Kaczyński und die Juden

Ob für oder gegen Kaczyński, beide verfeindeten Lager der polnischen Juden fordern gleichermassen die Achtsamkeit des mächtigen Politikers ein.

Die einen preisen das heutige Polen als ein gutes Land für die Juden, die anderen warnen vor dem angeblich sprunghaft wachsenden Antisemitismus.

Dazu veröffentlichen wir ein Gespräch mit Jonny Daniels, erschienen im Wochenmagazin „wSieci“ („imNetzwerk“) vom 28.August 2017.

Jonathan Daniels, geboren 1986, lebte bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr in London, zog dann nach Israel. Er studierte den Talmud an einer Jeschiwa Hochschule, leistete Wehrdienst in der israelischen Armee und studierte anschlieβend Politologie an der Bar-Ilan-Universität in Tel Aviv. Daniels arbeitete als Assistent und Berater in verschiedenen höheren Behörden der israelischen Verwaltung. Eine Zeit lang beriet er Unternehmen, die in Israel Fuβ fassen wollten.

Mit dem polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda.

Vor einigen Jahren kam er nach Polen, ins Land seiner Vorfahren, die in dem Zweitausend-Seelen-Städtchen Dobrzyń nad Wisłą (Dobrin an der Weichsel), ungefähr sechzig Kilometer südöstlich von Toruń/Thorn lebten. Während der polnischen Teilungen gehörte Dobrzyń zu Russisch-Polen, in der Zwischenkriegszeit 1918-1939 zu Polen. Juden stellten zeitweise bis zu einem Drittel der Stadtbevölkerung. Die meisten von ihnen, darunter Daniels Vorfahren, wanderten um 1900 in die USA aus.

Mit Pater Tadeusz Rydzyk. Daniels pflegt den jüdisch-polnischen Dialog als Gast des Senders Radio Maryja und seines Fernsehablegers TV Trwam.

Daniels hat inzwischen seinen Lebensmittelpunkt nach Polen verlegt. Er gründete die Stiftung „From the Depths“ („Aus den Tiefen“) mit dem Ziel, diejenigen Polen, die Juden während der deutschen Besatzung retteten (worauf die Todesstrafe für die ganze Familie stand, siehe das Beispiel der Familie Ulma) ausfindig zu machen und zu ehren. Daniels, mit seinen exzellenten Kontakten in die höchsten Kreise der Politik in beiden Ländern, gehört inzwischen zu den wichtigsten Mittlern zwischen Polen und Israel.

War der von Ihnen organisierte Besuch jüdischer Führungspersönlichkeiten bei Jarosław Kaczyński (am 19. August 2017 – Anm. RdP) eine Reaktion auf den Brief der Vorsitzenden einiger jüdischer Gemeinden, in dem behauptet wird, in Polen hätten „antijüdische Haltungen“ an Bedeutung gewonnen?

Nein, das Gespräch war schon vorher geplant. Es traf sich jedoch gut, dass es gerade in dieser Zeit stattfand, denn so konnten wir, teilweise wenigstens, die unangenehmen Folgen des unklugen Vorgehens der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden abschwächen.

Treffen Jaroslaw Kaczyńskis mit Vertretern polnischer Juden am 19. August 2017.

Unklug?

Wie überall, gibt es zweifelsohne auch in Polen Antisemitismus, aber man sollte das rechte Augenmaβ behalten. Wir sitzen hier in einem koscheren Warschauer Restaurant. Um uns herum sind Juden mit Kipas. Niemand sieht beunruhigt aus. Die Tür zum Lokal ist weit geöffnet, das Schild über der Tür gibt eine eindeutige Auskunft darüber, was sich hier befindet. Es gibt keine Bewachung, weil sie nicht notwendig ist. So etwas ist mittlerweile in Paris und in vielen anderen westeuropäischen Städten unvorstellbar. Dort haben die Juden allen Grund Angst zu haben und sie haben Angst.

Wie steht es also um den Antisemitismus in Polen?

Er ist unvergleichbar schwächer und unvergleichbar weniger rabiat als in Westeuropa. Zudem, er nimmt nicht zu, wie es die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden behaupten.

Antisemitische Schmiererei.

Hat Polen also kein Problem mit dem Antisemitismus?

Kein Problem, das kann man natürlich nicht sagen. Auch die Regierung macht diesbezüglich Fehler, aber das bezieht sich ausschlieβlich auf die Öffentlichkeitsarbeit. Polen ist ein leichtes Ziel. In Sachen internationale Öffentlichkeitsarbeit hinkt es Israel und den amerikanischen Juden dreiβg Jahre hinterher.

Die polnische Regierung reagiert zu spät und zu schwach auf solche, eher seltenen Zwischenfälle, wie der öffentlichen Verbrennung einer Judenstrohpuppe in Wrocław (am

Staatspräsident Andrzej Duda an der Klagemauer in Jerusalem. Januar 2017.

19. November 2015, der Täter wurde zu drei Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt – Anm. RdP) oder den Überfall von Fuβballhooligans auf israelische Sportler (am 3. August 2017 in Płońsk bei Warschau, die zwei Opfer erlitten leichte Schürfwunden, die Täter wurden ermittelt und warten auf ihren Prozess – Anm, RdP).

In Zeiten von Twitter muss man sofort die 140 Zeichen mit einer eindeutigen moralischen Verurteilung veröffentlichen. Wenn es Opfer gibt, muss man sie spätestens am nächsten Tag besuchen. Es geht hier jedoch nur um Öffentlichkeitsarbeit. Wenn aber jemand der jetzigen nationalkonservativen polnischen Regierung Antisemitismus vorwirft, dann ist das eine niederträchtige Lüge.

Warum niederträchtig?

Weil die jetzige Regierung nicht nur nicht antisemitisch ist, sie gehört zu den pro-israelischsten auf unserem Planeten. Ich kann nicht über alles reden was ich weiβ, aber beide Staaten arbeiten auf vielen Gebieten auβergewöhnlich eng zusammen und begegnen sich mit groβer Achtung. Ich möchte unterstreichen: das gilt gerade für die jetzige Regierung von Recht und Gerechtigkeit.

„Die jetzige polnische Regierung gehört zu den pro-israelischsten auf unserem Planeten.“ Ministerpräsidentin Beata Szydło und Amtskollege Benjamin Netanjahu in Tel Aviv. November 2016.

Sehr bezeichnend ist eine Episode von vor einigen Jahren. Ich habe damals eine Reise von Knesset-Abgeordneten nach Polen organisiert und wollte nach den offiziellen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz noch eine halboffizielle Begegnung mit ranghohen polnischen Politikern arrangieren. Die damalige Tusk-Regierung war daran nicht sonderlich interessiert. Zu dem Treffen kamen schließlich ganz wenige Abgeordnete der regierenden Bürgerplattform, dafür aber sehr viele Sejm-Abgeordnete von Recht und Gerechtigkeit, sogar Europa-Abgeordnete dieser Partei, darunter der jetzige Staatspräsident Andrzej Duda. Das gab mir zu denken.

Das bedeutet noch lange nicht, dass man in Polen nicht mit Antisemitismus in Berührung kommt.

In der ersten Jahreshälfte 2017 haben einhundertfünfzigtausend israelische Touristen Polen besucht, meistens auβerhalb von Holocaust-Gedenkfeierlichkeiten. Es kamen auch achtundsiebzig israelische Journalisten. Polen ist dicht dran das touristische Reiseland Nummer eins der Israelis zu werden.

Weil es in Polen keine islamistischen Terroranschläge gibt?

Ja, das auch, aber kämen diese Menschen nach Polen, wenn es hier auf Schritt und Tritt eine antisemitische Stimmung gäbe? Außerdem kommen viele von ihnen ein zweites oder drittes Mal. Polen ist ein gutes Land für Juden.

Das „Tel Aviv“ in der Poznańskastrasse. Eines von zwanzig jüdischen Restaurants in Warschau.

Warum also schreiben die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden einen Brief, in dem sie das Gegenteil behaupten?

Vor allem deswegen, weil es Personen sind, die sich tief in dem innerpolnischen politischen Konflikt auf der Seite der jetzigen Opposition engagiert haben. Es genügt ihre Facebook-Profile einzusehen, um festzustellen, dass sie keine Gelegenheit auslassen ihre tiefe Ablehnung gegenüber der jetzigen Regierung kundzutun.

Handelt es sich also ihrerseits um eine Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs im Kampf gegen Recht und Gerechtigkeit?

Das was sie tun, ist nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Sie schreien „Der Wolf kommt, der Wolf kommt!“ und es gibt keinen Wolf. Wenn sie so weiter machen, und der Wolf sollte eines Tages doch auftauchen, wird niemand ihr Rufen ernstnehmen.

Wird ihr Rufen von den Juden im Westen nicht schon heute ernstgenommen?

Unser Treffen mit Jarosław Kaczyński hat die Wirkung des Briefes weitgehend reduziert. Viele einflussreiche jüdische Medien, wie zum Beispiel das amerikanische Wochenmagazin „The Forward“, haben sowohl das Gespräch, wie auch unsere entschiedene Kritik an diesem Schreiben wahrgenommen. Ein unguter Beigeschmack ist leider geblieben.

Dabei muss man berücksichtigen, dass es zwei wichtige Zentren der jüdischen Meinungsbildung gibt: Israel und die USA. In Israel überwog lange Zeit eine antipolnische Stimmung. Das hat sich geändert.

Ist es in den USA anders?

Leider ja. Bei den amerikanischen Juden war die antipolnische Stimmung immer deutlich stärker und aggressiver als in Israel. Jetzt wird dieser Unterschied noch gröβer, weil sich die Stimmung in Israel zum Besseren wendet, während sie in Amerika unverändert bleibt.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die Tatsache, dass viele amerikanische Juden mit der liberalen Linken sympathisieren und das macht sie automatisch zu Gegnern der jetzigen Regierung in Warschau.

In Israel dagegen hat die Linke sehr an politischer Bedeutung verloren. Dort ist der Brief kaum auf Resonanz gestoβen, in Amerika hingegen schon. In den USA wird er kolportiert und seine Aussagen werden verschärft durch entsprechende Kommentare der Anti-Defamation League (Antidiffamierungsliga – Anm. RdP). Sie ist immer noch eine der einflussreichsten jüdischen Organisationen, zu der jedoch immer mehr Juden wegen ihrer zunehmenden Linkslastigkeit auf Distanz gehen.

Zudem wissen die meisten amerikanischen Juden nicht, dass die Gemeinden nicht mehr die einzigen Vertreter der polnischen Juden sind. Das jüdische Leben in Polen wird immer vielfältiger.

Das alljährliche zehntägige Festival der Jüdischen Kultur in Kraków sucht seinesgleichen in der Welt.

Sie wissen wahrscheinlich auch nicht, dass die polnischen Juden heute politisch genauso gespalten sind, wie die gesamte polnische Gesellschaft, nämlich in Anhänger und Gegner der jetzigen Regierung. Der Brief der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden erweckt den Eindruck, eine solche Spaltung gäbe es nicht. Wurde er geschrieben und veröffentlicht, weil seine Verfasser der von ihnen ungeliebten Regierung zusetzen wollten?

Die Geldgeber der jüdischen Gemeinden in Polen sind fast ausschlieβlich linksliberale amerikanische Juden. Das wirkt sich eindeutig auf die politische Haltung der Vorsitzenden aus. Solche Attacken unter dem Vorwand der „Verteidigung der Juden“, wie der erwähnte Brief, sind so gesehen sehr lohnend. Man erhält leichter und auch mehr Geld, wenn die Geber überzeugt sind, dass das was sie sponsern bedroht ist.

Wie gesagt, die jetzige Warschauer Regierung ist auβerordentlich juden- und israelfreundlich, aber sie muss auf die gelegentlich vorkommenden antijüdischen Vorfälle entschiedener reagieren. Dieser Mangel diente den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden als Vorwand.

Das Verfassen des Briefes war eine politische Aktion mit dem Ziel die Aufmerksamkeit internationaler Medien zu wecken und ein Signal zu senden: „polnische Juden werden bedrängt“. Ansonsten hätten die Autoren ihren Brief nicht publik gemacht, und schon gar nicht sofort nachdem sie ihn abgeschickt hatten, ohne eine Antwort abzuwarten. Offensichtlich wollten sie der internationalen Öffentlichkeit einreden Kaczyński sei ein Antisemit, was einfach nicht wahr ist.

Staastpräsident Lech Kaczyński (1949-2010) mit dem Oberrabiner Polens Michael Schudrich (Mitte) am 21. Dezember 2008 in der Warschauer Synagoge am Beginn des Chanukkafestes.

Jarosław Kaczyński und sein ums Leben gekommener Bruder Lech hatten schon in ihrer Kindheit einige jüdische Freunde.

Ich sage es mit allem Nachdruck: wenn etwas den Antisemitismus in Polen erwecken kann, dann sind es solche Aktionen, wie der Brief der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden. Das wird deren Gewissen belasten.

Ihre Stiftung „From the Depths“ zeichnet Polen aus, die während des Krieges Juden gerettet haben. Woher diese Idee?

Bei meinen Reisen durch Polen bin ich ins Dorf Rekówka (ca. 150 Kilometer südlich von Warschau – Anm. RdP) gekommen. Nach dem Krieg war dort bisher kein Jude vor mir gewesen. In Rekówka haben deutsche Gendarmen zwei Familien, darunter sechs Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren, für das Verstecken von Juden ermordet. Ich war schockiert, weil niemand bis dahin den Nachkommen dieser Menschen auch nur ein offizielles Wort des Dankes gesagt hat.

Wie sind die Auszeichnungen Ihrer Stiftung im Vergleich zu dem Titel „Gerechter unter den Völkern“, den die Gedenkstätte Yad Vashem vergibt zu sehen?

Wir rivalisieren nicht mit Yad Vashem. Es soll einfach mehr Möglichkeiten geben solch tapfere Menschen zu würdigen.

RdP

Rede von Jarosław Kaczyński

am 18. September 2017 bei einer Gedenkveranstaltung im Warschauer Zoo. Dessen Direktor Jan Żabiński (1897 – 1974) und seine Frau Antonina (1908 – 1971) haben während der deutschen Besatzung einige Hundert Juden aus dem Warschauer Ghetto herausgeschmuggelt, sie auf dem weitgehend zerstörten Zoo-Gelände versteckt, um sie von hieraus an geheime Orte auf dem Land zu bringen. Dafür wurden sie 1965 mit dem Titel Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet. Bei der Gedenkveranstaltung, unter Beteiligung offizieller Vertreter Israels, wurden, meistens posthum, Polen geehrt, die Juden während der deutschen Besatzungszeit gerettet haben.

Kaczyński sagte unter anderem:

„Der Holocaust war ein unvergleichlich schweres Verbrechen, ein Ausdruck des Bösen in seiner radikalsten Form. Dieses absolut Böse trat in der Geschichte viele Male hervor, aber im zwanzigsten Jahrhundert zeigte es sein schrecklichstes Antlitz. Dem absolut Bösen widersetzte sich etwas, was man als das absolut Gute bezeichnen kann, ein Heldentum höchster Güte, das vor dem Tod nicht zurückwich. (…)

Der Antisemitismus von heute nimmt andere Formen an als früher. Der heutige Antisemitismus äuβert sich in der Feindschaft zum Staat Israel. Sie ist charakteristisch für die Linke und einige andere politische Kräfte in Europa. (…)

Jemand hat gesagt, Israel sei ein kleiner Staat. Nein, Israel ist nicht klein. Israel hat bewiesen, dass nicht das Territorium, sondern die Kraft des Geistes und die Entschlossenheit von der Gröβe eines Staates Zeugnis ablegen. Israel ist auf seine Weise ein groβer Staat. Diese Gröβe ist der Beweis für die Kraft des Geistes aber auch der Beweis dafür, dass es über uns eine höhere Kraft gibt, die über alles entscheidet, denn ohne sie könnte Israel nicht existieren. Das ist das Wunder unserer Zeit. Der heutige Antisemitismus richtet sich gegen Israel. (…)

Es ist sehr gut, dass es eine Stiftung gibt, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Würdigung derer, die diesen Heldenmut aufgebracht haben fortzusetzten und zu erweitern. Die Stiftung „From the Depths“ will, dass viele, die nicht die höchste Genugtuung erfahren haben, bisher nicht als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet wurden, doch noch aus der Vergessenheit geborgen und geehrt werden. (…)

Antonina und Jan Żabiński.

Diejenigen, die der Opfer des Holocaust gedenken, erinnern auch an jene, welche Menschen vor dem Holocaust retteten. Es waren die tapfersten der Tapferen. Dafür gebietet ihnen ewiger Ruhm. Ich verneige mich vor ihnen.“

Brief der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in Polen an Jarosław Kaczyński

Warszawa, den 4. August 2017

Herrn Jarosław Kaczyński Vorsitzender von Recht und Gerechtigkeit

Geehrter Herr,
mit groβer Beunruhigung nehmen wir in den letzten Monaten eine Zunahme von antisemitischen Haltungen in Polen wahr, eine Brutalisierung der Sprache sowie von Verhaltensweisen, von denen viele gegen unsere Gemeinschaft gerichtet sind.

Mit besonderer Empörung erfüllen uns die Ereignisse der letzten Tage, die die Befürchtung wecken, dass wir in einem für uns immer weniger sicheren Umfeld leben. Ein wachsender Antisemitismus in der öffentlichen Debatte, die dem Senator Marek Borowski vorgehaltene jüdischen Herkunft seiner Vorfahren durch die Journalistin des Polnischen Fernsehens Magdalena Ogórek, das Auftauchen faschistischer Fahnen und Parolen von ORN Falanga bei staatlichen Feierlichkeiten; dies alles weckt schlimmste Erinnerungen. Vor einigen Tagen verbreitete der Abgeordnete von Recht und Gerechtigkeit, Herr Bogdan Rzońca (fonetisch Schontza – Anm. RdP) über die sozialen Medien seine absurden, menschenverachtenden Gedankengänge: „(…) Ich überlege warum es, trotz des Holocaust, so viele Juden unter den Befürwortern der Abtreibungen gibt.“ Das zeigt einen vollkommenen Mangel an Sensibilität sowie ein Unverständnis dafür, was das Wesen des Holocaust war.

Dafür gibt es unsererseits keine Billigung. Polen ist unsere Heimat und wir wollen hier nicht unerwünscht sein, doch immer öfter haben wir diesen Eindruck. Der Vorfall von vor einigen Tagen, als israelische Sportler aus antisemitischen Beweggründen tätlich angegriffen wurden, zeigt, dass der Antisemitismus aus der Sphäre der Worte in die Sphäre der Taten übergeht. Wir haben Angst um unsere Sicherheit und unsere Zukunft in Polen, wir wollen keine Wiederholung des Jahres 1968.

Als Sie vor vierzehn Monaten bei den Gedenkfeierlichkeiten zum Jahrestag der Beseitigung des Ghettos von Białystok gesprochen haben empfanden wir Ihre Worte als ermutigend. Wir haben gehofft, dass Sie unsere Gemeinschaft unterstützen werden, dass wir Ihrerseits auf Verständnis sowohl für unsere Geschichte als auch für unsere jetzige Lage treffen würden.

Daher wäre für uns, Ihre starke und entschiedene Verurteilung des Antisemitismus, eine Stellungnahme zu unseren Gunsten, besonders wichtig.

Mit Hochachtung

Anna Chipczyńska, Vorsitzende der Jüdischen Glaubensgemeinde in Warschau
Lesław Piszewski, Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Glaubensgemeinden in Polen

RdP




Polens Justizreform. Der tiefe Fall der Richter

Veränderungen tun Not.

Warum gehen die Polen gegen die Justizreform nicht zu Hundertausenden auf die Straβe? Weil sie den Zustand ihrer Justiz tagtäglich schmerzhaft erfahren. Justizminister Zbigniew Ziobro hat in seiner Rede vor dem Sejm am 18. Juli 2017 den meisten von ihnen aus der Seele gesprochen.

Wir dokumentieren diesen Auftritt hier in Bild und Ton in der polnischen Originalfassung und nachfolgend in einer deutschen Übersetzung. Titel und Zwischentitel von der RdP-Redaktion.

Justizminister Zbigniew Ziobro.

Herr Sejmpräsident, Hohes Haus, verehrte Herrschaften,

(…) ich möchte die Gelegenheit ergreifen und Stellung nehmen zu einigen Sachverhalten, die während dieser Debatte zur Sprache gekommen sind. Vor allem zu den heutigen Äuβerungen der Ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichts, Frau Prof. Małgorzata Gersdorf.

Prof. Małgorzata Gersdorf

Frau Prof. Gersdorf hat hier gleich zu Beginn die These aufgestellt, dass eigentlich (…) die Situation im polnischen Justizwesen idyllisch war, alles lief bestens, dann aber kam die böse Regierung von Recht und Gerechtigkeit und plötzlich ist das Ansehen der Gerichte in der Öffentlichkeit geradezu abgestürzt.

Frau Prof. Gersdorf, ich möchte (…) unterstreichen, dass dieselben Medien, die die verschiedensten Pathologien im Justizwesen beschreiben, auch die Vertreter der Regierung kritisieren, ebenso mein Wirken als Justizminister. Es würde mir jedoch niemals in den Sinn kommen deswegen über die Medien herzufallen. (…)

Richter klauen…

Verehre Herrschaften,

nicht Abgeordnete haben Bohrmaschinen, USB-Sticks, Wurstwaren, Hosen gestohlen, Preise für Reiseführer ausgetauscht, wie neulich in Szczecin, oder fünfzig Zloty auf einer Tankstelle mitgehen lassen usw.

Karyatiden am Sitz des Obersten Gerichts in Warschau.

(Es wird immer wieder gemeldet, dass Richter Diebstähle begehen und auf frischer Tat ertappt werden.

Richter Paweł. M. stahl im Juni 2016 in Szczecin/Stettin Teile einer Bohrmaschine im Wert von knapp einhundert Zloty.
Im Juni 2017 wurde die Richterin Wiesława B.-M. in Szczecin ertappt als sie die Preisschilder auf touristischen Reiseführern vertauschte.

Richter Robert W. und seine Frau stahlen in Wrocław/Breslau und Wałbrzych/Waldenburg im Juni 2016 USB-Sticks und andere elektronische Kleinteile im Wert von tausendsiebenhundert Zloty.

Im September 2016 versuchte die Richterin Katarzyna K.-H. in Łódź eine Hose im Wert von einhundertdreißig Zloty zu entwenden.

Im November 2010 stahl der Richter Zbigniew J. Wurst im Wert von fünf Zloty in Tarnobrzeg.

Richter Mirosław T. aus Żyrardów eignete sich im März 2017 auf einer Tankstelle einen Fünfzig-Zloty-Schein an, den eine Kundin auf dem Tresen als Bezahlung für getanktes Benzin gelegt hatte. Der Vorgang wurde durch eine Überwachungskamera dokumentiert – Anm. RdP).

…der Schein der heilen Welt lebt weiter

Ziobro: Die Frau Erste Vorsitzende des Obersten Gerichts ist leider nicht imstande daraus den Schluss zu ziehen, dass es ein Problem gibt, eine Krise in Bezug auf moralische Standards und Prinzipien bei einem Teil der Richterschaft. Frau Prof. Gersdorf neigt dazu das Problem bei den Medien zu sehen und eventuell bei den Politikern, die versuchen aus diesen Affären ihre Schlüsse zu ziehen.

Das idyllische Bild existiert nur im Wunschdenken der Ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichts. So etwas gibt es nicht in der realen Welt der Menschen, die fast jeden Tag mit den Pathologien im Justizwesen konfrontiert werden. Ganz zu schweigen von ihren persönlichen Erfahrungen, der Geringschätzung und der Arroganz, die sie tagtäglich in den Gerichten erleben. (…).

Ich darf Ihnen, Frau Prof. Gersdorf auch sagen, dass ich neulich mit einem amerikanischen Journalisten gesprochen habe. Er fragte mich nach der Reform des Justizwesens.

Ich habe mir erlaubt, kurz mit ihm die Rollen zu tauschen. Ich habe ihn gefragt, angenommen in den USA gäbe es eine Affäre mit etwa zweihunderttausend Geschädigten. Das entspräche (proportional zur Bevölkerungszahl – Anm. RdP), der Anzahl der Geschädigten bei uns, die es aufgrund des Amber-Gold-Skandals gab. Angenommen der Sohn des Präsidenten wäre in sie verwickelt (in Polen ist es der Sohn des damaligen Regierungschefs Donald Tusk – Anm. RdP). Angenommen ein Richter, der sich mit diesem Skandal beschäftigt, wäre dem Assistenten des Bürochefs des amerikanischen Präsidenten zu Diensten. (Der Fall des Richters aus Gdańsk Ryszard Milewski, siehe den Beitrag hier – Anm. RdP).

(…) Die Antworten auf diese Fragen sind offensichtlich. Und wissen Sie, wer darüber entschieden hat, dass der Richter Ryszard Milewski weiterhin Recht sprechen, seinen Beruf ausüben darf? (…) Das Oberste Gericht.

Das allein müsste ein ausreichendes Argument für die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen in den Disziplinarverfahren sein. Ein Argument dafür, dass dieses Oberste Gericht völlig versagt hat.

Solche Richter wollen wir nicht

Das ist nicht das einzige Beispiel. Man kann an dieser Stelle auch einen etwas weniger bekannten Fall anbringen, obwohl er einen der Richter des Obersten Gerichts direkt betrifft, den Vorsitzenden einer der Zivilspruchkammern dieses Gerichts.

Während einer Antikorruptionsfahndung wurde ein Richter an einem Verwaltungsgericht abgehört. Er bot einem Unternehmer an, gegen Zahlung eines Bestechungsgeldes, ihm zu helfen die Aufhebung eines Gerichtsurteils vor dem Obersten Gericht zu erwirken. Der Kollege des Verwaltungsrichters, jener besagte Zivilrichter am Obersten Gericht, versprach zu helfen. Er erklärte sich sogar bereit die entsprechende Kassationsklage neu zu verfassen, da sie schlecht formuliert sei. Es ging immerhin um zwanzig Millionen Zloty (ca. fünf Millionen Euro – Anm. RdP).

Was hat Frau. Prof. Gersdorf in dieser Angelegenheit unternommen? Nichts. Der Mann leitet weiterhin seine Zivilspruchkammer.

Solche Richter wollen wir nicht. Sind das etwa Richter, die den ethischen Standards entsprechen? (…)

Ich gestehe meine Schuld ein, zusammen mit dem stellvertretenden

Berufungsgericht in Kraków.

Justizminister Patryk Jaki, die gigantische Korruptionsaffäre am Berufungsgericht in Kraków aufgedeckt zu haben. Sie erstreckte sich über Jahre. Millionen von Zloty des polnischen Steuerzahlers wurden gestohlen, unter Beteiligung eines der ranghöchsten Richter im polnischen Justizwesen, des Präsidenten eines Berufungsgerichts! Er befindet sich heute in Untersuchungshaft.

(Zwischen Januar 2013 und November 2016 soll der Präsident des Berufungsgerichts in Kraków, Krzysztof S., gegen „Beteiligung an den Honoraren“ fiktive Gutachten in Auftrag gegeben und damit knapp vierhunderttausend Zloty (ca. einhunderttausend Euro) für sich „verdient“ haben. Insgesamt befinden sich inzwischen neun Personen, darunter die Buchhalterin des Gerichts, und einige „Gutachter“ in Untersuchungshaft. Der Gesamtschaden beläuft sich auf umgerechnet eine Million Euro – Anm. RdP).

Ziobro: Ja, das ist unsere Schuld. Wir nehmen Teil an der Verfolgung von korrupten Richtern, die sich am organisierten Verbrechen beteiligen. Vielleicht betrachtet das die Frau Erste Vorsitzende des Obersten Gerichts als meine Schuld. Ich schäme mich dieser Schuld nicht, ich bekenne mich zu ihr, genau auf diese Weise will ich, als Justizminister und Generalstaatsanwalt, schuldig sein.

Wo war das Oberste Gericht?

Zu all diesen skandalösen Vorfällen habe ich keine Stellungnahme des Obersten Gerichts vernommen. Dafür gab es etliche Beschlüsse und Erklärungen zu politischen Angelegenheiten dieses angeblich apolitischen Obersten Gerichts und seiner angeblich apolitischen Ersten Vorsitzenden, Frau Prof. Gersdorf, die sich vermeintlich in keine politischen Konflikte einmischt.

Mir ist keine Äuβerung der Besorgnis aufgrund der niedrigen ethischen Standards im Fall der Affäre in Kraków zu Ohren gekommen. Ich habe keine Stellungnahme des Obersten Gerichts vernommen zu Richtern, die in Warschau Treuhänder für reprivatisierte Grundstücke eingesetzt haben, deren „Eigentümer“ angeblich irgendwo weit weg im Ausland wohnten und entsprechend den offensichtlich gefälschten Unterlagen bereits einhundertzwanzig oder gar einhundertvierzig Jahre alt waren. Die zuständigen Richter hat es nicht gestört.

Dank all dem konnten Betrüger reihenweise Einwohner aus ihren Wohnungen vertreiben. Jahrelang wurden alle Untersuchungsverfahren in dieser Angelegenheit abgewehrt, Ganoven konnten straflos ihr Unwesen treiben. All das geschah unter der Beteiligung von Richtern. Erst wir haben dieser Mafia das Handwerk gelegt. Wo war damals das Oberste Gericht?

Wollen sie weiterhin behaupten, dass eine Disziplinarkammer am Obersten Gericht nicht notwendig ist?

(Aus Richtern bestehend, soll die Disziplinarkammer Immunitäten von Richtern aufheben, die straffällig geworden sind, damit sie vor Gericht gestellt werden können. Nach einem rechtskräftigen Urteil soll die Kammer Disziplinarstrafen verhängen, z.B. die Entfernung aus dem Richteramt. Bei Ordnungswidrigkeiten oder kleineren Amtsvergehen könnte sie selbständig Disziplinarstrafen verhängen wie z. B. einen Verweis erteilen, ohne dass diese Fälle vor ein Strafgericht kommen – Anm. RdP).

Die Wahrheit ist traurig. Sehr schade, dass wir heute, wieder einmal, in diesem Plenarsaal Zeugen davon waren, dass solche Vorgänge keine Nachdenklichkeit hervorrufen.

Ich bin bereit über Einzelheiten der Gesetzesvorlage zu diskutieren. Ich bekräftige: wir sind bereit aus diesem Gesetzentwurf die bisher vorgesehene, ausnahmsweise Teilnahme des Justizministers am Vorgang der Umbildung des Obersten Gerichts zu streichen. Warum bringen sie nicht ihre Änderungsanträge ein? Einen Teil von ihnen würden wir vielleicht akzeptieren. Im parlamentarischen Ausschuss können wir daran arbeiten.

Man kann nicht von Gerechtigkeit sprechen, wenn es an Ehrlichkeit mangelt. Wir haben den Polen versprochen zwei Probleme im Justizwesen zu lösen. Erstens die ethischen Standards anzuheben, damit Gerichte den Respekt der Bürger genieβen. Damit die Menschen, wenn sie vor Gericht gehen, wissen, dass sie gerecht behandelt werden und nicht vor einem Gericht stehen, das Urteile auf telefonische Bestellung fällt.

Wir wollen das ändern, und die Disziplinarkammer, die solch groβe Befürchtungen weckt, soll die schwarzen Schafe aus dem Justizwesen entfernen. Bis jetzt werden sie oft genug nicht entfernt und belasten das Erscheinungsbild des gesamten Justizwesens, auch der anständigen Richter, an denen es nicht fehlt. (…)

Ausgebuht und rausgegangen

Ebenfalls kam hier der Vorwurf auf, dass wir uns dem Dialog verweigern, nicht diskutieren wollen. Ich habe noch vor Augen, woran auch Sie sich bestimmt erinnern können, wie, auf meine Bitte hin, mein Stellvertreter im Justizministerium, Herr Marcin Warchał zum Kongress der Polnischen Juristen (am 20.05.2017 – Anm. RdP) nach Katowice fuhr um ein Referat zu halten.

Im Anschluss wollte er in den Arbeitsgruppen mitdiskutieren. In seinen Ausführungen hatte er eine Korrektur unserer Pläne vorgestellt, die den Forderungen der Richterschaft entgegen kam.

Katowice am 20. Mai 2017. Der stellv. Justizminister Marcin Warchał spricht, die Juristen verlassen den Saal.

In seinem Vortrag sprach er über eindeutige Tatsachen. Er hat niemanden beleidigt. Er sagte, dass die Richterschaft die Zeit des Kommunismus in den eigenen Reihen nicht aufgearbeitet hat. Natürlich, man muss dem nicht zustimmen, wenn man meint, dass es richtig gewesen sei, sich diesem Problem nicht zu stellen. Tatsache jedoch ist: es ist nichts geschehen.

Wie reagierte der Saal? Mit Buhrufen, die Mehrheit der Teilnehmer verlieβ kurz darauf den Saal und die Frau Erste Vorsitzende des Obersten Gerichts hat sich davon nicht distanziert. Sie war ja zugegen. (…) Ist das eine Willensbekundung zur Führung eines Dialoges? Alle haben das gesehen.

So sieht die Dialogbereitschaft aus, wenn die Wahrheit gesagt wird. Egal ob es um den Verfall der Richterethik geht, um konkrete Kriminalfälle, von denen ich viele weitere nennen könnte, weil sie mir als Justizminister und Generalstaatsanwalt bekannt sind. Oder ob es um das Zelebrieren der eigenen Macht geht, was wir einschränken wollen im Interesse derer, die vor die Gerichte gelangen.

Die Kaste applaudiert

Frau Prof. Gersdorf, der Bürgerrechtsbeauftragte Herr Dr. Artur Bodnar (der an dieser Sejm-Debatte teilgenommen und die Reformpläne der Regierung scharf kritisiert hat – Anm. RdP) und der Vorsitzende des Landesjustizrates, Richter Waldemar Żurek (fonetisch Schurek – Anm. RdP) haben auch an einer früheren Veranstaltung wie der in Katowice teilgenommen (Es handelt sich hierbei um den Auβerordentlichen Kongress der Polnischen Richter in Warschau am 03.09.2016 – Anm. RdP).

Ziobro: Dort hat eine sehr prominente Vertreterin der Richterschaft (Richterin am Obersten Verwaltungsgericht Irena Kamińska – Anm. RdP) gesagt, die Richter seien „eine ganz und gar auβergewöhnliche Kaste von Menschen“.

Richterin Irena Kamińska.

Und man kann in den Filmberichten sehen, dass sich im Saal keinerlei Ablehnung nach diesen Worten breitgemacht hat. Niemand hatte die Schamesröte im Gesicht. Niemand hat sich distanziert. Dort gab es Ovationen und Beifall. Wieviel Hochmut muss man in sich haben, um dermaβen von der Realität abzuheben. Deswegen sind Veränderungen, ist der Sauerstoff der Demokratie vonnöten.

Deswegen schlagen wir das vor, deswegen setzten wir unser Wahlprogramm um. Wir machen genau das, was sie in unserem Wahlprogramm finden können. Und wir werden dieses Werk unbeirrt fortsetzen.

Kommunismus? War da was?

Was die Nichtaufarbeitung des Kommunismus angeht, an dieser Stelle muss man eingestehen, dass immerhin ein, wörtlich: ein, Richter, der Willkürurteile gegen Oppositionelle gefällt hat, aus dem Amt entfernt wurde. Eigentlich war die Entfernung von fünfhundert bis sechshundert Richtern geplant und notwendig.

In der ehemaligen DDR waren bereits drei Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung nur zwanzig Prozent der DDR-Richter in ihrem Amt verblieben. Das zeigt die Unterschiede in der Aufarbeitung.

Sehr auffällig in der Debatte, die bei uns geführt wird, ist die ständige Verneinung der Nichtaufarbeitung des Kommunismus durch die Richterschaft. Die gut gemeinten Worte von Ende 1989 des damaligen, gerade neuernannten Ersten Vorsitzenden des Obersten Gerichts (und Oppositionellen im Kommunismus – Anm. RdP), Prof. Adam Strzembosz (fonetisch Stschembosch – Anm. RdP), die kommunistische Richterschaft „werde sich selbst säubern“ klingen inzwischen wie Hohn.

Heute findet auch in dieser Frage eine „Verteidigung der belagerten Festung“ statt, indem man uns einzureden versucht, wie das z.B. die Vertreter des Landesjustizrates tun, dass es nicht stimmt, dass die Richter keine reine Weste haben. Wie kann man so etwas erzählen, entgegen den Tatsachen!? Da gehört schon viel Dreistigkeit dazu.

Kommunistische Straftäter freigesprochen

Zurück zum Obersten Gericht und seiner Rechtsprechung. Aufgrund seiner Beschlüsse konnten Leute nicht strafrechtlich belangt werden, die in der kommunistischen Zeit Straftaten begangen haben. So z. B. hat das Oberste Gericht in seinem Beschluss vom 25. Mai 2010 festgestellt, dass die Verursacher einiger kommunistischer Verbrechen, wie z.B. das Verprügeln oder Misshandeln von Personen (was vor allem in der stalinistischen Zeit bei Untersuchungen Gang und Gäbe war – Anm. RdP), die einer Strafandrohung von unter fünf Jahren Freiheitsentzug unterliegen, wegen Verjährung nicht strafrechtlich belangt werden können. (…)

In einem anderen Fall nahm dasselbe Oberste Gericht, geleitet von einer falsch verstandenen Berufssolidarität und dem Willen das postkommunistischen Umfeld zu schützen, Richter in Schutz, die während der Verhängung des Kriegsrechts (am 13.12.1981 gegen Solidarność – Anm. RdP) Willkürurteile fällten.

13. Dezember 1981. Am Tag der Verhängung des Kriegsrechts stürmt die kasernierte Miliz die Warschauer Solidarność-Zentrale.

Am 20. Dezember 2007 erließ das Oberste Gericht einen Deutungsbeschluss, in dem es hieβ, Richter, die das Dekret über die Einführung des Kriegsrechts rückwirkend angewendet und hohe Freiheitsstrafen gegen Solidarność-Aktivisten verhängt haben, taten dies rechtmäβig.

Kriegsrecht. Oppositionelle vor einem Militärgericht. Heimliche Aufnahme.

(Das Dekret über die Einführung des Kriegsrechts wurde in der Nacht zum 13. Dezember 1981 verkündet. Es sah hohe Freiheitsstrafen für jedwede oppositionelle Betätigung (Streiks, Demonstrationen, Flugblattaktionen usw.) vor. Die Rechtsgrundlage war ein Beschluss des Staatsrates, gefasst in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981.

Der Staatsrat (als Kollektives Staatoberhaupt im kommunistischen Polen) durfte Dekrete mit Gesetzeskraft verabschieden, allerdings nur in der Zeit zwischen den Plenarsitzungen, des den Kommunisten völlig willfährigen Parlaments. Das sah die damals geltende kommunistische Verfassung vor. Gerade um den 13. Dezember 1981 herum war jedoch eine mehrtägige Plenarsitzung im Gange. Aufgrund der Verhängung des Kriegsrechts setzte das Parlament seine Beratungen dann aber erst am 6. Januar 1982 fort und bestätigte das Kriegsrechtsdekret.

Zwischen dem 13. Dezember 1981 und dem 6. Januar 1982 also war das Dekret, rechtlich gesehen, ungültig, was damals natürlich niemanden gekümmert hat. Dennoch hätten diejenigen Richter, die in dieser Zeit aufgrund des Kriegsrechtsdekrets ihre harten Urteile gegen Oppositionelle fällten, dies wissen müssen und meistens wussten sie es auch. Das Oberste Gericht befreite sie kollektiv von dieser Schuld. – Anm. RdP).

Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen

Ziobro: (…) Es gibt keine Gerechtigkeit ohne Ehrlichkeit und ohne Ethik. Deswegen ist es so wichtig, diese Ethik auf ein hohes Niveau zu hieven. Dem dient die geplante Disziplinarkammer am Obersten Gericht, die solche Widerstände weckt.

Ich kann ihnen viele sehr umstrittene Urteile des Obersten Gerichts in Erinnerung rufen. So legte das Gericht eine groβe Prinzipientreue an den Tag als eine zuckerkranke Frau im Supermarkt einen Schokoriegel zum Preis von 73 Grosze (entspricht der Einheit Cents beim Euro – Anm. RdP) aβ, ohne ihn zu bezahlen. Das Gericht bestätigte die verhängte Haftstrafe. Gleichzeitig erwies sich das Gericht aber als sehr milde gegenüber den Verursachern groβer Finanzskandale.

Beata Sawicka auf der Anklagebank.

Ein Beispiel ist der Fall Beata Sawicka. (Abgeordnete der Bürgerplattform in den Jahren 2005 bis 2007. Sie wurde gemeinsam mit dem Bürgermeister der Gemeinde Hel/Hela im Oktober 2007 bei der Entgegennahme der zweiten Tranche eines hohen Bestechungsgeldes festgenommen. Die Aktion war eine Provokation der Antikorruptionsbehörde. Sawicka wurde in erster Instanz zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. In zweiter Instanz wurde sie freigesprochen, weil das Beweismaterial illegal, durch eine Polizeiprovokation, zustande gekommen ist. – Anm. RdP).

Ziobro: Das Oberste Gericht stellte in einem Deutungsbeschluss fest, dass „die Regel der Früchte des vergifteten Baums“ gelte (ein Verbot der Verwertung illegal gewonnener Beweise – Anm. RdP), obwohl diese Regel in den meisten europäischen Ländern nicht gilt.

Ein anderes Beispiel vom Januar 2017. Das Oberste Gericht sprach die Schuldigen der groβen Korruptionsaffären im Autobahn- uns Straβenbau aus dem Jahr 2011 frei. Die Antikorruptionsbehörde hatte damals ganze Arbeit geleistet und die Telefongespräche der Täter aufgezeichnet. Sie haben Millionen verdient an getürkten Ausschreibungen. Es handelte sich um gigantische Beträge. Die Beweise seien überzeugend, nicht anfechtbar, doch sie wurden wieder einmal wider „die Regel des vergifteten Baums“ gewonnen. Eine Regel, die in Polen nirgendwo verbrieft ist.

Wir können das nicht hinnehmen. Hier Härte gegen die Frau mit dem Schokoriegel, dort Milde für Täter, die gigantische Finanzaffären auf dem Kerbholz haben. (…) Mehr noch, das Oberste Gericht hat seine Rechtsprechung so konstruiert, dass bei den gigantischen, bandenmäβigen Mehrwertsteuerbetrügereien die Täter meistens freikamen. Es hieβ, sie unterlägen nur dem Steuerstrafrecht, das lange Zeit eine kurze Verjährungsfrist vorsah. Das war der Freibrief für die Straffreiheit.

Diese Probleme muss man sehen. Wir wollen diese Zustände ändern. Über Details können wir reden.

Das Prinzip der Gewaltenteilung wird nicht verletzt

Immer wieder war hier die Rede von der Verletzung des Prinzips der Gewaltenteilung (in Polen spricht man von der Dreiteilung der Gewalten – Anm. RdP). Der Urheber dieses Prinzips war Montesquieu. Welche Verfassung wurde geradezu vorbildlich auf diesem Prinzip aufgebaut? Die der Vereinigten Staaten.

Wie regelt diese Verfassung die Berufung der Richter des Obersten Gerichts der USA? Berufen sich die Richter selbst, durch die Zuwahl, wie in Polen? Nein. In den USA, mit ihrer vorbildlichen Verfassung, werden die Richter des Obersten Gerichts vom Präsidenten berufen. Warum? Weil er eine starke demokratische Legitimation hat.

Montesquieu würde sich im Grabe umdrehen, würde er hören, dass man aus seinen Schriften ableitet, er sei dafür, dass sich die Richter selbst berufen, selbst beurteilen, selbst kontrollieren, selbst suspendieren usw. (…)

Das Prinzip des Gleichgewichts zwischen der dritten Gewalt, dem Justizwesen, der Legislative und der Exekutive findet ihren Ausdruck in den Verfassungen vieler europäischer Staaten. So werden in Deutschland, dem gröβten europäischen demokratischen Staat, die Richter der obersten Gerichte ausschlieβlich vom Bundesjustizminister, gemeinsam mit den Landesjustizministern und den Vertretern des Bundestages berufen. Richter haben in diesem Entscheidungsprozess im Grunde nichts zu sagen. (…)

Deswegen bitte ich darum, uns nicht einzureden zu wollen wir würden irgendwelche europäischen Konventionen verletzen. Schauen Sie sich an, wie es in den Niederlanden gemacht wird und in vielen anderen europäischen Staaten. (…).

Die Verfassung wird nicht gebrochen

Sie sagen, wir würden die polnische Verfassung verletzen. Bitte sehr. Der Artikel 180 Absatz 5 sagt ganz klar: „Werden der Aufbau der Gerichte oder die Gerichtsbezirke verändert, kann ein Richter unter Beibehaltung der vollen Bezüge an ein anderes Gericht oder in den Ruhestand versetzt werden“.

Meine Herrschaften, der Justizminister darf das also im Fall der Veränderung des Aufbaus des Obersten Gerichts tun. Aber wir wollen das nicht tun. Wir ziehen diesen Vorschlag zurück. Wir wollen dass der Landesjustizrat das regelt.

Ich habe in diesem Plenarsaal vor Kurzem (siehe den Beitrag „Polnische Justizreform. Mythen und Fakten“ – Anm. RdP) ihre (gemeint ist die Opposition – Anm. RdP) groβen Autoritäten zitiert, die beiden ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten: Prof. Andrzej Rzeplinski und Jerzy Stępień.

Rzepliński schrieb seiner Zeit ganz klar: „Der Landesjustizrat in seiner jetzigen Form ist nur eine staatliche Gewerkschaft der Richter, die dem polnischen Justizwesen schadet“.

Sie (gemeint ist die Donald-Tusk-Partei Bürgerplattform und ihr Koalitionspartner, die Bauernpartei – Anm. RdP) haben so lange regiert, acht Jahre lang. Sie hatten so viel Zeit zum Handeln. Sie haben doch wahrgenommen, dass die polnische Gesellschaft sich vom Justizwesen abwendet. Sie konnten das ändern. Sie haben es nicht getan. Dann stören sie uns wenigstens nicht dabei, wenn wir das Notwendige tun.

Wir wollen diese Änderungen durchführen. Wir wollen den Polen die Gerichte zurückgeben. Wir wollen die ethischen Standards im polnischen Justizwesen anheben. (…)

Ein leistungsfähiges, professionelles und gerechtes Justizwesen liegt in unser aller Interesse. Ein Justizwesen frei von politischem Druck, aber auch frei von berufsbedingtem Egoismus. Im Augenblick ist die Schieflage hinsichtlich dieses Egoismus, der korporativen Interessen, eines Interessensumpfes geradezu gewaltig. Das wollen wir ändern.

Ein Missetäter auf dem Weg ins Oberste Gericht

Zum Schluss noch eines. Wenn die Erste Vorsitzende des Obersten Gerichts, Frau Prof. Gersdorf, wenn der Bürgerbeauftragte des Parlaments, Herr Dr. Bodnar, wenn der Vorsitzende des Landesjustizrates so viel Gutes über den jetzigen Zustand des Justizwesens sagen, möchte ich mich darauf berufen, was ihr Justizminister (November 2007 bis Januar 2009 – Anm. RdP) Zbigniew Ćwiąkalski (fonetisch Tswionkalski – Anm. RdP) gemacht hat. (…).

Nicht einmal er konnte es ertragen, dass der Richter und Oberst Piotr Raczkowski den Posten des Präsidenten des Warschauer Militärgerichtes bekleidete. Ein Mann vieler Skandale.

Richter Piotr Raczkowski (r.) mit seinem Chef, dem Vorsitzenden des Landesjustizrates Richter Waldemar Żurek.

(Das Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) schrieb im April 2017, Raczkowski habe Dienstautos zu privaten Zwecken genutzt, habe einen Richterkollegen verprügelt, habe Untergebene permanent beleidigt und erniedrigt. Als stellvertretender Vorsitzender des Landesjustizrates habe Raczkowski an der Abstimmung teilgenommen, dank der seine Frau den Richterposten am Amtsgericht des Stadtteils Warschau-Mokotów bekam, für den es 93 Kandidaten gab. – Anm. RdP).

Ziobro: Justizminister Ćwiąkalski stellte den Antrag ihm die Immunität zu entziehen, damit er sich vor einem Gericht wegen der Erschleichung von etwa fünfzigtausend Zloty (ca. zwölftausend Euro) zu verantworten habe. Das Oberste Gericht lehnte den Antrag ab.

Heute ist Richter Raczkowski nicht nur stellvertretender Vorsitzendender des Landesjustizrates, sondern auch Kandidat für ein Richteramt am Obersten Gericht. Frau Prof. Gersdorf haben alle diese Informationen nicht gestört. Sie hat viel unternommen, auch versucht mich dafür zu gewinnen, um Richter Raczkowski an ihr Gericht zu bekommen.

Meine Damen und Herren, die Zeit der Worte ist zu Ende. Es müssen Taten folgen. Wir werden das polnische Justizwesen verändern. Vielen Dank.

RdP 




Polens Justizreform. Mythen und Fakten.

Der Justizminister hat das Wort.

Am 12. Juli 2017 fand im polnischen Parlament eine hitzige Debatte über die bevorstehende Justizreform statt. Wie die gesamte Politik der jetzigen polnischen Regierung, hat auch dieses Vorhaben im deutschsprachigen Raum, aufgrund der Berichterstattung der Medien, einen denkbar schlechten Ruf. Die Argumente der Ideengeber und Befürworter der Umgestaltung kommen dabei kaum, wenn überhaupt zur Geltung.

RdP möchte diese Lücke schließen. Wir dokumentieren hier in Bild, Ton (auf Polnisch) und Schrift (in deutscher Übersetzung) die Rede von Justizminister Zbigniew Ziobro, der seine Argumente, vor allem für die Reform des Landesjustizrates, des zentralen Gremiums der polnischen Richterschaft und ihrer Autonomie, darlegt.

Vorab sei kurz erwähnt, dass die Neuordnung des Justizwesens drei Gesetzte umfasst: das Gerichtsverfassungsgesetz, das Gesetz über  den Landesjustizrat und das Gesetz über das Oberste Gericht. Über die beiden letzten wird noch diskutiert.  Das reformierte Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) sieht u. a. vor, dass:

● die polnischen Richter in Zukunft, wie bereits schon jetzt die höheren Staatsbeamten, alle Staatsanwälte und Abgeordnete, jedes Jahr eine im Internet allgemein zugängliche Vermögenserklärung abgeben müssen;

● die Fälle den Richtern nicht mehr von den Gerichtspräsidenten, sondern durch ein computergesteuertes Auslosungssystem zugeteilt werden;

● die Verwaltungsdirektoren der Gerichte vom Justizminister ernannt werden, und die Gerichtspräsidenten sich von nun an allein auf die Rechtsprechung konzentrieren sollen;

● der Richter muss alle seine Verfahren zum Urteil bringen, auch wenn er befördert oder versetzt wird. Dadurch soll die zeitaufwändige und kostspielige Neuafunahme von Verfahren vermieden werden;

● jetzt allgemein vorgeschriebene regelmäβige Aufsichtskontrollen (Visitationen) bei den Gerichten sollen zukünftig entfallen und Richter-Visitatoren, die diese durchführten zur Rechtsprechung in die Gerichtssäle zurückkehren.

Justizminister Zbigniew Ziobro im Sejm.

Nachfolgend die Sejmrede von Justizminister Zbigniew Ziobro zu den Veränderungen im Landesjustizrat:

Herr Sejmpräsident, Frau Ministerpräsidentin, verehrte Damen und Herren,

angesichts der Ausführungen des Berichterstatters (die Einzelheiten des Gesetzentwurfs wurden zuvor durch einen an der Ausarbeitung beteiligten Abgeordneten der Regierungspartei vorgetragen – Anm. RdP), die er inzwischen teilweise mehrere Male wiederholt hat, beschränkt sich meine Rolle darauf seinen Antworten auf Fragen, die in dieser Debatte gestellt wurden einige Ergänzungen hinzuzufügen.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass das polnische System für die Berufung von Richtern äuβerst undemokratisch ist. Und da stellt sich die Frage, ob dieses System vereinbar ist, nicht nur mit dem Geist, sondern auch mit den Prinzipien der polnischen Verfassung, auf die ihr (die Opposition – Anm. RdP) euch so gerne und so oft beruft. Ob es vereinbar ist mit den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates, wenn der Mechanismus (der Richterberufung – Anm. RdP) nicht demokratisch ist. Er fuβt nämlich auf dem Grundsatz der Kooptation.

(Kooptation – Zuwahl, Aufnahme oder Wahl von neuen Mitgliedern durch die Mitglieder einer Gemeinschaft, eines Gremiums. „Für die Wahl von Regierungen, Parlamenten oder anderen Vertretungsorganen ist das Verfahren der Kooptation nicht mit einem demokratischen und rechtsstaatlichen Verständnis vereinbar. Hier hat die Zuwahl einen gänzlich undemokratischen, oligarchischen Charakter“. Siehe dazu Karl Loewenstein: Kooptation und Zuwahl. Über die autonome Bildung privilegierter Gruppen. Frankfurt a. M. 1973 – Anm. RdP).

Ziobro: Diese undemokratische Zuwahl stammt noch aus dem Jahr 1989 (Ende des Kommunismus in Polen – Anm. RdP). Aus dem Kompromiss (der Solidarność – Anm. RdP) mit den Kommunisten (gemeint sind die Vereinbarungen, getroffen bei den Gesprächen am Runden Tisch vom 06.02. bis 05.04.1989 – Anm. RdP).

Ziobro: Damals (am 29.12.1989 – Anm. RdP) wurde der Landesjustizrat (LJR) berufen und seither beruft er, nach dem Zuwahl-Prinzip, bis heute neue Richter. Wer ist das (der LJR – Anm. RdP) konkret? Das sind immer noch Menschen, die durch den kommunistischen Staatsrat zu Richtern gemacht worden sind.

(Seit 1952 hatte das kommunistische Polen keinen Staatspräsidenten sondern einen fünfzehn bis knapp dreißigköpfigen Staatsrat – die Zahl schwankte bis 1989 – der kollektiv die Aufgaben des Staatsoberhauptes wahrnahm. U. a. ernannte der Staatsrat Richter, die alle zuvor gründlich hinsichtlich ihrer Loyalität zur kommunistischen Partei und dem Staat durchleuchtet worden waren.

Nach 1989 fand in Polen keine Überprüfung der bis dahin ernannten Richter statt. Bis auf ganz wenige Ausnahmen verblieben alle, darunter viele ehemalige aktive Mitglieder der kommunistischen Partei, auf ihren Posten. Viele sind inzwischen aus Altersgründen ausgeschieden, viele sind aber auch aufgestiegen und haben noch heute leitende Positionen im Justizwesen inne. Durch den Landesjustizrat und andere hohe Ämter formen und bestimmen sie den Richternachwuchs. – Anm. RdP).

Ziobro: Auf diese Weise kamen sie damals in den LJR und hatten danach, aufgrund des Prinzips der Zuwahl, die Möglichkeit neue Kolleginnen und Kollegen (sowohl in den LJR, wie auch in den Richterberuf – Anm. RdP) zu berufen.

(Der Landesjustizrat besteht aus 25 Mitgliedern.

1. Dies sind von Amtswegen: die Präsidenten des Obersten Gerichtes und des Obersten Verwaltungsgerichtes sowie der Justizminister. Alle bleiben im LJR so lange sie ihre Ämter innehaben.

2. Ein Vertreter, ernannt und abberufen durch den Staatspräsidenten.

3. Vier Abgeordnete, gewählt vom Sejm (untere Kammer des Parlaments), zwei Senatoren, gewählt vom Senat (obere Parlamentskammer).

4. Fünfzehn Richter (zwei vom Obersten Gericht, zwei von den Appellationsgerichten, zwei von den Verwaltungsgerichten, acht von Kreisgerichten und einer aus der Militärgerichtsbarkeit. Das richterliche „Fuβvolk“ von den Amtsgerichten ist nicht vertreten).

Die Amtsperiode der gewählten Mitglieder des LJR dauert vier Jahre. Frei werdende Plätze werden fortlaufend für vier Jahre besetzt. Es findet also ein kontinuierlicher Wechsel statt – Anm. RdP).

Ziobro: Der einzige demokratische Bestandteil dieses Berufungssystems von Richtern ist der Staatspräsident. Seine Rolle jedoch versucht der LJR, so gut es geht, auf die eines Notars zu beschränken. Er sagt ganz offen: der Staatspräsident darf unsere Vorschläge (für die Berufung der Kandidaten ins Richteramt – Anm. RdP) nur beglaubigen.

Staatspräsident Andrzej Duda.

Zum Glück stellt Staatspräsident Andrzej Duda seine aktive Rolle unter Beweis und zeigt, dass er ein Mann ist, der eigene Entscheidungen treffen kann. Und das ist der einzige Lichtblick bei der derzeitigen Praxis zur Berufung zum Richteramt.
(2016 hat Duda die Beförderung von zehn der insgesamt vierhundertfünfzehn vom LJR zur Berufung ins Richteramt oder zur Beförderung vorgeschlagenen Kandidaten abgelehnt – Anm. RdP).

Ziobro: Ihr habt euch in dieser Diskussion gerne auf die Venedig-Kommission und auf die Meinung der OSZE berufen. Ihr tut dies jedoch ziemlich selektiv. Vor allem denke ich dabei an den Abgeordneten Jacek Protasiewicz (von der Union der Europäischen Demokraten. Insgesamt vier Abgeordnete, die im Juli 2016 aus der Bürgerplattform wegen parteischädigenden Verhaltens ausgeschlossen wurden – Anm. RdP).

Ziobro: Darum erlaube ich mir, unter Berufung auf einige andere Feststellungen eben dieser beiden Organisationen, die für euch (die Opposition – Anm. RdP) so wichtig und bedeutsam sind, noch etwas zu ergänzen.

Und zwar hat die erwähnte Venedig-Kommission 2014 in einem ihrer Berichte bemerkt, ich zitiere: „In Körperschaften wie den Landesjustizräten darf es keine eindeutige Vorherrschaft der Richter geben, ansonsten könnten dort Kungeleien, Berufsdünkel und Cliquenbildung die Oberhand gewinnen“.

So sah es die Venedig-Kommission. Diese Beschreibung passt hervorragend in Bezug auf den polnischen LJR. Von den fünfundzwanzig Mitgliedern des LJR sind siebzehn Richter. Die übrigen Mitglieder haben eine rein dekorative Funktion, sind ein unbedeutender Bestandteil, der keinen Einfluss auf die dort gefällten Entscheidungen hat. Jedes Mitglied dieses Gremiums – und ich gehöre übrigens zum zweiten Mal dazu – weiβ bestens Bescheid, dass dies ausschlieβlich eine „berufliche Standesvertretung“ ist, die alles selbst entscheidet.

Auch die erwähnte OSZE stellt in einem ihrer Berichte fest: „Auf internationaler Ebene ist man allgemein der Meinung, dass die Landesjustizräte nicht ausschlieβlich oder mehrheitlich aus Vertretern der Justiz bestehen sollten. Es geht darum Eigennutz, gegenseitiges Decken, Kungeleien, Berufsdünkel zu vermeiden“.

Was kann man dem noch hinzufügen? Genau das wollen wir erreichen! Wir wollen die Empfehlungen der OSZE und der Venedig-Kommission umsetzten. Wir wollen mit dem Berufsdünkel brechen und dem LJR den Sauerstoff der Demokratie zuführen. Ja, Sauerstoff, erzeugt von demokratischen Mechanismen, denn Polen ist nicht nur ein Rechtsstaat, sondern ein demokratischer Rechtsstaat. Polen ist keine „Gerichtekratie“, sondern eine Demokratie.

Ich möchte hier noch eine Aussage anbringen, die bei euch, (der Opposition – Anm. RdP) wie ich glaube, auf Resonanz stoβen dürfte. Ich zitiere: „Der Landesjustizrat ist eine staatliche Gewerkschaft, die Interessen pflegt und dem polnischen Justizwesen schlecht bekommt“. Wer hat das gesagt? Ich zitiere noch einmal: „Eine staatliche Gewerkschaft, die Interessen pflegt und dem polnischen Justizwesen schlecht bekommt“.

Es war eine eurer Autoritäten, euer Guru, euer Mann der Vorsehung, Professor Rzepliński.

Prof. Andrzej Rzepliński.

(Andrzej Rzepliński, fonetisch Scheplinski, geb. 1948, war von 2010 bis 2016 Verfassungsgerichtspräsident. Er ist bis heute einer der prominentesten Gegner aller Justizreformen der Nationalkonservativen und eine wichtige Persönlichkeit der Ablehnungsfront gegen Recht und Gerechtigkeit – Anm. RdP).

Ziobro: Teilt ihr nicht seine Meinung? Nein? Man soll in die Annalen dieses Parlaments eintragen, dass ihr nicht einer Meinung seid mit Professor Rzepliński!

Er hat aber noch mehr gesagt: „Die Medien berichten über viele Korruptionsfälle, über betrunkene Richter in Gerichtsgebäuden, betrunkene Richter am Steuer, Richter die gewöhnliche Straftaten begehen. In einem Teil dieser Fälle waren die bisherigen Ahndungsversuche vergeblich. Sie scheiterten an der Stärke der Seilschaften und der Mentalität einer „belagerten Festung“, die die wichtigsten Strukturen unseres Justizwesens auszeichnet“.

Wie sehr ist es an der Zeit für solche Worte, auch wenn sie in der „Gazeta Wyborcza“ (das führende Kampfblatt der Ablehnungsfront gegen Recht und Gerechtigkeit – Anm. RdP) gefallen sind! (…)

Und noch ein Zitat: „Erfüllt der Landesjustizrat seine Funktion, wacht er über die Unabhängigkeit von Richtern und Gerichten? Der LJR tut das nicht. In der Tat, handelt es sich hierbei um einen Ort, an dem man sich die Kandidatur für das Richteramt sichert. Jeder geht dorthin mit seinen Kandidaten und sorgt dafür, dass ausgerechnet sie durchgeboxt werden. Das tun auch Politiker, zu denen sich die Schutzpatronen einzelner Kandidaten oder auch die Kandidaten selbst vorzudrängen verstehen.

Der LJR ist nicht der richtige Ort, um darüber zu entscheiden wer Richter wird. Der LJR kümmert sich nur um die Interessen der Richtergilde. Er ist aber kein Organ, das sich um wahre Unabhängigkeit kümmert“.

Wer sagte das? Der Vorsitzende Stępień, eine weitere eurer Autoritäten. Seid ihr mit ihm einverstanden?

Magister Jerzy Stępień

(Jerzy Stępień, fonetisch Stempieen. Von 1999 bis 2008 Richter beim Verfassungsgericht, 2006 bis 2008 sein Vorsitztender, obwohl er nur den Magistertitel besitzt. Auch eine wichtige Persönlichkeit der Ablehnungsfront gegen Recht und Gerechtigkeit – Anm. RdP).

Ziobro: Ihr sagt, wir verletzen internationale Standards mit unseren Vorschlägen. Doch in Wirklichkeit teilen wir die Untersuchungsergebnisse, die ich hier zitiert habe. (…) Wir gehen aber noch weiter.

Wir stellen nicht nur Diagnosen, die zutreffend sind, sondern wir suchen auch nach Lösungen. Sie sind nicht immer vollkommen, das stimmt, aber auch die Demokratie ist nicht perfekt. (…) Die demokratischen Mechanismen sind nicht ideal, aber niemand hat bisher bessere erfunden, und deswegen greifen wir zur Demokratie, um sozusagen den Augiasstall auszumisten. Nur demokratische Mechanismen können das bewirken. Die Antwort auf Berufsdünkel, auf Cliquen, auf „berufliche Standesvertretungen“, auf Pathologien ist Demokratie.

Gewiss, auch die Demokratie hat Mängel und stöβt an Grenzen. (…) Doch es gibt keine schlechtere Lösung, als den jetzigen Zustand mit seinen Seilschaften und pathologischen Zuständen beizubehalten. Darum schlagen wir vor, dass die Abgeordneten die Mitglieder der Richterschaft in den Landesjustizrat wählen sollen, weil sie eine demokratische Legitimation haben, während die hinzuwählenden Richter vom LJR über keinerlei demokratische Legitimation verfügen.

Ihr habt diese demokratische Legitimation und ihr könnt euch vor der Öffentlichkeit, vor den Wählern verantworten, und das müssen wir auch. Und genau darin liegt die Garantie, dass wir in den Landesjustizrat keine Richter wählen werden, für die wir uns später schämen müssen. (…) Die politischen Kosten wären zu hoch.

Die demokratischen Mechanismen haben bereits in der Vergangenheit gewirkt und deswegen habt ihr euren Abgeordneten Zbigniew Chlebowski ausgeschlossen.

Bürgerplattform-Fraktionsvorsitzender Zbigniew Chlebowski im Oktober 2009 bei einer Pressekonferenz nachdem seine Machenschaften mit einem Glücksspielunternehmer bekannt geworden sind.

(Zbigniew Chlebowski, von 2007 bis 2009 Sejm-Fraktionsvorsitzender der damals regierenden Donald-Tusk-Partei Bürgerplattform. Er geriet ins politische Abseits, als Telefonprotokolle seiner Gespräche publik wurden, in denen er einem befreundeten Glücksspielbetreiber Hilfe und Protektion bei dessen krummen Geschäften versprach – Anm. RdP).

Ziobro: Und warum ist Ryszard Milewski immer noch Richter, obwohl er am Telefon bereit war über die Besetzung einer Spruchkammer zu verhandeln und davon sprach, dass die Kammer mit ihm vertrauten Richtern besetzt sein würde. Wieso ist er immer noch Richter? Weil es im Richterstand solche demokratischen Mechanismen nicht gibt.

Richter Ryszard Milewski.

(Ryszard Milewski war Präsident des Kreisgerichtes in Gdańsk. Er fiel im September 2012 einer journalistischen Provokation zum Opfer. Ein angeblicher Assistent des Chefs der Kanzlei des Ministerpräsidenten Donald Tusk rief an, und Milewski ging diensteifrig auf alle Wünsche seines Gesprächspartners bezüglich Verhandlungstermin, Auswahl der Richter für die Verhandlung usw. ein. Daraufhin wurde Milewski von einem richterlichen Disziplinargericht lediglich nach Białystok versetzt, wo er weiterhin Recht spricht – Anm. RdP).

Ziobro: Es hat sich für euch (die Bürgerplattform – Anm. RdP) nicht gelohnt an so jemandem, wie Chlebowski festzuhalten, aber im Fall von Milewski hat sich die Korporation, deren Interessen, die Mentalität dieser „belagerten Festung“ als wirksam erwiesen. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Das, was Milewski gesagt und getan hat war eine Schande für das polnische Justizwesen. Das war zu euren Zeiten. Was habt ihr gemacht, um solche Leute loszuwerden?

Wir schlagen heute Lösungen vor, die vielleicht nicht perfekt, aber die einzig möglichen in dieser Lage sind, weil wir die pathologische Situation, die entstanden ist beseitigen müssen.

Man sagt, Bilder sagen mehr als tausend Worte und deswegen möchte ich euch einige Bilder vor Augen führen.

(Ziobro zeigt mittels eines Präsentationsprogramms Diagramme – Anm. RdP).

Auf dem ersten Bild ist das zu sehen, was ihr kritisiert. Ihr sagt, wir nehmen den Richtern den Einfluss darauf, wer in der Zukunft Richter werden kann. Das stimmt nicht. Vielleicht glauben viele von euch daran, weil ihr euch nicht die Mühe gegeben habt euch in das Thema einzuarbeiten. Abgeordnete sind vielbeschäftigte Leute und schenken jenen glauben, die hier herumlaufen und demagogisches Zeug verbreiten. Doch hier kann man die Fakten sehen.

Wie soll die Berufungsprozedur aussehen?

1. Der Justizminister gibt, so wie heute auch schon, freie Stellen bekannt.

2. Kandidaten melden sich. Bei wem? Nicht beim Justizminister, sondern beim zuständigen Gerichtspräsidenten. So unser Vorschlag.

3. Nicht der Justizminister, sondern der Gerichtspräsident verfügt die Überprüfung der Eignung der Kandidaten.

4. Die Richtervollversammlung des Gerichtes gibt eine Beurteilung der Kandidaten ab.

5. Der Gerichtspräsident stellt dem Landesjustizrat die Kandidaten sowie deren Beurteilung vor. Wo also sind hier der Justizminister oder seine Beamten?

5. Erst der LJR, der weiterhin mehrheitlich von Richtern beherrscht sein wird, trifft die Wahl. Mehr noch, der Kandidat kann gegen die Entscheidung des LJR vor einem Gericht klagen.

6. So vorbereitete Kandidaturen landen schließlich auf dem Schreibtisch des Staatspräsidenten, der die Entscheidung über Berufung oder Nichtberufung eines Kandidaten auf Lebenszeit zum Richteramt trifft.

Wer kann hier reinen Gewissens sagen, dass wir die Richter ihres Einflusses auf die Zulassung zum Richterstand berauben?

Und nun das zweite Schaubild.

Hier haben wir Deutschland. Ein Land, auf das sich die Bürgerplattform und die Nowoczesna (Die Moderne, eine kleine Oppositionspartei derselben radikalliberalen Ausrichtung wie die Bürgerplattform – Anm. RdP) so gerne berufen.

1. Der dortige Justizminister gibt, ebenso wie in Polen, eine freie Richterstelle bekannt.

2. Die deutschen Kandidaten melden sich. Wo? Beim Gerichtspräsidenten? Nein, beim Justizminister.

3. Die Beamten des Justizministers überprüfen die Eignung der Kandidaten, sortieren die Kandidaten aus und stellen sie dem Justizminister vor.

4. Wer nicht genommen wird kann vor einem Gericht dagegen klagen.

5. Der Justizminister beruft die Richter auf Lebenszeit.
Seht ihr den Unterschied?

Am komischsten ist, dass uns deutsche Politiker, mit Herrn Schulz an der Spitze, belehren, wie wir unsere Gesetzte schreiben sollen, damit diese eine Beteiligung der Richter bei der Berufung künftiger Richter berücksichtigen. Da kann man sich nur an den Bauch fassen und lachen. Aber das zeigt auch die deutsche Überheblichkeit, die wir kennen und die wir in keiner guten Erinnerung aus der Geschichte haben.

Diese Regierung wird sich davon nicht beeindrucken lassen. Wir werden Entscheidungen treffen, die gut sind für das polnische Justizwesen und die polnischen Bürger.

Nils Muižnieks, Menschenrechtskommissar des Europarates kritisiert Polen und verschlieβt die Augen vor den Zuständen in seiner lettischen Heimat.

Die absurdeste Gestalt in diesem internationalen Chor, der Polen kritisiert, ist Herr Nils Muižnieks, der Menschenrechtskommissar des Europarates. Dieser Herr wirft uns mit unglaublicher Konsequenz vor, dass wir den Richtern den Einfluss auf die Berufung künftiger Richter verwehren. Das ist umso komischer, als in seiner eigenen Heimat, Lettland, die Richter direkt vom Parlament berufen werden und einen Landesjustizrat gibt es dort gar nicht. So ist es in Lettland. So sehen die Tatsachen aus. (…)

Oft höre ich in diesem Zusammenhang das Wort „Freiheit“ fallen, doch es gibt keine Freiheit ohne Gerechtigkeit. Es gibt auch dann keine Freiheit, wenn die Polen vor und in den Gerichten mit Arroganz und Hochmut behandelt werden. Wenn sie aus dem Munde einer prominenten Vertreterin der Richterschaft, anstatt von Dienst am Bürger und Hilfe, hören, dass die Richter eine „ganz besondere Kaste“ sind, dass Richter über dem Recht und den Bürgern stehen, anstatt den Geschädigten und Schwächeren zu helfen.

Wir wollen das ändern und wir haben die Entschlossenheit, das zu tun. (…) Vielen Dank.

RdP




Haie fressen Warschau auf

Gier, Mord, Mieterhatz. Abgründe der Privatisierung.

Sie wurde bei lebendigem Leib verbrannt, ihre halbverkohlte Leiche fand ein Spaziergänger im Warschauer Stadtwald Kabaty. Mitte August 2016, gut fünf Jahre nach dem rätselhaften Tod von Jolanta Brzeska (Bild oben), hat Justizminister Zbigniew Ziobro die Wiederaufnahme des Untersuchungsverfahrens angeordnet. Die Täter, so der Minister, und ihre Hintermänner sollen endlich nicht mehr ruhig schlafen können, die Staatsanwälte, die den Mord unter den Teppich gekehrt haben, sollen zur Verantwortung gezogen werden.

Anfang März 2016 ist eine Reform in Kraft getreten, die das ermöglicht: Polens Justizminister ist wieder gleichzeitig Generalstaatsanwalt, er kann von Amtswegen tätig werden und übernimmt dafür die volle Verantwortung. Die Staatsanwaltschaft ist wieder handlungsfähig geworden. Sechs Jahre lang war das anders.

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Justizminister Zbigniew Ziobro.

                   Unabhängig, unwillig, untätig

Im Jahr 2009 hatte die Regierung Donald Tusk die polnische Staatsanwaltschaft in die Unabhängigkeit entlassen:

● der Justizminister war nicht mehr zugleich Generalstaatsanwalt;

● ein vom Staatspräsidenten auf sechs Jahre berufener Generalstaatsanwalt hatte keinerlei Kontroll- und Weisungsbefugnisse gegenüber den 6.500 Staatsanwälten im Land. Er durfte nicht einmal Akteneinsicht in laufende Verfahren verlangen;

● eine Entlassung aus dem Dienst, die Absetzung einer leitenden Person, Strafversetzung, die Verhängung von Disziplinarstrafen, all das durfte nur ein aus Berufskollegen vor Ort bestehendes Disziplinargericht aussprechen. Diese Verfahren waren geheim, genauso wie die Begründungen der einzelnen Entscheidungen.

Beispiel: eine leitende Staatsanwältin aus Gdańsk. Zwei Jahre lang verhinderte sie, wider besseren Wissens, alle Versuche gegen die Verantwortlichen für die Amber-Gold-Affäre (Schattenbank-Finanzpyramide, am Ende umgerechnet ca. 200 Mio. Euro verschwunden, knapp 20.000 betrogene Sparer) ein ordentliches Untersuchungsverfahren durchzuführen. Der Generalstaatanwalt bat um ihre Absetzung vom leitenden Posten. Im Geheimverfahren wurde sie von dem aus Kollegen bestehenden Disziplinargericht freigesprochen. Warum? Begründung geheim;

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Amber-Gold-Werbung. Zwei Jahre lang wurde gestohlen was das Zeug hielt, die „unanhängige“ Staatsanwaltschaft mischte sich nicht ein.

● die strafrechtliche Belangung eines Staatsanwaltes (z. B. wegen Trunkenheit am Steuer, Ladendiebstahls usw.) konnte erst nach der Aufhebung der staatsanwaltlichen Immunität erfolgen. Die Aufhebung durfte wieder nur das Kollegen-Disziplinargericht in einem geheimen Verfahren verfügen.

Gängige Praxis: die Polizei lieferte zwischen 2009 und 2015 in etwa zweidutzend Fällen stichhaltige Beweise für solche Verfehlungen, die Kollegen-Disziplinargerichte stellten sich in 98 Prozent der Fälle vor die Übeltäter. Warum? Begründung geheim.

● „Störenfriede“, die ihre Arbeit engagiert und ordentlich verrichten wollten wurden gemobbt und isoliert. Ruhe haben, sich nicht überarbeiten, nicht anecken, keine Probleme bekommen… Angesichts einer solch groβzügigen „Unabhängigkeit“ der Staatsanwälte war der Geschädigte, der einfache Bürger vielerorts machtlos und der Verbrecher im Vorteil. „Unabhängig“ wie sie waren, stieβen nicht wenige Staatsanwälte nun zu den Klicken und Seilschaften aus Kommunalpolitikern, Richtern, Polizisten, Unternehmern, die vor allem die Provinz beherrschen.

Gängiger Trick: ein Staatsanwalt ohne jegliche Aufsicht und Kontrolle, der sich im Notfall auf die Kollegen-Solidarität verlassen konnte, leitete zwar prekäre Untersuchungsverfahren ein, zog sie aber schier endlos in die Länge, um sie dann einzustellen, sobald er annahm die Öffentlichkeit habe die Sache vergessen. So war es auch im Fall von Jolanta Brzeska (fon.: Bscheska).

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Februar 2011. Jolanta Brzeska bei der letzten Protestaktion vor ihrem Tod.

Neu aufgegriffen hat diesen Fall, der aufs Engste mit der kriminellen Häuserprivatisierung in Warschau verwoben ist, das Wochenmagazin „wSieci“ („imNetzwek“) vom 16.10.2016.

Selbst zusammengeschlagen + selbst angezündet = Selbstmord

„Das Schlimmste ist, dass diejenigen die Jola angezündet haben, ungestraft bleiben. Wir wissen nicht einmal, wie es ihnen gelang sie am 1. März 2011 zu täuschen und in den Kabaty-Wald zu bringen. Was ist passiert, dass gerade sie, die so klug, so intelligent war, sich in diese Falle locken lieβ“, diese Frage lässt Ewa Andruszkiewicz vom Warschauer Mieterverband nicht mehr los.

Noch vor Kurzem gab es keine Anzeichen dafür, dass es gelingen könnte den Fall zu lösen. Nicht etwa, weil er besonders kompliziert gewesen wäre. Sehr lange jedoch haben Polizei und Staatsanwaltschaft behauptet, es handle sich um einen Selbstmord.

Es war die allerbequemste Version. Deswegen wurde von vornherein auf wichtige Ermittlungsmaβnahmen verzichtet, andere wurden schludrig durchgeführt. Und als die Staatsanwaltschaft sich nach langer Zeit dennoch gezwungen sah zu der Überzeugung zu kommen, dass die 64-Jährige ermordet wurde, hat sie das Verfahren, mangels Beweisen, nach denen sie nie gesucht hatte, im Jahr 2013 schnell eingestellt.

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Warschauer Stadtwald Kabaty. Fundort der halbverkohlten Leiche Jolanta Brzeskas.

„Monatelang lag sie in einem Kühlfach der Gerichtsmedizin mit einem an den Zeh gebundenen Zettel „Name unbekannt“. Die aus Ihrer Wohnung dorthin gebrachten persönlichen Gegenstände mit DNA-Spuren waren irgendwo abhandengekommen, eine Identifizierung blieb monatelang aus. Die Staatsanwaltschaft hat‘s nicht gekümmert“, berichtet Ewa Andruszkiewicz.

Kurz nach Brzeskas Tod organsierten die Mieteraktivisten Proteste. Sie trugen Spruchbänder mit der Aufschrift: „Wer wird der Nächste sein?“ Dahinter verbarg sich die Angst, es könne noch weitere Morde geben, weil die Täter ja offenbar vor nichts mehr zurückschreckten. Ihre Motive lagen auf der Hand.

„Als mich die Polizei fragte, was der Grund für den Mord gewesen sein könnte, da habe ich geantwortet, dass es eine Million Motive gibt. Denn eine Million Zloty (knapp 250.000 Euro – Anm. RdP) ist die Wohnung, in der sie lebte wert, und Menschen werden für viel weniger Geld umgebracht“, erinnert sich Janusz Baranek vom Warschauer Mieterverband.

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Das reprivatisierte Haus in der Warschauer Nabielakstrasse 9. mit Jolanta Brzeskas Wohnung.

In die Wohnung in der Nabielakstrasse 9, im Stadtteil Mokotów, war Jolanta Brzeska schon als Kleinkind eingezogen, Anfang der 50er Jahre. Ihr Vater hatte die Unterkunft von der kommunalen Wohnraumbewirtschaftung zugewiesen bekommen, als Gegenleistung für einige tausend unbezahlte Arbeitsstunden, die er in seiner Freizeit beim Wiederaufbau des ausgebrannten Hauses geleistet hatte. Es war eine im kommunistischen Nachkriegspolen gängige Praxis den knappen Wohnraum zuzuteilen.

Treuhänder für 120-jährige Mandanten

Im völlig zerstörten Warschau hatten die kommunistischen Behörden schon 1945, per Dekret, den gesamten Grund und Boden (ca. siebentausend Hektar) und alle (ca. vierzehntausend) Gebäude nationalisiert, um „einen reibungslosen Wiederaufbau zu garantieren“.

Der Kommunismus ging 1989/1990 zu Ende. Gut zehn Jahre später begann die sehr zögerliche Rückgabe der einst nationalisierten Warschauer Parzellen und Gebäude an ihre ursprünglichen Eigentümer. Seitdem im Jahre 2006 die stellv. Vorsitzende der Bürgerplattform und enge Tusk-Vertraute Hanna Gronkiewicz-Waltz das Amt der Warschauer Oberbürgermeisterin bekleidet, verwandelte sich die Reprivatisierung zunehmend in ein hochkriminelles Unterfangen.

Ein Netzwerk aus Anwälten, städtischen Beamten, Richtern und gnadenlosen Spekulanten verdiente auf diese Weise Millionen von Euro. Ihre Opfer, es sind mittlerweile einige Tausend, waren lange Zeit auf sich selbst gestellt und wurden als „Krawallmacher“, „Unangepasste“ diffamiert. Die tote Jolanta Brzeska tauchte lange Zeit in einschlägigen Internetforen als eine Drogenabhängige auf, die sich selbst umgebracht hatte.

Das Privatisierungs-Prozedere weckte jahrelang kein Interesse bei der Staatsanwaltschaft. In den regierungsfreundlichen Medien der Tusk-Ära wurde es schweigend übergangen. Richter übertrugen anstandslos offensichtlichen Betrügern die Eigentums- und Verfügungsrechte über Immobilien. Auch auf solche Personen, die z. B. anhand eindeutig manipulierter Unterlagen behaupteten, Treuhänderschaften für in Amerika lebende Eigentümer zu übernehmen, die manchmal 120 und mehr Jahre alt sein müssten.

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Warschauer Oberbürgermeisterin Hanna Gronkiewicz-Waltz mit Ehemann Andrzej.

An einem dieser äuβerst zweifelhaften Deals (Haus in der Noakowskistrasse 16) war im Februar 2007 Andrzej Waltz, der Ehemann der Oberbürgermeisterin beteiligt, und verdiente daran umgerechnet einige hunderttausend Euro.

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Am Haus in der Noakowskistrasse 16 (zweites v. rechts, weiss) einige hunderttausend Euro verdient: Andrzej Waltz.

Für die Warschauer Oberbürgermeisterin Gronkiewicz-Waltz ist das alles kein Anlass zum Rücktritt. Obwohl seit 2006 im Amt, habe sie von dem Tun der Privatisierungsmafia nichts gewusst, der Deal ihres Mannes sei legal gewesen und die Entlassung zweier ihrer Stellvertreter habe die ganze Sache bereinigt. Vor allem aber müsse sie auf ihrem Posten ausharren, denn bei vorgezogenen Oberbürgermeisterwahlen könnte er an einen Vertreter der Kaczyński-Partei fallen, und das wäre „fatal für die polnische Demokratie“.

Diese Befürchtung ist auch der Leitgedanke eines der wenigen Berichte zudem Thema in den deutschen Medien, der zu dem nur einen Fall von hunderten schildert. Ein grausamer Mord, hunderte brutal fortgejagter Mieter, eine riesige Korruption? Alles „Gemauschel“. Hier zu lesen.

Jäh in den Abgrund

Der vergilbte Zuteilungsbescheid der kommunalen Wohnraumbewirtschaftung für Jolanta Brzeskas Wohnung aus dem Jahr 1951 verlor seine Gültigkeit als das Haus in der Nabielakstrasse 9 reprivatisiert wurde. Es lief ab nach dem klassischen Muster: plötzlich, von einem Augenblick zum anderen, hatte das Haus einen Eigentümer. Wie meistens handelte es sich auch dieses Mal hierbei nicht um einen Erben, sondern um einen sogenannten Rechtsnachfolger.

Und, der damit verbundene Fall Jolanta Brzeska hatte nicht nur ein tragisches Ende, sondern bereits einen besonders dramatischen Anfang. Er begann nicht, wie üblich, mit einem Zettel, der am Hauseingang angebracht oder in den Briefkasten eingeworfen wurde.

Eines Samstags im Jahr 2006 klingelte es an der Tür und eine Gruppe von Männern betrat die Wohnung, angeführt vom dem berüchtigten Marek Mossakowski, stadtbekannt als der gnadenlose „Gebäudereiniger“, weil er Mieter aus privatisierten Häusern mit den rüdesten Methoden zu verjagen versteht. Damals, am Mittagstisch sitzend, hörte Jolanta Brzeska zum ersten Mal, dass sie in einer fremden Wohnung lebe.

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Jolanta Brzeska hat die Auswüchse der Warschauer „Reprivatisierung“ penibel dokumentiert.

Danach ging es Schlag auf Schlag: zehnfache Mieterhöhung gegenüber der kleinen Abgabe, die sie bis zu diesem Zeitpunkt an die kommunale Wohnraumbewirtschaftung entrichtet hatte, weil sie nun „ohne gültigen Vertrag“ die Wohnung nutze. Dazu 500 Zloty (ca. 120 Euro – Anm. RdP) monatlich für das Durchqueren des Zugangs vor dem Hauseingang.

Jolanta Brzeska konnte nicht zahlen. Ihre Schulden gegenüber dem neuen „Eigentümer“ stiegen rasant. Die Stadt verweigerte ihr eine Ersatz- Kommunalwohnung. Begründung: ihre Rente übersteige um 20 Zloty (ca. 3,50 Euro) das Einkommenslimit, ab dem eine solche Wohnung gewährt werden kann.

„Sie kämpfte, dachte nicht daran aufzugeben. Sie wollte zeigen, dass sie, ohne eigenes Verschulden, in eine ausweglose Situation hineinmanövriert worden war. Sie ging penibel und systematisch vor, legte ihr eigenes Archiv der Warschauer Privatisierung an. Alles wurde genau beschrieben von ihr, in Plastikhüllen und Schnellhefter einsortiert. Ein Haus nach dem anderen: die rechtliche Situation und die Zwischenfälle bei der Übernahme der Liegenschaften“, berichtet eine ihrer Bekannten.

Kurz vor ihrem Tod erhielt sie einen Behindertenausweis. Nun konnte sie der „Eigentümer“ nicht mehr einfach so auf die Straβe setzen.

Brutal und wirksam

Zum ersten Todestag von Jolanta Brzeska klebte jemand ein riesiges Bild an eine Hauswand im Warschauer Stadtzentrum. Marek Mossakowski hält darauf in der einen Hand einen Benzinkanister und die Streichhölzer in der anderen. Daneben die Aufschrift: „Mossakowski: Warschau ist leicht entflammbar“, eine Andeutung an die Verbrennung Jolanta Brzeskas.

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Mossakowski-Wandbild. „Gebäudereiniger“ mit Benzin und Streichhölzern. „Warschau ist leicht entflammbar“.

Das Bild wurde schnell entfernt, aber die finstere Gestalt Mossakowskis ist aus der Welt der alternativen Stadtkultur Warschaus nicht mehr wegzudenken: Poster, Lieder, selbst ein Bühnenstück entstand. Im Warschauer Reprivatisierungs-Dschungel ist er der König: 60 Liegenschaften nennt er inzwischen sein eigen.

„Mossakowski kam zu uns ins Büro mit seiner Anwältin und erklärte er wolle mit uns zusammenarbeiten. Er ließ sich im Sessel nieder und erzählte, dass er Häuser reprivatisieren könne. Ich habe ihn gefragt, um welche Liegenschaften er sich dabei bemühe. Als er mir alle seine Ansprüche aufzählte, habe ich ihn hinausgeworfen. Das ist ein Hochstapler“, erzählt Mirosław Stypułkowski, vor einigen Jahren noch der Präsident der Union Polnischer Liegenschaftseigentümer.

Dieser Besuch fand Ende der 90er Jahre statt. Damals lebten noch die direkten Nachkommen der Eigentümer der in den Nachkriegsjahren nationalisierten Wohnhäuser, meist in Kleinstwohnungen, ohne Hoffnung jemals ihr ganzes Eigentum zurück zu bekommen. Mossakowski sah alte Grundbücher durch, man ließ ihn, gegen ein paar Zloty Trinkgeld, diskret die Warschauer Gerichtsarchive auf Liegenschaftssachen hin durchforsten.

Für wenig Geld kaufte er dann einzelne Eigentumsrechte von den mittlerweile hochbetagten, zumeist weiblichen Erben. Sein Rekord: 50 Zloty (ca. 12 Euro – Anm. RdP) für den Anteil einer alten Dame am Wohnhaus in der Hozastrasse 25A, beste Adresse, mitten im Warschauer Zentrum. Der so erworbene Gebäudanteil war zwar klein, aber Mossakowski musste auch lediglich einen Fuβ in der Tür haben. Hatte er erst einmal einen Rechtstitel, dann mobbte er die andren Eigentümer raus bis er Alleineigentümer war. Dann kamen die Mieter an die Reihe, die, wie Jolantas Vater ihr Wohnrecht als Gegenleistung für die beim Wiederaufbau des Gebäudes geleistete Arbeit erhalten hatten. Zudem verlangte er von der Stadt horrende Entschädigungen für die Jahrzehnte der kommunalen Nutzung „seines“ Eigentums, und bekam sie auch.

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Haus in der Warschauer Hozastrasse 25A. Für zwölf Euro abgeluchst.

„Er handelt brutal und wirksam. Hat keine Hemmungen. Meistens tritt er zusammen mit seinem Liegenschaftsverwalter Hubert Massalski auf. Sie spielen perfekt den „good“ und „bad boy“. Der eine brüllt: „Raus aus meinem Haus!“, der andere besänftigt: „Mein Kollege ist ein bisschen ausgerastet“.

Jolanta Brzeska berichtete ihren Freunden über diese Vorfälle, sie hatte immer das schreckliche Gefühl, dass diese beiden Männer die Institutionen und die Angestellten der Stadt auf ihrer Seite hatten. Ohne Probleme hatte sich Mossakowski z.B. widerrechtlich unter der Adresse ihrer Wohnung angemeldet. Als nächstes versuchte er einige Male mit Gewalt dort einzudringen.

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Das Warschauer Liegenschaftsamt (unteres Schild). Mieteraktivisten bemerkten, dass die Arbeitszimmer der wichtigsten Mitarbeiter zwielichtigen Gestalten wie Mossalowski stets offen gestanden haben.

Die Mieteraktivisten bemerkten sehr schnell, dass sich Mossakowski im hauptstädtischen Liegenschaftsamt wie zu Hause fühlte. Die Arbeitszimmer der wichtigsten Mitarbeiter standen ihm immer offen.

Erschien ein Erbe in dem Amt, der sich um die Rückgabe einer Liegenschaft bemühte, dann bekam er zu hören, die Angelegenheit sei kompliziert und aussichtslos. Seltsamerweise nahm dann meistens einige Wochen später Mossakowski Kontakt mit genau diesem Erben auf, und für ihn war dieselbe Angelegenheit ein Leichtes.

„Wir gewinnen immer, wir können alles“

„Es steht auβer Zweifel“, so der Mieteraktivist Janusz Baranek, „dass Mossakowski und Massalski nur Handlanger sind. Hinter ihnen stehen viel einfluβreichere Personen“. Sie verbergen sich diskret im Schatten. Mossakowski ist nicht nur ihr Strohmann, sondern ein Blitzableiter, der alle negativen Emotionen in Bezug auf die wilde Warschauer Privatisierung auf sich zieht und neutralisiert.

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Einschüchtern und verjagen. „Bad boy“ Massalski (links) und „good boy“ Mossakowski.

Seit 2008 hat Baraneks Warschauer Mieterverband bei der hauptstädtischen Staatsanwaltschaft mehrere Anzeigen gegen Mossakowski erstattet und darauf hingewiesen, dass es in Warschau offenbar eine organisierte kriminelle Vereinigung gibt, die von der Stadt Liegenschaften ergaunert. Alle wurden abgewiesen, auch die, die den Fall Hozastrasse 25 betraf: 50 Zloty für Eigentumsanteile an einem Gebäude, das Millionen wert ist.

Sein Kompagnon Hubert Massalski ist dafür bekannt, dass er unentwegt SMS im Gerichtssaal schreibt. „Manchmal bittet er um eine Pause. Er hat keine juristische Ausbildung, dennoch schüttet er jedes Mal nach der Pause wie aus einem Füllhorn, Anträge an das Gericht aus, samt den dazugehörenden Paragraphen. Die Richter wundern sich oft nicht schlecht“, berichtet Ewa Andruszkiewicz.

Seit Jahren führt sie Prozesse gegen Massalski, der sie aus ihrer Wohnung in der Warschauer Dabrowskistrasse 18 verjagt hat. Jetzt will er das Gartenhäuschen, in dem sie Zuflucht gefunden hat, versteigern lassen und so ihre „Mietrückstände“ ausgleichen. Einmal kam er auf dem Gerichtskorridor auf sie zu und sagte ihr wütend: „Merken Sie sich: wir gewinnen immer und wir können alles.“ Diese Worte deuten darauf hin, dass über Warschaus bekanntestem „Gebäudereiniger“ und seinem Verwalter ein Schutzschirm aufgespannt ist.

Den Eindruck hatten auch die Mieteraktivisten während der Untersuchung nach dem Tod von Jolanta Brzeska. Deswegen atmeten sie auf als Justizminister Zbigniew Ziobro bekanntgab, dass die neue Untersuchung von der Staatsanwaltschaft Gdańsk durchgeführt wird.warszawa-jolanta-brzeska-plakaty-fot

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„Zum Gedenken an Jolanta Brzeska. Uns alle könnt ihr nicht verbrennen“. Die einst biedere Hausfrau ist heute die Ikone des Widerstandes gegen dre Warschauer Reprivatisierungsmafia.

Bei der ersten Untersuchung hatten sie beobachtet wie die Warschauer „unabhängige“ Staatsanwaltschaft unentwegt von Selbstmord sprach, wahrscheinlich um bloβ nicht Mossakowski verhören zu müssen. „Erst die Gerichtsmediziner aus Kraków, die vom Anwalt der Brzeska-Tochter angefordert worden waren, schlossen 2013 den Selbstmord aus“, erinnert sich Janusz Baranek. „Das wussten wir von vorneherein. Wenn sie hätte Selbstmord begehen wollen, dann hätte sie das vor dem Amtsgebäude von Ministerpräsident Donald Tusks oder vor dem Rathaus von Frau Gronkiewicz-Waltz getan.“

Die Gutachter kamen zu dem Schluss, dass zwei bis drei Personen Brzeska angezündet haben müssen. Wahrscheinlich wollten sie sie einschüchtern und die Lage geriet auβer Kontrolle. Ein Zeuge will gesehen haben, wie Brzeska am 1. März 2011 aus dem Hausgang in Begleitung von zwei Männern kam und zu einem Auto ging, an dem ein dritter wartete.

Brzeska hatte die Wohnung in groβer Eile verlassen. Ihre Tochter fand in der Wohnung ihr Handy und ihre Handtasche. Auf dem Tisch stand aufgetautes Fleisch aus der Tiefkühltruhe. Ihre Kollegen aus der Mieterbewegung sind felsenfest davon überzeugt, dass sie niemals Leuten, die sie nicht kannte, die sich nicht ausweisen konnten die Tür geöffnet hätte. Sie selbst hatte ihnen immer wieder eingebläut, sich mit Mossakowski niemals in der Wohnung sondern auf neutralem Boden, z.B. in einem Café, zu treffen.

Hatte man sie unter dem Vorwand ihr wichtige Informationen zu geben aus ihrer Wohnung gelockt? Oder hatten sich die Mörder als Polizisten bzw. Staatsanwälte ausgegeben?

„Als sie im Polizeipräsidium ihre Sachen aus einem schwarzen Müllsack herausgeholt haben, sah ich neben ihrer angesengten Brille, der Uhr und dem Schlüsselbund eine weiβe Leinentasche. Jola verstaute in ihr für gewöhnlich ihre Reprivatisierungs-Unterlagen. In der Tasche war aber nur eine Zeitung. Jemand muss die Papiere rausgenommen haben. Diese Papiere könnten zu den Tätern führen“, erzählt Brzeskas Freundin Wanda Padzioch.

Der Wille lässt hoffen

Jolanta Brzeskas Wohnung in der Nabielakstrasse 9 wurde kurz nach ihrem Tod zum Verkauf angeboten. Preis: eine Million Zloty. Zwei Jahre lang gab es keinen Käufer, der Preis war sehr hoch. Schlieβlich ging sie weg. Der neue Eigentümer muss damit leben, dass an jedem 1. März einige hundert Menschen Jolanta Brzeskas mit Reden, Sprechchören, Blumen und einem Meer von Grablichtern gedenken.

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Jolanta Brzeskas Grab auf dem Warschauer Südfriedhof.

„Es gibt kein perfektes Verbrechen. Die Aufklärung hängt sehr davon ab, ob es einen Willen gibt die Mörder zu finden. Jetzt ist er endlich da“, sagt Wanda Padzioch. „Es gab wahrscheinlich drei Täter. Irgendwann wird einer von ihnen das Schweigen brechen und dann erfahren wir endlich die Wahrheit.“

Das Zentrale Antikorruptionsbüro (CBA) ermittelt seit dem Sommer im Warschauer Rathaus. Mitte Oktober 2016 kündigte Justizminister Zbigniew Ziobro die Einberufung eines Untersuchungsausschusses an, der alle Warschauer Reprivatisierungen unter die Lupe nehmen wird. Die Aussagen vor dem Ausschuss sollen öffentlich sein. Stadtpräsidentin Gronkiewicz-Waltz spricht von einem „politischen Rachefeldzug“.

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RdP




Lech Wałęsa. Wahrheit geht vor Legende. Dokumentation

Kommentator Janusz Tycner und Joachim Ciecierski gehen ausführlich auf neuste Enthüllungen über die Stasi-Vergangenheit Lech Wałęsas ein.




Keine ferngesteuerte Puppe

Beata Szydło über sich, Jarosław Kaczyński, Gott und die Welt.

Beata Szydło, 52 Jahre alt, kann die nächste Regierungschefin Polens werden. Sie war sieben Jahre lang Bürgermeisterin der kleinpolnischen Zwölftausendseelen-Gemeinde Brzeszcze (phonetisch: Bscheschtsche) ehe sie 2005 Sejm-Abgeordnete und 2010 stellvertretende Vorsitzende von Recht und Gerechtigkeit (PiS) wurde. Sie ist studierte Ethnografin und Volkswirtin. Das Interview mit ihr veröffentlichte die Wochenzeitung „Gość Niedzielny“ („Sonntagsgast“) am 5. Juli 2015.

Auf dem Wahlparteitag von Recht und Gerechtigkeit am 20. Juni 2015 in Warschau, nach dem Sie zur Kandidatin für das Amt der Ministerpräsidentin gekürt wurden, haben Sie Ihre Rede mit den Worten begonnen: „Ich heiβe Szydło, Beata Szydło“. James Bond scheint Ihr Vorbild zu sein.

(lacht) Bond hat eine Eigenschaft, die wir uns heute in Polen dringend aneignen müssen: er schafft das Unmögliche. „Geht nicht“ gibt’s bei ihm nicht. Auch wir müssen das Denken, dass etwas nicht geht, dass es unmöglich ist, verwerfen und uns an die Arbeit machen.

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie hören, Sie seien ein „rocktragender Kaczyński“?

Zum ersten Mal habe ich so etwas 2010 gehört, als ich stellvertretende Parteivorsitzende geworden bin. Was soll ich sagen? Es schmeichelt mir. Jarosław Kaczyński ist ein herausragender Politiker.

Das sagen alle Politiker Ihrer Partei über ihren Parteivorsitzenden.

Aber es ist so. Ich verdanke ihm viel und habe kein Problem damit, das öffentlich zu sagen. Was nicht bedeutet, dass es zwischen uns keine Meinungsverschiedenheiten gibt.

Die Anlehnung an James Bond am Anfang Ihrer Rede wurde als eine Unabhängigkeitserklärung gegenüber Jarosław Kaczyński gedeutet.

Ich wollte damit nur andeuten, dass ich keine ferngesteuerte Puppe Jarosław Kaczyńskis bin oder sein werde. Gut, dass das so gedeutet wurde. Jeder der mich kennt, weiβ dass ich selbständig bin, aber ein guter Ministerpräsident muss auch auf andere hören. Wer meint die Weisheit alleine gepachtet zu haben, der sollte dieses Amt besser nicht anstreben. Dieses ganze Gerede, ich sei von Kaczyński ferngesteuert, der gewählte Staatspräsident Andrzej Duda sei von ihm ferngesteuert… Wir sind ein Team, wir haben gemeinsame Ziele und den Willen sie umzusetzen. Wir ziehen an einem Strang. Punkt.

Ist also die polnische James Bond Bewunderin nicht steuerbar?

(lacht) Auch James Bond hat eine Chefin. Und im Ernst: sollten mir die Polen das Steuer übergeben, dann werden sie meine Vorgesetzten sein.

Szydło und Jaosław Kaczyński. "Ich wüsste nicht, was unsere hervorragenden und sehr vertrauensvollen Beziehungen ernsthaft trüben könnte."
Beata Szydło und Jarosław Kaczyński. „Ich wüsste nicht, was unsere hervorragenden und sehr vertrauensvollen Beziehungen ernsthaft trüben könnte.“

Wie also wird das Verhältnis zwischen Ihnen und dem PiS-Chef aussehen?

Sollten wir die Wahl (am 25.Oktober 2015 – Anm. RdP) gewinnen und eine Regierung bilden, dann wird die Handlungsgrundlage das Programm unserer Partei sein. Ich wüsste nicht, was unsere hervorragenden und sehr vertrauensvollen Beziehungen ernsthaft trüben könnte.

Warum hat sich Jarosław Kaczyński zurückgezogen?

Diese Frage sollten Sie vor allem ihm stellen. Aus meiner Sicht: er hat ein gutes Gespür für die politische Lage, für die öffentliche Stimmung und deswegen hat er rechtzeitig auf Jüngere gesetzt.

Ist es nicht so, dass nach Donald Tusks Abgang nach Brüssel, Kaczyński keinen ebenbürtigen politischen Gegner mehr hat?

Der Kampf gegen Tusk war für uns nie ein Ziel an sich. Es ist Tusks Bürgerplattform, die das Fernhalten von Recht und Gerechtigkeit von der Macht, zum sinnstiftenden Ziel ihrer Existenz erklärt hat. Auch heute sagen diese Leute klipp und klar: unsere allerwichtigste Aufgabe ist es, die Opposition niemals ans Steuer zu lassen. Wir hingegen wollen Wahlen und das Vertrauen der Wähler gewinnen, weil wir sinnvolle Veränderungen herbeiführen möchten. Diese Veränderungen werden den Menschen und dem Land zu Gute kommen.

Werden Sie ihr Kabinett selbständig zusammenstellen können?

Zusammenhalt und gegenseitiges Verständnis geben. Es ist uns gelungen so etwas in unserem Wahlkampfteam bei den Präsidentschaftswahlen zustande zu bringen.
Präsidentschaftskandidat Andrzej Duda und seine Wahlkampfleiterin Beata Szydło. „Zusammenhalt und gegenseitiges Verständnis müssen in einer Mannschaft vorherrschen.. Es ist uns gelungen so etwas in unserem Wahlkampfteam bei den Präsidentschaftswahlen zustande zu bringen.“

Es ist der Ministerpräsident, der sich seine Mitarbeiter aussucht, aber er kann nicht seine eigene Partei ignorieren oder den Koalitionspartner. Ich kann versichern: sollten wir die Wahlen gewinnen, dann werde ich auf Leute setzten, die fähig sind unser Programm umzusetzen, rechtschaffen, kompetent, fleiβig, so wie ich es in meiner Rede angekündigt habe: es kommt die Zeit der Handwerker in der Politik.

Was heiβt das?

Das sind fachlich gut vorbereitete Leute, die weniger in den Medien auftreten und sich auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren: in der Verwaltung, im Wahlkreis, in den Parlamentsausschüssen. Und wenn sie in den Medien erscheinen, dann vor allem, um über ihre Arbeit Rechenschaft abzulegen.

Also Minister aus der zweiten Reihe?

Oft werden die guten Handwerker der Politik von den Medien unterschätzt, weil sie keinen Wert auf Selbstdarstellung legen, den Rummel im Rampenlicht scheuen. Eine Regierung darf zudem keine Ansammlung von Persönlichkeiten sein, sondern muss ein Team sein, das sich gegenseitig unterstützt. Zwischen den Menschen in diesem Team muss es einen Zusammenhalt und gegenseitiges Verständnis geben. Es ist uns gelungen so etwas in unserem Wahlkampfteam bei den Präsidentschaftswahlen zustande zu bringen.  Ein wichtiges Auswahlkriterium wird der Mut sein, schwierige Entscheidungen zu treffen. In Meiner Regierung wird es keinen Platz geben für Leute, die von vorneherein glauben zu wissen, dass sich nichts machen lässt.

Wann bekomme ich die von Ihnen versprochenen 500 Zloty (ca. 120 Euro – Anm. RdP) für jedes meiner Kinder?

Staatspräsident Andrzej Duda bereitet drei Gesetzentwürfe vor, die er nach seinem Amtsantritt am 6. August im Parlament einbringen will. Erstens: über die Rückkehr zum alten Renteneintrittsalter für Frauen mit 60 und Männer mit 65 Jahren (Die Tusk-Regierung hat das Renteneintrittsalter für beide auf 67 Jahre angehoben – Anm. RdP). Zweitens: über die Erhöhung des Steuerfreibetrages (dieser wurde von der Tusk-Regierung seit 2007 nicht angehoben, beträgt aktuell 3.091 Zloty ≈ ca. 745 Euro pro Jahr und ist so niedrig, dass auch der letzte Miniverdiener 19% Einkommenssteuer zahlt. Voraussichtlicher neuer Steuerfreibetrag: 8.000 Zloty ≈ ca. 1.900 Euro – Anm. RdP). Drittens: über das neue Kindergeld von 500 Zloty.

Sollen es 500 Zloty brutto oder netto sein?

Wir wollen, dass ein Nettobetrag in dieser Höhe ausgezahlt wird. Familien mit niedrigen Einkommen sollen diese Summe für jedes Kind bekommen, Bessergestellte – ab dem zweiten Kind. Wir wollen den Ärmsten helfen und gleichzeitig die Erhöhung der Geburtenrate fördern, um der demographischen Krise Herr zu werden (2013 brachte in Polen eine Frau im Schnitt 1,32 Kinder zur Welt, in Deutschland – 1,42, in Frankreich – 2,08. Die Sterberate überstieg die Geburtenrate um ca.10.000. Die Arbeitsmigration, von bis zu 80.000 Personen im Jahr, entvölkert die Provinz – Anm. RdP).

Mit wem wird Recht und Gerechtigkeit nach den Wahlen eine Koalition eingehen?

Darüber kann man erst nach den Wahlen sprechen. Ganz gewiss jedoch werden wir kein Bündnis mit Gruppierungen, die sich auf der anderen Seite des politischen Spektrums befinden eingehen. Sowieso sieht es nicht danach aus, dass die rabiat antiklerikale Palikot-Bewegung auch nur die geringste Chance hat ins neue Parlament zu gelangen. Ich sehe auch keine Möglichkeit der Zusammenarbeit mit der Bürgerplattform. Sie muss vor allem über die acht Jahre ihrer Regierungszeit Rechenschaft ablegen.

Und ihr Koalitionspartner, die Bauernpartei PSL?

Ihre einzige Errungenschaft sind Tausende von gutbezahlten Stellen, die sie sich selbst, ihren Familien und ihren Protegés zugeschanzt hat. Den Menschen auf dem Lande geht es dadurch nicht besser. Wir haben völlig andere Ansichten in Sachen Familie, Ehe, Erziehung, Religion usw. als die Postkommunisten , aber in Sachen Sozialpolitik sind wir nicht weit voneinander entfernt. Junge Politiker aus diesen Kreisen senden Signale, dass sie uns unter Umständen in dieser Hinsicht unterstützen könnten.

Es bleiben also nur die Kukiz-Bewegung oder die absolute Mehrheit.

Paweł Kukiz (ein Rockmusiker, der an der Spitze seiner Protestbewegung in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 10. Mai 2015, 20% der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte – Anm. RdP) ist ein fast unbeschriebenes Blatt. Neben der Forderung das Mehrheitswahlrecht in Polen einzuführen, muss er zunächst einmal ein umfassendes Programm vorlegen. Wir müssen und werden mit jedem, der einen guten Wandel in Polen herbeiführen will reden. Unser wichtigstes Ziel jedoch ist die absolute Mehrheit, um selbständig regieren zu können. Dafür werden wir hart arbeiten.

Glauben Sie an ein Attentat auf das Präsidentenflugzeug bei Smolensk am 10. April 2010?

Es geht nicht ums Glauben, sondern darum Gewissheit darüber zu erlangen, was vorgefallen ist. Die Ursachen der Katastrophe müssen restlos aufgeklärt werden. Der Menschen, die damals umgekommen sind muss in gebührender Weise gedacht werden. Es muss eine vernünftige Untersuchung geben. Das Wrack und die Flugdatenschreiber müssen nach Polen gebracht werden. Wir brauchen eine internationale Untersuchung. Es gibt keinen zweiten Staat auf der Welt, dessen Führung die Ursache einer Katastrophe, bei der der Staatspräsident, die gesamte Armeeführung, der Nationalbankpräsident usw. ums Leben gekommen sind, nicht vollständig aufklären wollte. Nicht einmal ein Denkmal vor dem Präsidentenpalais will man den Opfern dieses Absturzes gönnen.

Haben Ihnen die Feministinnen zu Ihrer Ernennung schon gratuliert?

Nein, keine von ihnen hat es getan.

Auch der Frauenkongress (ein seit 2009 existierender, radikal feministischer Verein, dem einige namhafte Schauspielerinnen, Unternehmerinnen, Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen angehören – Anm. RdP) hat keine Gruβadresse geschickt?

Nein, aus diesen Kreisen gab es keine Reaktion, aber darüber bin ich nicht traurig.

Der Feminismus ist eindeutig politisch gefärbt. Für ihn sind sie eindeutig nicht die richtige Frau.

In Polen ist der Feminismus weit auf der linken Seite des politischen Spektrums angesiedelt. Wo waren diese Damen, als die Regierung Tusk das Renteneintrittsalter für Frauen auf einen Schlag von 60 auf 67 Jahre angehoben und die Mehrwertsteuer auf Kinderkleidung von 8 auf 23% erhöht hat? (…).

Werden Sie als Ministerpräsidentin das umstrittene „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ aufkündigen?

Im polnischen Straf- und Familienrecht haben wir genügend Bestimmungen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und anderer pathologischer Erscheinungen. Man kann natürlich über eine weitere Verschärfung der Strafen diskutieren. Doch das Übereinkommen vom dem Sie sprechen ist eine ideologische Keule. In diesem Dokument wird behauptet, dass die Familie und der Glaube an sich eine Quelle häuslicher Gewalt seien. Dieser Vorgabe sollen wir die Erziehung und Bildung unterordnen. Das ist eine offensichtliche Unwahrheit.

Die Tusk-Regierung hat die Ratifizierung dieses Übereinkommens vor kurzem mit einem geradezu brachialen Nachdruck und unter Fraktionszwang durch das Parlament gepeitscht. Doch man darf sich einem solchen Diktat, das unserem Straf- und Familienrecht Regulierungen aufzwingt, die im krassen Gegensatz zu unserer Kultur und unserer Tradition stehen, nicht beugen. Sie dienen dem ideologischen Umbau der Gesellschaft und nicht der Lösung des Problems.

Jetzt werden Sie der Begünstigung der Anwendung von Gewalt gegen Frauen bezichtigt.

Ich kann einwandfrei beweisen, dass das polnische Rechtssystem Frauen vor Gewalt ausreichend schützt. Man muss das Recht nur konsequent anwenden. Hier gibt es Probleme. Wir haben genügend Behörden und Stellen, die dafür zuständig sind. Einige von ihnen müssen aus ihrer Trägheit wachgerüttelt werden. Ja, auch bei uns gibt es häusliche Gewalt und man muss sie mit Nachdruck bekämpfen. Dazu aber brauchen wir kein Übereinkommen, das nicht nur die Familie als solche unter einen Generalverdacht stellt, sondern auch noch die Bürokratie weiter auftürmt.

Werden Sie das jetzige Gesetz über die künstliche Befruchtung ändern?

Ich verstehe das Drama der Menschen, die sich Kinder sehr wünschen und keine bekommen. Der Staat sollte sie in ihrem Bestreben eine Familie zu haben unterstützen, indem er die Heilungschancen bei Unfruchtbarkeit so gut es nur geht fördert. Die künstliche Befruchtung aber ist keine Therapie gegen Unfruchtbarkeit, sondern eine Methode zur Kinderzeugung. Sie wird in Polen angewandt und sie bedarf einer juristischen Regelung. Doch die von der Kopacz-Regierung gegen unseren vehementen Widerstand gerade durchgesetzte Regelung ist unannehmbar. Sie erlaubt das Einfrieren und die Vernichtung menschlicher Embryonen. Sie muss an vielen Stellen geändert werden.

Die regierende Bürgerplattform versucht den Menschen einzureden, wenn wir gegen das Übereinkommen der EU in Bezug auf häusliche Gewalt sind, dann sind wir für Gewalt gegen Frauen. Und wenn wir gegen ihr katastrophales Gesetz zur künstlichen Befruchtung sind, dann wollten wir die auf diesem Wege gezeugten Kinder benachteiligen oder gar schikanieren. Diese Kinder werden und müssen genauso geliebt werden wie alle anderen. Aber was ist mit den Kindern, die im Frühstadium ihrer Entwicklung getötet wurdn?

Wie ist Ihre Einstellung zu auβerehelichen Partnerschaften?

Ich werde die Feministinnen wieder einmal enttäuschen, aber ich bin dagegen. Wir müssen die traditionelle Familie schützen und fördern. Ich bin eine praktizierende Katholikin. Das Sakrament der Ehe ist für mich heilig. Jeder ist frei in seiner Lebensgestaltung, niemand wird und will Menschen verfolgen, die in auβerehelichen Verbindungen leben wollen, aber es gibt gewisse Rechte, die nur den Familien, die auf der Ehe basieren vorbehalten werden sollten.

Beata Szydło mit Ehemenn Edward. "Wir führen eine normale, traditionelle Ehe."
Beata Szydło mit Ehemenn Edward. „Wir führen eine normale, traditionelle Ehe.“

Wie steht Ihr Mann (Edward Szydło ist Lehrer – Anm. RdP) zu Ihrem politischen Engagement?

Wir führen eine normale, traditionelle Ehe, was nicht heiβt, dass wir im Alltag unmodern seien. Mein Mann billigt mein politisches Engagement voll und ganz, bestärkt und unterstützt mich darin.

Priesteranwärter Tymoteusz Szdło. "Er hat sich einen nicht leichten, aber schönen Lebensweg ausgesucht. Darauf bin ich stolz."
Priesteranwärter Tymoteusz Szydło. „Er hat sich einen nicht leichten, aber schönen Lebensweg ausgesucht. Darauf bin ich stolz.“

Einer Ihrer beiden Söhne ist im Priesterseminar. In wie weit hatte die Familie Einfluss auf seinen Werdegang?

Wir sind eine ganz normale katholische Familie. Wir praktizieren unseren Glauben tagtäglich, nicht nur an Feiertagen, aber ich kenne viele weit religiösere Familien. Die Entscheidung unseres Sohnes (Tymoteusz, 23 Jahre alt – Anm. RdP) hat mich sehr überrascht. Sie zu akzeptieren, fiel mir am Anfang nicht leicht, wie so vielen anderen Müttern. Wir haben viel darüber gesprochen und mit meinem Mann beschlossen, ihn darin zu bestärken und abzuwarten, wie es weiter geht. Sehr geholfen haben mir die Elterntreffen im Priesterseminar. Mir wurde klar, dass es ein guter Entschluss war, vor allem weil ich gesehen habe, dass er damit glücklich ist. Er hat sich einen nicht leichten, aber schönen Lebensweg ausgesucht. Darauf bin ich stolz.

Die Linke meint, dass Menschen sich nicht im öffentlichen Leben von ihrem Glauben leiten lassen dürfen.

(…) Werte sind das Fundament. Christliche Werte haben universellen Charakter, auf ihnen ist unsere Zivilisation aufgebaut, auch unser Staat. Es gibt nichts besseres, um gute Beziehungen mit einem Menschen aufzubauen, als die Zehn Gebote zu befolgen. Der Verlust von Werten verursacht Chaos und Unglück. Was nicht bedeutet, dass man Andersdenkende nicht achten soll. Toleranz ist auch ein christlicher Wert und auch in Polen gibt es eine, zwar freundliche, aber dennoch Trennung zwischen Kirche und Staat.

Wie sehen Sie die Rolle der Kirche im öffentlichen Leben?

Die Kirche sollte sich so oft wie möglich zu Wort melden. Das tut Papst Franziskus ja auch. Er spricht nicht nur zu den Gläubigen, er beruft sich auf universelle Werte, formuliert sehr wichtige Hinweise hinsichtlich der Ethik sowohl im privaten, wie auch im öffentlichen Leben. Die Kirche in Polen ist ein sehr wichtiger Bestandteil der Gesellschaft und ich sehe keinen Grund, weshalb sie sich in wichtigen Angelegenheiten des öffentlichen Lebens der Stimme enthalten sollte. Sie hat dazu dasselbe Recht, wie alle anderen Teilnehmer des öffentlichen Lebens.

Beata Szydło eine Handlangerin des Vatikans in Polen? I

mmer mit der Ruhe. Wer genauer auf das Geschehen in Polen schaut, sieht einen enormen Bedarf dahin gehend, dass wir wieder eine werteorientierte Politik bekommen. Auch in unserem Land werden Katholiken verhöhnt und bezichtigt, ihre Denkweise allen anderen aufzuzwingen. Es gibt eine Trennung und zugleich eine gute Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat auf vielen Gebieten. Verfassungsrechtlich ist in dieser Hinsicht alles sehr gut geregelt. Die Regierenden müssen sich um alle kümmern, auch um die Nichtgläubigen. Man muss auf alle hören, alle achten und ein vernünftiges Gleichgewicht wahren.

RdP




Andrzej Duda. An Gottes Segen ist ihm gelegen

Man darf gespannt sein. Am 6. August hat der neue Staatspräsident sein Amt angetreten.

Wieder einmal geht ein Gespenst um in Polen, dieses Mal seitdem Andrzej Duda am 24. Mai 2015 die Präsidentschaftswahlen gewann: es ist das Gespenst des Gottesstaates, einer Herrschaftsform, bei der die Staatsgewalt allein religiös legitimiert und von einer göttlich erwählten Person (gottberufener Prophet, gottbegnadeter König), einer Priesterschaft (z.B. dem katholischen Klerus) oder einer kirchlichen Institution (z. B. der Bischofskonferenz) auf der Grundlage religiöser Prinzipien ausgeübt wird. Sogar Ministerpräsidentin Ewa Kopacz malt schon diesen Teufel (Engel?) an die Wand. Glaubt man den Warnern, driftet Polen, mit Duda am Steuer, in die düstere Finsternis des Mittelalters ab.

Zweifelsohne twitterte der postkommunistische Politiker Tomasz Kalita jedenfalls allen polnischen Kirchengegnern tief aus der Seele, als er Mitte Juli 2015 schrieb: „Nach dem Urlaub beginnt der gewählte Staatspräsident seine Aktivitäten mit der Teilnahme an religiösen Feierlichkeiten. Wurde in Polen vor Kurzem ein Staatsoberhaupt oder ein Kirchenoberhaupt gewählt?“

Antiklerikale in Sorge

Polens Antiklerikale haben wahrlich allen Grund zur Sorge, denn auch vor dem Urlaub verhielt sich Duda keineswegs besser. Schon nach seinem Wahlsieg legte er anderentags auf dem Heimweg von Warschau nach Kraków einen Zwischenstopp in Częstochowa/Tschenstochau ein, um auf dem Hellen Berg „der Muttergottes für die Fürsorge, für die Kraft“, die sie ihm im Wahlkampf angedeihen lieβ, zu danken. Spät abends in Krakau angekommen, suchte er noch in der Wawel-Kathedrale die Reliquien des Hl. Stanislaus auf, um auch dort einen Augenblick lang zu beten.

Andrzej Duda. Am 25. Mai 2015, gleich nach dem Wahlsieg das Gnadenbild der Schwarzen Madonna aufgesucht.
Andrzej Duda. Am 25. Mai 2015, gleich nach dem Wahlsieg, das Gnadenbild der Schwarzen Madonna aufgesucht.

Kurz darauf, am Sonntag, dem 8. Juni 2015 erreichte Dudas religiöses Engagement seinen vorläufigen Höhepunkt. Während einer Freiluftmesse in Warschau gelang es ihm eine Hostie einzufangen, die der Wind vom Altar in den Zuschauerbereich wehte. Der Präsident schoss aus seinem Sitz in der ersten Reihe empor, fing die Hostie und umschloss sie mit den Händen. Nach einer kurzen Zeit des Zögerns wurde er zum Altar geleitet, wo er die Hostie zurückgab.

 

Warschau am 8. Juni 2015. Hostie erfolgreich eingefangen.
Warschau am 8. Juni 2015. Hostie erfolgreich aufgefangen.

Der gewandelten Hostie – als dem wahren Leib Christi – bringt man in der katholischen Kirche höchste Ehrfurcht entgegen. Geweihte Hostien werden im Tabernakel aufbewahrt, vor allem für die Kommunion für Kranke und Sterbende, aber auch zur stillen Anbetung der Gläubigen. Diese ganz besondere Verehrung kommt auch bei der Fronleichnamsprozession zum Ausdruck, bei der ein Priester oder ein Diakon eine geweihte Hostie in der Monstranz zu den Außenaltären trägt. So gesehen, hat sich Duda durch und durch korrekt verhalten. Er bekam dafür viel Lob von den Katholiken und erntete Hohn bei den Antiklerikalen. Als den „Der mit der Hostie tanzt“ schmähten und verspotteten ihn Autoren von Memes und Karikaturen im Internet.

Der Fototermin-Katholizismus von Ministerpräsidentin Ewa Kopacz entfacht verständlicherweise keine antikerikale Hysterie.
Privataudienz bei Papst Franziskus am 12. Juni 2015. Der Fototermin-Katholizismus von Ministerpräsidentin Ewa Kopacz entfacht verständlicherweise keine antikerikale Hysterie.

„Es ist schon interessant festzustellen“, so die „Gazeta Polska Codziennie“ („Polnische Zeitung Täglich“) vom 23. Juli 2015, „dass die Kirchenbesuche und Messeteilnahmen des abgewählten Staatspräsidenten Komorowski auf dem Hellen Berg in Częstochowa niemals auch nur den Schatten einer antiklerikalen Hysterie hervorgerufen haben. Genauso wenig, wie die kürzlich, am 12. Juni 2015, absolvierte Privataudienz von Regierungschefin Ewa Kopacz bei Papst Franziskus. Die antiklerikalen Künder wissen sehr wohl zwischen dem Fototermin-Katholizismus der jetzt Regierenden und dem authentischen Glauben Dudas zu unterscheiden.“

Dudas Antwort auf diese Attacken ist denkbar einfach: „Denjenigen, die mich wegen meines Betens und meiner Kirchenbesuche angreifen, möchte ich sagen, dass ich als Staatspräsident niemanden zum Beten zwingen werde. Ich bitte jedoch darum, dass niemand mir das Beten zu verbieten versucht. Ich habe vor dem Wahlkampf gebetet, ich habe im Wahlkampf gebetet, und ich werde auch jetzt beten“.

Ein Mann der konservativen Elite

„Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“ Mahatma Gandhis Worte geben sehr gut wieder, was zwischen dem Herbst 2014, als der Präsidentschaftswahlkampf begann, und der Verkündung des Wahlergebnisses am Abend des 24. Mai 2015 in Polen geschah. Zweifelsohne öffnet Dudas Amtsantritt ein grundlegend neues Kapitel in der Geschichte der III. Polnischen Republik, die es seit 1990 gibt, wobei die Tatsache, dass Polen den jüngsten (Jg. 1972) freigewählten Staatspräsidenten der Welt haben wird, eine eher untergeordnete Rolle spielen dürfte.

Andrzej Dudas Eltern, Jan und Janina, er Elektrotechniker, sie Chemikerin, sind Professoren an der renommierten Krakauer Hochschule für Bergbau und Hüttenwesen (AGH). Der Vater seiner Ehefrau Agata, einer Germanistin und Deutschlehrerin am namhaften 2. Krakauer Lyzeum, ist der berühmteste, lebende moderne polnische Dichter Julian Kornhauser.

Die Eltern: Prof. Jan und Prof. Janina Duda.
Die Eltern: Prof. Jan und Prof. Janina Duda.

Duda entstammt einer konservativen Elite, die es weder im kommunistischen, noch in der vom ausufernden, hemdsärmeligen Self-made-Man-Kapitalismus geprägten Folgezeit leicht hatte. Ein Patriotismus kennzeichnet sie, der das eigene Land, das eigene Volk, seine Geschichte und Tradition eindeutig in den Mittelpunkt stellt, aber andere Länder und Völker keineswegs herabsetzt oder gar verachtet, was für den Nationalismus typisch ist.

Bildung, Kultur, Fachwissen und Fleiβ, nicht Ellbogen, sind die Instrumente des Aufstiegs. Man ist und gibt sich in diesen Kreisen aus Überzeugung bescheiden, denn das Fortkommen wurde mühsam erkämpft. Andrzej Dudas Eltern kamen aus Kleinstädten zum Studium nach Krakau, wo sie sich kennengelernt haben. Das Studentenleben fristeten sie in Vier- bzw. Fünfbettzimmern der Uni-Wohnheime. Die erste gemeinsame Wohnung des angehenden Wissenschaftlerehepaares war neun Jahre lang ein neun Quadratmeter groβes Zimmer im Mitarbeiterhotel der AGH-Hochschule, das sie mit ihrem kleinen Sohn Andrzej teilten, bis sie eine Wohnung bekamen.

In der Familie Duda war der Glaube ein fester und natürlicher Bestandteil des Alltags. Menschen dieser Schicht mussten im kommunistischen Polen ein Vielfaches an Leistung und Wissen aufbringen, um beruflich weiterzukommen. Da sie die Parteizugehörigkeit verweigerten, blieben Leitungsfunktionen, Auslandsstipendien und manch andere Privilegien für sie zumeist unerreichbar.

Geld ist in diesen Kreisen zweitrangig, wichtiger ist die Herausforderung der Aufgabe. Nach seinem Jurastudium an der Jagiellonen-Universität lehnte Duda 2005 ein sehr einträgliches Angebot einer groβen Maklerfirma zugunsten der eher brotlosen Assistentenstelle und einer wissenschaftlichen Karriere an der Universität ab. Als Staatspräsident wird Duda sechsmal weniger verdienen als ein Europaabgeordneter, der er seit Mai 2014 und bis noch vor Kurzem war.

Good boy, bad boy

„Polityka“, das Wochenblatt der postkommunistischen Linken, das regelmäβig die besten Sejm-Abgeordneten des Jahres kürt, hegte noch im September 2013 nicht die geringsten Zweifel an Dudas Fachwissen, seiner Dialogfähigkeit, seinen guten Manieren. „Einer der aktivsten Abgeordneten. Seine Reden im Plenarsaal gelten fast ausschlieβlich den Gesetzen und der Gesetzgebung (…). Sachlich, kultiviert, offen für Argumente, zeigt er, dass man diskutieren kann ohne jemanden zu beleidigen. Keine Boshaftigkeit, keine personenbezogenen Attacken, stattdessen Sachargumente.“

Der beste Sejm-Abgeordnere. "Polityka" im September 2013.
Der beste Sejm-Abgeordnere. „Polityka“ im September 2013.

Im September 2014 fand sich Duda unter den besten polnischen Europaabgeordneten, die die „Polityka“ ausgemacht hat. „Diskussionen mit seiner Teilnahme waren stets intelligent, sachlich, manchmal bissig. Er ist ein hervorragender Jurist, der Populismus meidet und sich an die Regeln der politischen Kultur hält, aber auch, wenn es notwendig ist, ein politischer Kämpfer sein kann.“

Der beste polnische Europaabgeordnete. "Polityka" im September 2014.
Der beste polnische Europaabgeordnete. „Polityka“ im September 2014.

Wenige Monate später verwandelte sich der Präsidentschaftskandidat Duda, der einst sachliche, intelligente, kultivierte, dialogorientierte, hervorragende Jurist in derselben „Polityka“ in einen „wenig bekannten Hinterbänkler“, eine „jämmerliche Marionette Kaczyńskis“, einen „kirchenhörigen Fundamentalisten“. Die Zahl einflussreicher Medien, die ihn so darstellen, ist in Polen Legion. Duda wird es genauso schwer haben, wie sein politischer Förderer Lech Kaczyński, der im April 2010 ums Leben gekommene, viel geschmähte polnische Staatspräsident, dessen enger Mitarbeiter er war.

Der beste Feind. "Polityka" im Mai 2015.
Der beste Feind. „Polityka“ im Mai 2015.

 

„Intensiver Katholik“

Jarosław Kaczyński, Lechs Zwillingsbruder und Chef der oppositionellen nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), der Duda zum Kandidieren ausgewählt und bewogen hat, bezeichnete ihn als einen „intensiven Katholiken“. Was heiβt das?

Polens gröβtes Nachrichtenmagazin, der katholische „Gość Niedzielny“ („Sonntagsgast“) vom 3. Mai 2015 ist dieser Frage nachgegangen und stellt fest:

„Es ist ein Jemand, der den Glauben nicht als ein Beiwerk zum Privatleben betrachtet (schöne Trauung, Taufe, Beerdigung), sondern als etwas, was sein ganzes Leben durchdringt und seine Entscheidungen beeinflusst. Eine solche Haltung schlieβt keineswegs Fehler und Abstürze aus. Ein „intensiver Katholik“ nimmt die göttlichen und kirchlichen Gebote ernst. Er ist kein „selektiver Katholik“, der sich, wie in einem Supermarkt, das aus dem Katholizismus herausnimmt, was ihm gerade passt, und sich seinen eigenen „Glauben“ zurechtbastelt. (…)

Kann ein Politiker ein „intensiver Katholik“ sein? Ja, er kann und er sollte es sogar sein, auch wenn er beschimpft wird als „Fundamentalist“, als „Lakai des Vatikans“ usw. Ein Katholik und Politiker zugleich, hat das Recht sich auf die christliche Moral- und Soziallehre zu berufen. Genauso, wie eine Feministin und Politikerin sich auf den Feminismus und ein Homo-Aktivist und Politiker sich auf die Homo-Ideologie berufen darf“, schreibt das Blatt und fährt fort:

„In der Demokratie muss man Kompromisse schlieβen, um Recht zu schaffen. Ein Katholik kann für ein Gesetz stimmen, das aus der Sicht der katholischen Lehre unvollkommen ist, aber eine Verbesserung gegenüber dem bisherigen Zustand bringt. Er darf das geringere Übel wählen, um ein gröβeres zu vereiteln.
Wenn man hört, wie und was Andrzej Duda sagt, hat man den Eindruck, dass er das alles sehr gut versteht und darauf vorbereitet ist, das höchste Amt im Staate auszuüben ohne von dem eigenen Glauben abzurücken.“

Gottesstaat? Lächerlich

Auch die katholische Tageszeitung „Nasz Dziennik“ („Unser Tagblatt“) vom 30. Juli 2015 nahm sich des Themas „Gottesstaat“ an. Das Blatt schreibt:

„Die polnische Verfassung garantiert jedem Bürger die Gewissens- und Religionsfreiheit, und definiert präzise, wie die Beziehungen zwischen dem Staat, den Kirchen und anderen Glaubensgemeinschaften auszusehen haben. Letztere sind ohne Ausnahme vor dem Gesetz gleich. D. h. Polen ist kein Gottesstaat. Um ein solcher zu werden, müsste man die Verfassung und viele andere Gesetzte ändern, so auch das Konkordat mit dem Vatikan. Danach jedoch sieht es nicht aus.

Von allen Kirchen und Glaubensgemeinschaften spielt die katholische Kirche die wichtigste Rolle. Das resultiert nicht aus den Rechtsvorschriften, sondern aus der Geschichte und aus der Zahl ihrer Gläubigen. Darum sollte es wahrlich nicht verwundern, dass Bürger katholischen Glaubens des Öfteren die höchsten Ämter im Staate bekleiden. Ergibt sich aber daraus, dass sich Polen in einen „Gottesstaat“ verwandelt? Sicherlich nicht“, stellt die Zeitung fest, und schreibt weiter:

„Es gibt noch ein Argument. Es geht aus der Lehre Christi hervor. Es war Christus, der befahl: „gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, aber Gott, was Gottes ist.“ Daraus resultiert aus der Sicht der Katholiken die Achtung für die Autonomie und Unabhängigkeit von Kirche und Staat. Deswegen dürfen Geistliche keine Staatsämter innehaben.

Doch die Autonomie bedeutet nicht, dass die Kirche, verstanden als die Geistlichen und die Gläubigen, nicht laut und deutlich ihre Lehre verkünden darf. Das besagt auch das Gesetzbuch des Kirchenrechts der katholischen Kirche (Codex Iuris Canonici): „Der Kirche kommt es zu, immer und überall die sittlichen Grundsätze, auch über die soziale Ordnung, zu verkündigen, wie auch über menschliche Dinge jedweder Art zu urteilen, insoweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern“ (Can. 747 – § 2).

Die Frau Ministerpräsidentin (siehe 1. Absatz dieses Textes – Anm. RdP) sollte eigentlich wissen, dass die einzigen gefährlichen Gottesstaaten islamischer und nicht christlicher Provenienz sind. Schade, dass sie mit solch dümmlichen Feststellungen das Ansehen ihres Amtes schädigt“, endet das Blatt.

Andrzej Duda will und wird, bevor er das Amt antritt, seinen Glauben nicht an der Garderobe abgeben. Dialogorientiert wie er ist, will er jedoch, so seine Ankündigung, ein ernsthaftes Gespräch mit allen Bürgern, auch mit seinen ideologischen Gegnern suchen. Man darf gespannt sein auf diese Präsidentschaft.

© RdP




„Jesus, Maria, was soll das werden!“ Kaczyńskis Rundblick nach Dudas Sieg

Wie er auf den Kandidaten Andrzej Duda kam, wie und warum dieser die Präsidentschaftswahlen gewann, und wie es weiter gehen soll.

Der unerwartete Sieg Andrzej Dudas in den Präsidentschaftswahlen am 24. Mai 2015 bewegt in Polen immer noch die Gemüter. Jetzt hat sich auch Jarosław Kaczyński,  Dudas Promotor und Chef der führenden Oppositionspartei, der nationalkonservativen Recht und Gerechtigkeit (PiS) in einem umfangreichen Interview für das Wochenblatt „Gazeta Polska“ („Polnische Zeitung“) zu Wort gemeldet. RdP dokumentiert das Gespräch mit Kaczyński (erschienen am 3. Juni 2015) umfassend in seinen interessantesten Passagen.

Waren Sie überzeugt, dass es ihrem Kandidaten Andrzej Duda gelingt die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen?

Nein, das war ich beileibe nicht. Wenn man sich die Ausgangslage in Ruhe durch den Kopf gehen lieβ, dann war das nicht zu schaffen. Die Überlegenheit der regierenden Bürgerplattform und ihres Staatspräsidenten Bronisław Komorowski war überwältigend, dank der Medien, der staatlichen Institutionen, in jeder Hinsicht eben.

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Noch Mitte Dezember 2014 befand sich Andrzej Duda, laut Meinungsumfragen, auf einer scheinbar aussichtsloser Position.

Es heiβt David habe Goliath bezwungen.

Ich freue mich über den Sieg, uns ist etwas Groβes gelungen. Wenn mir jemand vor der Stichwahl am 24. Mai 2015 gesagt hätte, dass die Wahlbeteiligung um acht Prozent höher sein wird als in der ersten Runde am 10. Mai, dann wäre mir sofort der Gedanke in den Kopf gekommen: wir werden verlieren. Wir gingen davon aus, dass wenn die Wahlbeteiligung in der zweiten Runde bei 55 und mehr Prozent liegen wird, wir keine Chance haben. Derweil hat sich herausgestellt, dass sich dieses Mal die Wähler beider Seiten aufgerafft haben, und dass wir, die Konservativen, über einen gröβeren als gedacht Fundus an Wählern verfügen, die unregelmäβig zur Wahl gehen.

Wie gelang es die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen?

Wir haben lange überlegt, wen wir aufstellen sollen. Vier Personen gelangten in die engere Auswahl. Die Namen möchte ich hier nicht nennen. Wir haben in einem kleinen, sehr vertraulichen Zirkel beraten, haben Untersuchungsergebnisse und Gutachten von Soziologen herangezogen. Ich habe mich zuerst zurückgehalten, war jedoch von Anfang an der Meinung, Andrzej Duda sei der beste Kandidat.

Lange Zeit habe ich ihn nicht näher gekannt. Als ich zwischen Juli 2006 und November 2007 Ministerpräsident war, wusste ich nicht viel mehr über ihn, als dass es in meiner Regierung im Justizministerium einen stellv. Minister Andrzej Duda gibt . Im Januar 2008 hat mein Bruder Lech ihn zum Unterstaatsekretär in seine Staatspräsidenten-Kanzlei berufen.

Andrzej Duda gehörte gut zwei Jahre lang (Januar 2008- April 2010) zu den engsten Mitrabeitern des tödlich verunglückten Staatspräsidenten Lech Kaczyński.
Andrzej Duda gehörte gut zwei Jahre lang (Januar 2008 – April 2010) zu den engsten Mitrabeitern des tödlich verunglückten Staatspräsidenten Lech Kaczyński (links im Bild).

Können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie Andrzej Duda persönlich kennengelernt haben?

Ehrlich gesagt, nein. Er ist mir zum ersten Mal sehr positiv aufgefallen, als er im Namen von Staatspräsident Lech Kaczyński im Sejm auftrat. Es kam zu einem Eklat, weil Duda vom Rednerpult aus darauf hingewiesen hat, dass die damalige stellv. Arbeitsministerin, zu dieser Zeit hochschwanger, stehen musste, während Donald Tusk und seine Minister es sich in den Regierungsbänken bequem gemacht hatten. Niemand hatte ihr einen Stuhl angeboten.

Sejm-Debatte am 7. November 2008. Für die schwangere stellv. Arbeitsministerin Agnieszka Chłoń-Domińczak hat Andrzej Duda einen Stuhl erbeten.
Sejm-Debatte am 7. November 2008. Für die schwangere stellv. Arbeitsministerin Agnieszka Chłoń-Domińczak hat Andrzej Duda einen Stuhl erbeten.

Das war im November 2008, während einer sehr hitzigen Debatte um die von Tusk forcierte und durchgesetzte Abschaffung der sogenannten Übergangsrenten, die etwa 750.000 Menschen betraf. Die schwangere Beamtin sollte in der Debatte die Regierung vertreten. Staatspräsident Lech Kaczyński, Ihr Bruder, wollte die Abschaffung der Übergangsrenten verhindern. Duda vertrat ihn in der Debatte und sagte: „Ich bin erstaunt, dass keiner der Herren Minister der Dame seinen Platz angeboten hat“. Es kam daraufhin zu Tumulten, Duda wurde von der Regierungsmehrheit wüst beschimpft. Die Betroffene selbst, was konnte sie anderes tun, sagte daraufhin, sie stehe, weil sie stehen wolle.

Ich war schon damals der Meinung, dass das Erziehen dieser Leute keinen Sinn hat. Sie sind so wie sie sind, das sieht jeder der es sehen will. Aber die Haltung Dudas hat mich beeindruckt. Nach der Tragödie von Smolensk am 10. April 2010 (Absturz der Präsidentenmaschine mit 96 Personen an Bord – Anm. RdP) habe ich ihn kennengelernt und seit dem sehr zu schätzen gelernt. Wir sind uns regelmäβig begegnet, als ich an jedem 18. eines Monats nach Kraków zum Grab meines Bruders fuhr (am 18. April 2010 wurden Staatspräsident Lech Kaczyński und seine Frau in der Wawel-Kathedrale bestattet – Anm. RdP).

Es fiel mir auf, dass Duda ein begnadeter Redner ist. Nicht nur im Sejm, sondern auch während groβer Parteiveranstaltungen. Und wenn er redet, dann ist er immer fachlich sehr gut vorbereitet. Man spürt sofort, der Mann weiβ wovon er spricht.

Während eines Wahlparteitages stellte er vierzig Minuten lang, ohne vom Blatt abzulesen, das Wohnungsbauprogramm von Recht und Gerechtigkeit vor.

Es gab viele solche Auftritte. Ich habe mir gedacht: unsere Gegner haben eine Übermacht. Komorowski, das belegen alle Untersuchungen, ist sehr populär bei den Menschen. Deswegen müssen wir unseren Kandidaten als einen absoluten Gegensatz zu ihm aufbauen. Dort ein schon etwas betagter Staatspräsident, hier ein junger, dynamischer Herausforderer. Dort Passivität, Behäbigkeit, Selbstzufriedenheit, Überheblichkeit, eine weitgehende Abgehobenheit vom normalen Leben, hier Aktivität, Beweglichkeit, eine leicht kritische Distanz zu sich selbst, Bescheidenheit, Demut vor den Problemen der Menschen. (…)

Und so ist die Entscheidung gefallen: Duda soll es machen. Ich will nicht verheimlichen, ich habe in diesem Fall das letzte Wort gesprochen, aber nach langen Besprechungen im Kreis der engsten Vertrauten. Duda hat zugestimmt, obwohl nicht gleich, und wir haben seine Kandidatur am 11. November 2014 bekanntgegeben (polnischer Nationalfeiertag, Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918 – Anm. RdP).

Die Öffentlichkeit hat es damals kaum bemerkt.

Das hat uns ein wenig überrascht (…), aber die Sache kam ins Rollen. Schon vorher habe ich seinen Vater und seine äuβerst sympathische Mutter kennengelernt und das hat meine Gewissheit bestätigt, dass wir eine gute Wahl getroffen haben.

Ich habe es dem Kandidaten und dem Wahlstab ans Herz gelegt sich auf eine Wahlreise durch die 360 polnischen Landkreise zu begeben.

Er hat es geschafft zwischen Mitte Januar und Anfang Mai 2015 in gut 280 davon gewesen zu sein, in vielen von ihnen hat er in zwei, drei oder sogar vier Ortschaften gesprochen.

Es war eine unglaubliche Leistung und es war dringend notwendig. Andrzej Duda war sehr wenig bekannt, hatte als Präsidentschaftskandidat von Recht und Gerechtigkeit automatisch alle groβen staatlichen (öffentliches Fernsehen, Rundfunk) und privaten Medien gegen sich. Sie haben ihn entweder schweigend übergangen oder desavouiert. Also musste er auf den direkten Kontakt setzten und auf die kleinen, lokalen Internetportale und Kabel-TV-Sender. Für die war er eine Attraktion.

Von den wichtigsten Medien verschwiegen oder als der "Kaczyńskis Pappkamerad' geschmäht, musste  Duda alles auf den Direkten Kontant mit den Wählern setzten.
Von den wichtigsten Medien verschwiegen oder als „Kaczyńskis Pappkamerad“ geschmäht, musste Duda alles auf den Direkten Kontakt mit den Wählern setzten.

Es gab Probleme, aber er fuhr hin und stieg jedes Mal in den Ring mit einer Entschlossenheit und Ausdauer, die ihresgleichen suchen. Dabei lief es anfänglich sehr zögerlich. Wahlveranstaltungen mit einem, vielleicht zwei Dutzend Leuten in irgendwelchen Hinterzimmern. Immer mal kam er auch auf einen Sprung zu mir in die Nowogrodzkastrasse (Sitz der RuG-Parteizentrale in Warschau – Anm. RdP) und erzählte mit leuchtenden Augen, dass er gerade von einer Veranstaltung mit fünfzig Leuten komme! Und ich dachte mir im Stillen: Jesus, Maria! Was soll das nur werden? Aber gut, Hauptsache Haltung bewahren: es läuft wunderbar.

Gab es keine Beanstandungen, keine Kritik?

Es gab nur das. Von überallher prasselten Warnungen und gute Ratschläge auf mich nieder. Das wird nichts! Ich war anderer Meinung. Nichtsdestotrotz hatten wir Probleme die Menschen zu erreichen. Deswegen veranstalteten wir eine groβe Wahlkampf-Auftaktveranstaltung in Warschau (am 7. Februar 2015 – Anm. RdP). Es war eine der besten die Polen jemals gesehen hat. Das war der Beginn des Durchbruchs.

Wahlkampf-Auftaktveranstaltung in Warschau (am 7. Februar 2015 – Anm. RdP). Es war eine der besten die Polen jemals gesehen hat. Das war der Beginn des Durchbruchs.
Andrzej Duda mit Ehefrau Agata. Die Wahlkampf-Auftaktveranstaltung in Warschau am 7. Februar 2015 war eine der besten die Polen jemals gesehen hat. Ab dann begann der Durchbruch.

Damals entstand auch der griffige, gereimte Wahlkampfslogan „Andrzej Duda – to się uda!“ („Andrzej Duda – das wird gelingen!“ – Anm. RdP).

Slogan ja, aber vor allem der ganze Auftritt und die mitreiβende Rede Dudas haben hohe Wellen geschlagen.

Umso mehr, als der amtierende Staatspräsident Komorowski bei seiner Auftaktveranstaltung am 7. März 2015 seine langatmige Ansprache, einschlieβlich der Grüβe an seine Frau, vom Blatt abgelesen hat.

Duda jedenfalls war jetzt in aller Munde. Man begann zu spekulieren, er könne mich als Parteichef beerben. Duda werde zwar die Wahl nicht gewinnen, hieβ es, aber nach einem guten Abschneiden vielleicht unser Kandidat für den Posten des Ministerpräsidenten bei den Parlamentswahlen im Herbst 2015 sein. Das Interesse für ihn wurde immer gröβer.

Duda fuhr derweil durchs Land, und es kamen Hunderte, schlieβlich Tausende zu seinen Veranstaltungen.

Vorher ist noch eine wichtige Entscheidung gefallen. Meine Stellvertreterin auf dem Posten des Parteivorsitzenden und unsere Schatzmeisterin Beata Szydło übernahm die Wahlkampfleitung. Bei nicht allen, aber doch bei einigen vorhergehenden Wahlkämpfen war unser Wahlstab eine Hölle: Chaos, nicht genau festgelegte Zuständigkeiten, Animositäten, Konflikte… Damit musste Schluss sein. Die Ruhe, die Beata Szydło ausstrahlt, ihr Organisationstalent und ihr Durchsetzungsvermögen, gepaart mit der Gewandtheit, Anpassungsfähigkeit, Offenheit und der eisernen Kondition unseres Kandidaten, haben den Erfolg möglich gemacht. Alles lief wie am Schnürchen, keine Reibereien, keine undichte Stelle, unsere Gegner wussten nichts von unseren Plänen.

Beata Szydło, die erfolgreiche Wahlkampfleiterin und, vielleicht, Polens künftige Ministerpräsidentin.
Beata Szydło,  Andrzej Dudas erfolgreiche Wahlkampfleiterin und, vielleicht, Polens künftige Ministerpräsidentin.

Es gab viele gute Ideen. Da die groβen Medien uns bekämpften, sind wir ins Internet gegangen. Diese Kampagne, von vielen jungen Leuten spontan unterstützt und einfallsreich weiterentwickelt, stellte den direkten Kontakt zu Hundertausenden Wählern her. Komorowskis Patzer und Fehlschläge, die ihm ständig unterlaufen sind, in den Medien verschwiegen, wurden im Internet umfangreich dargestellt und verspottet.

Bronisław Komorowskis  Komorowskis Patzer und Fehlschläge. Frankreichs Staatspräsident im Regen stehen gelassen.
Schier ohne Ende: Bronisław Komorowskis  Patzer und Fehlschläge. Frankreichs Staatspräsident im Regen stehen gelassen. Warschau, 7. Februar 2011.

Eigentlich, so hieβ es, war diese Wahl völlig überflüssig, denn Komorowski hätte, so hieβ es, den Sieg im ersten Wahlgang in der Tasche.

Gäste stehen, der Gastgeber sitzt. Warschau 7. Februar 2011.
Gäste stehen, Gastgeber Komorowski sitzt. Warschau 7. Februar 2011.

Komorowski hat eine ganze Amtsperiode lang, auβer Repräsentieren, sich dem angenehmen Leben widmen und einen guten Eindruck zu erwecken, nichts gemacht. Er stand im Schatten, denn alles drehte sich lange Zeit um Donald Tusk, bis der, wohl wissend um den wahren Zustand des Staates und die schwindenden Chancen seiner Partei die diesjährigen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu gewinnen, sich rechtzeitig nach Brüssel absetzte. Als Komorowski im Kampf um seine Wiederwahl, die Glasglocke, unter der er die letzten fünf Jahre lang gelebt hat, verlassen und ins Rampenlicht treten musste, wurden seine ganze Tollpatschigkeit, Unbedarftheit, Einfallslosigkeit, vor allem im Internet, sichtbar.

Schwedens Königin Silvia das Glas weggenommen. Warschau 8. Mai 2011.
Schwedens Königin Silvia  das Glas weggenommen. Warschau 8. Mai 2011.

Spätestens im März 2015 wurde klar, dass es eine Stichwahl geben wird.

Ja, Komorowski in die zweite Runde zu zwingen, das war unser Minimalziel.  Am Sonnabend vor der ersten Runde bekam ich die letzten Meinungsumfragen auf den Tisch: Komorowski 39%, Duda 26%. Die übrigen Kandidaten zwischen 12 und 1%.  Ich dachte: sieht nicht gut aus, aber wenigstens ist die zweite Runde garantiert.

Eingeschlafen.
Eingeschlafen 1.

Doch dann kam die Hiobsbotschaft: Pawel Kukiz (ein Rockmusiker der eine Protestbewegung gegen die etablierten Parteien um sich scharen konnte – Anm. RdP) hat in den letzten Tagen gewaltig aufgeholt, hat schon mehr als 20%. Jesus, Maria, dachte ich, am Ende wird es eine Stichwahl zwischen Komorowski und Kukiz geben! Eine solche Blamage käme einem politischen Knock-Out-Schlag für uns gleich.

Eingeschlafen 2.
Eingeschlafen 2.

Am Sonntag, es war der 10. Mai, war ich, wie an jeden 10. eines Monats, beim Gedenkgottesdienst und dem anschlieβenden Gedenkmarsch für die Opfer der Smolensk-Katastrophe. Die Warschauer Johannis-Kathedrale war voller Menschen. Noch vor dem Gottesdienst, sickerten die ersten Nachrichten durch. Am Wahlabend dann die Bestätigung: Duda hat im ersten Wahlgang den ersten Platz belegt!

Den Stuhl des japanischen Parlamentspräsidenten bestiegen 1.
Der Stuhl des japanischen Parlamentspräsidenten von Bronisław Komorowski erfolgreich bestiegen…

Erst in den zwei Wochen zwischen der ersten Runde und der Stichwahl lieβ sich Staatspräsident Komorowski dazu bewegen, an zwei Fernsehdebatten mit seinem Konkurrenten teilzunehmen.

... und erobert.
… und erobert. Tokio, 27. Februar 2015.

Ich war der Meinung, jetzt müssen wir die Wahlkampftouren Andrzej Dudas einschränken und uns auf die TV-Debatten konzentrieren. Man sagte mir aber, unser Kandidat muss weiter unterwegs sein, denn wenn er sich ausruht, dann ist der Dampf raus. Gut, sagte ich mir, das wird wohl so sein.

Leider haben sich dann aber meine Befürchtungen doch bestätigt. Duda kam direkt aus dem Wahlkampf in Szczecin ins Warschauer TV-Studio. Die Erschöpfung war zu groβ, die erste Debatte brachte keine eindeutige Entscheidung für uns. Der erholte und wohlpräparierte Komorowski schlug sich überraschend gut. Es kam zu einem Unentschieden. Zum Glück war Duda bei der zweiten TV-Debatte, drei Tage später, in Höchstform und hat diese ganz klar gewonnen.

Mit einer Souffleuse auf Wahlkampfspaziergang. Warschau 13. Mai 2015.
Komorowski mit einer Souffleuse im Rucken im Dialog mit einer Behinderten im Rollstuhl, auf Wahlkampfspaziergang: „Fragen Sie ob etwas fehlt!“, „Ins Palais einladen, ins Palais einladen!“, „Umarmen die Dame, umarmen die Dame!“. Warschau, 13. Mai 2015.

Duda hat bis zur letzten Minute gekämpft, bis Mitternacht des 23. Mai, als die vom Gesetzgeber verordnete Wahlruhe begann.

Wie der britische Ministerpräsident David Cameron, begab sich Andrzej Duda auf eine 24-Stunden-Abschluβtour durch Polen. Die Brötchen, die er in einer Nachtbäckerei geschenkt bekam, verteilte er um fünf Uhr früh vor einer Kohlegrube in Oberschlesien usw. bis er abends zur Abschluβkundgebung auf dem Markt in seiner Heimatstadt Kraków eintraf, wo ihn Tausende von Menschen erwarteten.

Am frühen Nachmittag des 24. Mai sickerte durch, dass Duda gewonnen hat.

Und ich habe daraufhin beschlossen nach Częstochowa, zum Gnadenbild der Schwarzen Madonna auf dem Hellen Berg zu fahren. Bei der ersten Runde war ich in der Kirche und Andrzej Duda hat gewonnen. Jetzt sollte es auch so sein.

Den triumphalen Wahlabend ihrer Partei haben Sie verschmäht.

Nicht verschmäht, aber was sollte ich dort. Nicht ich war der Held des Abends, sondern der neue Staatspräsident. Und wem kann man in einem solchen Augenblick die polnischen Anliegen am besten anvertrauen? Wem soll man für den schwer erarbeiteten Erfolg danken? Natürlich der Muttergottes von Częstochowa. (…).

Wie geht es nun weiter?

Andrzej Duda ist die zentrale Figur der polnischen Politik geworden. Jetzt geht es darum, die entfesselte politische Dynamik zu nutzen und in diesem Herbst die Machverhältnisse im Sejm zu ändern. Das wird nicht einfach sein, aber es ist machbar.

Korruptionsskandale, nicht eingehaltene Versprechungen, drastisch erhöhte Steuern, die Abhöraffäre, in der schon seit Monaten immer neue kompromittierende Aufnahmen aus Privatgesprächen führender Regierungspolitiker ans Tageslicht gelangen… Die Bürgerplattform, jetzt bereits ohne Tusk, gerät politisch ins Taumeln.

Ja, gewiss, aber das bedeutet lange noch nicht, dass wir den Sieg im Herbst schon in der Tasche haben.

Auch wenn die Menschen in den Abhöraufnahmen zu hören bekommen, wie die damalige Infrastrukturministerin und heutige polnische EU-Kommissarin Elżbieta Bieńkowska bei einem vorzüglichen Essen, natürlich auf Kosten des Steuerzahlers, ihrem Gesprächspartner, dem Chef des polnischen BKA, verkündet, für sechstausend Zloty (ca. 1.500 Euro – Anm. RdP) im Monat können „nur Diebe oder Idioten arbeiten“. Der polnische Durchschnittslohn brutto liegt bei gerademal knapp 3.000 Zloty (ca. 750 Euro – Anm. RdP) und der gesetzliche Mindestlohn bei 1.200 Zloty brutto (ca. 300,- Euro – Anm. RdP).

Das ist die Mentalität von Leuten, denen die Macht zu Kopf gestiegen ist.

Oder wenn Bieńkowska in demselben Gespräch sagt, dass „der Kohlebergbau dieser Regierung scheiβegal“ war.

Sie sind so wie sie sich geben, wenn sie meinen, dass keiner es mitbekommt. Gleichzeitig beherrschen sie die Techniken der Macht perfekt, wissen sich die weitverbreitete Passivität in unserem Lande, die Resignation und politische Gleichgültigkeit der Bevölkerung, aber auch die Unterstützung der heimischen Medien, die am Tropf ihrer Staats- und Kommunalanzeigen hängen, geschickt zunutze zu machen.

Die Macht zu Kopfe Gestiegen. Elżbieta Bieńkowska, einst Infrastrukturministerin, jetzt EU-Kommissarin: für sechstausend Zloty (ca. 1.500 Euro – Anm. RdP) im Monat können „nur Diebe oder Idioten arbeiten“.  „der Kohlebergbau dieser Regierung scheiβegal"
Die Macht zu Kopfe Gestiegen. Elżbieta Bieńkowska, Tusk-Vertraute, einst Infrastrukturministerin, jetzt EU-Kommissarin: „Für 1.500 Euro im Monat können nur Diebe oder Idioten arbeiten“. „Der Kohlebergbau war dieser Regierung scheiβegal“.

Und jetzt sind sie dabei ein Rettungsboot für sich zu bauen, eine Partei mit dem Namen NowoczesnaPL (ModernePL – Anm. RdP).

Das ist eine Partei von Bankern und Managern mit Spitzengehältern, die vorgeben darüber „empört“ zu sein, dass die regierende Bürgerplattform nichts aber auch gar nichts von ihren Versprechungen in puncto Gewerbefreiheit, Steuersenkungen, Entbürokratisierung usw. getan hat. Dass sie sich erst nach acht Jahren empören ist sehr bezeichnend. Alle diese Leute waren treue Parteigänger der Bürgerplattform, jetzt versuchen sie ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Das Ziel ist, wie bisher, den Banken, Konzernen, Groβfirmen ein sorgenloses, vor allem möglichst steuerfreies Dasein zu ermöglichen. Sie bauen auf die Generation der 35- bis 45-jährigen, die am Anfang der Transformation auf die erste Welle des Aufschwungs aufgesprungen sind und oft der Idee des zügellosen Wirtschaftsliberalismus, ohne jegliche soziale Verpflichtungen, selbstsüchtig nacheifern. Alle haben ja dieselben Chancen, und wer in einer Gesellschaft unter die Räder gerät, ist selbst schuld.

Donald Tusk war ihr Idol, jetzt wenden sie sich dem Altmeister dieser Ideologie bei uns, und einem der Mitbegründer der neuen Partei, Leszek Balcerowicz zu. Sie hoffen auf etwa zehn Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen, werden, sollten sie ihr Ziel erreichen, sofort eine Regierungskoalition mit der schwer angeschlagenen Bürgerplattform bilden, damit es so weiter geht wie bisher, d.h. seit 2007. Ich hoffe, die Wähler fallen nicht noch einmal auf so etwas herein.

Leszek Balcerowicz Altmeister des zügellosen Wirtschaftsliberalismus, ohne jegliche soziale Verpflichtungen, selbstsüchtig nacheifern.
Leszek Balcerowicz, Altmeister des zügellosen Wirtschaftsliberalismus ohne soziale  Verpflichtungen.

Vieles spricht dafür, dass ihre Partei nicht die absolute Mehrheit der Stimmen bekommt, und sie eine Koalition werden eingehen müssen, um zu regieren. Der einzige mögliche Koalitionspartner wäre die, wie Phönix aus der Asche entstandene, Pawel-Kukiz-Bewegung, die zwar die richtigen Diagnosen stellt, aber auβer der Forderung das Mehrheitswahlrecht bei uns einzuführen, kein positives Programm, und zwar zu keinem Thema, parat hat.

Auch ich weiβ nicht, wie sich diese Initiative entwickeln wird. Eins ist klar, die zwanzig Prozent Stimmen, die Kukiz in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen bekam, zeigen wie groβ bei uns das Streben nach Veränderung ist. Wenn Kukiz und seine Leute ein schlüssiges, konstruktives Programm ausarbeiten, das sich mit unseren Zielen vereinbaren lässt, dann werden wir sie als Verbündete betrachten, mit allem Ernst behandeln und versuchen Kompromisse, die gut für Polen sind, zu schlieβen.

Rockman und Rebell Paweł Kukiz - viel Zulauf, wenig Programm.
Rockman und Rebell Paweł Kukiz – viel Zulauf, wenig Programm.

Wollen Sie nach der eventuell gewonnen Wahl Regierungschef werden?

Es ist der Staatspräsident, in diesem Fall Andrzej Duda der, laut Verfassung, einem Politiker nach den Wahlen den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt.

Inzwischen ist auch Frau Beata Szydło im Gespräch.

Ich bin überzeugt, sie hat das Zeug dazu. Es wird so geschehen, wie es am besten für unser Land ist. Nicht persönliche Ambitionen und Hoffnungen sind hier ausschlaggebend, auch nicht meine.

Aber man kann doch nicht in eine Wahl gehen ohne vorher zu sagen, wer der Regierungschef sein wird.

Das werden wir auch vorher sagen, aber haben sie bitte noch etwas Geduld.

RdP




Obama von Słupsk

Homosexueller wird Bürgermeister. Na und?

Unter dem Titel „Obama von Słupsk“ veröffentlichte die Tageszeitung „Rzeczpospolita“ („Die Republik“) vom 20-21.12.2014 einen Artikel von Piotr Kobalczyk über die Wahl von Robert Biedroń (Jg. 1976) zum Bürgermeister der 90.000-Einwohner-Kreisstadt Słupsk/Stolp nahe der Ostseeküste. Biedroń bekennt sich offen zu seiner Homosexualität. Sein Sieg war in den deutschsprachigen Medien die wichtigste Nachricht zu den polnischen Kommunalwahlen von Ende November 2014. Das Chaos, in dem sie mündeten, die groben Miβstände, die sie kennzeichneten und die politische Krise, die sie hervorriefen, waren für sie keiner einzigen ernsthaften Analyse wert.

In Polen selbst hat Biedrońs Wahl für weit weniger Aufregung gesorgt. Immerhin hatte das im deutschsprachigen Raum stets als „konservativ“, „erzkatholisch“, „intolerant“ oder „muffig“ (wie die SZ vom 27.11.2014 schrieb), dargestellte Polen, bereits 1992 eine Frau (Hanna Suchocka) als Regierungschefin, dreizehn Jahre früher als Deutschland. Ebenfalls 1992 wurde Hanna Gronkiewicz-Waltz polnische Nationalbankpräsidentin, was der Bundesbank bis heute nicht widerfahren ist. Vergeblich sucht man im Bundestag bis heute nach Transsexuellen oder Schwarzafrikanern. Im polnischen Sejm waren sie immerhin zwischen 2011 und 2015 durch die Personen von Anna Grodzka und John Godson, einem Nigerianer, der seit 2000 die polnische Staatangehörigkeit besitzt, vertreten.

Sejm-Abgeordnete Anna Grodzka
Sejm-Abgeordnete Anna Grodzka

Sejm-Abgeordneter John Godson
Sejm-Abgeordneter John Godson

Peinliche Bemerkungen über Abgeordneten-Hintern

Nach den Parlamentswahlen von 2011 zog auch Robert Biedroń, in den Reihen der rabiat antiklerikalen Palikot-Bewegung des berüchtigten Polit-Clowns Janusz Palikot, in den Sejm ein. Der bekannte politische Kommentator Robert Mazurek beschrieb im Internetportal „wPolityce.pl“ („inder.Politik.pl“) am 3.12.2014 die Anfänge von Biedrońs politischer Karriere so:

„Ich erinnere mich an den Herbst 2011. Zusammen mit Palikots Haufen zog auch der angehende Promi in den Sejm ein. Es war ein peinlicher Anblick: breites Lächeln und eine grenzenlose Leere im Kopf. Der angehende Dr. der Politologie wusste damals nicht einmal was der Senioren-Konvent (vergleichbar mit dem Ältestenrat des Bundestages – Anm. RdP) sei“.

Hinzu kamen „seine vor laufenden Kameras gemachten peinlichen Bemerkungen über die Abgeordneten-Hintern, die ihn am meisten beeindruckt haben, und über das Anmachen von gut aussehenden Politikern“, erinnert sich Mazurek, und fährt fort: „Nebenbei bemerkt fällt es leicht sich auszumalen, was einem konservativen Abgeordneten medial widerfahren würde, wenn er sich dermaβen anzüglich über Busen und Hinterbacken seiner Abgeordneten-Kolleginnen öffentlich ausgelassen hätte.“

Später „wurde es nicht besser. Immer mehr Interviews, immer blödere Fernsehsendungen“, in denen er sich zeigte, „immer mehr Flitter. So wurde Biedroń groß – ein Politiker, der nur deswegen bekannt ist, weil er bekannt ist, ultrafortschrittlich, lächelnd, von den Mainstreammedien verehrt.“

Dann aber, so Mazurek, begann sich etwas zu ändern. Biedroń erwies sich als lernfähig, lieβ sich vom Bazillus der ernsthaften Politik anstecken, zeigte sich zunehmend als ein „fleiβiger und durchaus kompetenter Abgeordneter, der sich in die Arbeit der parlamentarischen Ausschüsse für Justiz und Auβenpolitik einbrachte “, immer mehr darum bemüht, das Image des Homo-Vorkämpfers abzulegen.

Um seinem wachsenden Gefallen am Politikmachen weiterhin frönen zu können, musste er sich allerdings etwas Neues einfallen lassen, denn die Palikot-Bewegung, mit der er ins Parlament kam, ist heute politisch tot, hatte keine Chance bei den Parlamentswahlen 2015 noch einmal über die 5%-Hürde zu kommen und in den Sejm zu gelangen.

Auch wenn er im Sejm drei Jahre lang den Wahlkreis Słupsk vertrat, mietete sich Biedroń erst kurz vor den Kommunalwahlen vom November 2014 dort eine Wohnung, gründete die Wählerliste „Endlich ein Wechsel“ und zog mit einem Minibudget in den politischen Kampf um das Bürgermeisteramt. In die zweite Runde gelangte er mit einem minimalen Vorsprung von 498 Stimmen gegenüber dem örtlichen nationalkonservativen PiS-Kandidaten und weit abgeschlagen hinter dem Favoriten von der regierenden Bürgerplattform (PO). Doch Biedroń, so Mazurek, „ackerte wie ein Gaul und gewann“ zwei Wochen später die Stichwahl.

Robert Biedroń in Słupsk im Kommunalwahlkampf, November 2014
Robert Biedroń in Słupsk im Kommunalwahlkampf, November 2014

Bezeichnend war, dass der bis vor kurzem noch rabiat antiklerikale Biedroń, der lautstark die Abnahme des Kruzifixes von der Stirnwand im Plenarsaal des Sejm forderte, nun beteuerte, er werde auf keinen Fall das Kreuz und das Portrait des hl. Johannes-Paul II. aus seinem Słupsker Amtszimmer entfernen lassen. Auch werde er keinen Sex-Anleitunsunterricht in den Słupsker Schulen fördern und keine Gay-Pride-Paraden veranstalten.

Was von Biedrońs Versprechungen nach knapp zwei Jahren üriggeblieben ist, lesen Sie hier.

Man sieht, schreibt Mazurek, „dass er sich sehr bemüht, den Ruf einer männlichen Skandalnudel und eines Exzentrikers los zu werden. Wie weit wird diese Wandlung gehen? Eine gute Frage… Ich habe keine Ahnung, ob Biedroń ein guter Bürgermeister sein wird. Bis jetzt ist jedenfalls über seine Fähigkeiten innerhalb der Verwaltung nichts bekannt“, lautet sein Fazit.

Warum also hat Biedroń gewonnen?

Kommentatoren nennen mehrere Gründe:

1.Die Obama-Methode

Piotr Lisiewicz zitiert in der Wochenzeitung „Gazeta Polska“ („Polnische Zeitung“) vom 17.12.2014 eine Überschrift aus der Regionalpresse von vor der Komunalwahl: „Skandal an höchsten Stellen in Słupsk: Bürgermeister beteuert, mit Abfackeln von zwei Autos seiner Konkurrenten nichts zu tun zu haben“. Solche Schlagzeilen sagen viel aus über das politische Klima in der Stadt.

„Zweimal gab es in den letzten Jahren in Słupsk Volksbefragungen über die Abberufung des bisher seit 12 Jahren amtierenden Bürgermeisters, eines Altkommunisten, der durch Filz und Vetternwirtschaft die Stadt in Schach hielt. Beide Male scheiterten die Befragungen an unzureichender Beteiligung“, erinnert in der „Rzeczpospolita“ der eingangs erwähnte Piotr Kobalczyk.

„Biedroń gewann in Słupsk nicht weil er schwul ist. Er gewann trotzdem. Er gewann, weil er nicht von hier ist“, lautet die nüchterne Diagnose von Joanna Podgórska in der Wochenzeitung der postkommunistischen Linken „Polityka“ vom 9.12.2014.

Biedrońs Verheiβung „Endlich ein Wechsel“ fiel auf einen fruchtbaren Boden, wie einst das berühmte „Change“ von Barack Obama.

Seine Gegenkandidaten beeindruckten durch Kenntnis der örtlichen Probleme und warfen Biedroń vor, er habe davon keine Ahnung. Biedrońs Antwort: „Sie kennen sich gut aus, und dennoch ist es um die Stadt so schlecht bestellt“, traf ins Schwarze.

2. Rebellion der Verzweifelten

Ruin und Abwicklung der Słupsker Groβbetriebe aus kommunistischer Zeit, massenweise Abwanderung junger Menschen zur Arbeit ins Ausland, Stagnation und Perspektivlosigkeit, die vordergründig durch renovierte Fassaden und neue Ladenzeilen kaschiert wurden. Das alles mündete im Januar 1998 in tagelangen Krawallen und Barrikadenkämpfen (22 zerstörte Polizeiautos, 72 verwundete Polizisten, 240 Festnahmen).

Der Auslöser: ein Polizist hatte einen 13jährigen Basketballfan auf offener Straβe zu Tode geprügelt. Die in Słupsk seit 1945 ansässige kommunistische Milizschule, nach 1989 in Polizeischule umbenannt, der gröβte Arbeitgeber vor Ort, und ihre entfesselten Beamten, hatten noch lange nach der Wende in der Stadt, nach alter Manier, für Ruhe und Ordnung „gesorgt“. Ob ein Blechschaden am Auto, ein Streit in der Kneipe, ein Strafzettel oder eine Festnahme, die Uniformierten waren immer im Recht, und wer nicht spurte, der wurde weichgeprügelt und wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt angezeigt. Staatsanwaltschaft und Gerichte sorgten für Rückendeckung. Was Wunder, dass die Krawalle von 1998 einem Volksaufstand glichen, bei dem ältere Frauen Polizisten von Balkonen mit Blumentöpfen bewarfen.

Schwere Krawalle in Słupsk 1998
Schwere Krawalle in Słupsk 1998

Piotr Lisiewicz erinnert in der „Gazeta Polska“ an diese Ereignisse und schreibt über Biedrońs Sieg: „Słupsk hat wieder einmal rebelliert“. Die Polizeiwillkür wurde nach 1998 eingedämmt, aber alle anderen Probleme sind geblieben. „Die Einwohner von Słupsk haben es sich so vorgestellt: sie wählen einen Bürgermeister von Auβerhalb, und der bringt in einem Bus eine Crew von Fachleuten mit, die die Stadt verwalten werden. Der Unmut über den lokalen Klüngel, der Wunsch ihn um jeden Preis davonzujagen, haben alle anderen Argumente in den Schatten gestellt. Darum haben sie Biedroń gewählt.“

3. Geblendet und erpresst

„Słupsk wurde auf gewisse Weise erpresst“, schreibt Piotr Kobalczyk in der “Rzeczpospolita“. „Machen wir uns nichts vor. Von Anfang an wurde in den Mainstream-Medien unterschwellig die Botschaft verkündet, dass Słupsk eine Prüfung in Toleranz ablegt. In wie weit sind die Menschen dort europäisch und fortschrittlich.“

Und dazu der Medienrummel. „Die Übertragungswagen groβer TV-Sender kamen erst dann, als Biedroń erschien. Alles was vor Biedroń war, war plötzlich langweilig und veraltet. Alles was mit ihm kam, war modern und spannend“. Plötzlich redeten sie sogar in Amerika über Słupsk.

Biedroń belagert von den Medien nach der Wahlentscheidung im November 2014
Biedroń belagert von den Medien nach der Wahlentscheidung im November 2014

Kobalczyks Fazit: „War Biedrońs Wahl zum Bürgermeister ein Beleg für Eigensinn, Offenheit, oder ein Ausdruck gefühlter provinzieller Minderwertigkeit? Oder ist die Antwort viel banaler: viele Einwohner von Słupsk haben einem in der Welt bekannten Schwulen, einem Polit-Promi ihre Stimme gegeben, damit ihre Stadt, sei es nur für kurze Zeit, automatisch in eine andere, bessere Liga aufgenommen wird?“

Wie geht es weiter?

Die Prosa des Lebens wird auch den neuen Bürgermeister bald einholen. Biedroń kommt mit dem Fahrrad ins Amt. Die zwei Dienstwagen im Rathaus sind abgeschafft, ebenso das Mineralwasser im Konferenzsaal, harte Sparmaβnahmen sollen die Ausgaben der Stadt um 5 Mio. Zloty (ca. 1,2 Mio. Euro) senken. Auf Biedrońs Anregung soll ab Mai eine Mieterhöhung um 10% in allen sechstausend städtischen Wohnungen in Kraft treten. Schon heute sind knapp viertausend städtische Mieter in Słupsk mit ihren Zahlungen im Rückstand.Im Dezember 2014 belief sich dieser Zahlungsrückstand auf insgesamt 17 Mio. Zloty (gut 4 Mio. Euro), davon gut 2 Mio. Zloty (knapp 0,5 Mio. Euro) Zinsen. Wird das gutgehen?

Der erhoffte Bus mit Fachleuten jedenfalls, ist nicht eingetroffen. Robert Biedroń ist in Słupsk ein politischer Einzelgänger, er braucht einen Apparat zum Regieren und Verwalten. In den Internetforen wurden sie bereits bemerkt: die vielen alten Kader aus dem bisherigen Klüngel, die er notgedrungen zu seinen engsten Mitarbeitern gemacht hat.

Biedroń hat den Menschen in Słupsk einen fundamentalen Wandel versprochen. Wird er sich, wie Obama, schon bald der politischen Wirklichkeit unterwerfen müssen? Und wird er, sollte er politisch scheitern, die „Homophobie“ dafür verantwortlich machen?

Polen “mit einem starken, katholisch geprägten Konservatismus“ wird in Deutschland (wie z. B. in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 22.12.2014) stets und gerne eine kollektive Phobie (wörtlich: krankhafte Angst, Angstneurose, Abneigung, Ekel) in Bezug auf Homosexuelle unterstellt. Zwar wurde der Schwulenparagraph, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, in Polen bereits 1932 abgeschafft (in Deutschland erst 62 Jahre später), zwar gaben 2013 nur etwa 25% der Befragten Polen an, dass sie Homosexualität für „nicht normal“ halten, aber der erhobene deutsche Zeigefinger senkt sich deswegen um keinen Millimeter. Toleranz muss man den Polen „einbimsen“, verkündet „Die Welt“.

Biedroń war vor 2011, vor seiner Abgeordneten-Zeit also, Chef der „Kampagne gegen die Homophobie“, einer Organisation, die gegen die Diskriminierung von Homosexuellen kämpft. In einer ihrer Broschüren mit dem Titel „Regenbogen-Fibel oder (fast) alles, was Ihr über Schwule und Lesben wissen wollt“ schrieb er über die Entkriminalisierung der Homosexualität in Polen 1932, wie folgt:
„Dieses für seine Zeit moderne Strafgesetzbuch (…) bewirkte, dass, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, Homosexuelle durch das polnische Strafrecht nicht mehr verfolgt wurden. Das schuf eine zweideutige und kuriose Situation. Einerseits war es gut, dass homosexuelle Handlungen nicht mehr bestraft wurden, andererseits jedoch verschwanden Homosexuelle durch die Entkriminalisierung aus dem öffentlichen Raum und damit aus dem menschlichen Bewusstsein“ (Unterstreichung RdP).

Kurz gesagt: dass Homosexuelle in Polen nicht verfolgt wurden, war eine Art der Verfolgung, denn man schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. So gesehen hatten es die deutschen Homosexuellen besser.

Die Zeitung „Rzeczpospolita“ vom 2.12.2014 sprach, vor dem Hintergrund der Biedroń-Wahl, den Krakauer Politologen Jacek Kloczkowski darauf an. Seine Antwort: „Es gibt unter den Polen solche, die Homosexuelle einfach nicht mögen, wozu sie im Übrigen ein Recht haben“, so lange sie nicht gegen das Strafgesetzbuch verstoβen. „Es gibt die Mehrheit, der die Schwulen egal sind, so lange sie nicht von aggressiven Schwulen-Propagandakampagnen behelligt werden“, weil sie der Meinung sind, dass sexuelle Vorlieben nur in die Privatsphäre gehören. „Es gibt welche, die Mitleid mit Schwulen haben und solche, die sie mögen. Die polnische Gesellschaft unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von vielen anderen in Europa.“ Die Toleranz in dieser Hinsicht ist eindeutig vorherrschend, die Akzeptanz nicht, so die These des Wissenschaftlers.

© RdP




Manipulistan

Kommunalwahlen 2014. Gefälscht, verzerrt, frisiert?

 

 

  • Elektronisches Auszählungssystem bricht zusammen.
  • Stimmzettel auf Halden.
  • Wer will kann sich ins Auszählungssystem einloggen. 
  • Wahlzettel: Drucken ohne Kontrolle.
  • Eine Stimme kostet 100 g Wodka.
  • Wunder an den Urnen: der „Wahlerfolg“ der Bauern.
  • Knapp 3 Mio. ungültige Stimmen.
  • Oberste Richter: „Alles in Ordnung“.
  • Regierende gewinnen und sind glücklich.
  • Deutsche Medien schauen weg und sind zufrieden.
  • OSZE-Wahlkriterien nicht erfüllt.

Am Sonntag, dem 16. November 2014 fanden in Polen die siebten Kommunalwahlen nach dem Ende des Kommunismus 1989 statt. Wahlberechtigt waren gut 30,5 Mio. Bürger. Gewählt wurden fast 40.000 Mitglieder in  2.479 Gemeinderäte, 6.276 Mitglieder in 380 Kreistage und 555 Mitglieder für die 16 Bürgervertretungen der Woiwodschaften, den Regionalparlamenten (Sejmik). Des Weiteren wurden in direkter Wahl gewählt: 1.565 Gemeindebürgermeister, 806 Bürgermeister und 106 Oberbürgermeister (Stadtpräsidenten). Hierbei kam es in 890 Ortschaften am 30. November  zu Stichwahlen, überall dort  hatte keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit auf sich vereinigen können. Die Wahlbeteiligung war, wieder einmal, nicht hoch. Sie lag bei 47,4 % im ersten Wahlgang und bei 39,97 % im zweiten Wahlgang. Ähnlich war es im Jahr 2010, als die Wahlbeteiligung 47,32 % bzw. 35,31 % betrug.

Die Wahl am 16. November mündete in einem organisatorischen Desaster und stürzte das Land in eine schwere politische Krise.

1. Ausgangspunkt war der

Zusammenbruch des Auszählungssystems für die abgegebenen Wäherstimmen,

dass das Zentrale Wahlamt (Krajowe Biuro Wyborcze) bei einer wenig bekannten Firma namens Nabino in Auftrag gegeben hatte. Trotz vieler Pannen bei den Testläufen hielt das Amt am einmal erteilten Auftrag fest, lieβ sich von den Beteuerungen der Programmierer überzeugen, alles werde sich „rechtzeitig einrenken“.

Doch die elektronische Übermittlung der Wahlergebnisse aus den Regionalen Wahlämtern nach Warschau funktionierte nicht. Anstatt sofort eine manuelle Auszählung anzuordnen, vertrösteten die Mitglieder der Staatlichen Wahlkommission, der das Zentrale Wahlbüro untersteht, die zunehmend aufgebrachte Öffentlichkeit mit immer neuen Beteuerungen, dass es bald Ergebnisse geben werde. Am Ende dauerte die Auszählung sechs Tage lang!

2. Die Staatliche Wahlkommission (SWK) besteht aus neun Obersten Richtern oder Obersten Richtern im Ruhestand. Jeweils drei von ihnen werden durch den Präsidenten des Obersten Gerichts, den Präsidenten des Verfassungsgerichts sowie den Präsidenten des Obersten Verwaltungsgerichts ernannt, und anschließend vom Staatspräsidenten berufen. Mit Vollendung des 70. Lebensjahres müssen sie aus der SWK ausscheiden. Ihr zumeist hohes Alter, ihre Betulichkeit und die unerschütterliche Zuversicht, mit der sie die Pannen nach der Europawahl vom Mai 2013 ignorierten und alle späteren Warnungen in den Wind schlugen, gepaart mit offensichtlicher Hilfslosigkeit angesichts der sich türmenden Probleme, handelten ihnen im Internet den Spitznamen „leśne dziadki“ ein –

                                            „die Waldopas“.

Betulichkeit und Hilflosigkeit – die Staatliche Wahlkommission

Fast alle von ihnen sind einst tief ins kommunistische Justizwesen verstrickt gewesen, zwei haben gar in den 80er Jahren an Verurteilungen von Solidarność-Aktivisten mitgewirkt. Anders als im vereinigten Deutschland (DDR), wurde in Polen, im Rahmen der „nationalen Aussöhnung“ am Runden Tisch von 1989, praktisch die gesamte Richterschaft aus der kommunistischen Zeit übernommen.

Aufsehen erregten zuletzt die engen Kontakte der polnischen SWK mit der Zentralen Wahlkommission Russlands. So besuchte der russische Wahlleiter Wladimir Tschurow, der sich als „Putins Zauberer“ einen Namen gemacht hatte, am 14. bis zum 16. Juni 2012 Warschau.

Putin Czurow
Der russische „Wahlzauberer“ Wladimir Tschurow mit Putin im Kreml…

In der Zeit vom 26. bis 27. Mai 2013 fand der Gegenbesuch einer 12-köpfigen polnischen SWK-Delegation „zu Schulungszwecken“ in Moskau statt. Unter Tschurows Aufsicht überstieg u. a. in manchen Gegenden Russlands die Wahlbeteiligung, immer wieder mal, die Einhundertprozent-Marke.

...und bei seiner Pressekonfenrenz in Warschau.
…und bei seiner Pressekonfenrenz in Warschau.

Angesichts des Chaos nach der Wahl, hat das komplette Gremium der Wahlkommission seinen Rücktritt eingereicht, dieser wurde nach den Kommunalen Stichwahlen am 30. November 2014 wirksam. 

3. Wie sah

                                    das Chaos konkret

aus? Die Wochenzeitung „Gazeta Polska“ („Polnische Zeitung“) vom 19.11.2014 zitierte ein Mitglied des Wahlvorstands eines Wahllokals in einem Stadtteil von Warschau so:

„Mitten in der Nacht (die Wahllokale schlossen um 21 Uhr – Anm. RdP) haben wir erfahren, dass das Auszählungssystem „nicht funktioniert“ und die ausgedruckten Wahlprotokolle einige Parteien und Kandidaten nicht enthalten würden. (…) Um 5.30 Uhr sagte man uns, dass wir auf den Transport der ausgezählten Wahlzettel von unserem Wahllokal ins zuständige Wahlamt des Stadtbezirkes noch zwei Stunden  warten müssten, alternativ könnten wir die ausgezählten Stimmzettel selbst dorthin  bringen, aber wie lange das alles insgesamt dauern würde, das wisse keiner, weil auch das Amt mit der Organisation überfordert sei. Die Wahlprotokolle konnten wir somit an der Eingangstür des Wahllokals nicht aushängen, da es keine gab.
Vor dem Wahlamt des Stadtbezirks standen hunderte entnervter Mitglieder der einzelner  Wahlvorstände und Tausende von Kartons voller Stimmzettel, die mit privaten Pkws herangeschafft worden waren, anstatt, wie vorgeschrieben, mit Polizeieskorte. Die Kartons und Säcke mit den Stimmzetteln, manche schon beschädigt, befahl man  in die Eingangshalle zu bringen, wo sie alle auf einen Haufen geworfen wurden. Dort warteten wir bis acht Uhr früh und gingen dann nach Hause.“

4. Solche Szenen spielten sich in ganz Polen ab. Die Stimmenauszählung wurde unterbrochen. Wahllokale, zumeist in Schulen untergebracht, mussten wieder zugänglich gemacht werden. Die Wahlhelfer mussten irgendwann nach Hause und zur Arbeit, die Massen von Kartons und Säcken mit den Stimmzetteln waren oft unzureichend gesichert. Das war der erste Grund für Vorwürfe, die Wahlergebnisse seien manipuliert oder gar gefälscht worden.

5. Das elektronische Auszählungssystem für die abgegebenen Wählerstimmen wurde in den folgenden Tagen wiederholt instandgesetzt, kollabierte jedoch immer wieder aufs Neue. Schnell stellte sich zu dem heraus, dass es

                            überhaupt nicht gesichert

war. Der Informatiker Marek Małachowski entdeckte zwei Tage nach der Wahl, dass man sich problemlos in das System einloggen und die eingegebenen Protokolle und Tabellen nach Gusto ändern konnte. Das war der zweite Grund für Vorwürfe.

6. Das Chaos und die Übermüdung der Wahlhelfer vergröβerte erheblich die Möglichkeiten von

                                       Fälschungen,

und damit ist der dritte Grund für Vorwürfe angesprochen. Wie das geht, schilderte in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ („Die Republik“) vom 25.11.2014 der Anwalt Jacek Kędzierski, der oft Mitglied von Wahlvorständen gewesen ist:

„Das Übel des Systems liegt darin, dass der Wähler, nachdem er vom Wahlvorstand die Wahlzettel ausgehändigt bekommen hat, nur bei einem einzigen Namen ein “X“-Zeichen machen darf. Der Wahlhelfer, der denselben Kugelschreiber oder Filzstift wie der Wähler zur Verfügung hat, kann die Stimme ohne weiteres ungültig machen, in dem es ein weiteres „X“-Zeichen bei irgend einem anderen Namen hinzufügt. Das System schafft eine solche Möglichkeit, also führt es in Versuchung…

Liczenie głosów

Diese Versuchung wird durch die Verhältnisse, die in den Wahllokalen nach Beendigung der Wahl herrschen, verstärkt. Kugelschreiber und Filzstifte, die in den Wahlkabinen auslagen, werden nicht eingesammelt und gesichert, obwohl es eigentlich so sein sollte, und die Mitglieder des Wahlvorstands bei ihrer Arbeit ausschließlich rote oder graue Bleistifte verwenden sollten. Oft kommt es vor, dass die Wahlzettel nicht von allen Mitgliedern gemeinsam an einem Tisch, sondern, da es schneller geht, von einzelnen Wahlhelfern an mehreren separaten Tischen gesichtet und ausgewertet werden. Dort kann man dann ungehindert machen was man will.
Einmal als ich in einem Wahlvorstand Mitglied war und sah was sich abspielte, musste ich Krach schlagen. Ich war gezwungen den anderen Mitgliedern die Filzstifte, die  die Wähler zur Stimmabgabe benutzt hatten, zu entreiβen, und das Zusammenstellen der Tische anzuordnen, damit beim Auszählen jeder jedem auf die Finger schauen konnte. Mein Eindruck war, einige meiner Kollegen führten etwas im Schilde…“,

soweit Anwalt Kędzierski.

7. Ungültig sind auch „saubere“ Stimmzettel, auf denen der Wähler kein „X“-Zeichen gemacht hat. Gibt es eine Möglichkeit „saubere“ Wahlzettel gegen gültige, mit einem „X“-Zeichen versehene, im Nachhinein auszutauschen? Ja.

Wie das Nachrichtenmagazin „W Sieci“ („Im Netzwerk“) vom 1.12.2014 herausfand, wurden die Stimmzettel in jeder der 16 Woiwodschaften im Auftrag des jeweiligen Woiwodschaftsamtes (vergl. mit  einer deutschen Bezirksregierung) separat gedruckt. Dies geschah meistens, unter Berufung auf die kurzen Fristen, ohne Ausschreibung, oft von „befreundeten“ Druckereien. Die Stimmzettel wurden nicht als streng verrechenbare amtliche Drucksachen behandelt. Die gesamte Auflage sollte auf die einzelnen Bezirkswahlbüros verteilt werden. Doch niemand hatte den Überblick, wie hoch die Auflage war und ob nicht doch einige Dutzend, Hundert oder Tausend Wahlzettel „übrig geblieben“ sind. Eine solch unübersichtliche Situation gab es u. a. in den Woiwodschaften Masowien (mit Warschau), Lublin, Lodz, Kleinpolen (Kraków) u. e. a. m.

8. Ein ernsthaftes Problem scheint in Polen weiterhin der Stimmenkauf zu sein. Dabei lauert eine Person in der Nähe des Wahllokals und übergibt einem Stimmberechtigten einen entsprechend ausgefüllten Wahlzettel. Empfänger sind Alkoholiker, Rentner, sehr arme Leute u. ä. Personen. Sie werfen den erhaltenen Stimmzettel in die Wahlurne ein und übergeben ihren „sauberen“ Wahlzettel drauβen dem „Organisator“, der ihn, entsprechend ausgefüllt, an den nächsten „Kunden“ weitergibt. Der „Lohn“ sind meistens 10 Zloty (ca. 2,50 Euro) oder eine Hundertgramm-Flasche Wodka. Solche Szenen wurden an vielen Orten in der Woiwodschaft Lodz beobachtet. Bei der Kommunalwahl 2010 hat man ein solches Vorgehen in Wałbrzych/Waldenburg in groβem Umfang nachgewiesen.

9. Berichtet wurde auch von Wahlunterlagen, die nicht alle Parteilisten enthielten; von Stimmzetteln und Wahlunterlagen ohne das Siegel der Wahlkommission; Stimmzettel für nicht anwesende Familienmitglieder wurden ausgegeben; Wahlunterlagen mit bereits eingesetzten „X“-Zeichen ausgehändigt.

10. Die Kommunalwahl gilt als ein wichtiges

Barometer politischer Stimmungen

in Polen. Aussagekräftig sind vor allem zwei  Messergebnisse:

Zum einen die Oberbürgermeisterwahlen in Groβstädten, wie Gdańsk, Katowice, Kraków, Poznań, Wrocław und natürlich Warschau, den Hochburgen der seit acht Jahren regierenden Bürgerplattform (PO). Gelingt es Jarosłw Kaczyńskis Recht und Gerechtigkeit (PiS) sie zu erobern? Es gelang nicht, jedoch mussten sich die PO-Kandidaten und Amtsinhaber einer Stichwahl stellen und gewannen eher knapp, während sie noch 2010 gleich in der ersten Runde spielend die absolute Mehrheit auf sich vereinigen konnten.

Als ein noch wichtigerer Wert gelten die Wahlergebnisse zu den Regionalparlamenten (Sejmik) in den 16 Provinzen Polens, den Woiwodschaften. Zu vergeben waren dort insgesamt 555 Mandate. Auf Grund der Komplexität einer Kommunalwahl, bei der auf Gemeinde- und Kreisebene viele freie Wählerverbände teilnehmen, wurde in der Nachwahlbefragung vor den Wahllokalen (engl. exit poll) nur nach der Wahlentscheidung in Bezug auf die Regionalparlamente gefragt.

Am Wahlabend kurz nach 21.00 Uhr war die

                                         Sensation perfekt.

Gemäß den ersten Hochrechnungen ging Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit 31,5% der Stimmen zum ersten Mal seit 2005 als klarer Sieger aus einer Wahl hervor. Die Bürgerplattform (PO) unterlag mit 27,3%. An dritter Stelle, mit einem ungeahnt guten Ergebnis, die Bauernpartei (PSL), die mit der PO seit 2007 die Regierungskoalition in Warschau bildet – sie gewann 17% der Stimmen. Die Postkommunisten (SLD) landeten weit abgeschlagen bei 8,8%.

Erste Wahlergebnisse:
Erste Wahlergebnisse zu den Regionalparlamenten: Recht und Gerechtigkeit (PiS) – 31,5%, Bürgerplatform (PO) – 27,3%, Bauernpartei (PSL) – 17%, Linke – Postkommunisten (SLD) – 8,8%

Nach sechs Tagen des Hin-und Her  der Stimmenauszählung unter den bereits geschilderten Umständen, sahen die Ergebnisse schon ganz anders aus, aber nur für den Gewinner der Wahl. Kaczyńskis PiS hatte plötzlich nur noch 26,85% (minus 4,56%) der Stimmen gewonnen. Frau Kopaczs PO mit 26,36% blieb in etwa gleich (minus 0,94%). Die Postkommunisten hatten 8,78% (minus 0,2%) erreicht. Die sonst eher ein Schattendasein führende Bauernpartei (PSL) verzeichnete dagegen einen grandiosen Zuwachs – 23,68% (plus 6,68% gegenüber der Wahlprognose). Bei der letzten Europawahl in Polen im Mai 2013 hatte die PSL 6,8%, bei der letzten Parlamentswahl von 2011 – 8,4% der Stimmen bekommen. Über Nacht haben die Bauern also ihren Besitzstand verdreifacht, bzw. sogar vervierfacht!  In der Stadt Gdynia/Gdingen verbesserte  die PSL im Vergleich zu 2010 ihr Ergebnis gar um 1100%, von 800 auf 8800 Stimmen.

Wyniki ostateczne
Wahlergebnisse nach sechs Tagen

Hinzu kam noch ein weiterer Rekord. Bei der Abstimmung zu den Regionalparlamenten wurden, sage und schreibe, knapp 18% ungültige Stimmen abgegeben: das bedeutet 2,85 Millionen Stimmen!  Diese Epidemie wütete ganz besonders stark u.a. in den Landkreisen Malbork/Marienburg (23%), Wejherowo/ Weyersfrey (23%) und Koszalin/Köslin (35%).

Kaczyńskis PiS gewann in den 16 Regionalparlamenten insgesamt 30 Mandate hinzu. Die Bürgerplattform büßte 43 ein, doch die gewaltigen Zugewinne (64 Mandate) des PO-Koalitionspartners Bauernpartei (PSL) machte die PO-Einbuβen mehr als wett. Das Resultat: die in Warschau regierende Koalition aus Bürgerplattform und Bauernpartei wird ihr Machtmonopol auch auf der Provinzebene behalten. Sie regiert künftig in 15 Woiwodschaften, der Wahlgewinner, Kaczyńskis PiS – nur in einer, in der Vorkarpaten-Woiwodschaft (Rzeszów).

Der groβe Unterschied zwischen der ansonsten immer recht zutreffenden Nachwahlbefragung und den Endergebnissen ging ,ausschließlich, zu Lasten der Opposition, das seltsam anmutende “Traumergebnis“ der Bauern und die gigantische Zahl ungültiger Stimmen waren der vierte, fünfte und sechste Grund für Vorwürfe.

11. In der Nacht vom 20. auf den 21. November kam es daraufhin vor dem Sitz der Staatlichen Wahlkommission in Warschau zu einer

                                      Protestdemonstration

von Vertretern kleiner radikalnationaler Gruppierungen (Nationale Bewegung, Kongreβ der Neuen Rechten, Die Solidarischen 2010). Die Losung hieß: „Stopp den Wahlmanipulationen“. Einige Demonstranten drangen in das Gebäude ein, besetzten für kurze Zeit den Konferenzsaal. Der Raum wurde bald darauf von der Polizei geräumt.

PKW awantura
Demonstranten drängen in das Gebäude der Staatlichen Wahlkommission in Warschau in der Nacht vom 20. auf den 21. November 2014 ein

Proteste rief die Festnahme von zwei Journalisten hervor, die als Berichterstatter vor Ort waren: des Reporters des konservativen Fernsehsenders Republika und des Fotoreporters der Polnischen Presseagentur PAP. Ein bisher nie dagewesener Vorfall. Beide wurden 24 Stunden lang in Polizeigewahrsam festgehalten, wegen Hausfriedensbruchs vor Gericht gestellt und nach zwei Verhandlungsterminen freigesprochen. Proteste wurden auch aus einigen anderen Groβstädten gemeldet.

12. Am 26. November fand im Sejm eine Debatte zu dem Thema statt. Oppositionschef Jarosław Kaczyński sagte: „Von dieser wichtigsten Tribüne in Polen müssen die

                                      Worte der Wahrheit

fallen: diese Wahlen wurden gefälscht“. Er kündigte für den 13. Dezember 2014, dem Jahrestag der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981, eine Protestdemonstration in Warschau an. An ihr nahmen etwa 80.000 Menschen teil. Kaczyński legte dort seine Sicht der Dinge dar:

„Diese Wahlen wurden gefälscht. Eine Fälschung findet statt, wenn die Staatsmacht weiβ, dass die rechtlichen Bestimmungen in Bezug auf Wahlen  unvollkommen sind, wenn sie weiß, dass es bereits verschiedene zweifelhafte Vorfälle gab, und sie lehnt dennoch im Vorfeld Änderungsvorschläge ab. So war es in diesem Fall. Es gab Änderungsvorschläge und sie wurden abgelehnt. Eine Fälschung findet statt, wenn die Staatsmacht, sowie sie erfährt, dass die Wahlen in einer Katastrophe münden, dass das Ergebnis ungewiss ist, sie sofort eine Kampagne startet, um diese Tatsachen zu vertuschen. Man kann sagen, die Staatsmacht terrorisiert die Gerichte (siehe dazu Pkt. 14 – Anm. RdP) und das unter Beteiligung des Präsidenten der Republik und der Vorsitzenden der drei höchsten Gerichte. Und sie startet eine Medienkampagne gegen alle, die sagen, dass gefälscht wurde.“

13. Bereits am 19. November trafen sich Kaczyński und der Chef der Postkommunisten, Leszek Miller. Beide, ansonsten politisch scharf verfeindet, forderten, der Sejm solle die Verkürzung der Wahlperiode der Regionalparlamente verabschieden, die Wahlen zu den Regionalparlamenten sollten wiederholt werden. Recht und Gerechtigkeit (PiS) brachte auch unverzüglich einen entsprechenden Gesetzentwurf ein.

Leszek Miller (links) und Jarosław Kaczyński am 19. November 2014
Leszek Miller (links) und Jarosław Kaczyński am 19. November 2014

Der Gesetzentwurf wurde von der Koalitionsmehrheit abgelehnt. Niedergestimmt wurde auch der PiS-Vorschlag, bei den für 2015 anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, durchsichtige Wahlurnen aus Plexiglas zu verwenden und Kameras in den Wahllokalen zu installieren.

Kaczyński und Miller sprachen von einer „Bedrohung für die Demokratie“. Das Treffen wurde vom Regierungslager und seinen Medien als ein neues politisches Bündnis an die Wand gemalt, doch nichts deutet bis jetzt darauf hin.

14. Das Regierungslager und die ihm nahestehenden Medien (vor allem die Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ („Wahlzeitung“), das Staatsfernsehen TVP, die privaten Fernsehsender TVN, Polsat, Superstacja) schlugen die höchsten Alarmtöne an. Staatspräsident Komorowski sagte, die Forderungen nach einer Wahlwiederholung seien

                                  „Abgründe des Wahnsinns“.

Ministerpräsidentin Ewa Kopacz sagte, sie schlieβe eine Wahlwiederholung aus und behauptete anschlieβend in ihren Wahlaufruf vor der zweiten Runde der Kommunalwahlen „die polnische Demokratie sei stabil und ungefährdet“. Die Präsidenten der drei höchsten Gerichte (Oberstes, Verfassung, Verwaltung) beeilten sich sofort in einer gemeinsamen Erklärung zu beteuern, dass es keine ernstzunehmenden Unregelmäβigkeiten während der Wahl gab. Der Präsident des Verfassungsgerichts, Prof. Andrzej Rzepliński fügte in einem Fernsehinterview hinzu: „Polen befinde sich nicht in einer Krise, sondern die Politiker (der Opposition – Anm. RdP) geben den Staat der Anarchie preis, weil sie »Blut geleckt« haben“.

Die Warschauer Protestdemonstration am 13. Dezember 2014, zu der Recht und Gerechtigkeit aufgerufen hatte, wurde im Regierungslager und seinen Medien einhellig als „ein Versuch Polen in Brand zu setzten“ gewertet.

Marsch für die Verteidigung der Demokratie und der Medienfreiheit, veranstaltet von Recht und Gerechigkeit (PiS) am 13. Dezember 2014 in Warschau
Marsch für die Verteidigung der Demokratie und der Medienfreiheit, zu dem Recht und Gerechigkeit (PiS) am 13. Dezember 2014 in Warschau aufgerufen hat

15. Die für das Regierungslager in kritischen Situationen typische Abwehrhaltung („ist ja nicht weiter schlimm“), verleitete den Kommentator der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ am 20. November zu der Feststellung: „Es ist ein Fehler, diejenigen die Fragen nach dem Verlauf der Wahlen stellen als »Wahnsinnige« zu bezeichnen, während aus dem ganzen Land Berichte eintreffen, nicht nur über Fehler im Stimmauszählungssystem, sondern auch, und das wiegt schwerer, über eine groβe Zahl ungültiger Stimmen. (…) Anstatt die Zweifelnden des Wahnsinns zu bezichtigen, sollte der Staatspräsident alles unternehmen, damit ihre Zweifel schnellst möglich zerstreut werden“.

16. Über die Rechtmäβigkeit und Richtigkeit von Einsprüchen gegen ein Wahlergebnis befinden in Polen die zuständigen

                                                    Gerichte

der zweiten Instanz (Bezirksgerichte). Einsprüche können bis 14 Tage nach der Wahl vorgebracht werden. Da die amtlichen Endergebnisse aber erst sechs Tage nach der Wahl bekannt wurde, hatte sich diese Frist auf 7 Tage verkürzt. Das Gericht muss innerhalb von 30 Tagen ein Urteil fällen. Stellt es gravierende Verstöβe fest, kann die Wahl in einem Wahlkreis wiederholt werden. Etwa 2000 Beschwerden wurden im ganzen Land eingebracht.

17. Die Opposition versuchte ebenfalls

                   das Interesse des Europäischen Parlaments

für die Miβstände zu wecken. Das gelang nur bedingt. Die Fraktion der Europäischen Volkspartei, in der die in Polen regierende Bürgerplattform Mitglied ist, hat zusammen mit den Sozialisten eine Debatte über die polnische Wahlkatastrophe abgelehnt. Die Mehrheit folgte dem Argument, der hinter den Kulissen aufs heftigste agierenden polnischen Regierungsvertreter, „es sei ein Versuch die innerpolnische politische Debatte auf die europäische Ebene zu verlagern“. Die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (FEKR), der Recht und Gerechtigkeit angehört, hat daraufhin am 11. Dezember in Brüssel eine öffentliche Anhörung veranstaltet. Der britische Konservative und FEKR-Chef Syed Kamall, schloss die Anhörung mit den Worten: „Die Ereignisse in Polen geben Anlass zur Sorge. Ich kann mich an keine Unstimmigkeiten dieses Ausmaβes in einem anderen EU-Land erinnern“.

18. Es wird viel spekuliert über

                                            mögliche Gründe

für den „Wahlerfolg“ der Bauern und für die vielen ungültigen Stimmen. Plausibel klingt folgende Theorie:

Schuld seien zum einen, die für die Wahlen zu den Regionalparlamenten zu kleinen Broschüren zusammengehefteten Wahllisten der Parteien. In so einem „Büchlein“ im DIN A4-Format, musste der Wähler die Seite mit der gewünschten Wahlliste finden, und auf dieser Seite bei nur einem Namen ein „X“-Zeichen setzen.

Diese Broschüren hatten kein Inhaltsverzeichnis und enthielten auf der ersten Seite keine Instruktion, über den korrekten Wahlvorgang. Auf der ersten Seite befand sich (entsprechend einer Auslosung) die Liste Nr. 1 der Bauernpartei. In der Fernsehwahlwerbung der Staatlichen Wahlkommission hieβ es, dass „auf einer Liste nur ein Name angekreuzt werden darf“. Viele Wähler schlussfolgerten daraus, dass sie auf jeder Liste ein „X“-Zeichen machen sollen, und taten dies auch. Viele legten gleich vorne los und merkten zu spät, dass sie gar nicht die Bauernpartei wählen wollten, und machten dann noch ein Kreuz auf der „richtigen“ Liste, was die Stimmabgabe automatisch ungültig machte. Manche belieβen es bei dem Kreuz auf der ersten Seite und warfen die Broschüre in die Urne. Bei früheren Wahlen zu den Regionalparlamenten wurden plakatgroβe Wahlzettel ausgegeben. In diesem Fall war die Direktive: ein „X“-Zeichen auf dem Wahlzettel offensichtlich einleuchtender und einfacher zu befolgen.

Diese Verwirrung soll den Bauern zu ihrem „Traumergebnis“ verholfen haben, hieβ es. Am 20. Januar 2015 veröffentlichte Jarosław Flis,  Soziologe an der Jagiellonen-Universität in Kraków, seine Studie zu der Frage „Wahlbroschüre“. Seinen Berechnungen zufolge, hat die Bauernpartei dank der geschilderten Umstände zusätzlich 700.000 Stimmen bekommen.

Offen bleibt die Frage: wie kam es dazu, dass in einem Wahlkreis bis zu 40% der Stimmen ungültig gewesen sind, und im Nachbar-Wahlkreis nur 3%?

Das durch die Wahl- Broschüren verursachte Chaos  belastet die Staatliche Wahlkommission und das ihr unterstehende Zentrale Wahlamt genauso schwer, wie der Zusammenbruch der Rechner. Und die Frage steht im Raum : war das alles Zufall oder vielleicht doch gewollt?

19. Führende konservative polnische Kommentatoren haben mit Ironie und Sarkasmus auf die

Reaktion deutscher Medien

auf das polnische Wahlchaos hingewiesen. Nachstehend zwei Beispiele.

Unter dem Titel „Deutsche Medien drücken ein Auge bei Wahlungereimtheiten in Polen zu. Für Berlin ist es am wichtigsten, Recht und Gerechtigkeit fern von der Macht zu halten“ schrieb Sławomir Sieradzki am 23.11.2014 im Internetportal „wPolityce.pl“ („inderPoiltik.pl“) u.a.:

„Sind die Medien in unsrem Nachbarland sehr beunruhigt gewesen über die Verspätungen bei Bekanntgabe der Ergebnisse der Kommunalwahlen und über Ungereimtheiten, die eher typisch sind für Dritte-Welt-Staaten? Nein, sie haben es sehr gelassen zur Kenntnis genommen. Hat sie etwas beunruhigt? Ja, der Sieg von Recht und Gerechtigkeit (PiS), wie er am Wahlabend aus der Nachwahlbefragung hervorging. Die deutschen Medien haben den Akzent nicht auf die vielen Regelwidrigkeiten gesetzt. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die „rechten Krawallen“ vor dem Sitz der Staatlichen Wahlkommission“

– schreibt Sieradzki.

Am weitesten ging, seiner Meinung nach, der Warschauer ZDF-Korrespondent Armin Coerper, der „ein Phantom“ zurückkehren sah.

Jarosław Kaczyńskis Foto lieβ keine Zweifel offen, so Sieradzki, „mit wem die Deutschen ihren Kindern Angst machen“. „Das Phantom“ beschreibt Coerper wie üblich: es hat (2005 bis 2007 – Anm. RdP) mit seinem Bruder eine „Zwillingsrepublik“ gebildet, es sei eine Zeit gewesen „der anti-deutschen Ressentiments, der Hatz auf Andersdenkende und der Rückbesinnung auf nationale Werte“. Seinen Bericht beschlieβt Coerper, so Sieradzki, mit der Schlussfolgerung, dass nach der Kommunalwahl für Ewa Kopacz, der Nachfolgerin Donald Tusks als Regierungschefin, die Zeit des Weckrufs angebrochen sei, wenn sie ein modernes Polen wolle, und nicht etwa den Sieg Kaczyńskis mit seinen Ängsten und Feindbildern.

„Welche Schlussfolgerung kann man aus Coerpers Bericht ziehen?“, fragt Sieradzki und antwortet: „Eine sehr gefährliche, für Polen und unsere zerbrechliche Demokratie. Die Deutschen werden der regierenden Bürgerplattform freie Hand lassen für Aktionen, die um jeden Preis eine Partei von der Macht fernhalten soll, die Berlin nicht genehm ist. Und sie werden, wie jetzt, ein Auge bei jeder Niederträchtigkeit zudrücken, die zu diesem Ziel führt“,

so sein Fazit.

Nicht anders sieht es Marek Magierowski im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 24.11.2014. Er schreibt unter dem Titel

„Das Betonschema der deutschen Medien“:

„Als ganz Polen sich Gedanken darüber machte, ob wir schon in eine schwere Verfassungskrise geraten sind oder noch nicht, echauffierte sich der deutsche „Spiegel“ darüber, dass der Homosexuelle Robert Biedroń in die Stichwahl um das Amt des Oberbürgermeisters von Słupsk/Stolp gehen muss. Als die Staatliche Wahlkommission sich von Stunde zu Stunde mehr blamierte, als sich herausstellte, dass sich jeder ins elektronische Stimmenauszählungssystem einloggen kann, als an den Wahlurnen Wunder geschahen, schrieb das deutsche Nachrichtenmagazin vom „ernsthaften Test für die Toleranz“ an der Weichsel. Das wär’s dann auch, wenn es um die Redlichkeit bei der Beschreibung der polnischen Realität in den deutschen Medien geht“,

so Magierowski.

„Deutsche Medien beschreiben Polen seit Jahren nach dem Betonschema: die Bürgerplattform – gut, Kaczyński – sehr schlecht. Alles, was in dieses Schema nicht passt, wird von vorneherein als uninteressant und unwichtig angesehen. (…) Käme es zu einem solchen Skandal in Orbans Ungarn, würde dann „Der Spiegel“ nur über den homosexuellen Bürgermeister von Debrecen schreiben? Ich denke nein“,

beschlieβt Magierowski seinen Kommentar. © RdP 

Polnische Kommunalwahlen

37 OSZE-Kriterien (und somit gut 54%) nicht erfüllt

Vorbereitung, Verlauf und Auszählung der Wahlen vom 16. November 2014 lieβen auβerordentlich viel zu wünschen übrig. Bei einer ernsthaften Überprüfung durch EU-, bzw. OSZE-Beobachter hätten sie den Test wahrscheinlich nicht bestanden. Jedenfalls wurden, nach Ansicht der Opposition, bei den polnischen Kommunalwahlen 2014 von den 68 Kriterien der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa)  37 OSZE-Kriterien (und somit gut 54%) nicht erfüllt.

Zu den wichtigsten gehören:

Confusion and disorganization at polling stations – Durcheinander und Desorganisation in den Wahllokalen;

Failure by polling officialls to follow required procedures  – die Nichteinhaltung von vorgeschriebenen Abläufen durch amtliche Wahlhelfer ;

Ballot-box stuffing – zu viele Stimmzettel in den Wahlurnen;

The presence of pre-marked ballots – Auftauchen von vorher ausgefüllten Stimmzetteln;

Excessive delays in administering the voting – erhebliche Verspätungen beim Verwalten der Wahl;

Adding marked ballots after the opening of the box – Hinzufügen von markierten Stimmzetteln nach dem Öffnen der Wahlurne;

Attempts to invalidate ballot papers – Versuche Stimmzettel ungültig zu machen;

Disorderly counting procedures – Fehlen geordneter Auszählungsprozesse;

Discrepancies in the reconciliation figures, such as a higher number of ballot papers found in the ballot box than the number of signatures on the voter list – Unstimmigkeiten beim Abgleich der Zahlen nach der Auszählung, wie z. B. mehr Stimmzettel in der Wahlurne als Unterschriften im Wählerverzeichnis;

Inadequate numbers of counting staff and supervisors – nicht ausreichende Anzahl von Stimmenzählern und Überwachungspersonal;

Dishonest counting or reporting of the ballots – unredliches Zählen oder Auswerten der Stimmzettel;

Insecure storage of unused ballots – nicht gesicherte Aufbewahrung von unbenutzten Stimmzetteln;

Polling-station results protocol not completed in the polling station das Protokolle des Wahlergebnisses eines Wahllokals wurden nicht im Wahllokal selbst angefertigt;

Failure to post official results at the polling station – das Protokoll mit den Wahlergebnissen wurde nicht im Wahllokal ausgehängt;

Insecure transport of polling materials to the tabulation centre – ungesichertes Transportieren von Wahlunterlagen zu den zentralen Auswertungsstellen;

Unreasonable delays in transfering results to the tabulation centre – unangemessene Verspätungen in der Weitergabe von Ergebnissen an die zentrale Auswertungsstellen;

Inadequate premises, leading to overcrowding and chaotic tabulation process – ungeiegnete Bedingungen, die zu einer Ballung und zu chaotischen Zuständen bei der Stimmenauswertung führten;

Falsifying or switching result protocols – Fälschen oder Austauschen von Ergebnisprotokollen;

Lack of transparency or irregular procedures at tabulation centres – Fehlen von Transparenz oder irreguläre Verfahrensweise in den zentralen Auswertungsstellen;

Unreasonable delays in the announcement of results – unangemessene Verspätungen bei der Bekanntgabe der Wahlresultate;

Unbalanced or insufficient supervision of the tabulation of final results – unausgewogene oder ungenügende Überwachung bei der Auswertung des Endergebnisses;

Failure to publish detailed results down to district and polling-station level – fehlende Veröffentlichung von detaillierten Endergebnissen bis hinunter zu den einzelnen Wahlkreisen und Wahllokalen;

Discrepancies between election-day records of results and the final results at any level of the election administration – Unterschiede zwischen den am Wahltag festgestellten Ergebnissen und den Endergebnissen, auf jeder Ebene der Wahlverwaltung ;

Complaints that are ruled inadmissible or dismissed on technical grounds – Beschwerden, die als unzulässig erklärt oder aus technischen Gründen abgewiesen wurden;

Refusals by election commissions to preform recounts – Wahlvorstände lehnen eine Wiederholung der Stimmauszählung ab;

Irregularities or confusion in selecting which persons on party lists will be awarded seats – Unregelmäßigkeiten oder Verwirrung bei der Festlegung, welche Personen auf den Parteilisten ein Mandat erlangt haben.

RdP