ Die Schaffung eines ungehinderten Zugangs zu einem Teil seines Staatsgebietes wird eindeutig durch die Bestimmungen des Art. 4. abgedeckt. Die EU-Kommission teilt diese Meinung.

4. Obwohl es dazu in diesem Fall nicht verpflichtet sei, wendet Polen bei der Planung und Vorbereitung des Kanalbaus alle im EU-Recht vorgesehenen restriktiven Bestimmungen an. Das gilt insbesondere für die Umweltverträglichkeitsprüfung. Die EU-Kommission nimmt das anerkennend zur Kenntnis, so Gróbarczyk.

Gdańsk und Gdynia

Der Güterumschlag der polnischen Meereshäfen nimmt rasant zu. Polen, im Zentrum Europas gelegen, wird zu einer zunehmend wichtigen Logistikdrehscheibe. Allein der Tiefwasser Container Terminal (TCT) in Gdańsk hat 2019 erstmals über 2 Millionen Standard-Container TEU (Twenty Foot Equivalent Unit) verladen. Diese Anzahl stieg 2021 auf bis zu 3 Millionen Stück an.

Mittelfristig könnte der TCT seine Kapazität auf 4 Millionen Container pro Jahr erhöhen. Den Terminal übernahmen im Mai 2019 der zu einem Investment Fonds in Singapur gehörende globale Hafenbetreiber PSA, der Polski Fundusz Rozwoju (PFR, Polnischer Entwicklungsfonds) und der australische IFM Global Infrastructure Fund.

Gdynia will einen Außenhafen bauen mit einer jährlichen Verladekapazität von 2 Millionen Containern, die noch um weitere 500 Tausend Stück aufgestockt werden könnte. Ende 2018 wurde ein sogenannter technischer Dialog mit am Bau dieses Außenhafens interessierten Firmen abgeschlossen.

Eine schnelle Verbindung über den geplanten Durchstich nach Elbląg ist beiden Häfen sehr willkommen. Sie wird den Einzeltransport von Containern nach Elbląg und dessen Umland von der Straβe nehmen, bündeln und beschleunigen.

                                                        Die Insel

Eine 2 Kilometer lange und 1,2 Kilometer breite künstliche Insel ist aus dem Schlick und Sand entstanden, die beim Ausheben des Kanals gewonnen wurden. Sie liegt etwa 2 bis 3 Meter über dem Meeresspiegel  und hat eine Fläche von 181 Hektar. Diese Insel dient als Vogelreservat und ist unzugänglich für Touristen. Sie entstand im Frischen Haff, in linker Fahrtrichtung nach Elbląg.

Künstliche Insel auf dem Satellitenfoto des Frischen Haffs als weiβer Kreis eingezeichnet.

Kaczyński, Tusk, der Kanal und die polnische Politik

Als erster polnischer Politiker wollte König Stefan Bathory 1576 den Kanalbau durch die Frische Nehrung in Angriff nehmen. Bathory führte zu jener Zeit Krieg gegen Danzig. Die mächtige und reiche Stadtrepublik, die im polnischen Staatsverband über erhebliche Autonomierechte verfügte, wollte die durch Bathory beabsichtigte Einschränkung nicht hinnehmen. Der Kanal sollte Elbing wirtschaftlich aufwerten und Danzig schwächen. Nach einem Jahr war der Konflikt beigelegt, die Idee des Kanalbaus wurde  verworfen.

König Stefan Bathory. Polnische Briefmarke von 1998.

Nachdem sich Preuβen während der ersten polnischen Teilung 1772 Elbląg genommen hatte, geriet der Kanal bis 1945, bis zum Ende der deutschen Herrschaft, völlig aus dem Blickwinkel der polnischen Politik. Nach 1945 brachten polnische kommunistische Vertreter einige Male den Gedanken zaghaft ins Gespräch, dem setzte jedoch jedes Mal ein schroffes sowjetisches „Njet“ ein Ende.

Nach 1989 wurde Jarosław Kaczyński zum führenden polnischen Verfechter des Kanalbaus. Das begann bereits mit den ersten halbfreien Wahlen im Frühjahr 1989. Der damals vierzigjährige konservative Bürgerrechtler und enge Mitarbeiter Lech Wałęsas, deren Wege sich bald trennen sollten, kandidierte für Solidarność in den Senat, die obere Parlamentskammer. Sein Wahlkreis: Elbląg.

Symbolisch. Jarosław Kaczyński stellt am 16. Oktober 2018 den letzten Markierungsstab zur Vermessung der Kanaltrasse auf.

Der Warschauer Jarosław Kaczyński kam so mit der russischen Blockade Elblągs in Berührung. Der Gedanke, sie mittels eines Kanalbaus zu durchbrechen, lieβ ihn seither nicht mehr los. Als seine Partei, Recht und Gerechtigkeit, im Herbst 2005 zum ersten Mal die Parlamentswahl gewann, leitete er als Ministerpräsident den Bau in die Wege. Der vorzeitige Sturz seiner Koalitionsregierung im Sommer 2007 und die in der Folge vorgezogenen Wahlen im Herbst desselben Jahres, die er verlor, setzten dem Vorhaben für die acht folgenden Jahre ein Ende.

Der kühne Plan wurde damals von den anderen Akteuren der polnischen Politik entweder ignoriert oder abgelehnt. Die bis 2005 einflussreichen Postkommunisten, die Polen 1993 bis 1997 sowie 2001 bis 2005 regiert hatten, wie auch ihr Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski (1995 bis 2005) wollten sich mit Moskau  nicht anlegen.

Ebenso wie Ministerpräsident Donald Tusk (2007 bis 2014). Dessen Karriere-Traumziel, mit Hilfe seiner politischen Ziehmutter Angela Merkel, Präsident des Europäischen Rates zu werden, wäre unerreichbar geblieben , wäre ihm der Ruf vorausgeeilt, er sei ein antirussischer Politiker. Daher die zahlreichen Versuche Tusks, sich Wladimir Putin geradezu anzudienen, bis hin zu der Entscheidung. den Russen die Untersuchung der Smolensk-Flugzeugkatastrophe zu überlassen.

Eintracht hat groβe Macht. Donald Tusk zwischen Putin und Merkel, den künftigen EU-Spitzenjob vor Augen.

Lange Zeit versuchte Tusk als Regierungschef dem Thema Kanal so gut es ging aus dem Wege zu gehen, behauptete, man müsse „prüfen“, „untersuchen“, „nachdenken“, „dürfe nichts überstürzen“. Als aber das Finale seiner EU-Karrierebemühungen nahte, bezog Tusk im Juni 2013 bei einem Besuch in Elbląg klar Stellung:

„Wir haben heute in Polen eine riesige Zahl vorrangiger Investitionen zu tätigen. Bei einem solchen sehr teuren Kanalvorhaben von zweifelhaftem ökonomischen Nutzen handelt es sich nur um einen wahltaktischen Trick. Es graust einem geradezu, wenn man überlegt, was alles unsere Opponenten (gemeint sind Kaczyński und seine Partei Recht und Gerechtigkeit – Anm. RdP) noch alles durchgraben werden, welchen Fluss sie in die umgekehrte Richtung fließen lassen werden, welches Meer sie trockenlegen wollen, um Wahlen zu gewinnen. Ich empfehle ihnen, ein Bad im Haff zu nehmen. Das Wasser ist noch recht frisch und könnte vielleicht diese Ideen ein wenig abkühlen.“

Es wäre interessant zu erfahren, ob Donald Tusk diese Worte, beispielsweise in den Niederlanden, offiziell wiederholen würde.

Nach den gewonnen Parlamentswahlen im Herbst 2015 begann die nationalkonservative Regierung das Vorhaben mit Nachdruck umzusetzen. Am 24. Februar 2017 verabschiedete der Sejm mit 401 Stimmen, bei 9 Gegenstimmen und 18 Enthaltungen das Kanalbau-Gesetz. Beinahe die gesamte Opposition war damals dafür. Danach, vor allem im Wahlkampf vor den für den 13. Oktober 2019 angesetzten Parlamentswahlen, wetterten sie wiederum heftig dagegen.

Konsultationen mit Russland nicht erforderlich

Russische Politiker forderten Polen immer wieder auf, über russische Bedenken zum Kanalbau zu diskutieren. Polen sei als Unterzeichnerstaat der „Konvention zur grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung“ (UVP), die 1991 im finnischen Espoo ausgehandelt worden war, dazu verpflichtet.

Briefmarke von 2022 zur Eröffnung des Durchstichs.

Die Konvention sieht vor, dass Vorhaben, die voraussichtlich erhebliche grenzüberschreitende Auswirkungen zum Nachteil der Umwelt haben werden, den betroffenen Vertragsparteien angekündigt werden müssen. Es sei zudem eine UVP durchzuführen und eine UVP-Dokumentation zu erstellen. Auch die Öffentlichkeit des möglicherweise betroffenen Gebietes muss über das geplante Projekt informiert werden. Sie soll eine Möglichkeit zur Stellungnahme im selben Umfang haben, wie die Öffentlichkeit des Urheberstaates.

Polen lehnte das ab und verwies darauf, dass Russland als einziger Ostseeanrainer die Espoo-Konvention nicht ratifiziert hat. Das erlaubte den Russen seinerzeit, jegliche ernsthaften Konsultationen über den Bau der Nord Stream 2-Gasleitung von Russland nach Deutschland unter der Ostsee abzulehnen. Genauso verhält es sich mit dem gerade stattfindenden Bau eines Kernkraftwerkes nordöstlich von Kaliningrad.

Des Weiteren lehnt Russland jegliche Gespräche über die ständige Verschmutzung des Frischen Haffs durch schlecht funktionierende Kläranlagen in der Fünfhundertausend-Einwohner-Stadt Kaliningrad ab.

Die Kosten

Als 2016 die ersten Bauvorbereitungen getroffen wurden, hieß es, die Errichtung des Kanals werde umgerechnet 205 Millionen Euro kosten. Anfang 2021 waren die Kosten bei umgerechnet  knapp 450 Millionen Euro angelangt. Schuld daran waren die zwischen 2016 und 2021 um etwa 30 Prozent gestiegenen Arbeits- und Materialkosten. Zudem wurde das Projekt erweitert.

Hinzugekommen ist der Bau einer neuen Brücke über dem Elbing-Fluss in Nowakowo, auf der Zufahrt vom Haff zum Hafen von Elbląg.  Außerdem sind über dem Kanal,  anstelle von zwei Hebebrücken zwei  funktionellere, aber auch teurere Drehbrücken entstanden. Teurer, weil, wie es sich erwies, notgedrungen aufwendiger, wird auch die Befestigung der Ufer des Elbing-Flusses auf der Zufahrt vom Haff in den Elbinger Hafen werden.

Proteste

Der gröβte Widerstand regte sich in Krynica Morska/Kahlberg, einem 1.300 Einwohner zählenden Ort am Ende des polnischen Teils der Frischen Nehrung, direkt an der russischen Grenze. Der schöne Ort lebt vom Tourismus. Immer wieder kam dort die Befürchtung zur Sprache, der Kanal werde den Ort in eine Insellage versetzen, die Zufahrt erschweren, Touristen wegen Staubildung verprellen.

Krynica Morska/Kahlberg (o). Einwohnerprotest.

Ein Film des Seeamtes in Gdynia zeigt jedoch, dass der Autoverkehr durch die Nehrung nach und von Krynica Morska, dank des Drehbrückensystems, zu keiner Zeit unterbrochen sein wird.

Der Link befindet sich am Ende des Beitrags.

Immer wieder wurde auch hervorgehoben, der Durchstich werde eine höhere Versalzung des Haffwassers im polnischen Teil verursachen. Das Gegenargument: Eine Schleuse im Kanal soll dauerhaft das Ökosystem des Haffs vom Ökosystem der offenen Ostsee trennen, so wie es jetzt auch umgesetzt wurde.

Völkerrecht

Im internationalen Seerecht existiert das verbriefte Prinzip der friedlichen Durchfahrt, das insbesondere für Meerengen gilt, wo unter Umständen das weitergehende Recht der Transitdurchfahrt Anwendung findet. Dieses Prinzip greift auch, wenn innerstaatliche Gewässer eines anderen Landes durchquert werden müssen, um eigene Gewässer zu erreichen. Beides trifft auf die polnische Situation im Frischen Haff zu. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Küstenmeer darf hier, so die Bestimmungen, das Recht der friedlichen Durchfahrt auch nicht zeitweise eingeschränkt werden.

Das Konzept der freien Nutzung der Meere durch die Schiffe aller Staaten, häufig unter dem Schlagwort „Freiheit der Meere“ zusammengefasst, erwähnte 1609 erstmals Hugo Grotius als anerkanntes Prinzip des internationalen Rechts. 1958 hat man das Recht der friedlichen Durchfahrt im „Übereinkommen über das Küstenmeer und die Anschlusszone“ erstmals kodifiziert und 1982 im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen weiter ausgestaltet.

Dieses Prinzip wird zum Beispiel zwischen Belgien und den Niederlanden angewandt. Der Zugang zum belgischen Hafen Antwerpen an der Schelde führt teilweise über holländisches Gebiet, was völlig problemlos abläuft. Doch so verhielt es sich nicht im Frischen Haff.

Zum Schluss

Der Kanal ist nicht nur ein wichtiges wirtschaftliches Projekt. Es ist auch ein durch und durch politisches Vorhaben. Es soll, so der Ansatz seiner Befürworter, eine Maβnahme sein, die eine viel zu lange andauernde, konfliktträchtige und von Russland gewollte Unwägbarkeit endlich beheben soll.

Sehenswert:

Der Kanalbau in der Animation des Seeamtes in Gdynia

Keine Staus. Der Autoverkehr auf der Frischen Nehrung nach der Fertigstellung des Kanals. Animation des Seeamtes in Gdynia.

Lesenswert: Kaliningrads Probleme mit Kläranlagen. 

© RdP




Polen im Leben der Queen

Margaret Thatcher ebnete den Weg.

Jahrelang distanzierte sich die am 8. September 2022 verstorbene Königin Elisabeth II., wie die meisten britischen Politiker, von Kontakten mit kommunistischen Ländern, darunter auch mit der Volksrepublik Polen. Nach dem Ende des Kommunismus änderte sich die Situation. Die Königin empfing drei aufeinanderfolgende polnische Staatspräsidenten, beehrte Polen mit einem Staatsbesuch und traf dreimal mit dem polnischen Papst Johannes Paul II. zusammen.

Begegnungen zwischen der britischen Monarchin und den Inhabern der wichtigsten Ämter in Polen wurden erst nach der politischen Wende von 1989 möglich. Eine Ausnahme von dieser Regel gestattete sich ihr Ehemann Philip, Herzog von Edinburgh, der im August 1975 nach Sopot kam, wo er als Teilnehmer eines Wettbewerbs im Gespannfahren und gleichzeitig als Präsident des Internationalen Reitsportverbandes (FEI) auftrat. Im Rahmen dieser Reise besuchte er auch Warschau und den Białowieża-Urwald. Zweifellos jedoch wurde der Weg nach Polen von der britischen Premierministerin Margaret Thatcher geebnet, die im November 1988 Warschau und Gdańsk besuchte.

Ein Bankett zu Ehren von Lech Wałęsa und der Staatsbesuch in Polen

Im April 1991 empfing Elisabeth II. den wenige Monate zuvor gewählten polnischen Staatspräsidenten Lech Wałęsa und seine Frau Danuta, auf Schloss Windsor. Ihm zu Ehren gab die Königin ein feierliches Bankett.

Polen besuchte die britische Monarchin ein paar Jahre später, am 25. bis zum 27. März 1996. Es herrschte denkbar schlechtes Frühlingswetter mit viel Regen und heftigem Wind.

Offizielle Begrüßungszeremonie im Innenhof des Präsidentenpalastes am 25. März 1996.

Am 25. März wurde Elisabeth II. im Innenhof des Präsidentenpalastes von Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski und seiner Frau offiziell begrüßt. An der Zeremonie nahmen die Spitzen des polnischen Staates teil. Die Königin wurde auf ihrem Staatsbesuch von vierzig Personen begleitet, darunter u. a. von Außenminister Malcolm Rifkind. Zu ihrem engen Gefolge gehörten zwölf Personen, darunter der persönliche Sekretär der Königin, Hofdamen, der königliche Stallmeister, ein Leibarzt, Garderobieren und ein Friseur.

Nach der Begrüßungszeremonie führte die Königin ein kurzes Gespräch mit Präsident Kwaśniewski. Orden und Geschenke wurden ausgetauscht. Die Königin verlieh dem Präsidenten den Bathorden. Aleksander Kwaśniewski überreichte Elisabeth II. die höchste Auszeichnung Polens, den Orden des Weißen Adlers.

Am selben Tag legten Elisabeth II. und der Herzog von Edinburgh einen Kranz am Grabmal des Unbekannten Soldaten nieder. Die Königin pflanzte symbolisch einen  Baum (Stieleiche) in der Nähe, um so des 400-jährigen Bestehens Warschaus als Hauptstadt zu gedenken.

Entlang eines dichten Spaliers von Warschauern und Touristen, mit denen sie mehrfach kurze Gespräche führte, machte Elisabeth II. einen Spaziergang durch die Altstadt. Anschließend besuchte sie das königliche Schloss. Dort eröffnete sie in Anwesenheit von Präsident Aleksander Kwaśniewski die Ausstellung „Adler und Löwe“ über die polnisch-britischen Beziehungen. Die Königin betonte, dass damit der 900-jährigen Kontakte zwischen den beiden Ländern gedacht werde.

Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski gab ein offizielles Abendessen zu Ehren des britischen Königspaares.

Königin Elisabeth II. und Prinz Philip gedachten ebenfalls der Opfer des Holocausts und legten einen Kranz am Mahnmal am Umschlagplatz nieder, von wo aus die Juden des Warschauer Ghettos in die Gaskammern von Treblinka abtransportiert worden waren. Am Abend fand im Präsidentenpalast ein offizielles Abendessen statt, das von Präsident Kwaśniewski zu Ehren des Königspaares gegeben wurde.

Elisabeths II. denkwürdige Sejm-Rede

Am zweiten Tag ihres Staatsbesuches hielt die Königin eine Rede vor den beiden Kammern des polnischen Parlaments.

Elisabeth II. spricht am 26. März 1996 vor dem polnischen Parlament.

„Ich bin mir bewusst, dass ich hier im Herzen der polnischen Demokratie stehe“, begann die Königin ihre Ansprache von der Rednertribüne des Sejm aus. Die Monarchin erinnerte an die reichen dynastischen, handelspolitischen und politischen Kontakte zwischen den beiden Ländern, die mit ihrem Vorfahren König Knut dem Großen begannen, der ein Neffe des polnischen Königs Bolesław des Tapferen war. Sie erinnerte auch an die Zeit des Zweiten Weltkriegs. „Wer weiß“, sagte sie, „ob die Flamme der Freiheit nicht erloschen wäre, wenn Polen uns in jenen Tagen nicht beigestanden hätte“ und gedachte so der polnischen Einheiten, die zu Lande, zu Wasser und in der Luft an der Seite der Briten gekämpft hatten.

„Der Krieg hat uns geeint, aber auch gespalten, denn das Jahr 1945 hat nicht allen die Freiheit gebracht“, erinnerte Elisabeth II. „Umso mehr freut es uns, dass Polen seine volle Souveränität wiedererlangt hat und dass Sie die Entscheidung getroffen haben, sich um die Mitgliedschaft in den europäischen und westlichen Institutionen zu bewerben“, betonte sie. „Wir unterstützen nachdrücklich die Erweiterung der Europäischen Union und der NATO, wir sind solidarisch mit Ihrem Bestreben, diesen Organisationen beizutreten, und wir sind fest davon überzeugt, dass dieses Bestreben von keinem Land mit einem Veto belegt werden kann“, so ihre Erklärung. (Polen trat1999 der Nato und 2004 der EU bei).

„Polen braucht Europa. Aber Europa braucht auch Polen“, sagte Elisabeth II. Die Sejm-Abgeordneten und die Senatoren antworteten mit Ovationen, als sie auf Polnisch sagte: „Polen soll Polen sein“.

Der Sprecher des Buckingham Palastes, Charles Anson, eröffnete an diesem Tag vor der Presse, dass die Königin ein wichtiges Teilstück ihrer Rede ausgelassen hatte. Laut dem Text, der den Journalisten zuvor übergeben worden war, handelte es sich um den folgenden Absatz: „Wir werden auch nie das Leiden des polnischen Volkes während der Nazi-Besatzung und das schreckliche Schicksal der polnischen Juden vergessen können.“ Anson behauptete, der Grund für die Auslassung sei ein „menschlicher Fehler“ gewesen. Er fügte hinzu, dass die Königin, wie sie es bereits früher geäußert hat, sich des Leidens der polnischen Nation und der jüdischen Gemeinschaft voll bewusst sei.

Geräucherter Lachs in Dillsauce

Noch vor ihrer Rede im Parlament besuchte die Königin am 26. März 1996 das Stefan-Batory-Gymnasium in Warschau. Sie sah sich eine Aufführung eines Fragments von „Pan Tadeusz“ an, das von den Schülern aufgeführt wurde. Sie sprach mit den Jugendlichen und Lehrern. Sie besuchte eine Ausstellung über die Geschichte der Schule, die speziell für ihren Besuch vorbereitet worden war. Anschließend traf sie mit einer Gruppe von Lehrern und mehreren Dutzend Schülern zusammen, die sich in ihren schulischen Leistungen besonders hervorgetan hatten.

Im Warschauer Schloss Belvedere empfing Elisabeth II. den damals schon ehemaligen Staatspräsidenten Lech Wałęsa, Er hatte sie nach Polen eingeladen, war aber zwischenzeitlich abgewählt worden.

Während ihres Aufenthalts in Warschau wohnte die Königin im Schloss Belvedere. Dort empfing sie am zweiten Tag ihres Besuchs den damals schon ehemaligen Staatspräsidenten Lech Wałęsa, auf dessen Einladung sie nach Polen gekommen war. Nach dem Treffen wiederholte Wałęsa eine Äußerung, die er bereits während seines Besuchs in Großbritannien im Jahr 1991 gemacht hatte, als er die britische Königin als Mutter der Nation bezeichnet hatte, die diese in schwierigen Situationen aufzurichten weiß. „In Demokratien wird gezögert und debattiert, und es gibt keine Kontinuität und niemanden, der den Emotionen der Wähler nicht nachgibt“, sagte Walesa.

Die Königin besuchte an diesem Tag auch den British Council. Sie enthüllte eine Gedenktafel zur Erinnerung an ihren Besuch und die Eröffnung der neuen Büros, der Bibliothek und des Sprachzentrums. Sie wohnte dem Englischunterricht bei. Im Palast auf dem Wasser im Lazienki-Park traf die Königin mit Mitarbeitern der britischen Botschaft zusammen.

Am 26. März gab das Königspaar außerdem ein Mittagessen im Hotel Bristol zu Ehren von Präsident Aleksander Kwaśniewski und seiner Frau. Anwesend waren die wichtigsten polnischen Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Den Gästen wurde geräucherter Lachs in Dillsauce, gebratenes schottisches Lammfleisch in Minzsauce mit Dariole-Kartoffeln und eine delikate Ahornmousse serviert. Ausgeschänkt wurden Weiß- und Rotweine sowie drei Sorten Whisky.

Am Nachmittag legte die Königin einen Kranz am Denkmal für die im August 1944 gefallenen Piloten der Royal Air Force nieder, die Versorgungsflüge für das schwer umkämpfte Warschau absolviert hatten.

Zur gleichen Zeit besuchte Prinz Philip das Zentrum für britisches und europäisches Recht an der Universität von Warschau. Er führte Gespräche mit dem Rektor sowie mit Mitgliedern des Senats der Universität und mit Studenten. Zwischen der Universität Warschau und der Universität Cambridge (der Herzog war Kanzler der Universität) wurde ein Kooperationsabkommen unterzeichnet.

Am Abend folgte das Königspaar im Nationaltheater der Balett-Aufführung „Die unbehütete Tochter“ mit der Musik von Ferdinand Hérold. Zu diesem Anlass fand ebenfalls ein Treffen zwischen der Königin und geladenen Kulturschaffenden statt.

Ein Tag in Krakau

Am dritten Tag ihres Besuchs in Polen, dem 27. März 1996, flogen Elisabeth II. und ihr Ehemann Prinz Philip nach Krakau. Sie besuchten die Sehenswürdigkeiten der Stadt, das Königsschloss Wawel, die Kathedrale, in der Elisabeth II. mit dem Metropoliten von Krakau, Kardinal Franciszek Macharski, zusammentraf. In der Krypta der Kathedrale legte sie Blumen an den Gräbern von General Władysław Sikorski und Marschall Józef Piłsudski nieder.

Im Schneetreiben vor den Tuchhallen. Elisabeth II.  am 27. März 1996 in Krakau.

Begleitet von einer Polizeieskorte schlenderte Königin Elisabeth trotz des Schneefalls über den Krakauer Markt, wo sie von zahlreichen Einwohnern der Stadt, Pfadfindern und Studenten begrüßt wurde. Auf dem Programm standen die Tuchhallen, das Anhören des Hejnals, der zu jeder vollen Stunde vom Turm der Marienkirche geblasen wird, sowie die Besichtigung des Veit-Stoss-Altars aus dem 15. Jahrhundert in der Marienkirche. Prinz Philip besuchte parallel das ehemalige jüdische Viertel Kazimierz, das jüdische Kulturzentrum und die Remuh-Synagoge.

Von Krakau aus flog das Königspaar zurück nach Großbritannien.

Der Besuch von Lech Kaczyński

Der dritte polnische Präsident, der sich mit der britischen Monarchin traf, war Lech Kaczyński. Er und seine Frau Maria trafen am Nachmittag des 6. November 2006 zu einem offiziellen Besuch auf Einladung von Premierminister Tony Blair in London ein. Am 7. November 2006 wurden Lech und Maria Kaczyński von Königin Elisabeth II. bei einer Privataudienz im Buckingham Palast empfangen.

Staatspräsident Lech Kaczyński und Ehefrau mit Elisabeth II. bei der Privataudienz im Buckingham Palast am 7. November 2006.

„Mit tiefer Trauer habe ich vom Tod des Präsidenten Lech Kaczyński und der First Lady, Frau Kaczyński, erfahren. Aus diesem traurigen Anlass erinnere ich an die lange und achtungsvolle Karriere von Präsident Kaczyński im Dienste des Staates und an seine Rolle in der Solidarność-Bewegung. Der Tod vieler anderer führender polnischer Persönlichkeiten, darunter der des ehemaligen Staatspräsidenten im Exil Ryszard Kaczorowski, macht diese Tragödie noch einschneidender. Ich möchte dem gesamten polnischen Volk mein tiefstes Mitgefühl aussprechen“, schrieb die britische Monarchin am 10. April 2010, kurz nach der Katastrophe von Smolensk, in einem Beileidsbrief.

Begegnungen mit Johannes Paul II.

Elisabeth II. traf dreimal mit dem polnischen Papst Johannes Paul II. zusammen. Es sei daran erinnert, dass Großbritannien, nach dem Bruch mit Rom durch Heinrich VIII. im 16. Jahrhundert, die Beziehungen zum Vatikan erst 1914 wieder aufnahm und erneut eine Gesandtschaft beim Vatikan einrichtete.

Elisabeth II. war die erste britische Monarchin, die dem Vatikan einen Staatsbesuch abstattete. Das geschah am 5. Mai 1961 während des Pontifikats von Papst Johannes XXIII. Ihre erste Audienz bei Johannes Paul II. fand am 17. Oktober 1980 im Vatikan statt. Die Königin wurde dabei von ihrem Ehemann begleitet.

Viel wichtiger jedoch war das zweite Treffen, das am 28. Mai 1982 im Buckingham Palast stattfand. Der Papst besuchte Elisabeth in einer für die Briten schwierigen Zeit. Der Krieg mit Argentinien um die Falklandinseln und der interne Konflikt in Nordirland, der religiös motiviert war, dauerten noch an. Sowohl die IRA als auch die protestantischen Milizen schreckten nicht vor Gewalt zurück. Die Pilgerreise von Johannes Paul II. nach Großbritannien im Jahr 1982 war der erste Besuch eines Oberhaupts der katholischen Kirche in diesem Land seit der Reformation. Im selben Jahr wurde Sir Mark Evelyn Heath zum ersten britischen Botschafter beim Heiligen Stuhl seit 1534 ernannt.

Der Vatikan am 17. Oktober 2000. Elisabeths II. letztes Treffen mit dem polnischen Papst.

Elisabeth II. traf den polnischen Papst ein letztes Mal am 17. Oktober 2000 in der päpstlichen Privatbibliothek des Vatikans. Die Audienz dauerte etwa zwanzig Minuten. Die Königin hielt sich zu dieser Zeit zu einem viertägigen Staatsbesuch in Italien auf.

© RdP




Warum tust du das, Russland!? Polen fragen, Putins Mann antwortet

Nicht nur die Ukraine spaltet Russland und Polen. Niederschrift eines  denkwürdigen Gespräches.

Das ausführliche Interview mit dem russischen Botschafter in Warschau fand zwei Tage vor dem russischen Großangriff auf die Ukraine statt. Die Niederschrift dieses Gesprächs ist ein denkwürdiges Dokument. Es vermittelt tiefe Einblicke in die oft sehr brutale russische Denk- und Vorgehensweise, die auch in der Wortwahl russischer Beamter und Politiker ihren Ausdruck findet.

Sehr vieles von dem, was Botschafter Sergej Andrejew gesagt hat, wurde durch die nachfolgenden Ereignisse als unwahr widerlegt oder weitgehend relativiert. Es zeigt, wie naiv und gefährlich es sein kann, das was Wladimir Putins Russland von sich gibt, für bare Münze zu nehmen.

Sergej Andrejew.

Sergej Wadimowitsch Andrejew, geb. 1958 ist seit August 2014 russischer Botschafter in Polen. Vorher bekleidete er die Ämter des Botschaftsrates in Portugal, sowie des russischen Botschafters in Angola und Norwegen.

Frage: Herr Botschafter, es fällt uns schwer zu verstehen, warum Russland dem angeblich brüderlichen ukrainischen Volk so etwas antut: Armeeaufmarsch an den Grenzen, Einschüchterung, Terrorisierung. Warum das alles?

Sergej Andrejew: Die Ukrainer sind für uns nicht nur ein Brudervolk. Präsident Putin hat schon oft gesagt: wir sind in der Tat ein und dasselbe Volk.

Außerdem geht es uns nicht um das Volk, sondern um die Behörden, um das Regime, mit dem wir tatsächlich Probleme haben. Diese Leute verwandeln die Ukraine in einen Anti-Russland-Staat. Sie haben eine antirussische Haltung eingenommen. Antirussische Aktivitäten sind zum Sinn der Existenz dieses Regimes geworden. Ausländische Mächte nutzen das aus. Die Ukraine verwandelt sich zu einem Stützpunkt für ihre Aktionen gegen mein Land. Wir können das nicht ignorieren. Wir müssen daraus unsere Schlussfolgerungen ziehen.

Sie sprechen von einem „Regime“. Aber nach dem Maidan 2014 gab es eine Präsidentschaftswahl, die Präsident Poroschenko gewann, dann eine weitere, die er verlor, und Selenskyj wurde Präsident. Außerdem fanden demokratische Parlamentswahlen statt. Es gibt eine pluralistische Medienlandschaft und die Menschenrechte werden geachtet. Der in diesem Zusammenhang von Ihnen verwendete Begriff „Regime“ ist eine Umkehrung seiner Bedeutung. Vielmehr ist Russland ein stark zentralisierter Staat mit einer, wenn Sie den Ausdruck gestatten, weitgehend fiktiven politischen Szene.

Der 1954-1955 auf einer künstlichen Anhöhe, in einer der schönsten Gegenden im Zentrum von Warschau erbaute Komplex der sowjetischen (heute russischen) Botschaft ist ein kolossaler Prunkbau im Stil des stalinistischen Neoklassizismus. Er sollte den kolonialen Herrschaftsanspruch der Sowjets für alle sichtbar zum Ausdruck bringen. Ein vier Hektar großer Park umgibt die Gebäude.

Formal erkennen wir an, dass die ukrainische Verwaltung verfassungskonform bestimmt wurde und durch Wahlen legitimiert ist. Das Problem besteht darin, dass diese Verwaltung, unserer Meinung nach, nicht die wahren Interessen und den Willen des ukrainischen Volkes vertritt. Sowohl Poroschenko als auch Selenskyj sind mit den Losungen „Frieden“, „Beilegung der Krise im Osten des Landes“ und „Verbesserung der Beziehungen zu Russland“ in den Wahlkampf gezogen, und nachdem sie an die Macht gekommen sind, taten sie und tun weiterhin das Gegenteil.

Was das politische System Russlands betrifft, so gestalten wir es entsprechend den Bedingungen und Bedürfnissen unseres Landes, und legen dabei großen Wert auf die Gewährleistung von Stabilität, Entwicklung und Sicherheit. Dies entspricht den Interessen der überwältigenden Mehrheit der russischen Bürger. Das spiegelt sich in regelmäßigen, durchaus demokratischen und keineswegs fiktiven Wahlen wider. In Anbetracht des Bildes von einem politischen Bordell, das das politische Geschehen in der Ukraine seit vielen Jahre abgibt, erscheint die Wirksamkeit unseres politischen Systems umso offensichtlicher.

Selbst wenn es in der Ukraine so wäre, wie Sie sagen, ist es ein Merkmal der Demokratie, ein internes Recht der einzelnen Staaten, ihre eigenen Interessen festzulegen und sogar ihre politische Linie zu ändern. Wäre das eine Anschuldigung, die militärisches Vorgehen rechtfertigt, bliebe in der Welt kein Stein mehr auf dem anderen.

Nun, ich habe Ihnen nur zu erklären versucht, warum wir glauben, dass diese Regierung nicht das ukrainische Volk vertritt, nicht seinen wirklichen Interessen entspricht.

Proteste und Kämpfe auf dem Platz (Maidan) der Unabhängigkeit in Kiew zwischen November 2013 und Februar 2014 endeten mit der Flucht des prorussischen Staatspräsidenten Wiktor Janukowytsch und einem demokratischen Neuanfang in der Ukraine, dem sich Russland bis heute widersetzt.

Präsident Putin geht noch weiter. Kürzlich sagte er in einer seiner Reden, dass die Ukrainer nie eine echte Nation gewesen seien, dass die Ukraine ein untrennbarer Teil Russlands sei. Das, Herr Botschafter, ist demütigend für die Ukrainer und unwahr. Die nationale Identität wird durch den Volkswillen, die Sprache und die Geschichte bestimmt.

In diesem Fall jedoch, wird die nationale Identität durch die Verleugnung der wahren Geschichte der Ukraine, durch eine künstlich geschaffene Oppositionshaltung zu Russland und die Errichtung eines widernatürlichen Anti-Russlands geprägt. Das ist das Fundament der Daseinsberechtigung des Kiewer Regimes. In Wirklichkeit entbehrt diese Haltung jeder rationalen Grundlage. So etwas können wir nicht hinnehmen.

Welche Ukraine wäre nach Russlands Geschmack? Welche würde Russland in Ruhe lassen?

Wir möchten, dass die Ukraine ein friedlicher Staat ist, der wirtschaftlich und kulturell floriert und gute Beziehungen zu Russland unterhält.

Nach den Ereignissen des letzten Jahrzehnts erscheint die letzte Forderung unerfüllbar. Ein tiefer Graben ist entstanden, und es wurde Blut vergossen.

Wir sind der Meinung, dass eine Einigung zwischen unseren Völkern durchaus möglich ist, und wir wissen, dass die Mehrheit des ukrainischen Volkes das will. Den Ukrainern ist klar, dass die falsche Politik ihrer Behörden die Schuld daran trägt, was heute in den ukrainisch-russischen Beziehungen geschieht. So sollte es nicht sein.

Umfragen zeigen, dass in der Ukraine die Unterstützung für die Nato- und eine EU-Mitgliedschaft wächst. Es gibt auch keine Anzeichen für innere Spannungen. Im Gegenteil, die Ukraine ist geeint und solidarisch in Anbetracht eines womöglich bevorstehenden Überfalls.

Meine Herren, in der gegenwärtigen politischen und medialen Situation in der Ukraine, angesichts einer Welle kriegerischer Emotionen, ist es nicht möglich echte Meinungsumfragen durchzuführen. Doch selbst unter diesen Umständen zeigen die Umfragen, dass fast 20 Prozent der ukrainischen Öffentlichkeit die Politik ihrer Behörden gegenüber Russland ablehnt. Wie viele wären es, wenn es diese antirussische, banderistische, kriegsbefürwortende Kampagne nicht gäbe? Auf jeden Fall mehr.

Ist das wirklich eine Kampagne? Die ganze Welt sieht eine Truppenkonzentration, die darauf hindeutet, dass ein Angriff möglich ist. Diese Kriegsvorbereitungen werden nicht von der Ukraine, sondern von Russland getroffen. Das beschäftigt die führenden Politiker der Welt, und deshalb genehmigen sie die Lieferung von Verteidigungswaffen in die Ukraine.

Diese angeblichen Defensivwaffen werden in der sogenannten Anti-Terror-Operation im Osten des Landes eingesetzt. Gegen Menschen, die nicht vom Kiewer Regime regiert werden wollen. Das sind keine Verteidigungswaffen. Natürlich können wir groß angelegte Kriegsoperationen der Kiewer Behörden im Osten des Landes nicht ausschließen. Wir haben immer klar gesagt, dass wir in einem solchen Fall nicht gleichgültig bleiben können. Die Ukrainer haben es dennoch getan, und zwar kurz nachdem bekannt wurde, dass sich einige russische Truppen aus dem Übungsgebiet in ihre Stützpunkte zurückziehen. Zu diesem Zeitpunkt nahmen die Provokationen und der Beschuss in der Ostukraine drastisch zu.

Westliche Geheimdienste bestätigten weder den Rückzug der Truppen aus dem Übungsgebiet noch sahen sie eine Deeskalation.

Heute las ich in den polnischen Medien den Bericht eines Journalisten aus der Ukraine, der die Qualität der Arbeit westlicher Geheimdienste, einschließlich des amerikanischen, stark kritisierte. Und das ist wahr. Einmal ist von 100.000 Soldaten an den Grenzen die Rede, dann von 150.000 und schließlich von 170.000. Eine einfache Zählung, so der Autor, ergibt eine Zahl von höchstens 65.000, was für eine größere Offensivoperation nicht ausreicht.

Worum geht es also? Gibt es wirklich eine so große Konzentration von Armeen, dass man von einer Bedrohung sprechen kann? Es ist nicht der Fall, und bei der Kampagne, die seit Oktober und November läuft, handelt es sich einfach um eine riesige Desinformationsaktion. Ständig wird von der Gefahr einer großen russischen Operation gesprochen, und es werden Szenarien für die Besetzung Kiews und die Besetzung des ganzen Landes entworfen.

Vielleicht würde es genügen, sie überzeugend zu widerlegen?

Wir haben das von Anfang an getan. Wir legen die Fakten dar, aber niemand will auf uns hören, denn es geht nicht darum, dass die Menschen die Wahrheit kennen, sondern es geht um diese Kriegsstimmung. Man möchte, wenn letztendlich keine Invasion stattfindet, verkünden können, dass Politiker von Weltrang den Weltfrieden gerettet haben.

Die tatsächliche, groß angelegte Verlegung russischer Truppen, auch nach Weißrussland, ist die Hauptursache und Quelle der Spannung, der Angst um die Nato-Ostflanke sowie der Ursprung der Unterstützung des Westens, einschließlich Polens, für die Ukraine.

Sie lesen ja ukrainische Medien und wissen auch, dass selbst diese von Anfang an gesagt haben, dass die Bedrohung nicht so groß sei, wie sie von den Amerikanern dargestellt wird. Sie wussten, dass diese Panik die ukrainische Wirtschaft schädigen wird. Und genau das ist geschehen.

V. l. n. r.: Wladimir Putin (Russland), François Hollande (Frankreich), Angela Merkel (Deutschland) und Petro Poroschenko (Ukraine) verhandeln die Minsker Vereinbarungen im Februar 2015.

Jetzt haben wir die Entscheidung Russlands, die sogenannten Lugansker und Donezker Volksrepubliken anzuerkennen. Das ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht, ein Versuch Grenzen in Europa zu verändern, was zu vielen Kriegen führen kann. Diskussionen darüber, ob Grenzen gerechtfertigt oder nicht gerechtfertigt sind, können den Beginn einer europäischen Katastrophe markieren.

Lassen Sie uns die Fakten ordnen. Es gab die Minsker Abkommen von 2014 und 2015. Das Problem war, dass die ukrainischen Behörden von Anfang an nicht umsetzen wollten, was sie selbst vereinbart hatten. Alles, was getan werden muss damit Frieden herrscht, ist dort verankert und in der Resolution des UN-Sicherheitsrates bestätigt.

Die Kiewer Behörden haben das alles zwar unterschrieben aber nicht geliefert. In letzter Zeit sagen Präsident Selenskyj und sein Gefolge ganz offen, dass sie die Minsker Vereinbarungen nicht mögen und nicht die Absicht haben, sie umzusetzen. Es wird behauptet, dass Präsident Poroschenko gezwungen wurde, diese Abkommen zu unterzeichnen, und dass ihre Umsetzung zum Auseinanderbrechen des Landes führen wird. Nun, man kann Verschiedenes sagen, aber die Dokumente sind da. Die Ukraine sollte sich daran halten.

Der russische Präsident Boris Jelzin, der amerikanische Präsident Bill Clinton, der ukrainische Präsident Leonid Kutchma und der britische Premierminister John Major (v.l.n.r.) am 5. Dezember 1994 bei der Unterzeichnung des Budapester Memorandums.

Davor gab es das Budapester Memorandum vom Dezember 1994, in dem sich die USA, Großbritannien und Russland verpflichteten, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu achten, wenn diese im Gegenzug ihre Atomwaffen aufgibt. Dieses hat Russland durch die Besetzung der Krim gebrochen.

Niemand garantierte der Ukraine die Anerkennung der Ergebnisse eines Staatsstreichs. Niemand hat den illegalen Behörden, die nach dem Maidan-Putsch von 2014 und vor den darauf folgenden Präsidentschaftswahlen entstanden sind, das Recht gegeben, den russischsprachigen Teil der Bevölkerung im Osten des Landes zu unterdrücken. Niemand hat garantiert, dass er das Vorgehen der illegalen Behörden gegen die Bevölkerung unterstützen wird, die diesen Staatsstreich abgelehnt hat.

Herr Botschafter, Sie wissen doch sehr gut, dass es im Leben jeder Nation dramatische Momente und schmerzhafte Veränderungen geben kann. Es ist wichtig, dass anschließend die Legitimität durch freie Wahlen wiederhergestellt wird. Auch Verfassungen sind nicht ewig gültig.

Wahlen nach einem Staatsstreich sind immer Wahlen, die nicht ganz glaubwürdig sind. In diesem Zusammenhang ist der Verweis auf das Budapester Memorandum nicht gerechtfertigt, da die Änderungen der ukrainischen Grenzen durch interne Ereignisse verursacht wurden. Auch die Minsker Vereinbarungen beruhen auf dieser Sichtweise. Sie sollten den Ausstieg der Ukraine aus dieser Situation erleichtern. Die Kiewer Behörden unterzeichneten sie, taten dann aber nichts, um sie umzusetzen. Anschließend erklärten sie, dass diese nicht umgesetzten Vereinbarungen nicht funktionierten. Wir jedoch glaubten, dass das die einzig mögliche Grundlage für die Lösung dieses Problems war.

Aber Sie haben die Abspaltung der Republiken Lugansk und Donezk anerkannt. Das ist das Ende der Minsker Vereinbarungen.

Ja, es gibt sie nicht mehr, aber die Schuld dafür liegt allein bei den Kiewer Behörden.

Können diese Republiken, aus der Sicht Russlands, in die Ukraine zurückkehren?

Wir haben ihre Unabhängigkeit anerkannt.

Russland hat gefordert, dass die Ukraine die Minsker Vereinbarungen umsetzt. Aber sie waren nicht umsetzbar. Die dort empfohlene Föderalisierung wäre gleichbedeutend mit der Übernahme der Kontrolle über die Ukraine durch Russland gewesen, und das Land selbst hätte aufgehört als einheitliches Gebilde zu existieren.

Sie können sagen, was Sie wollen. Es gab das Abkommen und das, was darin stand: Verfassungsreform, Sonderstatus für die Regionen Donezk und Lugansk, Amnestie, Austausch von Gefangenen, Wahlen, Anerkennung der Behörden in den beiden abtrünnigen Regionen und schließlich Wiederherstellung der ukrainischen Kontrolle über die Grenze.

Es ist schwer vorstellbar, dass in Donezk und Lugansk freie Wahlen stattfinden können, auch wegen der Vertreibung eines Teils der dortigen Bevölkerung und des Fehlens freier Medien.

Auch in der Ukraine waren nach dem Putsch Wahlen nur schwer vorstellbar.

Wird Russland versuchen, das von den Donezker und Lugansker Volksrepubliken kontrollierte Gebiet auf den gesamten Bereich ihrer Verwaltungsgrenzen auszudehnen? Der westliche Teil dieser Republiken befindet sich weiterhin in ukrainischer Hand.

Russland hat die Volksrepubliken Donezk und Lugansk innerhalb der in ihren Verfassungen verankerten Grenzen anerkannt. Wir gehen davon aus, dass die territorialen Fragen bei Gesprächen zwischen den Volksrepubliken und den Behörden in Kiew geklärt werden, sobald das möglich ist.

Der Preis für die jüngsten Ereignisse ist die Aussetzung des Starts von Nord Stream 2.

Diese Gaspipeline wird sich noch als notwendig erweisen. Die Nachfrage nach russischem Gas ist sehr groß. Das Fernleitungsnetz auf ukrainischem Gebiet ist in einem schlechten Zustand, und es ist nicht klar, wie lange es noch funktionieren wird.

Dazu eine allgemeine Bemerkung: Es ist heute klar, dass es ohne langfristige Verträge keine stabile Gasversorgung geben kann. So teure Anlagen wie die Pipelines kann man nicht ohne eine Abnahmegarantie rentabel verlegen und betreiben. Russland hält sich an alle seine Vereinbarungen. Es stimmt nicht, dass wir Energie für politische Erpressung benutzen, denn wir sind von diesen Geschäften genauso abhängig wie die Gasabnehmer.

Russischer Nationalstolz auf der besetzten Krim.

Russland hat die Krim besetzt, was international nicht anerkannt wird. Hätte Kiew die Minsker Vereinbarungen umgesetzt, hätte Russland dann die Krim an die Ukraine zurückgegeben, zu der die Halbinsel völkerrechtlich immer noch gehört?

Die Krim ist zu Russland zurückgekehrt, und zwar für immer. Die Krim wurde zufällig ein Teil der Ukraine. Hätte Boris Jelzin Ende 1991 bei dem Treffen zur Auflösung der Sowjetunion im Belowescha-Wald die Krim erwähnt, hätte der damalige ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk sie ihm ohne Probleme zurückgegeben. Jeder wusste, dass die Halbinsel in Wirklichkeit ein Teil Russlands war, den Chruschtschow 1954 willkürlich der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik zugeschlagen hatte.

Die dortige Bevölkerung ist zu fast 70 Prozent russisch und zu 90 Prozent russischsprachig. Nach dem Maidan-Staatsstreich in Kiew von 2014 sahen diese Menschen, was geschah und was sie erwartete. Sie wollten nicht in einer Welt leben, in der sie nicht einmal frei Russisch sprechen dürfen. Ich weiß, dass das Referendum, das dort stattgefunden hat, vom Westen nicht anerkannt wird. Aber jeder, der die Situation auf der Krim kennt, weiß, dass eine Wiederholung jederzeit zu demselben Ergebnis führen würde.

Sie wissen, Herr Botschafter, wie heftig Russland gegen die tschetschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen gekämpft hat und mit welcher Empörung es auf die Abspaltung des Kosovo von Serbien reagiert hat. Ihr Land sah damals ein, dass die territoriale Integrität von Staaten sehr wichtig ist für den Frieden und für die Grundsätze des Völkerrechts. Und heute reißen sie die Ukraine auseinander.

Auf der Krim haben alle Einwohner gewählt, niemand ist gegangen, niemand ist dazugekommen. In Tschetschenien musste die Hälfte der Einwohner vor Extremisten und Terroristen fliehen. Im Kosovo gab es kein Referendum, auch nachdem die serbische Bevölkerung geflohen war. Diese Situationen sind daher nicht miteinander vergleichbar.

Sie sagen, dass die heutigen ukrainischen Behörden nicht repräsentativ seien. Repräsentativ für Russland waren nur die Zustände vor dem Maidan 2013 bis 2014.

Aber liegt das Problem nicht woanders? Ist es nicht so, dass das was Russland anderen Nationen anzubieten hat, schlicht und einfach nicht attraktiv und interessant genug ist? Sogar die Weißrussen haben rebelliert. Beide Gesellschaften, die weißrussische und die ukrainische, die die Transformation langsam hinter sich lassen, schauen sich um und nehmen den Weg in den Westen. Sie vergleichen und sehen, dass sich die Länder des Westens schneller entwickeln und die Menschen dort viel besser leben. Das lässt sich nicht leugnen, auch wenn es für Ihr Land sehr unangenehm ist.

Die Situation ist nicht so eindeutig. Bis 2013 entwickelte sich die Ukraine ohne Konflikte und Kriege, aber sie hatte ernsthafte Probleme. Was Weißrussland angeht, so war nur ein kleiner Teil der Gesellschaft unzufrieden.

Es kam jedoch zu großen Demonstrationen, Protesten und schließlich zu einer Massenauswanderung.

Das ändert nichts an der Tatsache, dass es kein bedeutender Teil der weißrussischen Gesellschaft war. Und die Attraktivität der Annäherung an Russland lässt sich nicht daran messen, was die westlichen Eliten dazu sagen.

Außer Kriege zu führen gibt es eine Menge anderes für Russland zu tun.

Sollte Russland seine Energie nicht auf die Ansammlung von Kapital, auf die wirtschaftliche Entwicklung, die Verbesserung der Lebensqualität und Verlängerung von Lebensdauer, den Ausbau des Straßennetzes, die Bekämpfung der demografischen Krise und der Entvölkerung des Fernen Ostens richten? Träumt Russland nicht etwa einen imperialen Traum und verschließt dabei die Augen vor der Wirklichkeit?

All das tun wir bereits, trotz der Pandemie, mit großem Erfolg. Die letzten Jahre waren nicht einfach, aber die Lebenserwartung ist gestiegen. Die Einkommen der Bevölkerung sind, trotz Sanktionen und der Notwendigkeit, die Wirtschaft daran anzupassen, stabil geblieben. Wir bauen Straßen, wir haben viele Sozialprogramme aufgelegt, wir entwickeln den Fernen Osten.

Das darf jedoch nicht auf Kosten der Sicherheit gehen. Auch all die Erzählungen über die angeblich außergewöhnliche Bewaffnung Russlands sind nicht wahr. Der russische Verteidigungshaushalt bleibt auf dem gleichen Niveau wie der Großbritanniens und Frankreichs, und ist um ein Vielfaches geringer als der der Vereinigten Staaten.

Das, Herr Botschafter, ist keine vollständige Beschreibung der Situation. Die Kaufkraft des Geldes ist bei ihnen eine andere, sie besitzen zudem ihre eigene Rüstungsindustrie.

Ja, diese Faktoren spielen eine Rolle, aber selbst wenn man sie berücksichtigt, ist die mediale Beschreibung der angeblich großen Aufrüstung Russlands unzutreffend. Unter allen Gesichtspunkten: Militärausgaben, Anzahl der Streitkräfte, Waffentypen, liegt Russland weit hinter der Nato zurück. Es ist schon sehr erstaunlich, dass Russland als eine große militärische Bedrohung angesehen wird.

Das liegt daran, dass niemand sonst an den Grenzen seiner Nachbarn einschüchternde Manöver veranstaltet.

Warum einschüchternd? Das sind normale Übungen. Auch die Nato hält Übungen ab, zum Beispiel im Baltikum, in Polen, und sie sind für uns keineswegs weniger einschüchternd, als die russischen Übungen für die Nato.

Es gibt eine Häufung von Erfahrungen, dass das heutige Russland nicht davor zurückschreckt, Gewalt anzuwenden.

Auch wir haben Erfahrungen mit dem Verhalten der Nato gesammelt, die sich hartnäckig auf Russland zubewegt, ohne ihre früheren Versprechen einzuhalten. Und wir haben eine Anhäufung von historischen Erfahrungen, die zeigen, dass wir immer wieder angegriffen wurden.

Einmarsch und die verheerenden sowjetischen Verluste in Finnland 1939-1940.

Nur um zwei erst beste Beispiele zu nennen: Von Polen im September und von Finnland im November 1939 wurden sie nicht angegriffen.

Was Finnland betrifft, so kann man darüber diskutieren. Tatsache jedoch ist, dass vor dem Krieg 1941-1945, als Finnland zu einem Verbündeten Deutschlands wurde, die Grenze weg von Leningrad verlegt werden musste und das geschah im Frühjahr 1940. Ohne das, hätten wir die Stadt vor den Deutschen nicht verteidigen können. Was die Ereignisse in Polen, im September 1939 betrifft, so nehmen wir diese, wie Sie wissen, anders wahr, als es in Polen allgemein der Fall ist.

Viele Beobachter glauben, dass die russischen Behörden Angst vor dem ansteckenden Beispiel der Ukraine haben. Vor einem demokratischen Land, das sich zudem wirtschaftlich erfolgreich entwickeln könnte.

Wo sehen Sie die besonderen wirtschaftlichen Erfolge der Ukraine? Hunderttausende von Ukrainern gehen auf der Suche nach Arbeit nach Russland oder nach Polen.

Das Wirtschaftswachstum war anständig, die Armee wurde gestärkt und der Staat brach nicht zusammen.

Das Wirtschaftswachstum war nach der Pandemie überall anständig. Es fällt mir sehr schwer, Erfolge in der Ukraine zu sehen. Im Gegenteil, selbst in der Mannschaft, die die letzten Wahlen gewonnen hat, entbrannten interne Konflikte. Oppositionelle, darunter der ehemalige Präsident Poroschenko, wurden verfolgt.

Auch Länder, die derzeit Nato- und EU-Mitglieder sind, wie Estland, Lettland und Litauen, machen sich Sorgen um ihre Zukunft.

Als Nato-Mitglieder haben sie doch die von ihnen gewünschten Sicherheitsgarantien bekommen. Was sollen sie noch befürchten? Unsere westlichen Partner erzählten uns seinerzeit, die baltischen Staaten hätten Angst vor uns, aber wenn sie der Nato beiträten, würden sie sich beruhigen und unsere Beziehungen würden sich verbessern. Doch es geschah ganz anders. Sie kommen nicht zur Ruhe und jagen ihren Nato- und EU-Verbündeten immer wieder Angst und Schrecken vor dem „gefährlichen Russland“ ein.

Diese Ängste beziehen sich auf Ereignisse, die auch wir aus der eigenen Geschichte kennen. Ja, die Möglichkeit der Auslöschung der biologischen Existenz der Polen und aller anderen Slawen, im Falle eines deutschen Sieges im Zweiten Weltkrieg, war akut gegeben. Der Einmarsch der Sowjets hat sie abgewendet.

September 2019. Eine der vielen Beerdigungen einst anonym verscharrter, jetzt wiedergefundener, exhumierter und identifizierter Opfer des kommunistischen Terrors in Polen.

Doch anders als in Russland behauptet wird, konnte der sowjetische Soldat Polen nicht die Freiheit bringen, weil er sie selbst nicht hatte. Die Folterkeller der sowjetischen politischen Polizei NKWD und der von ihr angeleiteten polnischen Stasi UB. Die Massendeportationen von Polen nach Sibirien. Der Versuch ganze gesellschaftliche Schichten auszulöschen. Die Hölle der Folterungen und politischen Prozesse, durch die die gegen die Deutschen kämpfenden Helden des polnischen Widerstandes nach dem Krieg gehen mussten. Die Unterdrückung der Kirche. Das Aufzwingen des heuchlerischen und ineffizienten kommunistischen Systems. All das sieht das heutige Russland, das von der „Befreiung Europas vom Hitlerismus“ schwärmt, nicht.

Doch, es sieht das, weil wir selbst eine zwiespältige Haltung zu unserer eigenen Geschichte nach 1917 haben. Niemand in unserem Land sagt, dass die Roten nur gut und die Weißen nur schlecht waren. Wir versuchen, unsere Geschichte ausgewogen zu betrachten, um zu verstehen, warum bestimmte Prozesse stattgefunden haben, was sie verursacht hat. In jeder Periode, sowohl in der Zeit vor 1917 als auch in der Sowjetzeit, gab es Gutes und Schlechtes. Man kann nicht sagen, dass alles nur ein Albtraum war, ein „schwarzes Loch“. Dies gilt selbst für die Zeit des Stalinismus.

Warschau im April 1992. Tausende Polen kamen zu den Veranstaltungen der zum ersten Mal aus Moskau angereisten Mitarbeiter der russischen Gedenkvereinigung Memorial, auf der Suche nach Informationen über ihre in die sowjetischen Lager in Sibirien und Kasachstan zwischen 1939 und etwa 1947 verschleppten und verschollenen Angehörigen.

Die ausgehungerten, gemarterten Millionen Opfer des Kommunismus lassen eine solche Sichtweise nicht zu. Das hieße, sie erneut zum Tode zu verurteilen. Derweil wird in Russland heute sogar die Gedenkvereinigung Memorial aufgelöst, die, neben vielem anderen, Erhebliches bei der Aufdeckung der Schicksale und der Förderung des Gedenkens an die polnischen Opfer des Kommunismus und des Gulag geleistet hat.

Die Gründe für die Auflösung von Memorial waren ausschließlich auf die Gesetzesverstöße des Vereins zurückzuführen. Die siebzig Jahre dauernde Sowjetzeit war eine Zeit enormer Fortschritte in der Entwicklung unseres Landes, seiner Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, im sozialen Bereich und bei der Beseitigung der Klassenunterschiede. Es ist die Zeit des Sieges über den Hitlerismus. Wir erinnern uns an die Opfer der Unterdrückung besser als jeder andere, denn sie waren unsere Vorfahren.

Wir sehen aber auch, wie ausländische Pseudo-Verteidiger der Menschenrechte dieses schmerzhafte Thema nutzen, um unsere Geschichte zu besudeln. Ich betone: In jeder Epoche der Geschichte muss man das Positive und das Negative sehen. Niemals darf ausnahmslos alles auf der Müllkippe der Geschichte abgeladen werden: all die Anstrengungen von Generationen und ihre Errungenschaften.

Hätte jemand das Dritte Reich dafür gelobt, dass es Autobahnen gebaut und die Sozialfürsorge entwickelt hat, wären Sie, Herr Botschafter, der Erste gewesen, der sich empört hätte.

Das Dritte Reich ist eine absolute Ausnahme. Es gab keinen anderen Staat, der sich die physische Vernichtung ganzer Völker, die Ausrottung von Kindern, Frauen und Männern zum Ziel gesetzt hat. Das Naziregime wurde von unserem Land, einer „versklavten“, wie Sie sagen, Nation, beseitigt, als nur wenige in Europa bereit waren, es zu bekämpfen und ihre Freiheit in einem Kampf auf Leben und Tod zu verteidigen.

In den Äußerungen von Präsident Putin schwingt immer wieder die Sehnsucht nach der Sowjetunion mit. Sind auch Sie der Meinung, dass das eine Art Vorschlag für die Länder und Völker sein könnte, die einst im sogenannten Ostblock gefangen waren?

Auch ich verspüre eine Sehnsucht nach der Sowjetunion. Denn ich habe in diesem Land gelebt, bis ich 33 Jahre alt war. Es war die Zeit meiner Kindheit, Jugend und meines Studiums. Es gab viele gute Dinge in der Sowjetunion, an die wir uns heute noch gerne erinnern. Natürlich gab es auch schlimme Dinge, und wir verschließen nicht die Augen vor ihnen, denn wir wissen, dass sie zum Zusammenbruch der UdSSR geführt haben. Aber hier kommen wir wieder auf denselben Punkt zurück: Können ganze Generationen, viele Jahrzehnte menschlicher Arbeit als ein historisch nicht existierendes schwarzes Loch betrachtet werden? Selbst wenn man es versucht, wird es nicht funktionieren.

Aus den Worten, aber auch aus den Taten von Präsident Putin kann man schließen, dass das Ziel darin besteht, die Sowjetunion wieder zu errichten.

Das hat er nie gesagt.

Aber diese Signale der Sehnsucht deuten darauf hin.

Die Sehnsucht haben die meisten, die in der UdSSR gelebt haben. Ich glaube, es war Oleksandr Moros, einst Vorsitzender des ukrainischen Obersten Sowjets, der sagte, dass derjenige, der sich nicht nach der Sowjetunion sehnt, kein Herz, aber derjenige, der sie unter den gegenwärtigen Umständen wiedererrichten möchte, keinen Verstand hat. Diese Aussage hat Präsident Putin mehr als einmal erwähnt.

Diese Vision, diese Sehnsucht, erschreckt die Völker, die während der Sowjetära versklavt waren.

Versklavt? Von welchen Nationen sprechen Sie?

Von den Balten, Georgiern, Moldawiern, Rumänen, Ungarn, den Polen und vielen anderen.

Sie waren nicht versklavt!

Sie waren es, und wir waren es auch.

So denken wir nicht. Wir haben versucht, eine Gemeinschaft befreundeter Nationen aufzubauen, und es wurden große Anstrengungen unternommen, auch mit Polen gute Beziehungen aufzubauen. Das ist uns nicht gelungen.

Heute sind alle Beziehungen eingefroren, auch die kulturellen. Es gab Versuche, wenigstens die kulturelle Zusammenarbeit zu intensivieren, aber Russland lehnt das ab. Woher kommt diese Einstellung?

Dies ist auf die Haltung der polnischen Seite zurückzuführen, die 2014 beschlossen hat, die politischen Beziehungen einzufrieren.

Nach der Besetzung der Krim.

Man sagte uns rundheraus, dass es keine Kontakte auf ministerieller und höherer Ebene geben wird, keine parlamentarischen Kontakte, und dass Polen westliche Sanktionen gegen Russland anstreben würde. Das „Polnische Jahr“ in Russland und das „Russische Jahr“ in Polen, die für 2015 geplant waren, wurden abgesagt. Heute beschränkt sich der kulturelle Austausch, der ohne staatliche Unterstützung stattfindet, auf kommerziell organisierte, private Veranstaltungen. Eigentlich gibt es in diesem Bereich nur noch zwei Ausnahmen: das russische Filmfestival „Sputnik“ in Polen und das polnische Filmfestival „Weichsel“ in Russland.

Auf die Initiative Polens hin, wurde der kleine Grenzverkehr mit Kaliningrad ausgesetzt. Das geschah bereits unter der jetzigen Regierung von Recht und Gerechtigkeit. Noch unter der vorangehenden Regierung der Bürgerplattform wurde der Abriss von Ruhmesdenkmälern für die Sowjetarmee, die Armee der Befreier, die nicht mehr als Befreier anerkannt werden, angekündigt. Und das passiert jetzt. All das lässt in der russischen Öffentlichkeit ein Bild von Polen entstehen, als einem Land, das sich nicht um eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland bemüht. In allen Fragen steht Polen immer gegen Russland.

Dabei gibt es keine wirklichen Hindernisse für eine Verbesserung der russisch-polnischen Beziehungen. Es ist jederzeit möglich, die politischen Kontakte wieder aufzunehmen, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Unterstützung der zuständigen zwischenstaatlichen Kommission zu aktivieren, die kulturellen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zu beleben und die „Megafon-Diplomatie“ einzustellen. Die polnische Seite verspürt jedoch keinen solchen Willen, folglich brauchen wir das ebenso wenig wie unsere polnischen Partner. Es bleibt also vorerst alles beim Alten.

Staatspräsident Lech Kaczyński am 12. August 2008 auf der Kundgebung in Tbilisi, während des russisch-georgischen Krieges. Neben ihm die Staatspräsidenten der Ukraine Juschtschenko, Litauens Adamkus, Estlands Ilves und der lettische Ministerpräsident Godmanis, die Kaczyński gebeten hatte mit ihm nach Tbilisi zu fliegen.

Wir können dazu nur sagen, dass die polnische Überzeugung, Russland wolle sein Imperium auf Kosten seiner Nachbarn wieder aufbauen, richtig war. Solche Stimmen häufen sich auch in der westlichen Presse, die zugibt, dass der verstorbene Staatspräsident Lech Kaczyński Recht hatte, als er im August 2008, auf der berühmten Kundgebung in Tiflis sagte: „Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten, und später könnte die Zeit für mein Land, Polen, kommen“. Russische Truppen standen damals wenige Kilometer entfernt von der georgischen Hauptstadt.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass Staatspräsident Lech Kaczyński das nach dem Nato-Gipfel von Bukarest im April 2008 sagte, auf dem bekannt gegeben wurde, dass Georgien und die Ukraine, nicht sofort, aber in der Zukunft, der Nato beitreten werden. Dieses Versprechen ermutigte den georgischen Präsidenten Saakaschwili zu einem wahnwitzigen Angriff auf Südossetien und die russischen Friedenstruppen dort. Schon damals konnte der polnische Staatspräsident ernsthafte Probleme wegen der Nato-Beitrittspläne der Ukraine vorhersehen. Er hat jedoch in diesem Kontext Polen und die baltischen Staaten unnötigerweise erwähnt. Als Nato-Mitglieder wurden sie, damals wie heute, ganz sicher von niemandem mehr bedroht.

In Bezug auf Georgien und die Ukraine wurde in Bukarest 2008 eine allgemeine Ankündigung der Politikrichtung vorgenommen. Auf den folgenden Nato-Gipfeln rückte diese Aussicht in sehr weite Ferne.

Ja, aber es war dennoch ein klar umrissener politischer Plan. Es war zu erwarten, dass es Probleme geben würde, wenn jemand versuchte, ihn umzusetzen. Wir haben das immer offen gesagt.

Aber die Nato greift niemanden an! In der Geschichte hat es keinen solchen Fall gegeben. Es ist ein Verteidigungsbündnis.

Ja? Und Jugoslawien?

Dort beendeten die Nato und die Amerikaner ein blutiges Gemetzel, das Europa nicht beenden konnte.

Was ist mit dem Irak? Was ist mit Libyen? Was ist mit Syrien? Was ist mit den Farbrevolutionen oder hybriden Kriegen, die von der Nato angezettelt wurden, lange bevor man anfing, Russland solcher Kriege zu beschuldigen?

Soziale Explosionen in nicht-demokratischen Regimen allein auf westliche Inspiration zurückzuführen, das hält der Kritik nicht stand. Die Farbrevolutionen, wie die Orange Revolution in der Ukraine 2004 oder die Jasminrevolution in Tunesien 2010 bis 2011 brachen aus, weil die Menschen der oligarchischen Systeme müde wurden, weil sie ihre Kritik, ihren Unmut nicht anders äußern konnten. Könnten westliche Geheimdienste wirklich ganz Weißrussland aufgebracht haben, das ein Vierteljahrhundert lang von einer Person regiert wurde, oder hatten die Weißrussen davon einfach die Nase voll?

Ganz gewiss haben ausländische Geheimdienste zu diesen Ereignissen beigetragen. In Weißrussland gewann Alexander Lukaschenko die Wahl im Jahr 2020. Daran gibt es keinen Zweifel.

Er hat angeblich mit 80 Prozent gewonnen!

Etwas weniger, etwas mehr, ich weiß es nicht. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass er die Wahlen gewonnen hat und nicht Frau Tichanowskaja. Die anschließenden Demonstrationen und Proteste waren ein Versuch, die Rechtsordnung von Weißrussland zu untergraben.

In Warschau, unter anderem in der Nähe der Botschaft, in der wir gerade sprechen, finden ebenfalls verschiedene Demonstrationen statt, von denen die meisten sehr regierungsfeindlich sind. Darum geht es ja bei der Meinungsfreiheit, aber wahrscheinlich nicht in Russland oder Weißrussland.

Man darf demonstrieren, aber ohne Gewalt und ohne gegen die Gesetze zu verstoßen.

Demontiertes Ruhmesdenkmal in Dąbrowa Górnicza/Dombrowa, Oberschlesien.

Demontiertes Ruhmesdenkmal in Inowrocław/Hohensalza.

Herr Botschafter, Sie haben die Entfernung von Ruhmesdenkmälern für die Sowjetarmee, die nicht entstanden sind, weil die polnische Gesellschaft sie errichten wollte, erwähnt. Die Öffentlichkeit in Russland lebt jedoch in dem Irrglauben, dass es sich bei den Entfernungen um Friedhöfe handelt. Diese Friedhöfe werden jedoch gut gepflegt und geschützt, wovon man sich in Masowien, z. B. in Warschau oder in der Nähe von Pułtusk, schnell überzeugen kann.

Es war unterschiedlich. Manchmal ging die Initiative vom Kommando der vor Ort stationierten sowjetischen Truppen aus, das der gefallenen Kameraden gedenken wollte. Oft jedoch entstanden die Ruhmesdenkmäler auf polnische Initiative.

Ruhmesdenkmal in Warschau. Demontage 2011. In ganz Polen gab es 306 Ruhmesdenkmäler der Roten Armee.

Selbst wenn das so war, dann geschah das unter den Bedingungen der Unfreiheit. Die Initiative ergriffen offizielle, kommunistische Stellen. Wer sich widersetzte, dem drohten Verhöre, Inhaftierung, Folter, manchmal der Tod.

Sie selbst haben die biologische Bedrohung für die Existenz der polnischen Nation im Falle eines deutschen Sieges erwähnt. Einigen wir uns also darauf, dass durch diese Ruhmesdenkmäler nicht der Befreiung, sondern der Rettung der polnischen Nation gedacht werden sollten. Ein Verdienst, für das es sich lohnt, ein Denkmal zu setzen, nehme ich an? In jenen Tagen teilten die meisten Polen diese Dankbarkeit für die Befreiung vom schrecklichen Faschismus, sie erinnerten sich daran, was ihnen gedroht hätte, wenn die Sowjetarmee nicht gekommen wäre.

Die massenhafte Beseitigung der Ruhmesdenkmäler, die Leugnung der Tatsache, dass Polen von der Roten Armee befreit wurde, und der Vorwurf der Okkupation werden von uns als Beleidigung des Gedenkens an 600.000 sowjetische Soldaten und Offiziere empfunden, die im Kampf gegen die Nazis auf polnischem Gebiet gefallen und hier begraben sind. Damit werden wir uns nie abfinden.

Wir entfernen auch Denkmäler, die polnischen Persönlichkeiten gewidmet sind, deren Gedenken nicht dem Willen des Volkes entsprach. Aber die Friedhöfe sind heilig.

Was die Denkmäler für Polen betrifft, so geht uns das nichts an. Was die Gräber betrifft, so erhalten wir jeden Monat Informationen über Vandalismus.

Das geschieht auch auf polnischen Friedhöfen und Denkmälern. Das können auch Provokationen sein.

Ich sage, wie es ist. Polnische Behörden vertreten in Bezug auf die Friedhöfe der sowjetischen Soldaten den Standpunkt, dass diese, ebenso wie die Friedhöfe der deutschen Soldaten und anderer, geschützt sind. Für sie ist es nicht wichtig, wer gestorben ist und wofür.

Sowjetischer Soldatenfriedhof in Warschau.

Wir haben kürzlich eine Bestandsaufnahme der sowjetischen Soldatenfriedhöfe durchgeführt. Ein Drittel ist stark renovierungsbedürftig, die Hälfte ist sanierungsbedürftig. Gemäß den Vereinbarungen zwischen unseren Ländern, ist Polen für die Pflege der Friedhöfe zuständig, doch kann dies mit Genehmigung der Provinzbehörden auch von russischer Seite geschehen. Da die von den polnischen Behörden bereitgestellten Mittel für größere Renovierungsarbeiten nicht ausreichen, renovieren wir jedes Jahr drei bis vier Friedhöfe. In den Jahren 2020 und 2021 wurde uns die Genehmigung dazu mehrfach verweigert. Wir werden sehen, ob es sich um einen Zufall oder um eine dauerhafte Erscheinung handelt.

1940 nach Kasachstan zur Zwangsarbeit deportierte polnische Kinder.

Nach der Öffnung der von den Deutschen 1942 in Katyń bei Smolensk entdeckten Massengräber mit den, von den Sowjets 1940 ermordeten, polnischen Offiziere.

Russland vereinfacht die Geschichte stark in seinem Interesse. Den Polen fällt es schwer, den Molotow-Ribbentrop-Pakt, auch bekannt als Hitler-Stalin-Pakt, zu vergessen. Er öffnete der deutschen Maschinerie den Weg zur Eroberung Europas und spaltete die Nationen. Dann war da noch 1940 die Ermordung Tausender polnischer Offiziere in Katyń. Und in russischen Filmen beginnt alles immer im Juni 1941. 

Denn für uns begann damals der Krieg. Hier liegt keine Falschdarstellung vor. Der Weg zum Krieg wurde nicht durch den sowjetisch-deutschen Pakt geebnet, sondern durch das Münchner Abkommen von 1938, nach dem das deutsch-sowjetische Abkommen unvermeidlich wurde.

Und wir erinnern uns daran, dass es schon 1939 und 1940 lange Eisenbahntransporte aus den besetzten Gebieten der Republik Polen in die sowjetischen Lager in Sibirien und Kasachstan gab, dass es massenweise Verfolgungen, Hinrichtungen und die Morde von Katyń gegeben hat. Gleichzeitig lieferte die UdSSR in riesigem Ausmaß Getreide und Rohstoffe nach Hitlerdeutschland.

Einmarsch der Sowjets in Polen am 17. September 1939.

Deutsche und sowjetische Kommandeure nehmen am 29. September 1939 die gemeinsame Siegesparade der Wehrmacht und der Roten Armee im Polnischen Brześć/Brest ab.

Erstens: 1939 gewann die Sowjetunion von Polen die zur Ukraine und zu Weißrussland gehörenden Gebiete zurück. Zweitens: waren zu diesem Zeitpunkt weder Polen noch Großbritannien oder Frankreich bereit, eine große Koalition zur Abwehr der deutschen Aggression einzugehen. Stalin musste angesichts des Scheiterns der Gespräche mit den späteren Verbündeten eine Entscheidung treffen und beschloss, einen Nichtangriffspakt mit Deutschland zu schließen. Er wollte Zeit gewinnen, um sich auf den unvermeidlichen Krieg mit dem Dritten Reich vorbereiten zu können. Ich weiß, dass Polen und die Polen eine andere Sichtweise haben, aber unsere ist die, die ich dargestellt habe.

Eine Einigung ist hier in der Tat schwierig. Gleiches gilt für die Ursachen und den Verlauf der Tragödie des Flugzeugabsturzes von Smolensk am 10. April 2010. Es ist jedoch unbestreitbar, dass die Russische Föderation das Wrack des polnischen Flugzeugs, das Eigentum der Republik Polen ist, zurückhält. Es ist das wichtigste Beweismittel, das es ermöglichen würde, die Verfahren zur Untersuchung der Katastrophe abzuschließen.

Wir haben bereits mehrfach darüber gesprochen. Auf der Website unserer Botschaft gibt es einen ganzen Abschnitt mit den Erklärungen des Präsidenten und anderer hoher Beamter zu diesem Thema. Die Situation hat sich seit Jahren nicht geändert. Wir sind der Meinung, dass die Angelegenheit längst geklärt ist und die Ermittlungen eingestellt werden können.

Die polnische Seite ist dazu nicht bereit. Die polnische Staatsanwaltschaft setzt ihre Arbeit fort, ebenso wie die Kommission unter Leitung von Minister Antoni Macierewicz. Ihr Bericht sollte eigentlich veröffentlicht werden, aber wir warten immer noch darauf. In dieser Situation können auch unsere staatlichen Organe ihre Arbeit nicht abschließen. Unser Untersuchungsteam arbeitet, denn seine Aufgabe ist es, auf alle von der polnischen Seite vorgebrachten Behauptungen und Beweise zu reagieren, ihre Fragen zu beantworten und Besuche zur Inspektion des Unglücksortes und der Wrackteile zu organisieren. Und nach unserem Gesetz müssen die materiellen Beweismittel, in diesem Fall das Wrack, den Ermittlungsbehörden zur Verfügung stehen, solange die Ermittlungen andauern.

Das ist eine Art Erpressung: „Ihr müsst unseren Thesen zustimmen, eure Untersuchungen abschließen. Erst dann werden wir euch die materiellen Beweise liefern, die eure Schlussfolgerungen ändern könnten“.

Das Wrack wurde mehrfach von polnischen Experten untersucht.

Das Wrack des am 10. April 2010 abgestürzten polnischen Präsidentenflugzeuges verrottete einige Jahre lang unter freiem Himmel , bis es in einer Stahlbaracke auf dem Militärflugplatz von Smolensk eingelagert wurde.

Sie durften nur für kurze Zeit, unter strenger Kontrolle, ohne irgendwelche eingehenden Untersuchungen das Wrack in Augenschein nehmen, fotografieren, aber nicht einmal anfassen.

Das Wrack wurde von allen Seiten gründlich untersucht. Ich habe schon oft gehört, dass dieses Wrack eine emotionale, symbolische Dimension hat.

Auch.

Das kann ich nicht verstehen. Die Leichen der Opfer wurden sehr schnell, bereits drei Tage nach der Katastrophe, an die polnische Seite übergeben, da dies ihr Wunsch war. Die Eile, mit der dieses Verfahren durchgeführt wurde, führte später zu Beschwerden über den Zustand der Leichen und ihre Identifizierung, aber das ist keine Frage an uns. Innerhalb von zwei oder drei Tagen hat die russische Seite alles getan, was sie konnte. Aber ich habe noch nie gehört, dass ein Wrack irgendwo auf der Welt zu einem Gedenkobjekt wird.

Dieses Flugzeug war ein Stück der Republik Polen, ein Ort, an dem der amtierende Präsident und viele Mitglieder der Staatselite starben.

Für uns ist es nur ein wesentliches Beweismittel im Rahmen einer Untersuchung.

Die nachfolgenden Ereignisse, die Morde in Großbritannien, das Schicksal des vergifteten Nawalny und schließlich, und dabei bleiben wir, die Aggressionsabsichten gegen die Ukraine, haben bestätigt, dass der russische Staat zu den weitreichendsten und brutalsten Aktionen fähig ist.

Die „Aggression gegen die Ukraine“ lassen wir mal beiseite. Die Ereignisse auf der Krim und im Donbass heißen anders, das haben wir schon diskutiert. Was die Fälle Litwinenko, Skripal und Nawalny betrifft, so hat in keinem dieser Fälle jemand einen Beweis für die Schuld Russlands vorgelegt. In Großbritannien gab es einen gerichtlichen Prozess im Fall Litwinenko. Und was ist passiert? Nichts.

Es gibt Tonaufnahmen, die Nawalny vor seiner Rückkehr nach Russland vorgelegt hat. Dort bestätigen russische Beamte die Vergiftungsaktion und beschreiben sie im Detail.

Die Aufnahmen können bearbeitet und verfälscht sein. Wir haben von Anfang an bei den Behörden in Deutschland und anderen Ländern nachgefragt, wo angeblich Substanzen aus dem Körper von Nawalny auf Beweise untersucht wurden. Um welche Substanz handelt es sich?

Nowitschok.

Wir bitten um Beweise, nicht um eine Meinung. Alles, was wir immer wieder hören, ist: Ihr wisst, worum es geht, ihr müsst eure Schuld zugeben. So kann man nicht miteinander reden.

Russland erkennt keine Beweise an.

Wir sind bereit für eine ernsthafte, substanzielle Diskussion unter Beteiligung von Experten. Unsere westlichen Partner vermeiden diese Diskussion. Es geht nur um Anschuldigungen und „Megafon-Diplomatie“.

Haben Sie nicht den Eindruck, dass das Vorgehen Russlands den Westen in einem Ausmaß geeint hat, der noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre? Selbst Deutschland schämt sich mittlerweile für seine Russland-Politik. Auch die Ukraine wurde nicht gebrochen oder eingeschüchtert. Russland ist dabei, das Spiel zu verlieren.

Wir spielen keine Spielchen. Es geht nicht darum, den Westen zu spalten oder die Ukraine einzuschüchtern. Unser Ziel ist es, die Sicherheit Russlands jetzt und in Zukunft zu gewährleisten. Seine Interessen sollen respektiert werden und es soll eine solide Grundlage für beiderseitig vorteilhafte Beziehungen mit unseren Partnern im Westen geschaffen werden. Leider hat es, als wir uns sanft, höflich und freundlich verhielten, nicht funktioniert.

Inwiefern hat es nicht funktioniert? Europa, einschließlich Osteuropa und Russland, erlebten drei Jahrzehnte des Friedens und der Entwicklung.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass uns die westlichen Staats- und Regierungschefs am Ende des Bestehens der UdSSR versprochen haben, dass es keine Nato-Osterweiterung geben würde. Diese Zusicherungen erwiesen sich als inhaltsleer.

Es handelte sich lediglich um Fernseherklärungen des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher und des amerikanischen Außenministers James Baker im Jahr 1989, die kaum als völkerrechtliche Verpflichtung angesehen werden können. Nationen haben das Recht zu wählen, in welchen Bündnissen sie sein wollen.

Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Westen verfährt. Es handelte sich dabei um Erklärungen höchster Beamter so seriöser Länder wie der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs. Sollen wir sie als unseriös betrachten? Ich verstehe, dass einige Länder in der Nato sein wollten, aber die Länder, die dieses Bündnis geschaffen haben, hatten auch das Recht zu entscheiden, ob sie es akzeptieren. Ob sie ihr Wort gegenüber Russland halten wollen. Ob es gut für ihre nationale Sicherheit ist. Es wäre besser, nach einem anderen System der internationalen Sicherheit zu suchen, nach gemeinsamen Garantien.

Sollte Polen nach dieser russischen Auffassung auch nicht in der Nato sein?

Außenminister Bronisław Geremek unterzeichnet am 12. März 1999 Polens Beitritt zur Nato.

Was geschehen ist, ist geschehen. Heute stellt sich die Situation wie folgt dar: Die Nato kann sich nicht weiter nach Osten ausdehnen, und es dürfen keine neuen Trennlinien in Europa geschaffen werden. Wir sollten uns dafür entscheiden, ein gemeinsames, geeintes Europa aufzubauen.

Unter der Mitaufsicht Russlands?

Nein, in gegenseitiger Harmonie, mit russischer Beteiligung.

Es fällt uns immer noch schwer zu verstehen, dass Russland, ein mächtiges Land mit 144 Millionen Einwohnern und einer Armee von fast einer Million Soldaten, Angst vor der Ukraine hat, deren Potenzial um ein Vielfaches kleiner ist. Sie hat auch Angst vor den baltischen Staaten, vor Polen.

Wir haben vor niemandem Angst.

Die russischen Staatsmedien behaupten allen Ernstes, die Ukraine bereite einen Angriff auf Donezk und Lugansk vor.

Wir lesen und hören Aussagen ukrainischer Nationalisten, dass der Kuban auch ihnen gehöre, Woronesch, ja sogar Sibirien. Wir nehmen das nicht ernst, wir haben vor niemandem Angst. Russland will nur ein nationales Sicherheitssystem aufbauen, in dem wir gemeinsam mit unseren westlichen Partnern die Grundsätze und Formen der Zusammenarbeit festlegen. Es kann nicht mehr so sein wie bisher: Die Nato entscheidet, die Europäische Union entscheidet, und Russland wird vor vollendete Tatsachen gestellt und kann sie entweder akzeptieren oder nicht, aber das interessiert niemanden mehr. So wird es nicht weitergehen.

In Russland singt man sogar, dass Alaska ihnen gehört.

Es handelt sich um ein Lied der Band „Lube“ mit dem Titel „Spiele nicht verrückt, Amerika“. Es ist nur ein Scherz.

RdP

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 28. Februar 2022.




„Es lebe die EU souveräner Staaten!“ Morawiecki-Rede in Strassburg

Im Wortlaut.

Die Rede, die Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am 19. Oktober 2021 im Europäischen Parlament in Straßburg hielt, beleuchtet sehr einprägsam die polnischen Argumente im Streit mit der EU. In der anschließenden Debatte gingen die meisten Abgeordneten des EP auf Morawieckis Erläuterungen nicht ein. Dafür hagelte es wieder einmal Beschimpfungen, Drohungen und überzogene Vorwürfe.

Auch die deutschsprachigen Medien hatten, erwartungsgemäß, für Morawieckis Auftritt nur harsche Kritik übrig. Seine Rede war die eines „Scharfmachers“, „konfrontativ“, „unversöhnlich“, „spalterisch“, „eine Kampfansage“, „kein Dialogsignal“, „Beschimpfung der EU“, sie „säte Spaltung und Streit“, sie entstammte dem „Werkzeugkasten eines Rechtspopulisten“ .

Was ist wahr daran? Bilden Sie sich Ihr Urteil selbst. Nachfolgend bringen wir den unwesentlich gekürzten Wortlaut dieser Ansprache, eines zweifelsohne wichtigen Beitrags im Konflikt Polens mit der EU. Titel und Zwischentitel stammen von RdP.

Herr Vorsitzender, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren,

ich stehe heute vor Ihnen im Europäischen Parlament, um unsere Standpunkte zu einigen grundlegenden Fragen darzulegen, die ich als ausschlaggebend für die Zukunft der Europäischen Union halte. (…)

Ich sage „wir“

Lassen Sie mich mit den Herausforderungen beginnen, die für unsere gemeinsame Zukunft entscheidend sind. Soziale Ungleichheiten, Inflation und steigende Lebenshaltungskosten, die alle Bürger Europas betreffen, dazu wachsende Staatsschulden, die illegale Einwanderung oder die Energiekrise, die die Herausforderungen für die Klimapolitik erhöht, das alles führt zu sozialen Unruhen und erweitert den Katalog mächtiger Probleme, vor denen wir heute stehen.

Polen und die EU. Briefmarke von 1994.

Die Schuldenkrise stellte zum ersten Mal nach dem Krieg die Frage, ob wir in der Lage sind, nachfolgenden Generationen ein besseres Leben zu ermöglichen.

An unseren Grenzen wird es immer unruhiger. Im Süden verwandelte der Ansturm von Millionen von Menschen den Mittelmeerraum in einen tragischen Ort. Im Osten messen wir uns mit der aggressiven Politik Russlands, das sogar Kriege entfesselt, um Ländern in unserer Nachbarschaft den Weg nach Europa zu versperren.

Heute stehen wir am Rande einer großen Gas- und Energiekrise. Absichtsvolles Handeln russischer Unternehmen verursacht rasant steigende Preise. Sie stellen viele Unternehmen in Europa vor die Wahl, die Produktion einzuschränken oder die Kosten an die Verbraucher weiterzugeben. Das Ausmaß dieser Krise kann Europa schon in den nächsten Wochen erschüttern.

Die Gaskrise kann durch unkontrollierte Kostensteigerungen viele Unternehmen in den Ruin treiben, Millionen Haushalte, Zigmillionen Menschen in ganz Europa in Armut und Not stürzen. Man muss auch mit dem Risiko des Dominoeffektes rechnen. Diese Krise kann eine Kaskade von Zusammenbrüchen nach sich ziehen.

Jedes Mal sage ich „wir“, weil wir keines dieser Probleme allein lösen können. Nicht alle diese Herausforderungen haben mein Land so dramatisch getroffen, wie manche anderen Staaten der Europäischen Union. Das ändert nichts daran, dass ich all diese Probleme als „unsere Probleme“ betrachte.

Hier sind wir, hier ist unser Platz

Für uns ist die europäische Integration eine zivilisatorische und strategische Entscheidung. Hier sind wir, hier ist unser Platz und von hier aus gehen wir nirgendwohin. Wir wollen Europa wieder stark, ehrgeizig und mutig machen. Daher schauen wir nicht nur auf unseren kurzfristigen Nutzen, sondern auch darauf, was wir Europa geben können.

Beendigung der polnischen EU-Beitrittsverhandlungen 1998-2002. Briefmarke von 2003.

Polen profitiert im Rahmen der Integration hauptsächlich vom Handel auf dem gemeinsamen Markt. Auch Technologie- und Kapitaltransfers sind sehr wichtig. Aber Polen ist nicht mit leeren Händen in die EU eingetreten. Die wirtschaftliche Integration hat die Möglichkeiten für Unternehmen aus meinem Land erweitert, zugleich jedoch große Chancen für deutsche, französische und niederländische Unternehmen eröffnet. Unternehmer aus diesen Ländern ziehen enormen Nutzen aus der Osterweiterung der Union.

Es reicht aus, allein den enormen Abfluss von Dividenden, Zinserträgen und anderen finanziellen Gewinnen aus dem weniger wohlhabenden Mitteleuropa in das viel reichere Westeuropa zu erwähnen. Wir möchten jedoch, dass es in dieser Zusammenarbeit keine Verlierer, sondern nur Gewinner gibt.

Meine Regierung gehört zur proeuropäischen Mehrheit in Polen

Polen hat die Einrichtung des sehr ehrgeizigen Wiederaufbaufonds tatkräftig unterstützt, damit den Herausforderungen der Klima-, Energie- und coronaepidemischen Transformation bedarfsgerecht die Stirn geboten werden kann. Es geht um ein starkes Wirtschaftswachstum und darum, Millionen von Kindern, Frauen und Männern Hoffnung einzuflößen, sie nicht wehrlos der Globalisierung auszuliefern. In diesen Fragen haben wir, gemeinsam mit dem Europäischen Parlament mit einer Stimme gesprochen.

Polen unterstützt nachdrücklich den europäischen Binnenmarkt. Wir sind für eine strategische Autonomie der EU, die die 27 Staaten stärkt.

Deshalb setzt sich Polen, genauso wie Deutschland, die Tschechische Republik und andere mitteleuropäische Länder für Lösungen ein, die die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft stärken. Dabei geht es vor allem um eine noch bessere Durchsetzung der vier Grundfreiheiten: des freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrs.

Gleichzeitig lehnt Polen die Duldung von Steueroasen ab (z,B. in  Luxemburg und Holland – Anm. RdP), was leider immer noch einige westeuropäische Länder tun, und dadurch die Steuereinnahmen ihrer Nachbarn schröpfen Ja, die Steueroasen, die wir innerhalb der Europäischen Union tolerieren, dienen der Aneignung von Geld durch die Reichsten. Ist das fair? Hilft das, das Los der Mittelschicht oder der Ärmsten zu verbessern? Passt das in den Katalog europäischer Werte? Das bezweifle ich  sehr.

Der Weg der neun Beitrittsländer: Estlands, Lettlands, Litauens, Maltas, Polens, der Slowakei, Sloweniens, Tschechiens und Zyperns ins vereinte Europa. Briefmarke von 2004.

Polen und Mitteleuropa befürworten auch eine ehrgeizige Erweiterungspolitik, die Europa in der Westbalkanregion stärken wird. Sie wird die europäische Integration geografisch, historisch und strategisch vervollständigen. Wir wollen, dass die EU global agiert, und stehen für eine starke europäische Verteidigungspolitik, deren Strukturen jedoch voll und ganz in die NATO eingebunden sind!

Heute ist die Ostgrenze der EU Ziel eines organisierten Angriffs, der zynisch die Migration aus dem Nahen Osten für eine Destabilisierung nutzt. Polen gibt Europa Sicherheit und schafft zusammen mit Litauen und Lettland eine Barriere, die diese Grenze schützt. Und da wir zudem unser Verteidigungspotential stärken, stärken wir die Sicherheit der Union im traditionellsten Sinne.

Ich möchte an dieser Stelle allen südeuropäischen sowie den polnischen, litauischen und lettischen Grenzschutzbeamten für ihren Einsatz und ihre Professionalität beim Schutz der Außengrenze der Union danken.

Sicherheit hat viele Dimensionen. Heute, wenn wir alle die steigenden Gaspreise zu spüren bekommen, ist es völlig klar, welche Folgen die Kurzsichtigkeit in Sachen Energiesicherheit haben kann. Schon jetzt schlagen sich die Politik von Gazprom und die Zustimmung zu Nord Stream 2 in Rekordgaspreisen nieder.

Während heute in den Gründungsländern der Gemeinschaften das Vertrauen in die Union auf einen historisch niedrigen Tiefpunkt gesunken ist, etwa 36 Prozent in Frankreich, bleibt das Vertrauen in Europa in Polen auf dem höchsten Niveau. Über 85 Prozent der polnischen Bürger sagen klar: Polen ist und bleibt Mitglied der Union. Meine Regierung und die dahinterstehende parlamentarische Mehrheit gehören zu dieser proeuropäischen Mehrheit in Polen.

Ein Europa doppelter Bewertungsmaßstäbe

Das jedoch bedeutet nicht, dass die Polen heute keine Zweifel und Ängste angesichts der Ausrichtung der Veränderungen in Europa empfinden. Diese Angst ist sichtbar und leider berechtigt.

Ich habe darüber gesprochen, wie viel Polen zur EU beigetragen hat. Aber leider hören wir immer noch von der Einteilung in Besser- und Schlechtergestellte, und allzu oft haben wir es mit einem Europa doppelter Bewertungsmaßstäbe zu tun. Das muss sich ändern.

Alle Europäer erwarten heute, dass wir uns gemeinsam den Herausforderungen mehrerer Krisen gleichzeitig stellen und nicht im Streit, auf Teufel komm raus, nach Schuldigen suchen, oder, besser gesagt, nach denen, die eigentlich nicht schuldig sind, denen man aber bequemerweise die Schuld zuschieben kann.

Fünfzig Jahre Römische Verträge. Briefmarke von 2007.

Angesichts einiger Praktiken der Institutionen der Union, stellen sich heute leider viele Bürger unseres Kontinents die Frage: Ist es nicht so, dass die extrem unterschiedlichen Entscheidungen und Urteile, die in Brüssel und Luxemburg, in sehr ähnlichen Fällen, in Bezug auf einzelne Mitgliedstaaten gefällt werden, de facto die Aufteilung in alte und neue, starke und schwächere, reiche und weniger wohlhabende Mitgliedsstaaten verfestigen? Ist es wirklich Gleichheit?

So zu tun, als ob es diese Probleme nicht gibt, hat sehr schlechte Folgen. Die Bürger sind nicht blind und sie sind nicht taub. Wenn selbstzufriedene Politiker und Beamte das nicht einsehen, werden sie nach und nach das Vertrauen verlieren. Und mit ihnen werden Institutionen Vertrauen einbüßen. Das geschieht bereits, verehrte Abgeordnete.

Politik muss auf Regeln basieren. Das Leitprinzip, zu dem wir uns in Polen bekennen und das ist auch die Grundlage der Europäischen Union, ist das Demokratieprinzip. Deshalb können wir nicht schweigen, wenn unser Land, auch in diesem Plenarsaal, unfair und parteiisch angegriffen wird.

Die Spielregeln müssen für alle gleich sein. Sie einzuhalten ist die Pflicht aller, auch der entsprechend den EU-Verträgen errichteten Institutionen. Das ist die Rechtsstaatlichkeit.

Sie ist inakzeptabel und ich lehne die Sprache der Drohungen und Erpressungen ab

Es ist inakzeptabel, Kompetenzen zu erweitern, indem man nach der Methode vollendeter Tatsachen handelt. Es ist nicht annehmbar, ohne eine entsprechende Rechtsgrundlage dafür zu haben, anderen Entscheidungen aufzuzwingen. Noch weniger tragbar ist es, sich zu diesem Zweck der Sprache der Finanzerpressung zu bedienen, über Strafen zu sprechen oder noch weitergehende Formulierungen gegenüber bestimmten Mitgliedstaaten zu verwenden.

Ich lehne die Sprache der Drohungen und Erpressungen ab. Ich bin nicht einverstanden damit, dass Politiker Polen erpressen und einschüchtern. Ich lehne es ab, dass Erpressung zur Methode der Politikausübung gegenüber einem der Mitgliedstaaten erhoben wird. Demokratien gehen so nicht miteinander um.

Wir sind ein stolzes Land. Polen ist eines der Länder mit der längsten Geschichte der Staatlichkeit und der Entwicklung der Demokratie. Im 20. Jahrhundert haben wir unter großen Opfern dreimal für die Freiheit Europas und der Welt gekämpft.

1920, indem wir Berlin und Paris vor dem bolschewistischen Ansturm gerettet haben. 1939, als wir als Erste in den mörderischen Kampf gegen Deutschland, das Dritte Reich, gezogen sind. Schließlich 1980, als Solidarność die Hoffnung auf den Sturz des anderen Totalitarismus, des grausamen kommunistischen Systems wachrief. Der Wiederaufbau Europas nach dem Krieg war dank der Opfer vieler Nationen möglich, aber nicht alle konnten ihn uneingeschränkt für sich nutzen.

Warschau, die Hauptstadt eines EU-Landes. Briefmarke von 2009.

Hohes Haus! Ich möchte jetzt ein paar Worte zum Thema Rechtsstaatlichkeit sagen. Ich denke, die meisten von uns würden zustimmen, dass es ohne ein paar Bedingungen keinen Rechtsstaat geben kann. Ohne das Prinzip der Gewaltenteilung, ohne unabhängige Gerichte, ohne das Prinzip der begrenzten Befugnisse jeder Behörde und ohne die Befolgung der Rangordnung von Rechtsquellen.

In den der Europäischen Union zugewiesenen Zuständigkeitsbereichen ist das EU-Recht dem nationalen Recht übergeordnet, und zwar bis auf die Ebene einzelner Gesetze. Dieses Prinzip gilt in allen EU-Ländern, aber die jeweilige Verfassung bleibt das oberste Gesetz.

Wenn die in den EU-Verträgen geschaffenen Institutionen ihre Zuständigkeiten überschreiten, müssen die Mitgliedstaaten über entsprechende Instrumente verfügen, um darauf zu reagieren.

Die Europäische Union ist kein Staat

Die Union ist eine große Errungenschaft der europäischen Länder. Sie ist ein starkes wirtschaftliches, politisches und soziales Bündnis. Sie ist die stärkste und am weitesten entwickelte internationale Organisation der Geschichte. Aber die Europäische Union ist kein Staat. Staaten sind die 27 Mitgliedsländer der Union! Sie sind der europäische Souverän, sie sind die „Herren der Verträge“. Die Staaten legen den Umfang der Zuständigkeiten fest, die der Europäischen Union anvertraut werden.

Wir haben der Union in den Verträgen einen sehr großen Kompetenzbereich anvertraut. Aber wir haben ihr nicht alles anvertraut. Viele Rechtsgebiete bleiben in der Zuständigkeit der Nationalstaaten.

Wir hegen keinen Zweifel am Vorrang des europäischen Rechts vor nationalem Recht in allen Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten der Union Zuständigkeiten übertragen haben.

Aber wie die Tribunale vieler anderer Länder, wirft auch das polnische Verfassungsgericht die Frage auf, ob es die richtige Lösung ist, dass der Gerichtshof der Europäischen Union das Monopol besitzt, die tatsächlichen Grenzen der Übertragung dieser Kompetenzen zu bestimmen. Die Festlegungen des Europäischen Gerichtshofes in dieser Angelegenheit berühren die Verfassungen der Mitgliedsstaaten. Deswegen muss zur Verfassungsmäßigkeit solcher neuen Kompetenzen Stellung genommen werden, insbesondere weil der Europäische Gerichtshof immer mehr neue Zuständigkeiten aus den Verträgen für die EU-Institutionen ableitet.

Was hätte es andernfalls für einen Sinn gemacht, Artikel 4 in den Unionsvertrag aufzunehmen, der von der Achtung der politischen und verfassungsmäßigen Strukturen der Mitgliedsstaaten durch die Union spricht. Es wäre auch nicht sinnvoll gewesen, Artikel 5 in den Vertrag aufzunehmen. Er besagt, dass die Union nur im Rahmen der ihr übertragenen Kompetenzen handeln kann. Beide Artikel wären inhaltsleer und bedeutungslos, wenn, außer dem Europäischen Gerichtshof, keines der verfassungsrechtlichen Bestimmungsorgane der Mitgliedsstaaten zu dieser ständigen Ausweitung der EU-Kompetenzen Stellung nehmen dürfte.

Polnisches Verfassungsgericht, französischer Verfassungsrat, dänischer Oberster Gerichtshof, das deutsche BVG und einige mehr

Das jüngste Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs ist Gegenstand eines grundlegenden Missverständnisses geworden. Wenn ich hören würde, dass der Verfassungsgerichtshof in einem anderen Land die EU-Verträge für nichtig erklärt hat, wäre ich wahrscheinlich auch überrascht. Vor allem jedoch würde ich versuchen herauszufinden, was der polnische Gerichtshof wirklich gesagt hat.

Polnische EU-Ratspräsidentschaft. Briefmarke von 2011.

Ich habe auch deshalb in der heutigen Aussprache um das Wort gebeten, weil ich Ihnen den eigentlichen Streitgegenstand darstellen möchte. Das ist weder das Märchen vom „Polexit“, noch ist es die Lüge von der angeblichen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit. Deshalb möchte ich Ihnen dazu ein paar Zitate präsentieren:

„In der nationalen Rechtsordnung gilt der Vorrang des Unionsrechts nicht für die Bestimmungen der Verfassung. Die Verfassung steht an der Spitze der innerstaatlichen Rechtsordnung.“

„Der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts (…) darf in der innerstaatlichen Rechtsordnung die oberste Gewalt der Verfassung nicht untergraben.“

„Der Verfassungsgerichtshof kann die Ultra-vires-Prämisse prüfen (…), das heißt, er darf feststellen, ob EU-Institutionen Entscheidungen außerhalb ihres Kompetenzbereiches treffen. Aufgrund einer solchen Feststellung gelten die Ultra-vires-Entscheidungen, die also jenseits der Befugnisse zustande gekommen sind, nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates.“

„Die Verfassung verbietet die Übertragung von Befugnissen, wenn der Staat danach nicht mehr als souveräner und demokratischer Staat angesehen werden kann.“

Ich überspringe die nächsten Zitate, um nicht zu viel Zeit in Anspruch zu nehmen. Ich komme zu den letzten beiden.

„Die Verfassung ist das höchste Gesetz Polens in Bezug auf alle für das Land verbindlichen internationalen Vereinbarungen, einschließlich Vereinbarungen über die Übertragung von Zuständigkeiten in bestimmten Angelegenheiten. Die Verfassung genießt den Vorrang der Gültigkeit und Anwendung auf dem Territorium Polens.“

Und das letzte Zitat:

„Die Übertragung von Zuständigkeiten an die Europäische Union darf nicht gegen den Vorranggrundsatz der Verfassung und gegen jedwede Bestimmungen der Verfassung verstoßen.“

Ich kann eine gewisse Erregung in Ihren Gesichtern erkennen. Soweit ich weiß, sind Sie in diesem Saal, zumindest teilweise, mit diesen Feststellungen nicht einverstanden. Nur, ich verstehe nicht weshalb. Das sind doch Zitate aus Entscheidungen des französischen Verfassungsrates, des dänischen Obersten Gerichtshofs, des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Zitate aus Urteilen der italienischen und spanischen Gerichte habe ich weggelassen.

Die polnischen Urteile, aus denen ich zitiert habe, stammen aus den Jahren 2005 und 2010, also aus der Zeit nach dem EU-Beitritt Polens. Die Doktrin, die wir heute verteidigen, ist also seit Jahren etabliert.

Es lohnt sich auch, Prof. Marek Safjan, den ehemaligen Präsidenten des polnischen Verfassungsgerichtshofs, zu zitieren. Heute ist er Richter am Europäischen Gerichtshof:

„Auf der Grundlage der geltenden Verfassung gibt es keinen Grund für die Behauptung, dass das EU-Gemeinschaftsrecht der gesamten nationalen Rechtsordnung übergeordnet ist, also auch den verfassungsrechtlichen Normen. Es gibt keine Gründe dafür! Nach dem Wortlaut der Verfassung selbst ist sie das oberste Gesetz der Republik Polen (Artikel 8, Absatz 1). Die oben erörterte Regelung in Absatz 2, Artikel 91 sieht ausdrücklich den Vorrang einer gemeinschaftlichen Regelung im Konfliktfall mit einer Rechtsnorm, nicht aber mit einer Verfassungsnorm vor.“

Solche Positionen nationaler Verfassungsgerichte sind nichts Neues. Ich könnte Dutzende von Urteilen aus Italien, Spanien, Tschechien, Rumänien, Litauen und anderen Ländern zitieren.

Ich höre auch Stimmen, dass einige dieser Urteile andersgeartete Fälle von geringerer Tragweite betrafen. Das ist wahr. Jedes Urteil dreht sich um etwas anderes. Aber,um Gottes willen!, sie haben eines gemeinsam: Sie bekräftigen, dass die nationalen Verfassungsgerichte ein Überprüfungsrecht haben. Ein Recht auf Kontrolle, ob das EU-Recht in dem Rahmen angewandt wird, der der Union zugestanden wurde. Nur das und so viel zugleich!

Eine Zustimmung für die Erteilung von Anweisungen und Befehlen kann es nicht geben

Hohes Haus! Es gibt Länder unter uns, in denen es keine Verfassungsgerichte gibt, und andere, die sie haben. Es gibt Staaten, in denen EU-Mitgliedschaft in den Verfassungen verankert ist, und solche, wo es nicht so ist. Es gibt Länder, in denen Richter von demokratisch gewählten Politikern gewählt werden, und andere, in denen Richter Richter wählen.

Verfassungspluralismus bedeutet, dass es Raum für den Dialog zwischen uns, unseren Rechtssystemen gibt. Dieser Dialog findet auch über Richterurteile statt. Wie sollen die Gerichte sonst kommunizieren, wenn nicht durch ihre Entscheidungen? Eine Zustimmung für die Erteilung von Anweisungen und Befehlen an Staaten kann es jedoch nicht geben. Dazu ist die Europäischen Union nicht da.

Zehn Jahre polnische EU-Mitgliedschaft. Briefmarke von 2014.

Wir haben vieles gemeinsam und wir wollen noch mehr gemeinsam haben, aber es gibt Unterschiede zwischen uns. Wenn wir miteinander zusammenarbeiten wollen, müssen wir diese Unterschiede achten. Wir müssen uns gegenseitig respektieren.

Die EU wird nicht auseinanderbrechen, weil sich unsere Rechtssysteme voneinander unterscheiden. Wir funktionieren so seit sieben Jahrzehnten. Vielleicht werden wir eines Tages Änderungen vornehmen, die unsere Gesetzgebungen noch enger zusammenbringen. Dazu jedoch ist eine Entscheidung souveräner Mitgliedsstaaten notwendig.

Ein nicht-nationaler Superstaat? Holt Euch zuerst die Zustimmung aller europäischen Länder!

Heute können wir zwei Haltungen einnehmen. Wir können allen außergesetzlichen, außervertraglichen Versuchen zustimmen, die darauf abzielen, die Souveränität europäischer Staaten, einschließlich Polens, zu beschränken. Wir können uns mit der schleichenden Ausweitung der Zuständigkeiten von Institutionen wie die des Europäschen Gerichtshofes abfinden. Wir können tatenlos zusehen, wie eine „stille Revolution“, die nicht auf demokratischen Entscheidungen basiert, sondern mit Hilfe von Gerichtsentscheidungen bewerkstelligt wird stattfindet.

Wir können aber auch sagen: „Nein, unsere Lieben!“ Wenn Ihr in Europa einen nicht-nationalen Superstaat schaffen wollt, dann holt Euch zuerst die Zustimmung aller europäischen Länder und Gesellschaften ein.

Lassen Sie es mich noch einmal wiederholen: Die Verfassung ist das höchste Gesetz der Republik Polen. Sie ist anderen Rechtsquellen übergeordnet. Kein polnisches Gericht, kein polnisches Parlament und keine polnische Regierung darf von diesem Grundsatz abweichen.

Was hat der polnische Verfassungsgerichtshof tatsächlich festgestellt

Hervorzuheben ist jedoch auch, dass der polnische Verfassungsgerichtshof niemals, auch nicht in seinem letzten Urteil, festgestellt hat, dass die Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union in ihrer Gesamtheit im Widerspruch zur polnischen Verfassung stehen. Im Gegenteil! Polen respektiert die Verträge ohne Ausnahme.

Aus diesem Grund hat das polnische Gericht festgestellt, dass nur eine sehr spezifische Auslegung einiger Bestimmungen des Vertrags, die das Ergebnis der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist, nicht mit der Verfassung vereinbar ist.

Nach der Auslegung des Luxemburger Tribunals wären Richter polnischer Gerichte verpflichtet, den Grundsatz des Vorrangs des europäischen Rechts nicht nur auf nationale Gesetze anzuwenden, was keine Zweifel aufwirft. Sie müssten den Vorrang des EU-Rechts auch dann anwenden, wenn es sich um Verletzungen der Verfassung und Urteile ihres eigenen Verfassungsgerichts handelt!

Die Annahme einer solchen Auslegung des Europäischen Gerichtshofes kann folglich zu dem Schluss führen, dass Millionen von in den letzten Jahren ergangenen Urteilen polnischer Gerichte willkürlich angefochten und Tausende von Richtern ihres Amtes enthoben werden können. Richter dürften den Stauts und die Rechtmäßigkeit der Berufung anderer Richter in Frage stellen. So will es der Europäische Gerichtshof.

Fünfzehn Jahre polnische EU-Mitgliedschaft. Briefmarke von 2019.

Das verstößt gegen die Grundsätze der Unabhängigkeit, Unabsetzbarkeit sowie der Stabilität und Sicherheit des Rechts auf ein faires Verfahren, die sich direkt aus der polnischen Verfassung ergeben. Ist Ihnen nicht bewusst, wozu solche Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes führen können? Will jemand von Ihnen wirklich Anarchie, Verwirrung und Gesetzlosigkeit in Polen einführen?

Dem hat der polnische Verfassungsgerichtshof durch sein Urteil in seinem Urteil einen Riegel vorgeschoben. Hätte es dies nicht getan, wären die Folgen eine grundlegende Absenkung des Verfassugsstandars des des gerichtlichen Schutzes der polnischen Bürger und ein unvorstellbares Rechtschaos.

Kein souveräner Staat kann einer solchen Auslegung zustimmen. Sie zu akzeptieren würde bedeuten, dass die Union aufhört, eine Union freier, gleichberechtigter und souveräner Länder zu sein. Dass sie sich selbst, nach der Methode des Schaffens von vollendeten Tatsachen, in einen zentral verwalteten, halbstaatlichen Organismus verwandeln würde. Seine Institutionen könnten direkt in ihren „Provinzen“ alles erzwingen, was sie für richtig befinden.

Dazu gab es nie eine Zustimmung. Das ist nicht das, was wir in den Verträgen vereinbart haben.

Das schlägt Polen vor

Es ist sicherlich einer Diskussion wert, ob sich die Union ändern sollte. Sollte sie nicht einen größeren Haushalt schaffen? Sollten wir nicht mehr für die gemeinsame Sicherheit einzahlen? Sollten Verteidigungsausgaben nicht aus dem Haushaltsdefizitverfahren herausgenommen werden? Das schlägt Polen vor!

Sollten wir nicht unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber hybriden Gefahren und Cyber-Bedrohungen stärken? Sollten wir Investitionen in strategische Wirtschaftssektoren nicht besser kontrollieren? Wie finanziert man fair und effektiv die Energie- und Klimawende? Wie können wir unsere Entscheidungsprozesse effektiver gestalten? Was ist zu tun, um zu verhindern, dass sich unsere Bürger in der EU zunehmend entfremdet fühlen?

Ich stelle diese Fragen, weil ich glaube, dass die Antworten darauf die Zukunft der Union bestimmen werden.

All das sollten wir besprechen.

JA und NEIN 

Die Zuständigkeiten der Europäischen Union haben ihre Grenzen. Deshalb werde ich jetzt einige Worte der Frage der Grenzen der Zuständigkeiten der Union und ihrer Institutionen widmen. Wichtige Entscheidungen sollten nicht durch eine Änderung der Rechtsauslegung getroffen werden.

Der Erfolg der europäischen Integration beruhte auf der Tatsache, dass das Gesetz eine Ableitung von Mechanismen war, die unsere Länder in anderen Bereichen miteinander verbanden.

Der Versuch, dieses Modell um 180 Grad zu drehen und die Integration mit Hilfe von rechtlichen Mechanismen durchzusetzen, ist eine Abkehr von Grundsätzen, die dem Erfolg der Europäischen Gemeinschaften zugrunde lagen.

Das Phänomen eines Demokratiedefizits wird seit Jahren diskutiert. Und dieses Defizit wird immer schlimmer. Das war noch nie so sichtbar, wie in den letzten Jahren. Durch juristischen Aktivismus werden Entscheidungen zunehmend hinter verschlossenen Türen getroffen und es entsteht daraus eine Bedrohung für die Mitgliedsstaaten. Immer öfter werden Entscheidungen getroffen ohne eine klare Grundlage in den Verträgen, sondern durch kreative Neuinterpretationen, ohne jegliche Kontrolle. Dieses Phänomen wächst seit Jahren.

Heute ist dieser Prozess so weit fortgeschritten, dass gesagt werden muss: Halt! Die Zuständigkeiten der Europäischen Union haben ihre Grenzen. Wir dürfen nicht länger schweigen, wenn sie überschritten werden.

Deshalb sagen wir JA zum europäischen Universalismus und NEIN zum europäischen Zentralismus.

Wie Sie alle in diesem Saal, unterwerfe auch ich mich der demokratischen Kontrolle. Auf diese Weise werden wir alle für alle unsere Handlungen zur Rechenschaft gezogen. Ich vertrete eine Regierung, die 2015 zum ersten Mal in der Geschichte Polens die absolute Mehrheit erlangt hat. Deshalb hat sie ein ehrgeiziges Programm sozialer Reformen in Angriff genommen.

Und die Polen haben an ihrer Entscheidung festgehalten: Bei den nachfolgenden Wahlen 2018, 2019 und 2020 haben sie unsere Regierung demokratisch bewertet. Dank der höchsten Wahlbeteiligung in der Geschichte haben wir das stärkste demokratische Mandat in der Geschichte erhalten. Seit 30 Jahren erzielte keine Partei ein solches Wahlergebnis, wie Recht und Gerechtigkeit. Und das, ohne die Unterstützung des Auslands, ohne die Unterstützung des Großkapitals und mit nicht einmal einem Viertel des Einflusses auf die Medien, wie sie ihn unsere Konkurrenten besitzen, die Polen nach 1989 eingerichtet haben.

Polen lässt sich nicht einschüchtern

Die paternalistischen Belehrungen über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, wie wir unsere Heimat gestalten sollen, dass wir schlechte Entscheidungen treffen, dass wir zu unreif sind, dass unsere Demokratie angeblich „jung“ ist, sind die fatale Richtung einer Erzählung, die einige von Ihnen vorschlagen.

Polen hat eine lange demokratische Tradition. Es ist in der Tat eine Tradition der Solidarität.

Strafen, Repressionen wirtschaftlich stärkerer Länder gegen diejenigen, die noch immer mit dem Erbe kämpfen, auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs gelebt zu haben, das ist nicht der richtige Weg. Wir alle müssen an seine Folgen denken.

Polen hält sich an die Regeln der Union, lässt sich aber nicht einschüchtern. Polen wartet auf einen Dialog in dieser Angelegenheit.

Um diesen Dialog zu erleichtern, lohnt es sich, institutionelle Veränderungen vorzuschlagen. Für einen dauerhaften Dialog, geführt nach dem Grundsatz der Kontrolle und des Gleichgewichts (checks and balances) könnte eine Kammer des Europäischen Gerichtshofs eingerichtet werden, die sich aus Richtern zusammensetzt, die von den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten ernannt werden.

Heute präsentiere ich Ihnen einen solchen Vorschlag. Die endgültige Entscheidung muss dem Demos und den Staaten überlassen werden, aber die Gerichte sollten eine solche Plattform haben, um nach einem gemeinsamen Nenner zu suchen.

Vielfalt macht stark

Abschließend, meine Damen und Herren Abgeordneten, müssen wir auch die Frage beantworten, woraus Europa im Laufe der Jahrhunderte seine Vorzüge entwicklet. Was hat die europäische Zivilisation so stark gemacht?

Die Geschichte beantwortet diese Frage so: Wir sind mächtig geworden, weil wir der vielfältigste Kontinent der Erde waren.

Fünfzig Jahre seit Gründung des Europarates. Briefmarke von 1999.

Niall Ferguson schreibt: „Die monolithischen Reiche des Orients haben die Innovation gedämpft, während im bergigen, von Flüssen durchzogenen West-Eurasien zahlreiche Monarchien und Stadtstaaten miteinander einfallsreich konkurriert und kommuniziert haben.“

Europa hat gewonnen, indem es zu einer Balance zwischen kreativem Wettbewerb und Kommunikation gefunden hat. Zwischen Wettbewerb und Zusammenarbeit. Heute brauchen wir wieder beides.

Hohes Haus! Ich wünsche mir ein starkes und großes Europa, das für Gerechtigkeit, Solidarität und Chancengleichheit kämpft. Ein Europa, das in der Lage ist, autoritären Regimen ein Ende zu setzen. Ein Europa, das auf die neuesten Wirtschaftskonzepte setzt. Ein Europa, das Kultur und Traditionen respektiert, aus denen es hervorgegangen ist. Ein Europa, das die Herausforderungen der Zukunft erkennt und an den besten Lösungen für die ganze Welt arbeitet.

Das ist eine große Aufgabe für uns. Für uns alle, liebe Freunde. Nur so finden die Bürger Europas Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Sie werden den Willen zum Handeln und den Willen zum Kampf finden. Es ist eine schwierige Aufgabe. Machen wir uns gemeinsam die Mühe. Es lebe Polen! Es lebe die Europäische Union souveräner Staaten! Es lebe Europa, der schönste Ort der Welt!

Vielen Dank.

RdP




Migranten-Attacken. Widerstehen und gewinnen

Warum Polen so und nicht anders handelte.

Mitte November 2021 hat die Europäische Kommission Polen ein Angebot gemacht. Sie sei bereit, zwei Prozent der Kosten für die Sicherung der Grenze zu Weißrussland zu übernehmen, erwarte aber im Gegenzug, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex sich an den Asylverfahren für Migranten, die versuchen aus Weißrussland nach Polen zu gelangen, beteiligt. Polen lehnte das ab. 

Zu groß war die Befürchtung, die Kontrolle über das Geschehen an der Grenze zu verlieren und zugleich einen weiteren Bestandteil staatlicher Souveränität an die EU abzutreten. Und das alles, wie aus Warschau zu vernehmen war, für 6,8 Millionen Euro. Soviel macht nämlich der Anteil der von der EU angebotenen Summe an den mit ca. 340 Millionen Euro veranschlagten Gesamtkosten des geplanten modernen, elektronisch vielfach gesicherten Grenzzauns zu Weißrussland aus.

Geplanter Grenzzaun: 5,5 Meter hoch und mit einer Stacheldrahtkrone versehen, alle 5 Meter ein dicker Stahlpfahl, dazwischen 10 Zentimeter starke Stahlstaketen, modernste Überwachungsanlagen.

Die polnische Ostgrenze ist auch die Ostgrenze der EU. Aber nach den Verträgen, die aus polnischer Sicht von der EU zunehmend verletzt und zuungunsten der Nationalstaaten überinterpretiert werden, sind die einzelnen Mitgliedsländer für den Schutz ihrer Grenzen verantwortlich. Das geht ganz klar aus den Artikeln 4 und 5 des Maastrichter Vertrages von 1992 und den Artikeln 3, 4 und 79 Abs. 5 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union von 2009 hervor. Es besteht also keine Verpflichtung, so die offizielle polnische Haltung, die Grenze einer EU-Überwachung zu unterziehen.

Die Einbindung von Frontex, der EU-Grenzschutzagentur und womöglich noch des EASO, des EU-Büros für Asylfragen, in die Asylverfahren an der weißrussischen Grenze, hätte, so die Befürchtung, fatale Folgen für Polen haben können.

Von den weißrussischen Grenztruppen herangefahren und ausgestattet, stürmten die Migranten bis Ende November 2021 die Grenze jede Nacht in 50 bis 200 Mann zählenden Trupps an zwei, manchmal drei voneinander entfernten Stellen. Zuerst bewarfen sie die polnischen Grenzpatrouillen mit Steinen und Holzteilen, dann wurde der Grenzzaun mit Stahlscheren zerschnitten. Darüber geworfene Holzstege sollen den Weg nach Polen bahnen, während weißrussische Uniformierte die polnischen Posten mit Laserstrahlen und extrem hellem Taschenlampenlicht zu blenden versuchen. Einige Dutzend Meter tief auf polnischem Gebiet gestellt, werden die Eindringlinge wieder an die Grenzlinie gebracht und müssen auf weißrussisches Territorium zurückweichen.

Gibt es unter ihnen Verwundete oder Kranke, wird für sie ärztliche Hilfe geholt. Wer nach dem Verarzten laufen kann, muss zurück nach Weißrussland. Ist eine Person schwer krank oder besteht der Verdacht auf eine schwere Erkrankung, erfolgt die Einweisung in ein polnisches Krankenhaus.

Migrant wird ins Krankenhaus abtransportiert.

Bei den Verhören durch den polnischen Grenzschutz ergibt sich immer wieder dasselbe Bild. Es handelt sich zuallermeist nicht um Flüchtlinge, sondern um nicht schlecht situierte junge Leute, die in spezialisierten Reiseagenturen, für Tausende von Dollar, ein Pauschalpaket erstanden haben: Flug nach Minsk und mehrtägige Unterbringung im Hotel. Weitere Hunderte von Dollar bezahlen sie für Taxis, die sie an die Grenze bringen. Dort treibt sie der weißrussische Grenzschutz immer wieder zu den nächtlichen Attacken auf die polnischen Grenzsicherungsanlagen an. Lukaschenka hat sie geholt, er ist für ihr Wohlergehen verantwortlich, so die strikte Haltung Warschaus. 

Die ausländischen Frontex-Beamten würden die Zurückweisungen dieser oft sehr gewalttätigen Flüchtlinge zu verhindern versuchen. Menschen, die eigentlich wegen Gewaltanwendung und Sachbeschädigung strafrechtlich belangt werden sollten, würden von Frontex und EASO dazu ermutigt Asyl in Polen zu beantragen. Keiner von diesen Beamten jedoch wäre für das weitere Schicksal der Asylbewerber verantwortlich. Gemäß dem Grundsatz, der besagt, dass ein Einwanderer keinen erneuten Asylantrag in einem anderen EU-Land stellen darf, müssten die Migranten in Polen bleiben. Ein Seitentor für eine Einwanderung, die Polen unbedingt unterbinden will, wäre damit sperrangelweit geöffnet.

Vorzeigeeinsatz. Deutscher Frontex-Gastbeamter bei Passkontrolle an der polnischen Grenze zu Russland bei Kaliningrad während der Fußball EM 2012, die von Polen und der Ukraine ausgerichtet wurde.

Die vermeintlichen Asylanten, die angeblich Schutz in Polen suchen, wären zudem nicht im Geringsten daran interessiert in Polen zu bleiben. Das könnte zu weiteren Problemen, dieses Mal an der polnisch-deutschen Grenze führen. Aus Litauen, das etwa viertausend der Lukaschenka Import-Asylanten im Juli und August 2021 aufgenommen hat, sind inzwischen die meisten nach Deutschland geflohen.

Sollten die durch die Frontex-Asylverfahren nach Polen hereingelassenen Migranten ebenfalls in größerem Umfang nach Deutschland weiterziehen, wäre es nicht auszuschließen, dass Berlin das Schengen-Abkommen an der polnischen Westgrenze aussetzen würde. Also ist es aus der Sicht der Warschauer Behörden besser, an der derzeitigen Strategie einer klaren Abweisung von illegalen Grenzüberquerern festzuhalten und die Kontrolle über die weißrussische Grenze unter keinen Umständen aufzugeben.

Polen weiß sich zu helfen

Zudem ist Frontex, das seine Zentrale in Warschau hat, anders als von manchen Medien suggeriert, keine Supereinheit, die Kommandotruppen einsetzen könnte, die die Weißrussen zur Flucht nach Minsk und die Einwanderer zur Rückkehr nach Afghanistan, Syrien und in den Irak bewegen würde. Vielmehr handelt es sich um eine Agentur mit 1.300 Schreibtisch-Beamten, deren Hauptaufgabe darin besteht, die Grenzpolitik zu koordinieren, Informationen auszutauschen und zu analysieren, und in Notfällen Hilfe zu organisieren.

Übrigens hat sich Frontex-Chef Fabrice Leggeri am 4. Oktober 2021 vor Ort ein Bild von der Lage an der polnisch-weißrussischen Grenze gemacht.

Frontex-Chef Leggeri (mit Schal) an der Grenze.

„Fabrice Leggeri verschaffte sich einen Überblick über die Aktivitäten des Grenzschutzes und zeigte sich beeindruckt von den Maßnahmen, die zur angemessenen Sicherung der Grenze getroffen wurden. Er dankte Polen für die Zusammenarbeit mit Frontex seit Beginn der Krise, für den ständigen Informationsaustausch und die Bereitstellung von Angaben über die Situation am polnischen Abschnitt der EU-Außengrenze“, hieß es nach dem Besuch im offiziellen Kommuniqué.

Frontex verfügt über keine eigenen Grenzbeamten. Als Litauen, das sich als erstes Land der Invasion von Lukaschenka-Migranten stellen musste, im Sommer 2021 Hilfe anforderte, bat Frontex Polen darum, 50 Grenzschutzbeamte und Polizisten sowie einen Hubschrauber nach Litauen zu entsenden. Polen kam diesem Ersuchen nach. Polnische Grenzschutzbeamte versehen außerdem ihren Dienst bei der Bekämpfung der illegalen Einwanderung in Slowenien, Mazedonien und Süditalien.

August 2021. Innenminister Mariusz Kamiński verabschiedet polnische Polizisten vor ihrem Frontex-Grenzeinsatz in Litauen.

Frontex könnte also nur andere Mitgliedsstaaten bitten, ihre eigenen Grenzbeamten zu schicken, um Polen zu helfen. Polen aber hat derzeit 16.000 eigene Grenzschutzbeamte, Polizisten und Soldaten an seiner gut 400 Kilometer langen Grenze zu Weißrussland stationiert und kann diese Zahl im Bedarfsfall erheblich erhöhen. Was könnten da einige Dutzend Beamte aus anderen EU-Ländern, die man unterbringen, verpflegen und durch Dolmetscher unterstützen müsste Weiteres ausrichten, außer zusehen und Polen daran hindern die Eindringlinge zurückzuschicken?

Politische Ziele im Schatten der Krise

Die Forderungen, Frontex soll an der polnisch-weißrussischen Grenze aktiv werden, waren jedoch nicht auf mangelndes Wissen zurückzuführen. Aus der Sicht der Warschauer Behörden war die Sache klar. Die der jetzigen polnischen Regierung feindlich gesinnten EU-Bürokraten, aber auch ähnlich eingestellte westliche Medien, Aktivisten und die „totale“, wie sie sich selbst nennt, Opposition in Polen selbst, wollten damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Zum einen sollte bewiesen werden, dass das Warschauer „Regime“ mit der Situation alleine nicht zurechtkommt und auf die Hilfe der EU zurückgreifen muss. Folglich sollte die Regierung sich auch in anderen Forderungen der EU beugen. Andererseits setzte die polnische „totale“ Opposition darauf, dass es dank Frontex und EASO möglich sein würde, die Lukaschenka-Migranten nach Polen hineinzulassen.

Der weißrussische Diktator würde schnell weitere Kontingente „anliefern“. Die „Vorräte“ im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika sind geradezu unerschöpflich. Und wenn man erst einigen Tausend Einlass gewährt hätte, dann gäbe es keinen Grund „unmenschlich“ zu sein und die Einreise von weiteren Zehn- und Hunderttausenden zu verwehren. Ein goldenes Geschäft für Lukaschenka.

Hinzu kämen Unmut und Chaos, die in Polen ausbrechen würden, so die offen zum Ausdruck gebrachte Hoffnung der polnischen „totalen“ Opposition. Dies könnte ihr endlich den Weg zur Macht freimachen. Wen wundert es, dass in Anbetracht solcher Aussichten die jetzigen polnischen Regierenden den einzigen Ausweg darin sahen, hart zu bleiben und nicht um einen Zentimeter Lukaschenkas Erpressung nachzugeben.

Mediale Inszenierungen, seriöser Journalismus hat das Nachsehen

Aus derselben Ecke kamen immer wieder die lautstarken Forderungen, dass die Medien an die Grenze zurückkehren sollen, um die „Wahrheit“ über die Vorgänge dort herauszufinden. Drei Monate lang, vom 2. September 2021 an, war ein drei Kilometer breiter Streifen auf der polnischen Seite der Grenze eine für Fremde unzugängliche Sperrzone, wo das Ausnahmerecht galt.

Pressezentrum der Grenzpolizei in Popławce.

Seit Anfang Dezember 2021 gelten, da das Ausnahmerecht nicht mehr verlängert werden konnte, dort besondere, geordnete Zugangsregeln für die Medien. Im Dorf Popławce unweit der Achtzehntausend-Einwohner-Kreisstadt Sokółka, im nördlichen Abschnitt der polnisch-weißrussischen Grenze, hat der polnische Grenzschutz ein Pressezentrum eingerichtet. Journalisten müssen sich dort akkreditieren, werden über die Gefahren belehrt und können sich in der drei Kilometer breiten Zone nur in Begleitung eines Grenzschutzbeamten bewegen, wie es in fast allen Frontgebieten der Welt üblich ist.

August 2021. Medieninszenierung. Oppositionspolitiker Piotr Ikonowicz ruft Grenzschutzbeamte zum Ungehorsam auf.

Die Errichtung der Sperrzone war nach mehreren Wochen unguter Erfahrungen mit Medien und sogenannten Aktivisten erfolgt. Letztere behinderten massiv die Arbeit des Grenzschutzes und scheuten sich nicht, die gerade errichteten Grenzsicherungsanlagen zu zerstören. Immer wieder versuchten sie die Grenzlinie zu durchbrechen, um die auf weißrussischem Territorium kampierenden Migranten, für die Lukaschenka zuständig war, zu versorgen. Angesichts der angespannten Lage und der massiven bewaffneten Präsenz von Sicherheitskräften auf beiden Seiten, hätten solche Aktivisten-Aktionen schnell zu schweren Zwischenfällen führen können.

Medieninszenierung. August 2021. Stellv. Vorsitzende des Senats von der Opposition, Gabriela Morawska-Stanecka versucht eine Grenzpolizeikette zu durchbrechen, um zu den Migranten auf der weißrussischen Seite der Grenze vorzudringen.

Nebenbei bemerkt haben polnische Behörden drei Mal Hilfskonvois mit Verpflegung, Decken, Medikamenten für die Migranten losgeschickt. Alle wurden an weißrussischen Grenzübergängen abgewiesen.

Medieninszenierung. August 2021. Aktivisten zerstören die neuerrichteten Grenzschutzanlagen.

Die meisten Aktivisten-Auftritte an der Grenze waren medienwirksam inszeniert. Es ging darum künstlich Fakten zu schaffen, Emotionen zu schüren, die Abwehrmaßnahmen ausschließlich in ein schlechtes Licht zu rücken, Grenzschutzbeamte, Polizisten, Soldaten psychisch zu zermürben, kurzum dem Warschauer „Regime“ so viele Ohrfeigen wie möglich zu verpassen. An eine ausgewogene Berichterstattung war nicht zu denken.

Es wäre anders, wenn die meisten Medien in Polen, aber auch im Ausland, sich nicht so sehr von der Logik der „totalen“ Kriegsführung gegen die ungeliebte Regierung in Warschau leiten ließen. Ihre uneingeschränkte Anwesenheit an einer Grenze, die zur Front eines hybriden Krieges geworden ist, musste, wie es unter Kriegsbedingungen üblich ist, eingeschränkt werden.

Wenn einige Medien ihre eigene Regierung als den Hauptfeind betrachten, so offizielle Stellen in Warschau, unterstützen sie zwangsläufig, wenn auch nicht unbedingt absichtlich, den weißrussischen Diktator und seinen Gönner im Kreml in ihrem Kampf gegen Polen. Lukaschenka wusste das geschickt zu nutzen. Seriöser Journalismus hatte unter diesen Umständen leider das Nachsehen.

Was die Spanier dürfen, dürfen die Polen nicht

Die Europäische Kommission wollte Frontex nutzen, um ihre Befugnisse zu erweitern. Diesmal ging es um die Grenzen der Mitgliedsstaaten und ihre Asylpolitik. Sollte das gelingen, würde Polen, so die Befürchtungen in Warschau, wahrscheinlich bald von Einwanderern via Weißrussland überschwemmt werden, aus denen die reicheren Länder mittels der Umverteilung diejenigen aussieben würden, die ihre Arbeitsmärkte brauchen könnten.

Die zurückbleibende Mehrheit würde sich in Lagern auf polnischem Gebiet aufhalten und ständig versuchen, aus diesen zu entkommen. Die Verantwortung für ihre Flucht trüge Polen und müsste die Migranten nach einer Abschiebung aus Deutschland erneut aufnehmen. Mit welcher Begründung sollten polnische Behörden jemanden mit Gewalt im Land festhalten? Das ist nicht bekannt.

Auf diese Weise hätte die Europäische Union Polen so etwas wie die 2015 geplante und glücklicherweise blockierte Umverteilung von Migranten beschert. Damals ging es darum, dass Polen und die anderen Länder Ostmitteleuropas einen Teil von den Hunderttausenden Afghanen, Arabern, Kurden und Afrikanern, die Deutschland zu sich eingeladen hatte und die ausschließlich nach Deutschland wollten, übernehmen sollten.

Der Verdacht hinsichtlich der Absichten der Europäischen Kommission ist insofern berechtigt, weil EU-Institutionen, wie man mehr als einmal gesehen hat, unterschiedliche Standards für verschiedene Länder anwenden. Dies gilt auch für Fragen der Pushbacks, d. h. der Zurückdrängung von illegalen Einwanderern, die die Grenze überschritten haben.

Es ist allgemein anerkannt, dass einem Einwanderer, der illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats der Union eingereist ist, Asyl gewährt werden sollte, wenn er darum bittet. Das Problem ist, dass die Lukaschenka-Einwanderer, die Polens Grenzen im Osten stürmen, dort nicht um Asyl bitten, weil sie das in ihrem Wunschland Deutschland, Frankreich oder Schweden beantragen wollen. Deswegen werden sie von polnischen Beamten zurückgeschickt.

Die EU wollte jedoch ursprünglich, dass sie nicht zurückgeschickt, sondern in Polen aufgenommen werden, und hierbei wäre die Anwesenheit von Frontex eine wirksame Hilfe. Warschau hielt dagegen, dass dieselbe EU keine Skrupel hatte, als afrikanische Eindringlinge die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla an der marokkanischen Küste stürmten. Dort war das Zurückdrängen erlaubt. Aber Spanien wird schließlich von der Linken regiert, der die EU-Kommission sehr wohlgesonnen ist, so die offiziellen Kommentare in Warschau. 

Über polnische Köpfe hinweg

Die Versuche von Frau Merkel und Präsident Macron über polnische Köpfe hinweg mit Lukaschenka und Putin zu verhandeln, waren, aus Warschauer Sicht nur ein weiterer Beleg dafür, dass die Spitzenpolitiker der EU Polen und die anderen Länder der Region nicht wie gleichwertige Partner behandeln. Nur zu gerne, und das zur Freude der polnischen „totalen“ Opposition, würden sie auch die Sicherheits- und Ausländerpolitik Polens und des Baltikums in ihre Hände nehmen.

Lukaschenka, der seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020 vom Westen boykottiert wird, hat nur auf eine solche Gelegenheit gewartet. Unmittelbar nach seinem Gespräch mit Frau Merkel nahm der Druck auf die polnische Grenze weiter zu. Migranten wurden von weißrussischen Beamten angestachelt einen Angriff auf den polnischen Grenzübergang in Kuźnica zu unternehmen. Zur Verteidigung setzten die Polen Wasserwerfer ein. Neun polnische Polizisten wurden verletzt, einer von ihnen erlitt einen Schädelbruch.

November 2021. Lukaschenka-Migranten stürmen den Grenzübergang Kużnica.

Das war nicht die Art von Unterstützung oder Internationalisierung des Konflikts, die sich das offizielle Polen wünschte. Diese Herangehensweise hatte ihren Ursprung in der von den Medien und linken Politikern immer wieder vorgebrachten Behauptung, an der polnisch-weißrussischen Grenze handele es sich um eine „humanitäre Krise“. In Wirklichkeit war es von Anfang an eine handfeste internationale politische Krise in Form eines gegen Polen zynisch geführten hybriden Angriffskrieges.

Deswegen startete Warschau eine diplomatische Blitzoffensive. Vom 21. November 2021 an besuchte Regierungschef Mateusz Morawiecki innerhalb einer Woche, zu Spitzengesprächen, Tallinn, Riga, Vilnius, Budapest (Treffen mit den Visegrád-Ministerpräsidenten Ungarns, Tschechiens und der Slowakei), Zagreb, Paris, Ljubljana, Berlin und London. Staatspräsident Andrzej Duda traf sich in dieser Zeit mit den Staatspräsidenten Deutschlands, der Ukraine und mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Auf polnischen Druck musste sich sogar Frau Merkel in Sachen Lukaschenka-Migranten solidarisch mit Polen zeigen. Mit Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in Berlin am 25.11.2021.

Es gelang eine Wende herbeizuführen. Überall, sogar in Berlin aus dem Munde von Frau Merkel, flossen Worte der Unterstützung und Solidarität mit der polnischen Haltung und der Ablehnung für Lukaschenkas Vorgehen. Eine EU-Einheitsfront entstand, aus der, wie es scheint, keiner so leicht ausbrechen kann und will. Selbst Deutschland hat es abgelehnt die Lukaschenka-Migranten aufzunehmen. Die etwas späte Einsicht in die Notwendigkeit der Erpressung zu widerstehen hat sich auf polnisches Betreiben hin durchgesetzt. Für wie lange?

© RdP




Und Tschüss… Polens Abschied von Gasprom

Epochaler Wandel in der polnischen Energiepolitik.

Polen will ab Januar 2023 kein russisches Erdgas mehr kaufen. Die kurze Erdgasleine, an der die Sowjetunion und später Russland das Land geführt haben, wird gekappt.

Mitte November 2019 hat das staatliche polnische Energieunternehmen PGNiG SA (Polnische Erdölbergbau und Gaswesen AG) termingerecht den bis Ende 2022 laufenden, über ein Vierteljahrhundert abgeschlossenen, Vertrag mit Gasprom gekündigt. Eine automatische Verlängerung um weitere fünf Jahre soll es nicht geben. In knapp zwei Jahren verliert Gasprom somit seinen sechstgrößten europäischen Kunden nach Deutschland, der Türkei, Italien, Großbritannien und Frankreich.

Polen und Deutschland – zwei Unterschiede

Sichtbar werden bei dieser Gelegenheit wieder einmal zwei gravierende Unterschiede zwischen der polnischen und der deutschen Energiepolitik.

Zum einen wird die Energiepolitik in Polen vor allem als ein Teil der Sicherheitspolitik aufgefasst und gehandhabt. In Deutschland hingegen fällt Energiepolitik in die Sparten Handel, Umwelt, Klima.

Der zweite Unterschied ergibt sich aus dem ersten. Polen setzt alles daran, die Energieabhängigkeit von Russland zu beenden. Deutschland findet nichts dabei, mit dem Bau der Nord Stream 2-Gasleitung unter der Ostsee eine noch engere Bindung an Russland einzugehen.

Die deutsche Bundesregierung spricht sich zwar für Sanktionen gegen Russland wegen der Eroberung der Krim und des Krieges im Donbass aus, andererseits hält sie aber an einem Vorhaben fest, durch das weitere Milliarden von Euro nach Russland fließen und Putins brachiale Politik mitfinanzieren.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 sind Erdgas und Erdöl für den angeschlagenen russischen Nachfolgestaat die wichtigsten Finanzierungsquellen und zugleich die wichtigsten Instrumente, wenn es um seine internationale Geltung geht.

Sehr viel mehr steht Russland nicht zur Verfügung, um seiner Machtpolitik Nachdruck zu verleihen. Lieferstopps, Vorzugspreise für Nachgiebige politische Partner wie Weißrussland, Höchstpreise für Widerspenstige wie Polen, das lange Zeit keine Ausweichmöglichkeiten auf andere Gaslieferanten hatte.

Das Abnabeln von den russischen Erdgaslieferungen gehört zu den wichtigsten Vorhaben der regierenden polnischen Nationalkonservativen. Sie haben es im Parlamentswahlkampf 2015 angekündigt und setzen das Vorhaben seit ihrer Regierungsübernahme mit Nachdruck um.

Mit Erdöl ist die Sache leichter

Die Erdöllieferverträge haben eine Laufzeit von zwei bis drei Jahren. Es gelten weitgehend die aktuellen Weltmarktpreise. Zudem verfügt Polen seit den 1970er Jahren über einen laufend modernisierten Erdölhafen in Gdańsk, wo seit Neuestem bis zu vierhundert Tanker pro Jahr ihre Fracht löschen. Diese wird in der angrenzenden zweitgrößten Raffinerie Polens verarbeitet. Zudem haben die Erdöltanks im Danziger Erdölhafen ein Fassungsvermögen von gut vier Millionen Kubikmetern.

Wie existentiell wichtig für das kommunistische Polen sowjetische Erdöllieferungen waren, kann man auch anhand der Briefmarken sehen. Gleich drei wurden (von oben) 1964,1965 und 1969 (s. unten) der Erdölraffinerie in Płock an der Druschba-Erdölleitung gewidmet.

Das schafft gute Ausweichmöglichkeiten, wenn russische Erdöllieferungen ausbleiben, wie im April und Mai 2019 geschehen. Über die Druschba/Freundschaft-Pipeline floss damals aus Russland stark verunreinigtes Rohöl.

Durch diese Pipeline, die eine Kapazität von 1,4 Millionen Fass Erdöl pro Tag hat, pumpt Russland über eine Entfernung von knapp sechstausend Kilometern mehr als ein Viertel all seiner Rohölexporte.

Die in den 1960er Jahren zu Sowjetzeiten gebaute Pipeline beginnt in der Nähe von Samara, geht weiter nach Weißrussland (Raffinerie Mosyr) und gabelt sich dort in eine nördliche Linie, die nach Polen (Raffinerie Płock) und Deutschland (Raffinerie Schwedt) führt, und in einen südlichen Zweig in die Ukraine, nach Ungarn, in die Slowakei und nach Tschechien. Ein weiterer Ableger führt zum russischen Hafen Ust-Luga an der Ostsee.

Fast zwei Monate lang ruhte der Betrieb der Druschba 2019 bis die Leitungen gereinigt waren und die Russen sich verpflichtet haben die Kunden angemessen zu entschädigen. Derweil funktionierte der Kraftstoffmarkt in Polen völlig normal. Vorräte und Zukäufe auf dem Weltmarkt, die über den Erdölhafen in Gdańsk ins Land gelangten, machten es möglich.

Druschba/Freundschaft-Erdölpipeline.

Mittlerweile bezieht Polen noch 65 Prozent seines Erdöls aus Russland (1996 waren es 100 Prozent). Der Rest kommt aus Saudi-Arabien, Nigeria, Kasachstan, Großbritannien, Norwegen. Drei Prozent des Bedarfs deckt die Eigenförderung. Alternative Bezugsquellen, vielfältige Lager- und Transportmöglichkeiten machen Russland, das zudem ja dringend auf die Einnahmen angewiesen ist, als Erdöllieferanten nach Polen weitgehend ersetzbar.

Erdölhafen in Gdańsk. Briefmarke von 1976.

Erdgas. Russland lockt,…

Auf dem Erdgasmarkt ist die Lage für Polen erst seit Kurzem ähnlich komfortabel. Damit sie entstehen konnte, musste in den letzten Jahren ein gewaltiger Aufwand betrieben werden.

Die Ausgangssituation nach dem Ende des Kommunismus 1990 war für Polen fatal. Erdgasverbindungen nach Westeuropa gab es nicht. Weder Pipelines, noch einen Flüssiggashafen. Das Land, von den Missständen der kommunistischen Planwirtschaft und einer radikalen ökonomischen Transformation (Balcerowicz-Plan) schwer geprüft, hatte damals, kurz nach 1990, nicht den politischen Mut aufgebracht diese Isolation, zum Beispiel in Richtung norwegische Gasvorkommen, zu durchbrechen. Das geschah erst, mit der Machtübernahme der Nationalkonservativen im Jahre 2015 und läuft seither als Projekt unter dem Namen Baltic Pipe.

Ein Vierteljahrhundert früher lockten die Russen Polen mit einem neuen gigantischen Vorhaben: der Jamal-Leitung. Stabile Lieferungen und Transitgebühren für das durch Polen nach Deutschland fließende Erdgas, das klang vielversprechend.

Russland erschloss damals die schier unermesslichen Gasvorkommen auf der sibirischen Halbinsel Jamal am Nordpolarmeer, mit 115.000 Quadratkilometern Fläche etwas größer als die einstige DDR.

Seit dem Bauende 1999 transportiert die gut viertausend Kilometer lange Jamal-Leitung Erdgas durch Weißrussland und Polen bis nach Ostdeutschland. Ein Ableger führt über die Ukraine und die Slowakei nach Österreich.

…Polen zahlt viel und hat das Nachsehen

Der 1996 geschlossene polnisch-russische Jamal-Gasvertrag, später einige Male überarbeitet und erneuert, wird nach seiner Beendigung im Dezember 2022 als einer der ungünstigsten Handelsverträge in die jüngste polnische Geschichte eingehen.

Der Erdgasversorgung durch Russland ganz und gar ausgeliefert, zahlte Polen Spitzenpreise. Westeuropäische Staaten, die Erdgas aus verschiedenen Quellen beziehen konnten, bekamen den russischen blauen Brennsoff erheblich billiger.

Im Jahr 2010 stand eine weitere Erneuerung des Jamal-Vertrages an. Die damalige Regierung Donald Tusk führte bereits seit einiger Zeit eine Charmeoffensive in Richtung Moskau. Anlässlich des Tusk-Besuchs in der russischen Hauptstadt im Februar 2008, bei den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs im polnischen Sopot im September 2009 und bei der Begegnung Donald Tusks mit Wladimir Putin in Katyn, an den Gräbern der 1940 von den Sowjets ermordeten polnischen Offiziere im April 2010, legten beide Politiker einen demonstrativ herzlichen Umgang miteinander an den Tag.

Tusk verfolgte damals zwei Ziele. Zum einen wollte er, vor allem, seiner politischen Ziehmutter Angela Merkel einen Gefallen tun. Polen sollte kein „Störfaktor“ mehr sein in den guten Beziehungen und bei den Geschäften Deutschlands und der EU mit Russland.

Zum anderen wollte er als „Mann des Dialogs“ seinen Erzrivalen, den angeblich „ewig rückwärtsgewandten“ Staatspräsidenten Lech Kaczyński, den Putin nicht ausstehen konnte, in Polen und in Europa bloßstellen.

Nach Lech Kaczyńskis tragischem Tod beim Flugzeugunglück bei Smolensk am 10. April 2010 verstärkte Tusk seine Charmeoffensive abermals deutlich. Zum einen überließ er alleinig Russland die Untersuchung der Unglückursachen vor Ort. Die Russen weigern sich bis heute das Flugzeugwrack zurückzugeben.

Zum anderen hatte Tusk 2010 vor, im Erdgasgeschäft Polen auf Jahrzehnte fest an Russland zu binden. Auf diese Weise wollte er die „strategische Partnerschaft“ mit Moskau, an die er blauäugig glaubte, dauerhaft festigen.

Der Jamal-Vertrag sollte gleich auf 27 Jahre, also bis 2037, verlängert werden, und das zu für Polen denkbar ungünstigen Konditionen. Hätte sich die EU-Kommission damals nicht eingemischt und Tusk, unter Hinweis auf die EU-Energierichtlinien, gezwungen den Vertrag nur bis Ende 2022 abzuschließen, wäre der Schaden noch gigantischer ausgefallen.

Die damals ausgehandelten Preise, gekoppelt an den aktuellen Erdöl-Weltmarktpreis, waren in Tusk-Polen eines der bestgehüteten Geheimnisse, bis die russische Presseagentur Interfax sie 2015 plötzlich preisgab.

Von 2011 bis 2012, so konnte man nachlesen, kosteten Polen 1.000 Kubikmeter russisches Erdgas im Schnitt gut 500 US-Dollar. Der Preisdurchschnitt für Westeuropa betrug 440 US-Dollar.

Die Differenz blieb, laut Interfax, weiterhin groß, obwohl Polen den Russen ab 2013 einen Rabatt von zehn Prozent abtrotzen konnte. So zahlte Polen im Jahr 2013 für 1.000 Kubikmeter russisches Erdgas im Schnitt 429 US-Dollar. Deutschland: 366, Italien: 399, Österreich: 402, Frankreich: 404 US-Dollar.

Im Jahr 2014 betrugen die Preise pro 1.000 Kubikmeter: für Polen 379 US-Dollar, Deutschland: 323, Österreich: 329, Frankreich: 338, Italien: 341 US-Dollar.

Solche Unterschiede gelten bis heute. Ende 2015, sofort nach ihrem Antritt, reichte die neue nationalkonservative Regierung unter Frau Szydło bei dem Schiedsgericht in Stockholm Klage gegen Gasprom ein, mit der Begründung, der Gaspreis im Jamal-Vertrag sei zu hoch und entspreche nicht der Situation auf dem europäischen Markt. Das Urteil wird bis Mitte 2020 erwartet. Sollte es positiv für Polen ausfallen, verspricht PGNiG SA die erhoffte russische Teilrückzahlung an seine Kunden, Haushalte sowie Firmen, weiterzugeben.

Nach PGNiG-Berechnungen hat Polen seit 2014 jährlich etwa 250 Millionen Euro mehr für das russische Gas bezahlt als es auf dem Weltmarkt gekostet hätte.

Hahn auf, Hahn zu

In Deutschland wird oft und gerne auf die Zuverlässigkeit, einst der Sowjetunion und jetzt Russlands, im Gasgeschäft hingewiesen. Die polnischen Erfahrungen auf diesem Gebiet sind nicht so gut.

Aus PGNiG-Angaben geht hervor, dass Gasprom seit 2004 Polen das Gas sieben Mal ohne Vorwarnung abgedreht und wiederholt die vereinbarten täglichen Liefermengen plötzlich gesenkt hat.

Zudem kam 2017 das Gas eine Zeit lang mit Wasser versetzt in Polen an und war unbrauchbar. Daraufhin sah sich PGNiG genötigt im Eilverfahren eine Erdgas Trocknungsanlage am Abnahmepunkt der Jamal-Pipeline zu bauen, um künftig Schäden am Leitungssystem zu verhindern.

Piotr Woźniak, der PGNiG-Chef: „Die Russen haben aus irgendwelchen Gründen immer wieder Mal die Lieferungen eingestellt. Wir konnten uns durch unsere Vorräte über Wasser halten. Das Problem war, dass es bei jedem Vorkommnis keinen Kontakt mit den Russen gab. Wir bekamen keine Antworten auf unsere Anfragen oder die Antworten entsprachen nicht der Wahrheit, was das Ergreifen von Gegenmaßnahmen unmöglich machte. Wir tappten jedes Mal im Dunkeln. “

Der Jamal-Vertrag von 2010 beinhaltet zudem die so genannte „Take-or-pay-Klausel“, die Polen verpflichtet mindestens 85 Prozent (8,7 Mrd. Kubikmeter) der vereinbarten Gasmenge zu bezahlen, auch wenn es momentan gar nicht so viel Gas benötigt. Das kommt in den letzten Jahren zunehmend vor, seitdem immer mehr Gas aus anderen Quellen ins Land gelangt.

LNG-Terminal in Świnoujście: Polens Gastor zur Welt

Im Januar 2006 fasste die damalige erste nationalkonservative Regierung (2005-2007) unter Kazimierz Marcinkiewicz, den im Juli 2006 Jarosław Kaczyński ablöste, den Beschluss, Polen durch den Bau eines Flüssiggashafens vom russischen Erdgasmonopol zu befreien. Als Standort wurde Świnoujście/Swinemünde ausgewählt.

Im Sommer 2007 zerbrach Jarosław Kaczyńskis Drei-Parteien-Koalitionsregierung. Die vorgezogenen Neuwahlen im Oktober 2007 gewann die Tusk-Partei Bürgerplattform. Das Vorhaben in Świnoujście passte nicht zu Tusks vertrauensvollem Schmusekurs mit Moskau. Er hätte auf die Investition am liebsten verzichtet, doch das Vorhaben zu widerrufen wäre ein allzu offensichtlicher Schritt gewesen. So legte er erst 2011 den Grundstein für die Anlage, und auch sonst wurde auf verdeckte Verzögerung gesetzt.

Gut zwei Jahre lang sahen Behörden weg, als die italienische Baufirma die den Zuschlag bekommen hatte, pfuschte, Termine nicht einhielt, immer neue Nachzahlungen einforderte. Einmal zog sie sich komplett von der riesigen Baustelle zurück, die immer mehr im Chaos versank, um dann nach einigen Wochen wiederzukehren. Schlecht ausgehandelte Bauverträge erlaubten ein solches Gebaren. Tusk schien es nicht zu kümmern.

Erst die Krim-Annexion durch Russland im Frühjahr 2014, die Tusks Freundschaft mit Moskau den Todesstoß versetzte, markierte die Wende. Plötzlich hatte er es eilig. Zwei Jahre später als ursprünglich festgelegt, konnte Tusks Nachfolgerin Ewa Kopacz die Anlage am 11. Oktober 2015 einweihen. Zwei Wochen später verlor Frau Kopacz die Wahlen. Die Nationalkonservativen gewannen die absolute Mehrheit. Deren Leute standen am 20. November 2015 dann am Kai, um den ersten Tanker mit Erdgas aus Katar offiziell zu begrüßen.

Flüssiggasterminal in Świnoujście.

Seither ist das LNG-Terminal „Lech Kaczyński“ Polens Gastor zur Welt. 2018 legten dort 29 Gastanker an mit 13,5 Mrd. Kubikmetern Gas (nach der Rückvergasung). 2019 brachten 31 Gastanker 14.8 Mrd. Kubikmeter Gas (nach Rückvergasung). Die heutige Jahreskapazität des Terminals von 5 Mrd. Kubikmetern Flüssiggas soll nach dem laufenden Ausbau auf 7,5 Mrd. Kubikmeter steigen.

Gleichzeitig sanken die Gaseinfuhren aus Russland. 2018 waren es 9 Mrd. Kubikmeter, 2019 – 8,95 Mrd. Kubikmeter. Der Anteil des russischen Erdgases am polnischen Gesamtimport verminderte sich von 89 Prozent im Jahr 2016 auf 67 Prozent im Jahr 2018 und 61 Prozent im Jahr 2019. Ab 2023 sollen es null Prozent sein.

Es sei denn, die Russen bieten ihren Rohstoff günstig auf dem internationalen Spotmarkt an, wo, wie zum Beispiel in Rotterdam, nicht vertraglich gebundene Mengen von Erdgas gehandelt werden. Solchen „Schnäppchenkäufen“ von Gasprom will sich PGNiG künftig keineswegs verschließen.

Amerikanisches Erdgas ist billiger

Am 8. Juni 2017 legte der „Clean Ocean“, nach sechzehntägiger Fahrt von Port Sabine in Louisiana, in Świnoujście an. Zur Begrüßung erschien Beata Szydło. „Solche Tage gehen in die Geschichte ein“, sagte die Ministerpräsidentin, denn es war wahrlich ein geschichtsträchtiges Ereignis. Zum ersten Mal gelangten 90 Millionen Kubikmeter amerikanisches Flüssiggas auf diesem Weg nach Polen.

Der „Clean Ocean“-US-Gastanker im Flüssiggasterminal von Świnoujście.

Damals war das ein Gelegenheitskauf. Inzwischen hat PGNiG im November 2018 einen Gas-Liefervertrag mit der amerikanischen Firma Cheniere abgeschlossen. Laufzeit: 24 Jahre. Der Abnahmepreis orientiert sich an den im amerikanischen Henry Hub, einem Drehkreuz des US-Erdgashandels im Bundesstaat Louisiana, laufend ermittelten Kursen. Alles ist übersichtlich, dafür sorgen die US-Behörden.

Oft erachten deutsche Medien die von den Russen immer wieder verbreitete Behauptung, amerikanisches Erdgas sei deutlich teurer als das russische, als selbstverständlich. In Wirklichkeit ist es für Polen deutlich billiger. Mitte 2019 zahlte Polen für 1.000 Kubikmeter US-Erdgas zwischen 140 und 160 US-Dollar. Darin enthaltene Kosten: Rohstoff (90 bis 110 USD), Transport und Regasifizierung (40 bis 50 USD).

Im Unterschied zum Jamal-Vertrag, kann der Käufer des US-Flüssiggases bestimmen wohin die Ladung gebracht werden soll: nach Polen, in ein anderes Land Ostmitteleuropas oder in eine andere Gegend der Welt. Es gibt kein Weiterverkaufsverbot, wie bei den Russen.

Russisches Gas kostete in Europa Mitte 2019 durchschnittlich um die 180 US-Dollar für 1.000 Kubikmeter und so viel zahlte der russische Vorzugskunde Deutschland. Der Jamal-Vertrag von 2010 sieht für Polen eine Anlehnung des Erdgaspreises an den Rohölpreis vor, der Mitte 2019 bei etwa 75 US-Dollar pro Barrel lag. Daraus ergab sich der russische Gaspreis für Polen: von etwa 200 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter.

Aus Norwegen kommt die Gasfreiheit

Zwar soll das LNG-Terminal in Świnoujście erweitert werden und bald ein schwimmendes LNG-Terminal an der polnischen mittleren Ostseeküste bei Gdańsk entstehen. Doch um Gasprom ganz und gar abzulösen, bedarf es eines Pipeline-Anschlusses an Westeuropa, und zwar nicht, so wie Deutschland es sich vorstellt. Deutschland würde am liebsten bei den Russen gekauftes Erdgas von Westen her nach Polen pumpen.

Es bedarf eines Anschlusses an die norwegischen Erdgasvorkommen in der Nordsee. PGNiG hat dort inzwischen 29 Gasförderkonzessionen gekauft. Der eigene Rohstoff ist am billigsten. Er soll nach Polen durch die Baltic Pipe gelangen. Einen Teil davon, den zwischen Norwegen und Dänemark, gibt es seit langem. Nun wird mit Nachdruck die Verbindung von Dänemark nach Polen verlegt.

PGNIG-Chef Woźniak sagt: „Die Leitung hat ein jährliches Durchleitungsvermögen von gut 10 Milliarden Kubikmetern. Wenn unser Gas sie künftig zu 25 Prozent und fremdes zu 75 Prozent füllt, dann werden unsere Kalkulationen aufgehen“. Polen will nämlich das Erdgaskreuz für Ost- und Südostmitteleuropa werden.

Am 1. Oktober 2022 soll erstes norwegisches Erdgas nach Polen fließen. Es muss fließen, denn am 1. Januar 2023 laufen die russischen Lieferungen aus.

@ RdP




Polen – Israel. Streit beigelegt, Wahrheit verbrieft

Warum die israelisch-polnische Regierungserklärung für Polen so wichtig ist.

Am 27. Juni 2018 gelang es Polen und Israel ihren seit einem halben Jahr brodelnden Streit über die polnische Sichtweise des Holocaust beizulegen. Das polnische Parlament entfernte die umstrittenen Ausschnitte des Gesetzes, die den Konflikt ausgelöst hatten. Gleichzeitig wurde eine gemeinsame Erklärung der Regierungschefs beider Länder veröffentlicht, in der Israel die wichtigsten polnischen Sichtweisen zum Holocaust teilt.

Wir schildern kurz den Konflikt und kommentieren die aus polnischer Sicht wichtigsten Passagen der gemeinsamen Erklärung. Der Gesamttext des Dokuments befindet sich am Ende des Beitrags.

Ende Januar 2018 verabschiedete das polnische Parlament eine Novelle zum Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens (polnische Gauck-Behörde). Ihm wurde der Artikel 55 A hinzugefügt, er lautete:

„Jeder, der öffentlich der polnischen Nation oder dem polnischen Staat faktenwidrig die Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen zuschreibt, die durch das Dritte Deutsche Reich begangen wurden, unterliegt einem Bußgeld oder einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren.“

Ausgenommen davon waren, so zwei weitere Bestimmungen, diejenigen die absichtslos gehandelt hatten, und jene die das im Rahmen künstlerischer oder wissenschaftlicher Aktivitäten taten.

„Polnische Vernichtungslager“

Beweggrund für die Gesetzesnovelle waren die sich seit Jahren in den Weltmedien häufenden Formulierungen, die Juden seien während des Holocaust in „polnischen Todeslagern“ oder „polnischen Vernichtungslagern“ ermordet worden. Was angeblich nur geografisch gemeint war (die Lager befanden sich im besetzten Polen), verselbständigte sich zunehmend zu einem festen Begriff.

Die Botschaft, die in der eng vernetzten Welt immer öfter zu lesen war, lautete: Nazis (deren Nationalität meistens unerwähnt blieb) haben den Massenmord an Juden in polnischen Vernichtungslagern durchgeführt. Das schürte zunehmend Missverständnisse und legte den Gedanken nahe, Polen als Staat und Nation sei an den deutschen Verbrechen beteiligt gewesen. Selbst in Israel wurde diese Umschreibung zunehmend gängig.

Die jüdische und die polnische Fahne wehen über dem kämpfenden Warschauer Ghetto. Briefmarke der Israelischen Post zum 70. Jahrestrag des Aufstandes im Warschauer Ghetto 2013.

Hinzu kamen Filme, wie der ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“, in dem die deutschen Hauptfiguren sich zwar an dem verbrecherischen Krieg beteiligen, stets jedoch von Zweifeln, Traumata, Gewissenkonflikten und Kummer geplagt werden. Die polnische Bevölkerung hingegen, egal ob Partisanen oder Zivilisten, besteht in dem Film ausnahmslos aus glühenden, primitiven Judenhassern, die geradezu mit Wonne Juden denunzieren, verfolgen und morden.

Geste des Zorns

Den Ideengebern der Gesetzesnovelle ging es darum, Behauptungen unter Strafe zu stellen, die die polnische Nation als Ganzes und den polnischen Staat als Beteiligte und Mitschuldige am Holocaust darstellen. Anders als im Falle Kroatiens, der Slowakei, Ungarns, Rumäniens, des Vichy-Frankreichs und einiger anderer, die mit Deutschland kollaborierten und ihre jüdische Bevölkerung „von Amts wegen“ den Deutschen zur Vernichtung „freigaben“, gab es im besetzten Polen keine staatlichen polnischen Strukturen.

Ein Teil seiner Gebiete (Pommerellen, Groβpolen, das östliche Oberschlesien) wurden direkt an das Deutsche Reich angeschlossen, der Rest in eine deutsche Kolonie namens Generalgouvernement verwandelt. Es gab keine polnische Regierung auf diesen Gebieten (nur eine Regierung im Exil in London), keine Verwaltung, keine polnische Armee. Die Deutschen regierten direkt.

Nicht gedacht war die Gesetzesnovelle für Einzelpersonen, die Juden denunziert oder erpresst hatten, einen Abschaum der Gesellschaft, der unter den grausamen Bedingungen der deutsche Besatzung auch in Polen in Erscheinung trat.

Als Vorlage dienten ähnliche Gesetze im Ausland, allen voran das israelische, aber auch das deutsche Gesetz über die Auschwitz-Lüge. Doch die Fassung des Artikels 55 A barg Probleme.

Zum einen hätte ein Staatsanwalt, bevor er eine Anklageschrift verfassen konnte, entscheiden müssen, ob die Tatsache, dass jemand faktenwidrig der polnischen Nation oder dem polnischen Staat die Mitverantwortung an den Verbrechen des Dritten Reiches zuschrieb Kunst war, beziehungsweise wissenschaftlichen Charakter hatte.

Zum anderen wäre die polnische Strafverfolgung solcher Delikte im Ausland ohnehin kaum möglich gewesen.

Das Gesetz war strafrechtlich weitgehend wirkungslos, von vorneherein eine symbolische Geste des Zorns einer Nation, die im Krieg furchtbares ausgestanden hat und jetzt dabei zusehen musste, wie sie selbst immer mehr auf die Anklagebank geriet. Der Sturm echter und gespielter Entrüstung im Ausland, den die Novelle auslöste überstieg jedoch alle Erwartungen und Befürchtungen.

Die Gesetzesänderung erwies sich unter diesen Umständen sehr schnell als kontraproduktiv. Um Polen seine Machtlosigkeit vor Augen zu führen, begannen Internet-Nutzer um die Wette Begriffe wie „polish death camps“ oder „polish Holocaust“ zu posten.

Die jüdisch-amerikanische Ruderman Stiftung drehte mit professionellen Schauspielern einen für Polen dermaβen beleidigenden Spot und stellte ihn ins Netz, dass sogar israelische Behörden sich von ihm entschieden distanzierten (hier zu sehen).

Polen konterte mit einem Spot, in dem Ministerpräsident Mateusz Morawiecki die polnische Position darlegte (hier zu sehen).

Die Kuh musste vom Eis

Schnell wurde klar, dass dieser verheerende Konflikt beigelegt werden muss und zwar so, dass beide Parteien ihr Gesicht wahren. Gut zwei Monate lang verhandelten Israelis und Polen unter strengster Geheimhaltung darüber. Die Öffentlichkeit erfuhr nichts davon, während sich drauβen die Auseinandersetzung langsam beruhigte.

Gemeinsame Briefmarkenausgabe der Polnischen und der Israelischen Post von 2009 zu Ehren von Berek Joselewicz (1764-1809), jüdischer Oberst polnischer Truppen und Kämpfer um die Freiheit Polens.

Um ein Ausbrechen neuer Kontroversen zu vermeiden, wurde vertraulich ein Überraschungscoup vereinbart. In Warschau rief der Parlamentspräsident für Dienstag, den 27. Juni 2018 eine auβerordentliche Sitzung ein. Dürrehilfen für Bauern und ein dringendes Mülldeponiengesetz, das der Abfallkriminalität das Handwerk legen soll, standen ursprünglich auf der Tagesordnung.

Erst bei Beginn der Sitzung wurde die Streichung des umstrittenen Artikels 55 A auf die Tagesordnung gebracht. In einer Blitzaktion, unter lautstarken Protesten der Opposition, die sich übergangen fühlte, paukte die Regierungsmehrheit in zwei Stunden die drei Lesungen der Gesetzesänderung durch. Noch am selben Tag willigte die obere Kammer des Parlaments, der Senat ein. Am Abend unterschrieb der Staatspräsident die Gesetzesnovelle.

Kurz danach verkündeten der polnische und der israelische Ministerpräsident ihre gemeinsame Erklärung in einer öffentlichen Video-Konferenzschaltung. Die Erklärung wurde zumeist mit Genugtuung aufgenommen, aber auf beiden Seiten gibt es auch Kritik.

In Polen kommt sie aus der rechtesten Ecke des Regierungslagers. Ministerpräsident Morawiecki trat ihr in seinen leidenschaftlichen Reden vor den beiden Häusern des Parlaments entgegen. Jarosłw Kaczyński verteidigte die Gesetzesänderung und erläuterte das Vorgehen in zwei ausführlichen Interviews. Die Proteste, ohnehin nicht allzu lautstark, haben sich schnell beruhigt.

Gemeinsame Briefmarkenausgabe der Polnischen und der Israelischen Post von 2018. Polen – 100 Jahre Wiederherstellung der Unabhängigkeit. Israel – 70 Jahre Unabhängigkeit.

In Israel ist die Kritik um einiges lauter und harscher. Der bekannte Holocaustforscher Prof. Yehuda Bauer rief in die Rundfunkmikrofone: „Die gemeinsame Erklärung, das ist Verrat, Verrat, Verrat!“

Das Wichtigste für Polen

Aus polnischer Sicht beinhaltet die gemeinsame Erklärung mit Israel wichtige Feststellungen, die mehr bewirken als die rückgängig gemachte Gesetzesnovelle, die faktenwidrige Behauptungen zu Polen und dem Holocaust unter Strafe stellte. Hier die Übersicht.

1. „Wir waren uns stets einig darin, dass Formulierungen wie „polnische Konzentrationslager” oder „polnische Todeslager“ grob falsch sind und die deutsche Verantwortung für die Errichtung dieser Lager mindern.“

2. „Die Regierung der Republik Polen im Exil war während des Krieges bestrebt diese Nazi-Aktivitäten zu bremsen, indem sie Versuche unternommen hat das Wissen über das systematische Morden an polnischen Juden unter den westlichen Alliierten zu verbreiten.“

Die offiziellen Protestnoten der polnischen Exil-Regierung, die Berichte über die Massenmorde an Juden, die die Exilregierung vom polnischen Untergrund erhielt, auch die mehrmals geäuβerten Vorschläge wenigstens die Zufahrtswege nach Auschwitz zu bombardieren, fanden bei den Briten und Amerikanern kein Gehör.

3. „Wir sehen ein und verurteilen jeden individuellen Fall der Grausamkeit gegen Juden, der von polnischen Bürgern während des Zweiten Weltkriegs begangen wurde.“

Individuelle Fälle dieser Art, die es zweifelsohne gab, werden hier genannt und eindeutig negativ beurteilt.

4. „Mit Stolz erinnern wir uns an heldenhafte Taten vieler Polen, insbesondere der Gerechten unter den Völkern, die unter Lebensgefahr Juden retteten.“

Unter den grausamen Bedingungen der deutschen Besatzung (auf Hilfe für Juden stand sofortige Erschieβung der Helfer und ihrer Familien, (siehe das Schicksal der Familie Ulma) wusste jeder der half, dass sein eigenes Leben auf dem Spiel stand. Etwa siebentausend Polen haben den Titel des Gerechten unter den Völkern verliehen bekommen. Der schwedische Forscher Gunnar Paulsson schätzt, dass etwa 100.000 Polen den Titel des Gerechten unter den Völkern verdient haben.

5. „Wir sind nicht einverstanden damit, dass Polen oder die polnische Nation als Ganzes verantwortlich gemacht werden für die Grausamkeiten, die die Nazis und ihre Kollaborateure aus verschiedenen Ländern begangen haben.“

Den polnischen Staat, den es ja nicht gab, und die polnische Nation als Ganzes trifft keine Schuld am Holocaust.

6. „Traurige Wahrheit ist leider, dass einige Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, damals ihr düsterstes Antlitz offenbart haben.“

Diese Feststellung wird ausgelegt, als ein Hinweis auf die auch in Israel hochkontrovers diskutierte jüdische Kollaboration beim Holocaust (jüdische Ghetto-Ordnungsdienste, Judenräte, Denunziationen von Juden durch Juden usw.), worauf schon Hannah Arendt in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen“ schonungslos hingewiesen hat.

7. „Wir wissen die Tatsache zu schätzen, dass die Behörden des polnischen Untergrundstaates, welcher der polnischen Regierung im Exil unterstand, den Mechanismus eines Hilfs- und Unterstützungssystems für Menschen jüdischer Herkunft geschaffen haben, und dass die Gerichte des Untergrundstaates, gegen Polen für die Zusammenarbeit mit deutschen Besatzungsbehörden, darunter auch für die Denunziation von Juden, Strafurteile gefällt haben.“

Die Anerkennung der Bemühungen der polnischen Regierung im Exil und der ihr unterstellten Strukturen des polnischen Untergrundstaates bei der Rettung von Juden hat für Polen einen hohen Stellenwert.

8. „Beide Regierungen verurteilen mit aller Entschiedenheit jegliche Formen des Antisemitismus und bringen ihre Bereitschaft zum Ausdruck ihn in allen seinen Erscheinungsformen zu bekämpfen. Beide Regierungen lehnen auch den Antipolonismus und andere negative nationale Klischees ab.“

Die Erwähnung des Antipolonismus neben dem Antisemitismus dürfte eine Reaktion auf Filme, wie die der Rudermann-Stiftung, aber auch maβlos antipolnische, oft von Hass und Verachtung für Polen nur so strotzende Äuβerungen in Israel sein.

Mit einem Satz: Vertreter zweier Völker, die im Zweiten Weltkrieg furchtbares durchmachen mussten, haben die historische Wahrheit verbrieft. Ob man diesem Neuanfang trauen darf?

Gemeinsame Erklärung der Ministerpräsidenten der Republik Polen und des Staates Israel vom 27. Juni 2018. Wortlaut.

„Erstens

Seit dreißig Jahren beruhen die Beziehungen zwischen unseren Ländern und Völkern auf dem festen Fundament des Vertrauens und Verstehens. Polen und Israel sind füreinander ergebene Freunde und Partner, die auf internationaler Bühne eng zusammenarbeiten, auch auf dem Gebiet der Erinnerungswahrung und des Lehrens über den Holocaust. Diese Zusammenarbeit verläuft im Geiste gegenseitiger Wertschätzung für die jeweilige Identität und geschichtliche Sensibilität, auch in Bezug auf die tragischsten Perioden unserer Geschichte.

Zweitens

Nach dem Gespräch zwischen den Ministerpräsidenten Netanjahu und Morawiecki begrüßt Israel die Entscheidung der Regierung der Republik Polen, eine offizielle polnische Kontaktgruppe für den Dialog mit israelischen Partnern über historische Fragen bezüglich des Holocaust zu berufen.

Es liegt auf der Hand, dass der Holocaust ein beispielloses Verbrechen war, das Nazideutschland am jüdischen Volk und allen Polen jüdischer Herkunft begangen hat. Polen hatte stets vollstes Verständnis für die Bedeutung des Holocaust, des tragischsten Abschnitts in der Geschichte des jüdischen Volkes.

Drittens

Wir sind der Meinung, dass es eine gemeinsame Verantwortung für die Freiheit der Forschung gibt, für die Förderung des Verständnisses und der Erinnerungsbewahrung an die Geschichte des Holocaust.

Wir waren uns stets einig darin, dass Formulierungen wie „polnische Konzentrationslager” oder „polnische Todeslager“ grob falsch seien und die deutsche Verantwortung für die Errichtung dieser Lager mindern.

Die Regierung der Republik Polen im Exil war während des Krieges bestrebt diese Nazi-Aktivitäten zu bremsen, indem sie Versuche unternommen hat das Wissen über das systematische Morden an polnischen Juden unter den westlichen Alliierten zu verbreiten.

Wir sehen ein und verurteilen jeden individuellen Fall der Grausamkeit gegen Juden, der von polnischen Bürgern während des Zweiten Weltkriegs begangen wurde.

Mit Stolz erinnern wir uns an heldenhafte Taten vieler Polen, insbesondere der Gerechten unter den Völkern, die unter Lebensgefahr Juden retteten.

Viertens

Wir sind nicht einverstanden damit, dass Polen oder die polnische Nation als Ganzes verantwortlich gemacht werden für die Grausamkeiten, die die Nazis und ihre Kollaborateure aus verschiedenen Ländern begangen haben. Traurige Wahrheit ist leider, dass einige Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, damals ihr düsterstes Antlitz offenbart haben.

Wir wissen die Tatsache zu schätzen, dass die Behörden des polnischen Untergrundstaates, welche der polnischen Regierung im Exil unterstanden, den Mechanismus eines Hilfs- und Unterstützungssystems für Menschen jüdischer Herkunft geschaffen haben, und, dass die Gerichte des Untergrundstaates gegen Polen bei einer Zusammenarbeit mit deutschen Besatzungsbehörden, darunter auch für die Denunziation von Juden, Strafurteile gefällt haben.

Fünftens

Wir sprechen uns aus für freie Meinungsäuβerung in Sachen Geschichte, für die Freiheit der Erforschung aller Aspekte des Holocaust, so dass diese ohne jede Furcht vor rechtlichen Hindernissen geführt werden kann. Dies gilt nicht nur für Studenten, Lehrer, Forscher und Journalisten, sondern zweifellos auch für die Überlebenden des Holocaust und ihre Familien. Sie werden keinerlei strafrechtlichen Verantwortung unterliegen, weil sie von ihrer Meinungs- und Forschungsfreiheit in Bezug auf den Holocaust Gebrauch gemacht haben. Kein Gesetz kann und wird das ändern.

Sechstens

Beide Regierungen verurteilen mit aller Entschiedenheit jegliche Formen des Antisemitismus und bringen ihre Bereitschaft zum Ausdruck ihn in allen seinen Erscheinungsformen zu bekämpfen. Beide Regierungen lehnen auch den Antipolonismus und andere negative nationale Klischees ab.

Die Regierungen Polens und Israels rufen dazu auf in der öffentlichen Debatte zum ruhigen Dialog zurückzukehren, dem die gegenseitige Achtung zugrunde liegen sollte.“

Auch lesenswert:

„Familie Ulma? Falscher Mythos, schämt euch, ihr Polen!“

„Kaczyński und die Juden“

„Junge Juden schauen auf Polen…“

RdP




Junge Juden schauen auf Polen…

… oder: was israelische Schülerreisen an die Orte deutscher Verbrechen anrichten.

Zehntausende junge Israelis begeben sich jedes Jahr auf die Spuren des Holocaust. Die „Reise nach Polen“ („Journey to Poland“) dauert eine Woche lang, führt durch mehrere Vernichtungslager, ehemalige Ghettogelände, beinhaltet zahlreiche Gedenkzeremonien. Polnische Verantwortliche und kritische israelische Soziologen warnen seit langem: die Reisen zu den Orten deutscher Verbrechen erzeugen und schüren eine tiefe Feindseligkeit zu Polen. Bis jetzt ist dies ein Rufen in der Wüste.

Die ersten zweihundert israelischen Schüler kamen 1988, fast am Ende der kommunistischen Ära. Gut zwei Jahrzehnte lang herrschte zwischen den Ländern des Ostblocks und Israel Funkstille. Die diplomatischen Beziehungen waren seit dem Sechstagekrieg von 1967, auf Geheiβ der Sowjets, abgebrochen. Nun begann sich eine Normalisierung einzustellen.

Was im Jaruzelski-Polen der späten Achtziger als ein Rinnsal begann, verwandelte sich nach 1989 in einen reiβenden Besucherstrom. Für 2018 werden in Polen gut vierzigtausend junge Israelis erwartet. Kommt nichts Unvorhergesehenes dazwischen, dürften es 2020 mehr als fünfzigtausend sein. Bis Anfang 2018 haben gut vierhunderttausend junge Israelis Polen besucht, die meisten von ihnen felsenfest davon überzeugt, sie seien im Feindesland gewesen.

Israelische Jugendliche am Eisenbahngleis in Birkenau.

Nationalpolitische Pilgerfahrten

Der Soziologe, Prof. Jackie Feldman von der israelischen Ben-Gurion-Universität hat bereits 2008 eine Studie dazu verfasst: „Above the Death Pits, Beneath the Flag: Youth Voyages to Poland and the Performance of Israeli National Identity“ („Über den Totengruben, unter der Flagge: Jugendreisen nach Polen und die Darstellung der israelischen nationalen Identität“).

Prof. Jackie Feldman.

Die israelischen Schülerfahrten nach Polen, so Feldman, begannen Ende der achtziger Jahre als die bisherigen wichtigsten Autoritäten der israelischen Gesellschaft, die Kämpfer für die Gründung Israels aus den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts und die ersten Siedler (Kibbuznikim) nach und nach verstarben. Im Zeitalter des Wohlstandes und einer immer hemmungsloser um sich greifenden Massenkultur begann das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl in der jungen Generation zu bröckeln.

„In Israel ist eine gehisste israelische Fahne für mich ein Symbol der Rechten. In Polen hingegen ist sie am richtigen Ort und sie vereint uns wirklich.“

Oded Cohen, ein hoher Beamter im israelischen Bildungsministerium, hatte damals die rettende Idee. „Auch wenn wir in sozialen, nationalen, ideologischen Angelegenheiten gespalten sind, in Auschwitz, Treblinka, Majdanek geht diese Spaltung unter. Dort sind wir ein Volk, das Volk der Ermordeten!“

Diese Strategie ist ganz und gar aufgegangen. Gut ein Vierteljahrhundert nach den ersten „Reisen nach Polen“ zitiert Jackie Feldman in seiner Untersuchung eine junge Israelin, es ist eine Stimme von Tausenden: „In Israel ist eine gehisste israelische Fahne für mich ein Symbol der Rechten. In Polen hingegen ist sie am richtigen Ort und sie vereint uns wirklich. Das, worüber wir zu Hause streiten, erscheint hier völlig zweitrangig. Das Wichtigste ist, dass wir den Krieg gewonnen haben, dass wir leben, dass wir ein eigenes freies Land besitzen.“

Der israelische Journalist Joseph Croitoru schreibt, dass man mittlerweile von einem Massenphänomen sprechen kann, „der Begriff nationalpolitische Pilgerfahrt wäre nicht unangebracht; die Vernichtungslager sind längst zum Ort kollektiver Identitätsfindung geworden.“

Vor der Reise nach Polen. Das Grauen der Vernichtungslager. Dokumentarfilm-Vorführung in Yad Vashem.

Die „Journeys to Poland“ sind mittlerweile fester Bestandteil des Unterrichtprogramms an israelischen Schulen und werden vom Staat bezuschusst. Trotzdem beträgt der Eigenanteil am Reisepreis pro Schüler immer noch etwa 1.400 US-Dollar. Es fahren also überwiegend Kinder aus besser situierten Familien mit, die später meistens in die gebildete Schicht des Landes aufrücken. Auch das vernimmt man in Polen mit Sorge.

Warum, das zeigt der Film „Defamation“ („Diffamierung“) des israelischen Dokumentarfilmers Yoav Shamir von 2009. Shamir hatte eine Gruppe israelischer Jugendlicher auf ihrer Reise nach Polen begleitet.

(Den Link zu dem Film „Defamation“, mit englischen und polnischen Untertiteln, finden Sie am Ende dieses Beitrags.)

Bevor sie sich nach Polen aufmachen, werden die Schüler in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem auf die Reise vorbereitet. Dies geschieht, wie es auch Joseph Croitoru beschreibt: „Die Schüler (…) bekommen eingeschärft, dass für Juden Israel der einzig sichere Ort auf der Welt sei und dass der Antisemitismus“ auf der ganzen Welt geradezu wüte. „Die Bewohner einer von Feinden umzingelten Enklave sollen in dem Glauben gefestigt werden, auf einen einsamen Planeten, Israel, zu leben“, so Jackie Feldman.

Alle diese noch halben Kinder, Mädchen ebenso wie Jungs, werden schon bald zum Wehrdienst eingezogen. „Der Antisemitismus existiert weiter. (…) Auch ihr als Juden, die nächste Generation, die in die Armee eingezogen wird, werdet diesem Aspekt eures Lebens die Stirn bieten müssen“, sagt im Film die Instrukteurin in Yad Vashem.

Die Kampfmoral der zukünftigen Soldaten zu festigen, ist ein erklärtes Ziel der „Journeys to Poland“. Prof. Adi Ophir von der Universität in Tel Aviv spricht von eindeutig zielorientierten Reisen mit einem quasi-religiösen Charakter. Die israelische Soziologin Hava Schechter stellte eine deutliche Radikalisierung der jugendlichen Teilnehmer nach der Rückkehr aus Polen fest.

Unmittelbar vor dem Abflug nach Polen sprechen die Schüler in Shamirs Dokumentation in die Kamera:

„Wir werden in dem Geist erzogen zu wissen, dass wir verhasst sind.“

„Alle wissen, dass die Juden verhasst sind. Wir werden so erzogen.“

Die Reise „wird mich als Israelin, als Zionistin, als Jüdin stärken. Ich hege keine Zweifel daran.“

Ihr werdet sehen, die Polen mögen euch nicht

Die Ausbilderin in Yad Vashem gibt in dem Film den Jugendlichen folgenden Hinweis mit auf den Weg nach Polen: „Es werden Leute vom Sicherheitsdienst bei euch sein, damit ihr keine Berührung mit der einheimischen Bevölkerung habt. Ihr werdet auf Menschen treffen, die euch nicht mögen. Ihr werdet sehen, dass sie euch nicht mögen. Sogar heute mögen sie euch nicht.“

„Die Israelis“, so Croitoru, „lernen, dass die Polen Antisemiten seien; ja Polen sei irgendwie für den Holocaust mitverantwortlich.“ Der israelische Historiker, Prof. Moshe Zimmermann meinte dazu: „Sie setzen das Gebiet, auf dem während des Zweiten Weltkrieges die Deutschen einige Millionen Juden ermordet haben, mit seinen Bewohnern und dem polnischen Staat gleich. So verwandeln sich die Polen und ihr Land in ihren Augen in Täter, die nicht minder schuldig sind als die Deutschen.“

Im Jahr 2008 führte Zimmermann eine breit angelegte Umfrage unter israelischen Gymnasialschülern durch. Gut ein Drittel von ihnen stand zu der Aussage: „Die Polen waren während des Zweiten Weltkrieges die Haupttäter. Die deutschen haben nur die Eisenbahnwaggons gestellt.“

Auf der Reise werden die Jugendlichen immer wieder dringend darauf hingewiesen, sie seien in einem für sie gefährlichen Land unterwegs. Diese Warnungen und das bis an die Grenze des Erträglichen mit Terminen überfrachtete Programm helfen sehr, die oft gerade pubertierenden Schüler im Zaum zu halten.

Israelischer Sicherheitsbeamter, Schützlinge in Lublin. Szene aus der Dokumentation „Defamation“.

Im feindlichen Polen. Szene 1.

Wie sich die Warnungen vor den Polen auswirken, wird im Film deutlich.

In Lublin geht eines der Mädchen auf drei auf der Bank sitzende ältere Männer zu. Sie verstehen ihre höfliche Anrede „How are you“ nicht. Einer der Männer sagt: „Israel? Dann sage, dass Du aus Israel bist und rede nicht mit uns auf Chinesisch“. Er ging offensichtlich davon aus, dass, wie einst in Polen, alle Juden Polnisch sprechen oder wenigstens verstehen. Das Mädchen und ihre Freundin verstehen ihn wiederum nicht und gehen, wie selbstverständlich, davon aus, der Mann rede schlecht über Israel, habe sie gar als „Nutten“ beschimpft. Der Sicherheitsbeamte eilt herbei und bringt die beiden zurück zur Gruppe.

Kurz darauf, auf dem Lagergelände von Majdanek, spricht der Filmemacher Shamir eines der beiden Mädchen an und zeigt auf einen mitlaufenden Mann:

„Weiβt Du wer das ist?“

„Es ist ein Mann vom Sicherheitsdienst.“

„Was macht er hier?“

„Er beschützt uns vor Antisemitismus, damit uns niemand etwas antut.“

„Könnte so etwas passieren“, fragt der Reporter.

„Ja, heute früh haben wir drei alte Männer auf einer Bank gesehen. Als sie hörten, dass wir aus Israel kommen, haben sie dumm geguckt. Sie haben uns „Affen“ und „Esel“ geschimpft. Fast hätten wir uns mit ihnen geprügelt.“

„Sie haben nichts dergleichen gesagt“, erwidert der Journalist.

„Nein?“, „Nein!“, „Doch.“, „Nein!“

„Das ist zu unserer Sicherheit. Wir dürfen nicht rausgehen.“ Abends im Hotelzimmer in Lublin. Szene aus der Dokumentation „Defamation“.

Im feindlichen Polen. Szene 2

Abends im Lubliner Hotel besuchte Shamir zwei junge Israelis auf ihrem Zimmer.

Shamir: „Warum geht ihr nirgendwo hin?“

Der Junge: „Wir sind müde.“

Das Mädchen: „Ich bin nicht müde. Ich würde gerne ausgehen. In Polen gibt es Neonazis. Sie sind eine Bedrohung. Wir sind in Gefahr. Sie könnten an unsere Tür klopfen, uns irgendetwas durchs Fenster ins Zimmer reinwerfen.“

Der Junge: „Das haben sie uns beim Mittagessen gesagt, sie warnten uns, wir seien in keinem freundlich gestimmten Land. Wir sind in einem verhältnismäβig feindseligen Land. Es gibt hier Demonstrationen. Sie könnten uns mit Steinen bewerfen. Vor zwei Wochen sind betrunkene Neonazis eingedrungen. Sie hämmerten gegen die Türen, suchten nach Juden. Das sagte man uns beim Mittagessen.“

Shamir: „Wer hat das gesagt?“

Der Junge: „Der Mann von Sicherheitsdienst. Er ist wahnsinnig! Wir haben gegessen, als er plötzlich verkündete, er habe uns etwas zu sagen und begann von Neonazis zu reden. Wir waren nicht fähig weiter zu essen.“

Das Mädchen: „Das ist zu unserer Sicherheit. Wir dürfen nicht rausgehen. Gleich nach dem Abendessen sollen wir auf unsere Zimmer gehen.“

Shamir: „Warum?“

Das Mädchen: „Weil sie Antisemiten sind.“

Der Junge; „Sie mögen uns nicht.“

Das Mädchen: „Eben.“

Der Junge: „Die Soldaten am Flughafen laufen wie Nazis, steif. Sie haben einen bedrohlichen Gesichtsausdruck. Diejenigen, die unsere Pässe abgestempelt haben, sahen wie SS-Offiziere aus.“

In Wirklichkeit gab es weder 2009 in Lublin, als der Film gedreht wurde, noch vorher oder nachher irgendwo in Polen einen Überfall auf ein von israelischen Jugendlichen bewohntes Hotel.

Die Bewacher schreiten sehr rüde ein

Orthodoxe Juden in Kraków.

Abgesehen von der polnischen Verkehrspolizei, gibt es keine besonderen Sicherheitsmaβnahmen wenn Abertausende von orthodoxen Juden aus der ganzen Welt jedes Jahr nach Leżajsk (200 Kilometer östlich von Kraków) und Lelów (am Nordrand Oberschlesiens) pilgern, um an den Grabstätten der chassidischen Zaddikim Elimelech bzw. Dawid Biderman ihre ekstatischen, inbrünstigen Gebete zu zelebrieren.

Orthodoxe Juden in Lelów.

Bärtig, mit langen Schläfenlocken, bekleidet mit weiβen Strümpfen, schwarzen Kaftanen, exotischen Fellhüten, nutzen sie die letzten Stunden vor dem Rückflug nach Tel Aviv oder New York, um durch die Straβen der Krakauer Altstadt oder des ehemaligen jüdischen Stadtteils Kazimierz zu schlendern. Zwischenfälle gibt es so gut wie nie.

Die israelischen Schülergruppen hingegen kommen mit einem, manchmal zwei Sicherheitsbeamten pro Bus. Sie, nicht die mitreisenden Lehrer, bestimmen das Geschehen. Sie sitzen vorne, geben immer wieder Sicherheitshinweise durchs Mikrophon, entscheiden wo angehalten wird. Überall in Polen lauern angeblich Gefahren, die künstlich erzeugte Atmosphäre der permanenten Bedrohung lastet wie Blei auf den Reisen.

In Zivil, jedoch schwer bewaffnet und mit Diplomatenpässen ausgestattet, schreiten die Bewacher sehr rüde ein, wenn sie nur den geringsten Verdacht schöpfen, sind schnell mit der Waffe zur Hand. Schüsse sind bis jetzt zum Glück noch nicht gefallen, zu Handgreiflichkeiten jedoch kommt es immer wieder.

Mike Urbaniak, Redakteur beim Internetportal „Forum der Polnischen Juden“, war Zeuge, wie die Sicherheitsleute einen jungen polnischen Juden zusammenschlugen, als er in der Remu-Synagoge im Krakauer Stadtteil Kazimierz am Sabbat beten wollte und fragte, warum er nicht rein darf.

Beata W., einer Angestellten, die in Kazimierz wohnt, entrissen Sicherheitskräfte die Handtasche und durchwühlten sie.

Der Italiener Roberto L., mit einer Polin verheiratet, ging in Kazimierz verärgert zu einem Bus, der unter seinen Fenstern parkte, und bat den Fahrer endlich den Motor abzustellen. Die Bodyguards legten ihm Handschellen an, traktierten ihn mit Fuβtritten und lieβen ihn so zurück, bis die Polizei ihn von den Handschellen befreite.

Bei der Aufklärung des Falls hieβ es, die Busfahrer müssten den Motor laufen lassen, um eine eventuell erforderliche Flucht zu beschleunigen. Auβerdem müsse die Kaffeemaschine an bleiben, damit die Jugendlichen jederzeit heiβen Kaffee bekommen könnten. Zwar gibt es in Kazimierz viele Lokale, aber dort dürfen sie aus Sicherheitsgründen nicht reingehen.

Die israelische Botschaft in Warschau äuβert nach jedem solchen Vorfall ihr Bedauern, aber es ändert sich nichts, denn, so wollen es die israelischen Behörden und vor allem, so heiβt es immer wieder, die Eltern.

Maciej Kozłowski, ehemaliger polnischer Botschafter in Tel Aviv, später Bevollmächtigter des polnischen Auβenministeriums für die Kontakte mit Israel, kennt das Thema gut:

„Wir haben darüber viele Male mit den Israelis gesprochen und vorgeschlagen stufenweise die israelischen Sicherheitsbeamten durch polnische zu ersetzen. Die Israelis blieben unnachgiebig. Das geschah eindeutig auf Druck der mächtigen Sicherheits- und Wachdienstlobby. Sie verdienen an den ausgiebigen Sicherheitsmaβnahmen bei den Reisen nach Polen viel Geld“, so Kozłowski.

Allein die mitreisenden Aufpasser bekommen gut zweihundert Dollar pro Tag plus Spesen.

„Wir erreichen Majdanek“

„Die Reise führt durch zwei Parallelwelten”, so Prof. Jackie Feldman. „Die innere Welt ist ein Stück Israel fern von daheim, umschrieben mit Begriffen wie »Sicherheit«, »Ablenkung«, »Herumtollen«, »israelische Musik«, »wir«, »Israel«. Im Bus, wo oft die Vorhänge während der Fahrt zugezogen sind, passiert alles, was zu einem Schulausflug heutzutage gehört. Es dröhnt die Musik, es wird gesungen, gegrölt, geschmust, geschlafen, Chips gegessen, Cola getrunken“

Ausgelassene israelische Jugendliche auf dem Weg nach Majdanek. Szene aus der Dokumentation „Defamation“.

Im Filmbericht von Yoav Shamir tanzen und singen die Schüler im Bus bis der Begleiter zum Mikrophon greift: “Ich spreche zu euch! Schaut mich an! Ich will den Ernst in euren Augen sehen. Wir sind an der nächsten Etappe angekommen und ich will, dass ihr ernst seid. Wir erreichen Majdanek.“

Prof. Jackie Feldman weiter: „Die jungen Leute verwandeln sich sofort in ernste Vertreter Israels, sobald sie die äuβere Welt, die sich auβerhalb des Busses und des Hotels erstreckt, beschreiten. Sie wird umschrieben mit Begriffen, wie »Fremdheit im fremden Land«, »ekelhaftes polnisches Essen«, »keine Musik«, »Bedrohung«, »Trauer«, »Tod«, »Israel repräsentieren«, »sie, die Fremden«.“ Polen verkörpert nur Negatives.

Druck macht sich Luft

„Wir fahren nach Polen, nur um an den Gräbern unserer Zaddikim zu beten, Todeslager und Ruinen der Synagogen zu besuchen. Das Programm sieht keine Freizeit vor für Geldverschwendung und Shopping“, heiβt es in einer Anleitung für Teilnehmer. Genauer gesagt, es gibt überhaupt keine Freizeit.

Herumtobende junge Israelis im Hotel in Lublin. Szene aus der Dokumentation „Defamation“.

Von früh bis spät dem Grauen ausgesetzt, ermuntert dazu in Rollenspielen Szenen aus dem Holocaust nachzustellen, werden die Jugendlichen einem enormen psychischen Druck ausgesetzt, der sich vor Ort oft in Weinkrämpfen entlädt.

Aggressionen werden abends immer wieder an Hoteleinrichtungen abreagiert. Die Zerstörungswut mancher Gruppen ist sehr groβ. Da sich die Veranstalter zumeist nicht zuständig fühlten und einfach abreisten, verlangen die Hotels seit geraumer Zeit hohe Kautionen für die Behebung eventuell entstandener Schäden oder sie geben vor ausgebucht zu sein.

Irgendwo aber müssen sich die Jugendlichen austoben. Beruhigungsversuche des Hotelpersonals und der israelischen Begleiter sind meistens vergebens. Im Film von Yoav Shamir versucht es der polnische Portier. Sein Argument, andere Hotelgäste werden am nächsten Morgen ihr Geld zurückverlangen, weil sie nicht schlafen können, und das Scheuchen der Jugendlichen in ihre Zimmer wirken meistens nur für wenige Minuten. Dann geht das Toben aufs Neue los bis spät in die Nacht. Aber, seien wir ehrlich, wäre es anders wenn man zwei, drei Busladungen polnischer oder deutscher Jugendlicher in einem Hotel einsperren würde?

Leere Kulissen und der wahre Holocaust

Auf der Reise durch Polen fahren die Gruppen Orte an, die von der tausendjährigen Anwesenheit der Juden in Polen zeugen. Die meisten von ihnen haben und brauchten sich nicht zu assimilieren. Sie lebten in ihrer zumeist orthodoxen jüdischen Welt der Schtetl, der Synagogen und Friedhöfe. Es sind Zeugnisse eines zumeist friedlichen, was nicht heiβt immer konfliktlosen, jahrhundertelangen Neben- und Miteinanders von Juden und Polen, doch das ist bei den Reisen kein Thema.

Junge Israelis auf einem jüdischen Friedhof in Polen,

In keinem Land der Welt war die Zahl der Juden so groβ wie in Polen. Sie machten 1938 zehn Prozent der Bevölkerung aus (in Deutschland knapp 0,8 Prozent).

Zu Hause befinden sich die israelischen Behörden in einem Dauerkonflikt mit den streng orthodoxen Charedim, die die zionistische Weltanschauung und teilweise sogar den Staat Israel als solchen ablehnen, den Militärdienst verweigern. „In Polen“, so Prof. Jackie Feldman, „sind sie keine Gefahr für die zionistische Staatsideologie, weil sie nicht mehr unter den Lebenden weilen.“

Den meisten Jugendlichen, das erwähnen die israelischen Forscher, kommen die materiellen Zeugnisse der kulturellen Blüte des jüdischen Lebens in Polen, wie leere Filmkulissen vor. Umso mehr, als das streng orthodoxe Judentum auch zu Hause nicht ihre Welt ist.

In Polen würde man gerne diesen Aspekt gleichwertig mit dem Holocaust in den Mittelpunkt der Reisen gestellt sehen, hofft auf die verbindende Botschaft, die davon ausgeht: Polen Jahrhunderte lang ein Zuhause für Juden, wo ihre Gemeinden eine Autonomie genossen, wie sie woanders in Europa undenkbar gewesen wäre. Es bedurfte einer langen Zeit, um zu begreifen, dass das erklärte Ziel der Reisen ein ganz anderes ist.

Im ehemaligen Vernichtungslager Majdanek angekommen, gibt eines der Mädchen in Yoav Shamirs Film fast schon erwartungsvoll von sich: „Jetzt erst beginnt die richtige Reise. Jetzt werden wir die wahren Dinge sehen. Bis jetzt haben wir Synagogen und solche Dinge angeguckt. Jetzt werden wir sehen, wie sie vernichtet wurden. Die Krematorien. Alles. Das wird schwierig sein.“

Lesenswert auch:

„Kaczyński und die Juden“ , „Das Schicksal der Familie Ulma“ , „Familie Ulma. Falscher Mythos. Schämt euch ihr Polen“ , „Holocaust. Polen. Historische Wahrheit. Bewegende Ansprache  von MP Mateusz Morawiecki. Video auf Englisch“.

 Israelische Jugendliche unterwegs in Polen. Film „Defamation“ ,    Teil 1 (ca. 10 Minuten). 

Israelische Jugendliche unterwegs in Polen. Film „Defamation“ ,    Teil 2  (ca. 10 Minuten). 

© RdP




Migranten aufnehmen? Bedenken aus Polen zum Lesen empfohlen

Sicherheit für das Land. Hilfe vor Ort. Aus den Fehlern anderer lernen.

Der Reporter und Publizist Witold Gadowski gilt als einer der besten polnischen Kenner des Nahen Ostens auf der konservativen Seite des politischen Spektrums. Ob man sie nun teilt oder nicht, es ist aufschlussreich seine Beobachtungen und Einschätzungen kennenzulernen, denn sie machen die Einstellung der meisten Polen nachvollziehbar und bilden zugleich die Grundlage für die offizielle Haltung Warschaus in dieser Frage.

Das Gespräch erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk““) vom 14.01.2018.

Wissen wir inzwischen warum 2015 mehr als eine Million Migranten nach Europa reingelassen wurden? War das Zufall, eine Regung der Menschlichkeit, ein gut durchdachter Plan?

Witold Gadowski.

Der Streit darüber dauert an, ein Ende ist nicht abzusehen. Einerseits haben wir da die Ideologie der naiven Zuversicht. Der arabische Frühling war eine wunderbare Erscheinung. Die arabischen Gesellschaften sind endlich erwacht.

Die groβe Völkerwanderung war eine Folge des Zusammenbruchs von Willkürregimen im Nahen Osten und Nordafrika. Europa wird nun durch Menschen anderer Kulturen bereichert. Engstirnige nationale Eigenbefindlichkeiten werden zerschlagen. Europa öffnet sich einer neuen, lichten Zukunft, in der die heutigen Völker sich wie in einem Schmelztiegel endlich auflösen werden.

Alle Völker? Keine Inseln, die die Aufnahme von Migranten verweigern?

Keine Ausnahmen. Die Verfechter der naiven Zuversicht sind nicht so naiv um nicht zu wissen, dass Völker mit einem starken nationalen Zusammenhalt ihrer Vorstellung vom Umbau Europas gefährlich werden könnten. Der Patriotismus dieser Völker, den sie mutwillig mit Nationalismus gleichsetzten oder unwissentlich damit verwechseln, könnte das Feuer unter ihrem Schmelztiegel auspusten.

Verfechter der naiven Zuversicht. Parole „No borders, no nations, stop deportations“.

Wer ist der Erfinder der Ideologie der naiven Zuversicht?

Schwer zu sagen. Einer der ganz groβen Verfechter ist George Soros, ein allseits bekannter Schirmherr und groβzügiger Gönner des Kultes um die sogenannte offene Gesellschaft.

Und die andere Sichtweise?

Sie ist unromantisch und lebensecht. Es gab flächendeckend keinen spontanen arabischen Frühling. Dahinter verbargen sich nicht selten die ziemlich kurzlebigen Interessen anderer Staaten, standen oftmals der amerikanische, französische, britische, israelische oder russische Geheimdienst.

Der Schutzwall Europas wurde immer dünner bis er brach. Gaddafis Regime in Libyen war sein wichtigster Bestandteil. Auch das ägyptische Einfallstor wurde weit aufgerissen. Hinzu kamen die Zerschlagung des Irak und der Zusammenbruch Syriens. Bis dahin war das Durchqueren dieser Staaten schwierig. Die Diktaturen mit ihren funktionierenden Sicherheitskräften blockierten den Weg.

Die Völkerwanderung ist ausgebrochen.

Doch es waren zugleich sehr brutale Regime.

Ja, aber welche dienlichen Ergebnisse brachte deren Zerschlagung? Wir haben jetzt mehrere gescheiterte Staaten. In Libyen gibt es drei Machtzentren die sich bekämpfen. Der Lebensstandard ist im Vergleich zu Gaddafis Zeiten dramatisch gesunken. Ägypten ist in den Strudel einer noch schwerwiegenderen Wirtschaftskrise geraten als jemals zuvor und wird vom Militär regiert. In Syrien kehrt Assad blutig an die Macht zurück. Der Irak besteht heute aus drei voneinander losgelösten Gebieten. Es herrscht Chaos.

Keine Staaten, keine Grenzen.

Eine Völkerwanderung ist ausgebrochen und der Krieg heizt sie noch an, denn unter den Menschen, die nach Europa wollen sind auch Kriegsflüchtlinge. Die meisten Kriegsflüchtlinge jedoch sitzen fest in Lagern ihrer benachbarten Staaten und haben keine Chance von dort wegzukommen. Das Ergebnis: nach Europa strömen überwiegend diejenigen, die die Schlepper teuer bezahlen. Diese Menschen sind oft sehr fordernd und stehen der europäischen Kultur ablehnend gegenüber. Das schafft eine Verfeindung, die sich vertiefen wird.

Glaubwürdige Untersuchungen, wie die des Pew Research Center, gehen davon aus, dass in Schweden im Jahr 2050 Moslems gut dreiβig Prozent der Bevölkerung ausmachen werden. Das ist ein Anteil, der eine Machtübernahme auf demokratischem Weg möglich machen würde.

Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“. Polnische Ausgabe.

Michel Houellebecq hat in seinem Roman „Unterwerfung“ ein solches Szenario bereits vorhegesagt. Er beschreibt, wie eine Moslem-Partei in Frankreich legal an die Macht kommt. In Schweden ist so etwas denkbar. Es ist ein Land mit einer zahlenmäβig sehr überschaubaren Bevölkerung und dementsprechend treten dort Veränderungen schneller ein.

Spöttelnd könnte man sagen, das Kalifat Malmö gibt es bereits. Man braucht ja nur die dort wohnenden Schweden zu fragen. Der Bürgermeister von London ist ein Moslem, der zwar unaufhörlich seinen Liberalismus zur Schau stellt, was man als eine Zwischenetappe betrachten kann.

Labour-Wahlveranstaltung in Birmingham 2015.

In der britischen Presse erschien 2015 ein Foto von der Wahlveranstaltung eines Labour-Kandidaten in einem muslimischen Viertel von Birmingham. Frauen und Männer sitzen streng voneinander getrennt.

Ja. Die auf Frauenrechte so fixierte Linke übergeht und überhört geflissentlich, wie Frauen in den muslimischen Gesellschaften in Europa behandelt werden. Viele Polen, die in Groβbritannien leben haben mir berichtet, auf welche Probe sie gestellt werden, wenn sie durch die Wand oder durch die Decke hören wie muslimische Ehemänner oder Väter Frauen misshandeln.

Was tun, wenn man in England durch die Wand hört wie muslimische Ehemänner oder Väter Frauen misshandeln? Am besten nichts, sonst gibt’s Schwierigkeiten.

Manche waren unvorsichtig genug einzuschreiten und haben sich dadurch selbst in Schwierigkeiten gebracht. Die Gewalt ging nämlich weiter, während sie ins Visier der Polizei und der Sozialbehörde gerieten. Sie mussten sich rechtfertigen, sie zahlten Strafen wegen Hausfriedensbruchs, wurden von ihren muslimischen Nachbarn verklagt und mussten rasch ihren Wohnort wechseln.

Das ist schwer zu glauben.

Solche und ähnliche Geschichten höre ich von unseren Landsleuten jedes Mal wenn ich in Groβbritannien bin.

Moslems genieβen mehr Schutz in europäischen Staaten als Europäer?

Im (polnischen privaten – Anm. RdP) Fernsehsender TVN (am 27. Mai 2017 – Anm. RdP) sagte eine Dame (die Mitarbeiterin der „Gazeta Wyborcza“, Anna Pamula – Anm. RdP), dass, wenn Polen, wie von der EU gefordert, siebentausend Migranten aufnimmt und einer von ihnen eine Bombe zündet, die zehn Polen tötet, wir dann immer noch 6.999 Leben gerettet haben.

Als ich das hörte, wurde mit bewusst, dass ich dieses Denken von anderswoher kenne. Ich habe seinerzeit Isabelle Coutant-Peyre interviewt, die jetzige Ehefrau des internationalen Terroristen Carlos. Ich habe zu ihr gesagt, dass ihr Mann unschuldige Menschen umgebracht hat, indem er Bomben in Hochgeschwindigkeitszügen und Restaurants zündete. „Das ist die Ökonomie der menschlichen Leben“, antwortete sie darauf. Das heiβt, wenn man eine Revolution machen will, dann muss es Opfer geben. Das sagte eine gefragte Pariser Anwältin!

Wenn wir uns dem Massenzustrom von Migranten widersetzen, hören wir: „Was sollen wir tun? Die Boote nach Afrika zurückschleppen, auf Leute, die die Grenzen stürmen schieβen? Würdest Du schieβen?“

Die Migration ist eng verwoben mit der Stimmung in Europa. Wenn hier eine wohlwollende Einstellung vorherrscht oder sogar Enthusiasmus, dann wird dieses Signal in den betroffenen Gebieten sofort wahrgenommen über Internet, iPhones, Satelliten-TV. Die Menschen dort sehen, dass sie in Europa mit Blumen empfangen werden, wie es ja zu Beginn war, und dass sie „Dschizya“ bekommen, die den Ungläubigen auferlegte Steuer.

Sie meinen Sozialhilfe?

Ja. Europäer glauben, sie zeigen sich so von der groβzügigen Seite und erwarten Dankbarkeit. Doch es wird keine Dankbarkeit geben, denn die Ankömmlinge sind überzeugt, Allah beschere ihnen dieses Geld und die „ungläubigen Hunde“ versuchen die Auszahlung hinauszuzögern und möglichst niedrig zu halten.

Der anfängliche Enthusiasmus der Europäer, das „Refugees welcome“ hat das die Migration angekurbelt?

Selbstverständlich! Doch das ist vorbei. Meine deutschen Bekannten wohnen auf Sylt. Anfänglich wollten alle dort den Ankömmlingen helfen. Als dann aber zweihundert Leute ankamen, als im November 2015 der erste Mord geschah, als reitende Frauen grob belästigt wurden, bekamen die Menschen Angst. Heute wollen sie niemanden mehr aufnehmen, aber die alte Idylle ist Vergangenheit.

Der anfängliche Willkommens-Enthusiasmus ist vorbei, Demonstration in Wien, November 2016.

Dieser Umschwung müsste eigentlich den Politikern erlauben, endlich die Grenzen zu sichern.

Der anfängliche Willkommens-Enthusiasmus ist zwar vorbei, aber eine eindeutige Verteidigungsbereitschaft ist auch nicht zu erkennen. Der Westen passt sich langsam den neuen Gegebenheiten an. Einige Dutzend abgebrannte Autos in der letzten Silvesternacht in Deutschland, eine brutal zusammengeschlagene Polizistin in Frankreich. LKW-Fahrer, die durch Calais nach Groβbritannien fahren, werden von dunkelhäutigen Banden überfallen.

Alle sehen wie die Zustände sind, aber kaum jemand mag durchgreifen. In Berlin habe ich eine Demonstration von Arabern beobachtet. Nicht wenige Polizisten, die sie begleiteten waren derselben Abstammung. Man sah ihnen förmlich ihr Desinteresse an, einige hatten zu Zöpfen zusammengeflochtene Bärtchen. So eine Polizei weckt keinen Respekt.

Was werden die Politiker tun, wenn eine neue Migranten-Welle aufkommt? Wer von ihnen wird die Grenzen verteidigen wollen? Die Migranten wissen, dass so etwas nicht passieren wird.

Hier stellt sich die Frage: will Brüssel, will der Westen die Migrationswelle aufhalten oder einen Einsaug-Mechanismus schaffen?

Viktor Orban hat sich in Ungarn zu entschiedenen Maβnahmen durchgerungen. Er hat einen doppelten Grenzzaun bauen und scharf bewachen lassen.

Ungarischer Stacheldrahtzaun an der serbischen Grenze. Orban hat sich viel Ärger eingehandelt.

Und die Bulgaren gucken weg, wenn Mafia-Banden an der Grenze Jagd auf Migranten machen. Die Kunde hat sich schnell verbreitet, dass man Bulgarien unbedingt meiden sollte. Komischerweise hat der Westen hier, bis auf einige Medienberichte, weggeschaut. Orban hingegen hat zu legalen, administrativen Maβnahmen gegriffen und handelte sich dadurch viel Ärger ein.

Bulgarische Schlägertrupps auf der Jagd nach Migranten.

Der Westen zaudert, gibt sich weitgehend lustlos und handlungsunfähig. Die Staaten unserer Region, Polen, Ungarn, die Slowakei und sogar das vom Atheismus durch und durch geprägte Tschechien leisten Widerstand.

Es sind Staaten, die durch Fremdherrschaft und fremde Willkür schwer geprüft wurden. Staaten, ohne jegliche koloniale und imperiale Vergangenheit. Es sind weitgehend gewachsene Nationalstaaten, was dort als ein Vorteil angesehen wird. Nach langer Fremdherrschaft sind sie dabei ihre nationale Staatlichkeit einzurichten. Eine nicht endende Umverteilung von Migranten, wie sie anfänglich von der EU gefordert wurde, würde ihre innere Stabilität zugrunde richten.

Wir sehen was in Schweden, Frankreich, Deutschland, Belgien, Italien passiert. Alle diese Länder hatten „ihre“ islamistischen Terrorattentate, verübt mit Bomben, Maschinenpistolen, Messern, Lkw. Man sagt den Bürgern dort, sie müssen sich nun mal daran gewöhnen, am besten so tun als wäre nichts gewesen usw. Polen hat „sein“ islamistisches Terrorattentat bis jetzt noch nicht gehabt, und das soll so bleiben. Wir wollen nicht aus dem Schaden lernen, sondern vor dem Schaden klug handeln.

Man kann sich auch leicht vorstellen, wie diese Umverteilung aussehen würde. Im Westen bleiben die Ärzte, Ingenieure, Facharbeiter. Hirten, Arbeitslose und Ungelernte werden in den Osten „gegangen“. Aus fremder Haut ist gut Riemen schneiden.

Als die Vorgängerregierung von Frau Kopacz im Frühherbst 2015, kurz vor den Parlamentswahlen, der Aufnahme von siebentausend Migranten zustimmte, da wurde Polen ein EU-Zuschuss von 6.000 Euro pro Person in Aussicht gestellt. Als sich die Nachfolgeregierung weigerte die Leute aufzunehmen, hieβ es plötzlich, ein Land kann sich „freikaufen“ wenn es 250.000 Euro pro nicht aufgenommenen Migranten zahlt. Das alles ist unglaublich!

Wir hören immer wieder den guten Rat: nehmt doch die siebentausend Migranten aus Italien und Griechenland auf, dann lässt euch die EU in Ruhe. Siebentausend, das ist doch nicht viel.

Sie würde uns nicht in Ruhe lassen.

Wenn wir die Tür einen Spaltbreit öffnen, kriegen wir sie nie wieder zu?

Nein. Die EU ist wie der Zauberlehrling. Sie hat etwas entfesselt, sich auf etwas eingelassen, was sie nicht beherrscht. Sie würde immer wieder die Umverteilung in Gang setzen. Deswegen darf man sich nicht darauf einlassen. Anschlieβend käme die Familienzusammenführung.

Groβbritannien und Dänemark wurden aus diesem System von vorneherein ausgenommen. Brüssel weiβ, dass die Regierungen dieser Länder auf ihre Wähler hören müssen. Es ist an der Zeit Brüssel daran zu gewöhnen, dass die jetzige polnische Regierung das auch tun muss.

Refugees-Welcome-Kundgebung in Kraków, September 2015.

Inwieweit hat die strikte Weigerung von Recht und Gerechtigkeit Migranten aufzunehmen zu ihrem Wahlsieg 2015 beigetragen?

Wesentlich. Die meisten Polen spüren instinktiv, dass hier eine Utopie verwirklicht werden soll, die Multikulti-Gesellschaft.

Anti-Migranten-Happening in Lublin, September 2015.

Würden diese Menschen an unsere Küsten angespült, natürlich würden wir uns um sie vor Ort kümmern. Doch sie legen oft Tausende von Kilometern zurück durch sichere Drittstaaten, um nach Europa zu kommen. Sie wollen nach Deutschland, Schweden, Frankreich, Belgien gelangen.

Dort sind oft schon ihre Verwandten, existieren ganze Netzwerke, die sie auffangen: Moscheen, Koranschulen, Läden, kulturbedingte Dienstleistungen, eigene Stadtbezirke oder Straβenzüge, ausgedehnte Integrationsmaβnahmen, eine einigermaβen anständige Sozialhilfe.

Straβenszene im Londoner Stadtteil Tower Hamlets.

Niemand von diesen Leuten will nach Polen, Ungarn, Slowenien oder Lettland gehen, Polnisch, Ungarisch, Slowenisch oder Lettisch lernen.

Die Umverteilung wäre also eine reine Zwangsmaβnahme. Die meisten würden alles tun, um von uns aus wieder in den Westen Europas zu gelangen. Sollen wir sie in bewachte Lager stecken? Ihnen an der Grenze Handschellen anlegen, wenn sie uns von den deutschen Behörden nach der Flucht zwangsüberstellt werden? Denn so war es vorgesehen. Wer „umverteilt“ wurde, der müsste an Ort und Stelle bleiben.

Das Hereinlassen einer groβen Zahl von Menschen aus einem fernen Kulturkreis schafft eine groβe Verantwortung.

Anfang der neunziger Jahre halfen meine Kollegen von der Solidarność dem Kinderheim in Beiuş, in Rumänien, wo schreckliche Zustände herrschten. Sie haben einige der Waisen nach Polen geholt. Am Anfang war alles wunderbar, aber nach einiger Zeit schwand das Interesse für sie. Es gab niemanden, der sich intensiv um die Erziehung dieser Jungs gekümmert hätte. Bis es zu einer brutalen Vergewaltigung in einem Freibad in Kraków kam. Die Täter waren die Jungs aus Beiuş.

So geschieht es auch mit den Migranten.

Im Nahen Osten, in Nordafrika sind sie unter der Aufsicht ihrer Gemeinschaft, ihrer Familien. In Europa sind sie meistens auf sich gestellt. Aus einer Welt, wo Frauen wie das Eigentum von Männern behandelt werden, wo man dem Vater für die künftige Ehefrau zahlen muss, gelangen sie in eine Welt, wo Sexualität offen ausgelebt, zur Schau getragen wird. Das nimmt in ihrem Fall oft ein böses Ende.

Das dauerhafte Zusammenleben mit einer Vielzahl von Menschen, die einer anderen Kultur entstammen und sich häufig nicht integrieren können und oft auch nicht wollen, gestaltet sich schwierig.

Stellen sie sich eine Kleinstadt in Polen vor. Nach der Sonntagsandacht kommen die Leute aus der Kirche. Auf der Straβe geht eine Migrantenfamilie, der Mann verliert die Geduld, schlägt seine Frau. Einige Männer versuchen ihn daran zu hindern. Was werden die Medien berichten? Polnische Rassisten haben einen Migranten zusammengeschlagen. Migranten üben Vergeltung. Die Polen auch. Die Hölle öffnet sich.

Die Antwort darauf lautet: auch in Polen gibt es Gewalt.

Aber natürlich, wie überall. Aber von unserer eigenen Gewalt haben wir mehr als genug, weitere brauchen wir  nicht noch zusätzlich zu importieren.

Junge Moslems aus gewissen Kreisen erachten Frauenbelästigung als einen aufregenden Zeitvertreib. Wollen wir das auch bei uns? Es gibt zudem eine Erscheinung, die als „Gangasta-Islam“ umschrieben wird. Aus ihrer Gemeinschaft herausgelöste junge Moslems rotten sich zu kriminellen Banden zusammen, terrorisieren im Geiste des Islam ihre Umgebung, islamisieren die Gefängnisse. Es entsteht eine Parallelwelt, aus der die Einheimischen flüchten und wo die Polizei am liebsten wegschaut.

Wie das funktioniert habe ich vor Kurzem im dänischen Aarhus gesehen, wo sich der einst lichte, moderne Stadtteil Brabrand in einen Slum verwandelt hat. In Betonschachteln, die auf einer schlammigen Wiese stehen, leben ein paar Tausend Menschen auf engem Raum: Palästinenser, Libanesen, Syrer, Sudanesen, Jemeniten, Somalier, Algerier, Ägypter, Nigerianer. Dänen sieht man dort nicht.

Trotz aller Integrationsanstrengungen.

Ja. In allen Ländern, von denen wir hier reden wurden in etlichen Anläufen aufwendige Integrationsprogramme aufgelegt, wie z.B. in Frankreich: kleine Sportzentren, Jugendhäuser, Kultureinrichtungen, Sozialarbeiter. Das alles ist gescheitert.

Moslems protestieren in London gegen einen Auftritt des rechten holländischen Politikers Geert Wilders, Oktober 2009.

Entstanden sind in allen französischen Groβstädten Territorien, wo die Sitten, der Handel, die Kleidung, der gesellschaftliche Umgang (Frauen sind weder in den Cafés noch auf den Straßen zu sehen) muslimisch sind, wo Salafisten das französische Gesetz durch die Scharia ersetzt haben. Hinzu kommen eine hohe Kriminalität, Drogenhandel, unkontrollierte Einwanderung, überforderte Schulen.

Und linke Gutmenschen, die behaupten die christliche Tradition provoziere die Migranten.

Es gibt drei Phasen. In der ersten Phase, in der es nur wenige Migranten gibt, sind die Ankömmlinge friedlich und höflich. In der zweiten Phase stellen sie Forderungen. Sie sind in den Kommunen vertreten, erzwingen Halal-Fleisch in den Schulkantinen, die Schlieβung von Pubs, das Abnehmen der Kreuze. Dann kommt die dritte Phase, in der sie das Sagen haben, auf einem eigenen Territorium.

Scharia-Polizei in Wuppertal.

Papst Franziskus ruft ständig dazu auf Migranten aufzunehmen.

Papst Franziskus wusch und küsste die Füβe von Moslems in der Gründonnerstagsmesse 2016. Er holte Moslemfamilien von der Insel Lesbos. Das sind eindrucksvolle christliche Gesten. Nur sollten solche Gesten an jene gerichtet sein, die sie im christlichen Sinne verstehen. Das ist genauso wie mit dem Hinhalten der anderen Wange. Halten wir sie einem Dummkopf hin, dann wird er dadurch noch dreister.

Papst Franziskus wäscht und küsst die Füβe von Moslems, April 2016.

Die Gesten des Papstes, vor denen ich mich verneige, werden in der Welt des Islam durchgehend als Unterwerfungsgesten Roms gegenüber dem Propheten ausgelegt. Das stärkt nur den kriegerischen Islam. Wir müssen besonnen handeln. Der katholische Glaube ist kein dumpfer Glaube.

Oder vielleicht doch? Einer unserer führenden katholischen Publizisten, Tomasz Terlikowski hat neulich über den in Polen vor kurzem begangenen „Tag des Islams in der katholischen Kirche“ eine kurze, sehr treffende Glosse geschrieben.

„Es gab Begegnungen, Vorträge, alle gewidmet »der Sorge um das gemeinsame Haus«“, schreibt Terlikowski. „Im Dialog gelang es festzustellen, dass Katholiken und Moslems die Natur lieben. Es wurde gemeinsam aus der Bibel und aus dem Koran gelesen.
In derselben Zeit sterben aus der Hand von Moslems Tausende von Christen. Ihre Kirchen werden niedergebrannt. Christinnen werden entführt, zum Übertritt zum Islam gezwungen, in Harems gesteckt, brutal miβbraucht.“, so Terlikowski

„Das geschieht nicht gegen den Koran, sondern unter ausdrücklicher Berufung auf ihn und auf das Beispiel Mohammeds. Sie tun dasselbe, was er getan hat. Mohammed ist Vorbild für sie, so wie er tötete, betrog, sich kleine Mädchen als Frauen nahm.

Doch das scheint bei diesem Dialog niemanden zu stören. Dialog und politische Korrektheit sind wichtiger“, schreibt Terlikowski.

Ja, das ist schon sehr bedrückend.

„Du liebst Christus, du wirst sterben wie Christus“. Vom IS ermordete Christen, Syrien August 2015.

Es heiβt, die Polen wollen den Kriegsopfern nicht helfen.

Das stimmt nicht. Man muss nur zwischen tatsächlicher Hilfe und der Umsetzung einer gefährlichen politischen Multikulti-Utopie unterscheiden. Polen hilft vor Ort und sollte auch Kriegsopfer aufnehmen, aber nur zu unseren Bedingungen.

Wen im Einzelnen?

Wir haben einen wichtigen Trumpf, das sind die hervorragenden Ortskenntnisse unserer kirchlichen Hilfsorganisationen, die vor Ort tätig sind. Sie kennen die Orte, wo es Christen gibt, die wirklich nicht mehr weiterwissen. Sie sollten wir aufnehmen.

Wie viele?

Einige Hundert Familien. Generell wollen die Christen Syrien nicht verlassen und wir sollten alles tun, um sie darin mit unserer Hilfe vor Ort zu bestärken. Es gibt aber leider auch solche, für die es kein Zurück gibt, weil sie Gefahr laufen von ihren muslimischen Nachbarn ermordet zu werden.

Um wen geht es konkret?

Es sind überwiegend Assyrer, Menschen einer uralten Kultur, mit einer in der ganzen Welt weitverbreiteten Diaspora. Hervorragende Geschäftsleute. Sie sind fleiβig, umsichtig, gebildet.

Wie können wir vor Ort, in Nahost helfen?

Viele Hilfsorganisationen betreiben im Grunde ein Geschäft und verbrauchen bis zu dreiβig Prozent der Hilfsmittel selbst. Banden vor Ort stehlen ein weiteres Drittel. So darf man es nicht machen.

Das zerstörte Karakosch.

Sondern wie?

Man muss die Notleidenden vor Ort ausfindig machen und ihnen helfen. Zusammen mit einigen Kollegen von der Stiftung Orla Straż (Adlerwache – Anm. RdP) helfen wir der altertümlichen christlichen Stadt Karakosch im Irak. Dort lebten einst 55.000 Menschen, davon waren neunzig Prozent Christen.

Sie wurden vom IS vertrieben. Jetzt kommen sie in die verminten Ruinen zurück. Es gibt keine Schulen, Krankenhäuser, Läden. Ich habe in meinen Fernsehsendungen um Spenden gebeten. Es sind 500.000 Zloty (ca. 120.000 Euro – Anm. RdP) zusammengekommen.
Von diesem Geld haben wir eine Schlosserei wiederaufgebaut, eine Schweiβerei ausgestattet, Druckmaschinen für Schulbücher gekauft, einem Laden das Startkapital gegeben. Jetzt helfen wir beim Wiederaufbau des Gesundheitszentrums und wir haben eine Weihnachtsfeier für Kinder unterstützt.

Das Geld bekommen Leute, die wir kennen. Für diese halbe Million Zloty konnte man dort fünfmal so viel erreichen wie bei uns, wenn man hier Migranten aufnähme.

Lesen Sie dazu: Syrien,  Irak, Libanon. Polen Hilft vor Ort. 

RdP




Syrien, Irak, Libanon. Polen hilft vor Ort

Die andere Facette der polnischen Migrationspolitik.

Polen verfolgt eine klare Politik: keine Migranten ins Land lassen, dafür Kriegsopfern und Flüchtlingen im Mittleren Osten direkt helfen. Über den vehementen polnischen Widerstand gegen die EU-Zwangsumverteilung von Migranten gab und gibt es in den deutschsprachigen Medien unzählige kritische Berichte. Über die humanitäre polnische Hilfe vor Ort vernimmt man so gut wie nichts.

Dabei lassen sich die Zahlen durchaus sehen. Die polnische Regierung hat 2017 umgerechnet knapp 88 Millionen Euro an verschiedene Stellen und Organisationen überwiesen, die das Leid der Menschen im Irak, in Syrien und dem Libanon lindern sollen.

Beata Kempa, die Koordinatorin der polnischen humanitären Hilfe, zu Besuch in Zaatari, dem gröβten jordanischen Lager für syrische Flüchtlinge, Januar 2018. Polen wird dort eine Krankenstation errichten und betreiben.

Koordiniert werden die mannigfaltigen polnischen staatlichen und privaten humanitären Vorhaben im Ausland neuerdings von einer eigens im Dezember 2017 hierfür geschaffenen Dienststelle. Sie ist angesiedelt im Amt des Ministerpräsidenten (entspricht dem deutschen Bundeskanzleramt). Als erste Koordinatorin der polnischen humanitären Hilfe ist seither Beata Kempa tätig, Sejm-Abgeordnete und namhafte Politikerin der seit 2015 regierenden Vereinigten Rechten.

Geld aus Warschau

Der gröβte Teil der 88 Millionen Euro, nämlich 50 Millionen Euro, flossen 2017 von Warschau an die Europäische Investitionsbank (EIB) in einen neugegründeten Fonds, der den betroffenen Regionen zu Gute kommen soll. Polen ist hier der gröβte Geldgeber vor Italien (45 Millionen Euro), Slowakei (2 Millionen Euro), Slowenien (0,5 Millionen Euro) und Luxemburg (0,4 Millionen Euro).

Etwa 25 Millionen Euro gingen 2017 an den EU-Spezialfonds für Flüchtlinge, die in der Türkei Aufnahme gefunden haben. Der polnische Gesamtanteil an diesem Fonds beträgt 57 Millionen Euro. Die zweite Tranche soll 2018 überwiesen werden.

Etwa 5 Millionen Euro aus Warschau bekamen  das Internationale Rote Kreuz und die Behörde des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge.

Knapp 8 Millionen Euro betrug 2017 die staatliche Unterstützung für die fünf polnischen Hilfsorganisationen, die im Mittleren Osten tätig sind. Diese Organisationen wiederum haben 2017 zusätzlich etwa 12 Millionen Euro polnischer Spendengelder im Mittleren Osten ausgegeben.

Von Familien in Polen zu Familien in Syrien

Die mit Abstand meisten Spenden für den Mittleren Osten, knapp 8 Millionen Euro, sammelte 2017 Caritas Polska, die Wohlfahrtsorganisation der katholischen Kirche. Führend war hier deren Hilfsprogramm „Rodzina rodzinie“ („Von Familie zu Familie“).

Spendenaufruf der Caritas Polska für das Hilfsprogramm „Von Familie zu Familie“.

Etwa sechzehntausend Einzelpersonen, Familien, Firmen, Pfarrgemeinden, Orden folgten dem Aufruf von Caritas Polska und verpflichteten sich, allein oder im Verein mit anderen, jeweils eine syrische Familie aus Aleppo regelmäβig mit monatlichen Spenden zu unterstützen.

Das Programm sieht vor, ein halbes Jahr lang jeden Monat umgerechnet ca. 120 Euro zu überweisen. Im zerstörten Aleppo kann eine Familie davon ihre elementarsten Bedürfnisse finanzieren. In derselben Zeit können Spender auch einen beliebigen, kleineren Betrag einzahlen, der zusammen mit anderen Kleinspenden zu einem „Familienpaket“ von 120 Euro gebündelt wird.

Jeden Monat erhalten knapp neuntausend Familien in Aleppo diesen Betrag von der Caritas Polska ausgezahlt. In der vollkommen zerstörten Stadt, in der es keine Energie- und keine Wasserversorgung mehr gibt, können sie dafür Trinkwasser und die teure Elektrizität aus privaten Stromgeneratoren zum Betreiben wenigstens einer Glühbirne und der Kochstelle kaufen. Dazu noch die einfachsten Lebensmittel.

Geld für Studenten, Wintersachen für Kinder

Mitte 2017 hat Caritas Polska ein weiteres halbjähriges Vorhaben in Aleppo begonnen. Achthundert Studenten aus den ärmsten Familien bekommen pro Monat 46 US-Dollar Beihilfe für Lehrbücher, Fotokopie-Kosten, Internetzugang, alles Dinge, die für dortige Verhältnisse sehr teuer sind. Zum Vergleich: wer in Aleppo Arbeit hat verdient zwischen 30 und 65 US-Dollar im Monat.

Die dritte gegenwärtige Maβnahme ist die Versorgung der Kinder mit Wintersachen. Sehr viele von ihnen laufen drauβen bei drei bis vier Grad über Null in leichten Flip-Flops herum, haben keinen Anorak.
Ende 2017 ist in Aleppo, dank Caritas Polska, die erste mobile Krankenstation aus Polen eingetroffen. Kosten, ungefähr 200.000 Euro.

Seit 2012 hat Caritas Polska im Mittleren Osten insgesamt neunzehn groβe Vorhaben durchgeführt. Darunter die mehrjährige Bezuschussung eines Krankenhauses in Damaskus, die Aktion „Milch für Kurdistan“, die Finanzierung der Arbeit von mehreren mobilen Krankenstationen im Nordirak, letzteres gemeinsam mit der Medizinischen Hochschule Hl. Elisabeth in Bratislava in der Slowakei (dieses Projekt läuft derzeit noch), ebenso wurden mehrere Weihnachtspaket-Aktionen für Kinder in Flüchtlingslagern in der Türkei organisiert.

Milch für Aleppo

„Kościół w Potrzebie“ (fonetisch „Kostsiul w Potschebie“), der polnische Ableger des internationalen katholischen Hilfswerks „Kirche in Not“ bezuschusste mit 250.000 Euro an polnischen Spendengeldern den Wiederaufbau des Hl. Ludwig-Krankenhauses in Aleppo. Mit umgerechnet 300.000 Euro finanziert die Organisation das laufende Vorhaben „Milch für Aleppo“. Es kommt regelmäβig 2.800 Kindern zugute von der Geburt an bis zum 10. Lebensjahr.

Die damalige Ministerpräsidentin Beata Szydło bei der Eröffnung des Hilfsprogramms „Milch für Aleppo“, März 2017 in Warschau.

Seit November 2017 werden Spenden für den Wiederaufbau einer Schule im syrischen Homs für 1.500 Kinder gesammelt. Zusammen mit der ungarischen Botschaft in Warschau finanzierte und verschickte die Organisation im November letzten Jahres 1.300 Weihnachtspakete für Kinder eines Flüchtlingslagers im kurdischen Erbil im Irak.

Wasser für Flüchtlinge

Polska Akcja Humanitarna (Polnische Humanitäre Aktion), das gröβte nichtkirchliche Hilfswerk Polens, ist seit 2012 in Syrien, in den Provinzen Idlib und Aleppo tätig. Die PAH beliefert 53 Flüchtlingslager mit frischem Wasser in Tankwagen, kümmert sich um die Leerung von Fäkaliengruben, besorgt die Müllabfuhr, baut Pumpstationen, Latrinen und dazugehörige Waschstellen. Verteilt Hygieneartikel. Beliefert Backstuben mit Mehl und Hefe. In türkischen Flüchtlingslagern finanziert die PAH Schulbusse, die Kinder zum Unterricht und wieder nach Hause bringen.

Flüchtlingslager in Syrien. Polska Akcja Humanitarna liefert Trinkwasser.

Wärme im Winter

Das Polskie Centrum Pomocy Międzynarodowej (fonetisch Mendsinarodowei – PCPM) – Polnisches Zentrum für Internationale Hilfe, ebenfalls eine nichtkirchliche Organisation, ist in den syrischen Flüchtlingslagern im Libanon tätig. Zwischen Oktober und Dezember 2017 zahlte es monatliche Beihilfen von 147 US-Dollar an 1.100 Flüchtlingsfamilien in der Provinz Akkar aus.

Polnischer Mitarbeiter von PCPM sammelt Anträge auf Winterhilfe von syrischen Flüchtlingen im Libanon.

Die Menschen konnten so ihre provisorischen Unterkünfte abdichten, Wintersachen und Brennstoffe kaufen. Bei Temperaturen, die sich um null Grad bewegen eine lebensrettende Maβnahme. Sie wurde vom polnischen Auβenministerium bezahlt.

Alle geschilderten Aktivitäten sollen 2018 fortgesetzt werden.

Das PCPM betreibt in Akkar auch eine Grundschule für Flüchtlingskinder.  In diese Schule fuhr am 13. Februar 2018, während seines zweitägigen Besuches im Libanon, Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, um sich mit den polnischen Helfern zu treffen. Dort gab er auch bekannt, Polen werde 10 Millionen US-Dollar für den Bau von Feritighäusern für syrische Flüchtlinge in Akkar bis Mitte 2018  bereitstellen.

Ministerpräsident Mateusz Morawiecki im Gespräch mit polnischen Helfern in Akkar am 13.02.2018.

Den Straβenkindern von Akleppo helfen

Groβes haben der Franziskanerorden, der bereits in Aleppo einige Hilfsprojekte betreibt, und die Stadt Katowice vor. Das Vorhaben heiβt „Śląskie dzieciom z Aleppo“ („Die Woiwodschaft Schlesien den Kindern von Aleppo“) und sieht den Bau eines Waisenzentrums in der zerstörten Stadt vor.

Dort leben, oft auf der Straβe, bis zu dreiβigtausend Kinder, die ihre Eltern und nicht selten auch weitere Verwandte verloren haben. Für sie soll ein Tagesaufenthaltszentrum entstehen mit psychologischer Betreuung, Bildungsangeboten, vollwertiger Ernährung, ebenso sind ein  Sportplatz und ein Schwimmbad geplant.

Kosten: etwa vier Millionen Zloty (knapp eine Million Euro). Die Spendenaktion läuft seit Januar 2018, getragen vom Franziskanerorden, der Stadt und der Diözese Katowice. Die ganze Summe dürfte bis Ende 2018 zusammenkommen. Gleichzeitig laufen die Planungsarbeiten. Die Bauarbeiten in Aleppo sollen Anfang 2019 beginnen.

© RdP




»Lassen Sie ab von Polen.« Ein Franzose schreibt Staatspräsident Macron

„Versuchen Sie bitte nicht auch noch der Staatschef in Warschau zu sein. Dort hat man Sie nicht gewählt.“

Der französische Journalist Olivier Bault lebt und arbeitet in Polen als Korrespondent der katholischen Tageszeitung „Présent“ sowie der Internetportale Réinformation TV und Visegràd Post. Seinen „Offenen Brief an den französischen Staatspräsidenten“ veröffentlichte das Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“). Zwischentitel von RdP.

Olivier Bault.

Sehr geehrter Herr Präsident!

Am 1. Mai 2017, zwischen der ersten und zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen, sagten Sie zu Ihren Anhängern:

„Ihr kennt die Freunde und Verbündeten von Frau Le Pen. Das sind die Regime der Herren Orbán, Kaczyński und Putin. Das sind keine Staatsordnungen der offenen und freien Demokratie. Tagtäglich werden dort zahlreiche Freiheiten gebrochen und mit ihnen unsere Werte“.

Etwas früher, in der Tageszeitung „La Voix du Nord“ vom 27. April 2017 haben Sie versprochen, dass, wenn die Franzosen Sie wählen sollten, Sie für eine schnelle Einführung von Sanktionen gegen Polen eintreten werden, weil man ein Land nicht tolerieren darf, das sich „in der EU die Unterschiede in den Sozialkosten zunutze macht und gegen alle Prinzipien der EU verstöβt“.

Sie haben auβerdem gesagt: „Was Whirlpool (Betrieb in Amiens und seine für Mitte 2018 geplante Produktionsverlagerung nach Lodz – Anm. RdP) angeht, wird innerhalb von drei Monaten nach meiner Wahl eine Entscheidung in Sachen Polen gefällt. Ich übernehme dafür die Verantwortung. (…) Ich möchte, dass man sich den Fall Polen in seiner Gänze anschaut und dass bei Angelegenheiten, die die Rechte und Werte der EU betreffen, Sanktionen eingeführt werden“.

Emmanuel Macron im Wahlkampf bei den aufgebrachten Whirlpool-Arbeitern in Amiens am 27. April 2017.

Aus Ihren Drohungen gegen Polen geht hervor, dass Sie diesem Land vorwerfen, es betreibe Sozialdumping und verletzte zugleich die Prinzipien der EU. Sie sagen nicht, um welche Prinzipien es sich handelt, aber Ihre Ansprache vom 1. Mai 2017 hilft besser zu verstehen, was sie meinen.

Sozialdumping? Wovon reden wir?

Es ist schon befremdlich: der künftige Präsident der Republik, der sich im Wahlkampf als ein Ultraeuropäer darstellt, ein Verfechter einer immer engeren EU-Integration, des freien Handels und des freien Wettbewerbs, droht plötzlich einem EU-Land, weil ein privates Unternehmen beschlossen hat seine Produktion in dieses EU-Land zu verlegen.

Zwar sind die Löhne in Polen niedriger als in Frankreich, aber auch die Arbeitsproduktivität ist geringer. Polen nämlich, genauso wie andere einst kommunistische Staaten, hat seinen Rückstand noch lange nicht aufgeholt und den wirtschaftlichen Entwicklungsstand Westeuropas noch nicht erreicht.

Die jetzige polnische Regierung unter Frau Beata Szydło von der sozialkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit hat zum ersten Mal in Polen einen gesetzlich vorgeschriebenen minimalen Stundenlohn (von 12 Zloty = ca. 2,85 Euro – Anm. RdP) eingeführt. Sozialversicherungsbeiträge müssen seit Neuestem, ungeachtet der Einstellungsform (also auch bei Werk- und Zeitverträgen – Anm. RdP), entrichtet werden.

Warum also werfen Sie dieser Regierung Sozialdumping vor? Als stellvertretender Chef der Präsidialkanzlei von Staatspräsident François Hollande und danach als Wirtschaftsminister in der Regierung Manuel Valls hatten Sie nie Probleme mit den polnischen Regierungen unter Donald Tusk und Ewa Kopacz.

Das wundert schon. Nach seiner Machtübernahme 2007 hat Ministerpräsident Donald Tusk, der heutige Vorsitzende der Europäischen Rates, nämlich einer enormen Ausweitung der zivilrechtlichen Arbeitsverträge zugestimmt. Solche Beschäftigungsformen (Zeitverträge, Werkverträge, gewerbliche Scheinselbständigkeit – Anm. RdP) ermöglichten die Umgehung des polnischen Arbeitsrechts. Für Hunderttausende von Beschäftigten wurden keine oder nur ganz geringe Sozialversicherungsbeiträge abgeführt, sie erhielten kein Kranken- und kein Urlaubsgeld.

Sie sehen einen Splitter in des Bruders Auge, und werden des Balkens in Ihrem Auge nicht gewahr.

Was „das tagtägliche Brechen zahlreicher Freiheiten und damit unserer Werte“ angeht, so sehen Sie einen Splitter in des Bruders Auge und werden des Balkens in Ihrem Auge nicht gewahr.

Das französische Problem mit den No-go-Areas.

In Frankreich, und nicht in Polen, gibt es „No-go-Areas“, wo die Rechte der Bürger nicht geschützt werden. Frauen trauen sich dort nicht auf die Straβe, dürfen keine Lokale betreten.

In Frankreich, und nicht in Polen, kommt es beinahe tagtäglich zu mutwilligen Zerstörungen und Attacken auf christliche Einrichtungen.

Am 3. August 2016. Gewaltsame Räumung der Pariser Hl. Rita-Kirche durch die Bereitschaftspolizei, um den Abriss des Gotteshauses zu ermöglichen.

Nicht in Polen, sondern in Frankreich, wurden Polizeikräfte angewiesen hart gegen friedliche Demonstranten vorzugehen, die für den Erhalt der traditionellen Familie eintraten. Dieselbe Polizei bekam Anweisungen sich bei Ausschreitungen autonomer und linksradikaler Gruppen zurückzuhalten.

Es gab und gibt in Polen zahlreiche Kundgebungen, Märsche und Demonstrationen gegen die seit November 2015 amtierende Regierung. Bis jetzt hat die Polizei gegen die Protestierenden kein einziges Mal Gewalt (Schlagstöcke, Tränengas, Wasserwerfer) eingesetzt. Es gab keine einzige vorläufige Festnahme. Die Polizeimaβnahmen beschränkten sich einige Male auf das Wegtragen von Blockierern und die Feststellung von Personalien. Auch Märsche und Kundgebungen nationalgesinnter Milieus, wie der groβe Marsch zum Unabhängigkeitstag, dem 11. November, in Warschau verliefen bis jetzt ohne Zwischenfälle.

Nicht in Polen, sondern in Frankreich, werden jedes Jahr etwa zweihundertzwanzigtausend ungeborene Kinder getötet. Nicht in Polen sondern in Frankreich hat das Parlament im Februar 2017 ein Gesetz verabschiedet, das für Betreiber von Internetportalen, die gegen die Tötung ungeborener Kinder eintreten, Strafen von bis zu zwei Jahren Freiheitsentzug und bis zu dreißigtausend Euro Buβgeld vorsieht.

Haben Sie vielleicht mit Ihrer Feststellung vom Verstoβ gegen EU-Prinzipien und einem autoritären Regime in Polen, die Brüsseler Anschuldigungen zur Reform des polnischen Justizwesens und den Konflikt um das Verfassungsgericht gemeint? Wenn ja, dann muss man fragen: kennen Sie alle Einzelheiten und Umstände dieser Auseinandersetzung? Vergegenwärtigt man sich, wie sehr Ihnen die französische Finanzstaatsanwaltschaft zum Wahlsieg verholfen hat, dann haben Sie ja vielleicht auch gar nichts dagegen, wenn das Justizwesen korrupt und politisch beeinflussbar ist.

Sozialpolitik demokratiegefährdend?

So oder so, wenn Sie sich der Demokratie verbunden fühlen, dann sollten Sie die Lösung ihrer Probleme lieber den polnischen Wählern überlassen. Die kennen ihr Land besser.

Bitte bedenken Sie auch, dass der Teil der heutigen polnischen Opposition, der sich für die Belegung des eigenen Landes mit Sanktionen ausspricht, einer alten, unglücklichen polnischen Tradition frönt, die wir in Frankreich nicht kennen und die Polen schon einmal, im 18. Jahrhundert, seine Unabhängigkeit gekostet hat: Fremde Mächte um Hilfe bitten, um am Trog zu bleiben und die Sanierung des Landes zu verhindern. Deswegen bleiben Sie, bitte sehr, der Staatspräsident der Franzosen und versuchen Sie bitte nicht, zugleich auch der Staatschef der Polen und der Ungarn zu sein, denn die haben Sie nicht gewählt.

Es ist wahr, dass Organisationen, wie „Reporter ohne Grenzen“ oder „Freedom House“, die Meinungsfreiheit in Polen negativer einschätzen seitdem Recht und Gerechtigkeit an der Regierung ist. Bitte beachten Sie jedoch, dass z.B. „Freedom House“ auch die Sozialpolitik der jetzigen polnischen Regierung (neues Kindergeld, kostenlose Medikamente für Rentner über fünfundsiebzig Jahre usw.) als demokratiegefährdend ansieht, weil sie „die finanziellen Möglichkeiten des Staates für die Ziele einer Partei einspannt“ (Bericht „Freedom in the World 2017“).

Man darf sich schon über die linke Organisation „Reporter ohne Grenzen“ wundern, die geschwiegen hat als die Regierung Donald Tusk faktisch alle konservativen Journalisten aus den öffentlichen Medien davongejagt hat. Als dieselbe Regierung ohne sich zu zieren eingriff, um den politischen Kurs privater Zeitungen („Rzeczpospolita“/„Die Republik“ und „Fakt“) zu ihren Gunsten zu ändern. Als sie Polizei und Staatsanwälte in die Redaktion des Nachrichtenmagazins „Wprost“ (“Direkt“) schickte, die bei Rangeleien mit den Redakteuren versuchten diesen ihre Laptops mit Quellenangaben zu entreiβen.

Medienvielfalt in Frankreich

Lassen Sie uns lieber über die Medienfreiheit in Frankreich reden. Dort haben alle führenden Medien einträchtig Sie unterstützt, und alle haben Ihren Wahlsieg mit einem Enthusiasmus zur Kenntnis genommen, den man eher in totalitären Regimen vermuten würde.

Sowohl in Frankreich als auch in Europa sagt man, Recht und Gerechtigkeit habe in Polen die Kontrolle über die öffentlich-rechtlichen Medien übernommen.

Doch auf welche Weise wurden die Mitglieder des französischen Medienrates (CSA) und in der Folge die Chefs der französischen öffentlich-rechtlichen Medien gewählt? Haben die Franzosen etwa nicht gesehen, wie vor der Debatte der Präsidentschaftskandidaten die Chefin von France Télévisions, Frau Delphine Ernotte, mit Ihrer Gattin wie mit einer alten Bekannten Küsschen ausgetauscht hat?

Küsschen ausgetauscht: Fernsehchefin Delphine Ernotte und Brigitte Macron.

Anstatt sich um den Pluralismus der polnischen Medien zu kümmern, die unter Ministerpräsident Donald Tusk nicht weniger regierungstreu waren (was damals niemanden in Europa gestört hat), nehmen Sie sich bitte des Pluralismus der öffentlich-rechtlichen Medien in Frankreich an.

An dieser Stelle möchte ich Ihnen, Herr Staatspräsident, empfehlen sich mit der Eingabe von „Collectif des Usagers du service public de l’audiovisuel“ (einer Organisation der Nutzer öffentlich-rechtlicher Medien), die den Pluralismus in den mit Gebühren finanzierten französischen Medien anmahnt, zu beschäftigen. Alle in Frankreich wissen, dass sich der Pluralismus unserer französischen öffentlich-rechtlichen Medien nur von der liberalen Linken, die Sie vertreten, bis zur radikalen Linken, die Jean-Luc Mélenchon nahesteht, erstreckt.

Weiter, was die französischen privaten Medien angeht, mit Verlaub Herr Staatspräsident, sie sind alle in den Händen von ihren Freunden, Milliardären um nicht zu sagen Oligarchen. Diese Leute sind nur an ihren Geschäften interessiert, die Sie zu schützen versprachen, und nicht an ehrlicher, objektiver und vielfältiger Berichterstattung.

Dazu gehört Partick Drahi, der aufgrund Ihrer Einflussnahme, als Sie stellvertretender Chef der Präsidialkanzlei waren, den Mobilnetzbetreiber SFR kaufen konnte. Drahi dankte es Ihnen, indem er Ihnen während des Präsidentschaftswahlkampfes alle seine Medien zur Verfügung stellte (BFM TV, Radio RMC, die Zeitungen „Libération“, „L’Express“, L’Expansion“). Auβerdem entsandte Drahi den Chef seiner Mediengruppe, Bernard Mourad in Ihren Wahlkampfstab.

Dasselbe taten Ihre Freunde Vincent Bolloré (Canal+) und Xavier Niel („Le Monde“). Zu ihnen gesellten sich weiterhin solch namhafte Persönlichkeiten der Medienwelt, wie Pierre Bergé („L’Obs“, „Huffington Post“, „La Vie“) oder Arnaud Lagardère (Europe 1, „Paris Match“, Le JDD, RFM). Sogar Serge Dessault, dessen Zeitung „Le Figaro“ zunächst Ihren Konkurrenten François Fillon unterstützt hatte, musste sich vor der ersten Wahlrunde für Sie aussprechen und gegen eine Kandidatin, die die Eurowährung verwerfen und aus der EU austreten wollte.

Das ist verständlich, doch kann man von Medienfreiheit und Medienvielfalt reden, wenn alle groβen französischen Medien sich in den Händen einer kleinen Gruppe von Unternehmermilliardären befinden, die alle in etwa die gleichen Ziele verfolgen?

Medienvielfalt in Polen

Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda und die Regierung von Frau Beata Szydło können von einer solch breiten Medienunterstützung in ihrem Land nur träumen. Im Gegenteil! Abgesehen vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen gibt es noch zwei groβe TV-Sender: TVN und Polsat. Beide halten mit ihrer tiefen Abneigung gegen die jetzige polnische Regierung nicht hinter dem Berg. Ähnlich verhält es sich mit Rundfunk und Presse, von der die meisten Redaktionen deutschen Medienkonzernen gehören.

Es gibt aber auch konservative Zeitungen und Magazine, denn die polnische Presse ist weit vielfältiger als die französische. So war es auch zu Zeiten der Tusk-Regierung zwischen 2007 und 2015, aber konservative Herausgeber hatten es damals nicht leicht, weil die Tusk-Verwaltung Druck auf Anzeigenkunden machte, damit diese die konservative Presse mieden.

Heute gehören die gröβte Tageszeitung („Fakt“), eines der gröβten Wochenmagazine („Newsweek“) und das gröβte Internetportal (Onet.pl) dem deutsch-schweizerischen Unternehmen Ringier Axel Springer. Diese Medien sind eindeutig gegen Recht und Gerechtigkeit ausgerichtet, gegen deren Vorstellung von einer EU als einem Europa der Nationen sowie ihrer wertkonservativen Weltanschauung.

Bei der zweiten Wahlrunde der Präsidentschaftswahlen gab es in meinem Wahlkreis VII (für Franzosen die in den Ländern Ostmitteleuropas leben) drei Kandidaten, die schon vorab gelobten Ihre künftige Regierung zu unterstützen: einen Sozialisten von der PS, einen Zentristen von der UDI und den Kandidaten Ihrer Partei, der LREM. Ebenso verhielt es sich mit dem Kandidaten der eigentlich oppositionellen Mitte-Rechts-Partei Les Républicains. Um sicher zu gehen meine Stimme nicht für Sie abgegeben zu haben, hätte ich Marine Le Pen wählen müssen.

Die jetzige Struktur der französischen politischen Szene, die ohrenbetäubende Propaganda zu Ihren Gunsten und der Ihrer Anhänger erinnern wahrhaft an Polen, aber an das Polen von vor 1990.

Folglich, Herr Staatspräsident, wenn wir EU-Länder bestrafen wollen, weil dort „tagtäglich zahlreiche Freiheiten gebrochen und mit ihnen unsere Werte“, dann sollten es zuerst nicht Polen und Ungarn sein, sondern eher Frankreich.

Hochachtungsvoll Olivier Bault

RdP




EU: der Feind und Helfer. Zum Hören

 

Kommentator Prof. Marek Cichocki und Janusz Tycner diskutieren über das angespannte Verhältnis zwischen der EU und Polen. ♦ Wie sollen die Polen darauf reagieren, dass sie EU-Geld bekommen und deshalb gefälligst zu gehorchen haben oder aus der EU austreten sollen? ♦ Haben Wahlen und Parlamentsmehrheiten noch einen Sinn, wenn EU-Kommissare sowieso alles besser wissen und bestimmen wollen (Emigrantenansiedlung, Renteneintrittsalter, Umgang mit dem Borkenkäfer, Justizaufbau, Kohleverfeuerung usw.)? ♦ „Kapitulation“, „Krieg“, „Sanktionen“, „Atomschlag nach Art. 7“, die Wortwahl mancher EU-Institutionen und Medien sagt viel aus über dehren emotionalen Zustand. ♦ Deutschlands Rolle im Vorgehen der EU gegen Polen. ♦ Wie geht es weiter?