4.06.2023. Lex Tusk, Lex Merkel, Lex Schröder, Lex Schwesig, Lex…

Die Hysterie ist groß und man wundert sich sehr. Die geplante Kommission zur Ausleuchtung russischer Einflussnahmen auf die polnische Politik soll ein Anschlag auf die Rechtsstaatlichkeit und die Opposition im Lande, vor allem aber auf Donald Tusks politische Karriere sein.

Dabei haben Tusk, seine engsten politischen Mitarbeiter und deren mediale Unterstützer monatelang immer wieder lautstark gefordert, endlich einen solchen Ausschuss einzusetzen. Er sollte die Regierenden: Jarosław Kaczyński, Mateusz Morawiecki u. v. a. m. bloßstellen, weil sie angeblich gemeinsame Sache mit Putin gemacht haben und weiterhin machen.

Sie hatten, so der Vorwurf, vor dem Ukraine-Krieg Kontakte zu putinfreundlichen konservativen Politikern wie Marine Le Pen oder Viktor Orban unterhalten. Und sie haben nicht schnell genug, weil „erst” Mitte April 2022, knapp zwei Monate nach Kriegsausbruch, die „mit ukrainischem Blut befleckten” Kohleimporte aus Russland gestoppt. Die EU hat dazu zwar ein halbes Jahr gebraucht, aber was solls. Schlimmer noch, sie sollen sogar gemeinsam mit Putin eine polnisch-russische Aufteilung der Ukraine geplant haben, so der Tusk-Intimus und ehemalige Außenminister Sikorski.

Kurzum: Die gegenüber Russland wohl am unversöhnlichsten eingestellte Regierung Europas ist in Wirklichkeit ein perfekt getarnter Ring von Putin-Fans. Donald Tusk selbst und ihm ergebene Medien, wie die „Gazeta Wyborcza” oder der Fernsehsender TVN, um nur zwei von vielen zu nennen, haben diese Behauptung nicht bloß einmal aus voller Kehle kundgetan.

Ein alter chinesischer Fluch lautet: „Sollen deine Wünsche in Erfüllung gehen!”. Die Regierenden haben sich Tusks permanente Aufforderungen zu Herzen genommen. Der vor Kurzem angebahnte Untersuchungsausschuss soll, fairerweise, ihre eigene bisherige Amtszeit (2015 bis 2022) auf russische Einflussnahmen hin, aber auch die von Tusk und seiner ein Jahr lang amtierenden Nachfolgerin Ewa Kopacz (2007-2015) durchleuchten.

Das sorgt im Tusk-Lager für Panik. Und allein schon der krasse Unterschied im Fotobestand in den Archiven der Weltmedien erklärt, warum das so ist. Es gibt nämlich kein einziges Foto von Putin gemeinsam mit Jarosław Kaczyński, Morawiecki oder Staatspräsident Andrzej Duda. Sie haben Putin nie getroffen. Deswegen machte ihnen Tusk seinerzeit immer wieder den Vorwurf der Russophobie.

Die Auswahl der gemeinsamen Fotos Tusks mit Putin, von denen viele einen herzlichen, vertrauensvollen Umgang belegen, ist hingegen groß. Ebenso bemerkenswert ist die Zahl von Putin- und russlandenthusiastischen TV-Mitschnitten aus Tusks Parlamentsreden, Pressekonferenzen, seinem Besuch im Kreml 2008, Putins Polen-Besuch 2009, Tusks Begegnungen mit Putin in Katyn vor (am 7.04.2010) und nach der Smolensk-Flugzeugkatastrophe (am 10.04.2010).

Das macht sich nicht gut. Noch schlechter macht sich Tusks politische Ӧffnung und Annäherung an Russland, die auch nach dem russischen Überfall auf Georgien 2008 und der Krim-Annexion 2014 fortgesetzt wurden. Tusks Devise lautete: „Wir wollen Dialog führen mit einem Russland, so wie es ist”.

Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Anstatt die Gas- und Ӧlimporte zu diversifizieren, setzte Tusk auf eine völlige Abhängigkeit von Russland. Es gab eine innige, vertraglich verbriefte Kooperation der Geheimdienste. Russlands Außenminister Lawrow wurde im September 2010 nach Warschau eingeladen, um polnische Botschafter aus der ganzen Welt bei ihrer Jahreskonferenz zu briefen. Sogar der polnische zentrale Wahlausschuss reiste noch im Mai 2013 „zur Schulung” nach Moskau.

Tusk trägt dafür die volle politische Verantwortung. Aber das weiß man bereits ohne den Ausschuss, der angeblich Tusk und die Seinen diskreditieren soll. Dafür hat bereits das eigene Russland-Gebaren ausreichend gesorgt. Allenfalls kann die die Kommission die Hintergründe zutage fördern.

Jetzt schreien Tusk und mit ihm all die Gegner der polnischen Regierenden im In- und Ausland Zeter und Mordio. Es hagelt Vorwürfe und schwere Anklagen. Zu Recht?

  1. Angeblich sind die Entscheidungen der Kommission nicht anfechtbar. Die Kontrolle der Gerichte fehlt.

FALSCH. Die Kommission ist ein Organ der öffentlichen Verwaltung und erlässt Verwaltungsentscheidungen, die die Möglichkeit beinhalten, dagegen Rechtsmittel einzulegen. Gegen die Beschlussfassungen der Kommission (erste Instanz) kann daher beim Woiwodschafts-Verwaltungsgericht (zweite Instanz) und beim Obersten Verwaltungsgericht (dritte Instanz) Berufung eingelegt werden. Beide Gerichte können die Entscheidungen der Kommission aussetzen, aufheben, sie an diese zur erneuten Prüfung zurückverweisen. Sie können nicht nur Verfahrensfehler der Kommission beanstanden, sondern die Zuständigkeit an sich ziehen und selbst in der Sache ein Urteil fällen.

  1. Die Entscheidung der Kommission führt dazu, dass man nicht mehr für den Sejm kandidieren kann.

FALSCH. Nach polnischem Recht dürfen nur Personen, die wegen einer vorsätzlichen Straftat, die von Amts wegen verfolgt wird und rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, nicht für den Sejm kandidieren. Die Kommission kann keine Haftstrafen verhängen. Das eventuelle Verbot, 10 Jahre lang keine öffentlichen Ämter zu bekleiden, bezieht sich nicht auf den Parlamentssitz.

  1. Die Kommission wird ihre Arbeit am 17. September 2023, unmittelbar vor den Parlamentswahlen, abschließen.

FALSCH. Die Kommission wird, wie im Gesetz vorgesehen, am 17. September 2023 den ersten Bericht über ihre Arbeit vorlegen. Dieser wird zukünftig jährlich abgegeben werden.

4. Warum eine Überprüfungskommission und nicht ein parlamentarischer  Untersuchungsausschuss? Das wird die Politisierung fördern.

FALSCH. Im Gegenteil, die Kommission wird weniger politisiert dadurch, dass sie nicht nur Parlamentarier, sondern auch externe Experten einbeziehen kann. Darüber hinaus haben alle parlamentarischen Fraktionen das Recht, ihre Kandidaten für die Kommission vorzuschlagen. Staatspräsident Duda hat gerade eine Novelle vorgelegt, keine Parlamentarier, sondern nur Fachleute in die Kommission zu berufen.

  1. Die Kommission wurde gegen Donald Tusk eingesetzt, daher wird sie in den Medien als „Lex Tusk“ bezeichnet.

FALSCH. Von Donald Tusk ist in dem Gesetz nirgendwo die Rede. Es geht um russische Einflussnahmen während und nach seiner Amtszeit.

Doch was waren die Beweggründe für Tusks Russlandliebe? Vielleicht erfahren wir bald mehr darüber. Der Verdacht liegt jedenfalls nahe, dass Tusk auch in diesem Fall als politischer Ziehsohn und eifriger Willensvollstrecker Angela Merkels agiert hat. Das „pflegeleichte” Polen unter Tusks Führung sollte Deutschland in seiner grenzenlos russlandorientierten Politik durch etwaige Vorbehalte, laut formulierte Ängste oder gar mahnende Warnungen keine Steine in den Weg legen. Tusk sorgte dafür und wurde für seine Treue, auf Betreiben Berlins, mit dem Amt des EU-Ratsvorsitzenden belohnt.

Er war eine Bauernfigur auf dem Schachbrett der deutschen Russlandpolitik. Die Rollen des Königs, der Königin und aller anderen Figuren waren bereits Angela Merkel, Gerhard Schröder, Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel, Manuela Schwesig, Matthias Platzeck, Armin Laschet, Wolfgang Kubicki, Sahra Wagenknecht  u. v. a. m. zugedacht.

Ein Teil von ihnen amtiert weiter, der Rest genießt unbelangt den Ruhestand, wird gar, wie Frau Merkel, mit Orden behängt. Derweil steigt die russlandfreundliche AfD im Ansehen, huldigt Putin auf den Straßen und in den sozialen Netzwerken, gemeinsam mit anderen rechten Milieus, mit der Linken, mit den radikalen Ӧko-, Klima- und Friedensbewegten sowie den sehr vielen ungebundenen deutschen Putin-Sympathisanten.

Ein Untersuchungsausschuss in Deutschland zur Aufarbeitung all dessen? Nichts dergleichen. Dafür, ohne offensichtlich das entsprechende Gesetz überhaupt gelesen zu haben, Unterstellungen und hysterische Attacken auf das polnische Bestreben, die Russland-Verstrickungen auszuleuchten. Treue zu erfahren ist Glück. Deutschland lässt seine polnischen Russlandversteher nicht im Stich.

RdP




29.05.2023. Deutschlands Geld und die Versöhnung

In öffentlichen Debatten über Reparationen, die Deutschland Polen für Kriegsschäden schuldet, wird jenseits der Oder oft das folgende Argument angeführt: Da eine Versöhnung zwischen unseren Nationen stattgefunden hat, ist es nicht angebracht, Ansprüche aus der Vergangenheit zu stellen. Manchmal wird in diesem Zusammenhang sogar der berühmte Brief der polnischen  an die deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1965 mit den denkwürdigen Worten „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ zitiert. Als  hätte der Episkopat im Namen des polnischen Staates auf Reparationen verzichtet.

Dies ist eine klassische Verwechslung zweier Perspektiven: der moralischen und der rechtlich-politischen, wo symbolische Gesten finanzielle Verpflichtungen angeblich aufheben. Interessanterweise misst die deutsche Politik dieselbe Angelegenheit mit zweierlei Maß, abhängig davon, ob es sich um west- oder osteuropäische Staaten handelt, von Israel ganz zu schweigen.

Es gab einige bedeutende Versöhnungsgesten deutscher und französischer Staatsoberhäupter und Regierungschefs. Erinnern wir an Konrad Adenauers und General de Gaulles Teilnahme an der Versöhnungsmesse in der Kathedrale von Reims im Juli 1962 und an die Umarmung der beiden anlässlich der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages im Januar 1963. Viele haben bis heute vor Augen, wie Helmut Kohl und François Mitterrand im September 1984 Hand in Hand auf dem Schlachtfeld von Verdun stehen.

Von Geld war anlässlich dieser symbolträchtigen Zeremonien nie die Rede. Ob Reims oder Verdun, wie selbstverständlich zahlte die Bundesrepublik Reparationen aus dem Ersten Weltkrieg an Frankreich weiter. Die letzte Tranche von 70 Millionen Euro hat die Bundesbank im Jahr 2010 nach Paris überwiesen.

Dass Berlin auch ein anderes Maß anwenden kann, das haben die Tschechen schmerzlich erfahren müssen. Es lohnt sich, daran zu erinnern, denn es kann eine wichtige Lehre für andere sein.

Nach der Samtenen Revolution und dem Sturz des Kommunismus wurde Václav Havel Präsident der Tschechoslowakei und war entschlossen, eine Aussöhnung mit Deutschland herbeizuführen. Das lag zum einen an seiner Überzeugung, dass der Weg in den Westen über Deutschland führte, und zum anderen an der zutiefst moralischen Perspektive, die er der politischen Realität zugrunde legte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er bei seinem ersten Auslandsbesuch am 2. Januar 1990 in Bonn bei einem Treffen mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Prinzip der kollektiven Verantwortung und die Gewalt verurteilte, die die Sudetendeutschen während der 1945 durchgeführten Vertreibung aus der Tschechoslowakei auf der Grundlage der Beneš-Dekrete erfahren hatten.

Václav Havel verstand seine Worte als eine großzügige Geste des guten Willens, die den Weg zur Versöhnung öffnete. Er wollte durch einen symbolischen Akt, der seiner Meinung nach die historische Gerechtigkeit widerspiegelt, die Hand zur Aussöhnung reichen. Die Deutschen hingegen sahen darin ein Zeichen der Schwäche und einen Beweis für die Legitimität der von ihren Landsleuten erhobenen Ansprüche. Sie zogen politische Konsequenzen aus dem moralischen Akt und begannen, unter Berufung auf Havels Worte, die Rückgabe ihres in der Tschechoslowakei verbliebenen Eigentums zu fordern.

Dabei ignorierten sie völlig die Gründe, warum die Deutschen nach dem Krieg aus dem tschechischen Sudetenland vertrieben wurden. Sie hatten in der Zwischenkriegszeit eine fünfte Kolonne gebildet, die auf Hitlers Befehl zur Liquidierung des tschechoslowakischen Staates wesentlich beitrug. Prag wollte nicht, dass sich eine ähnliche Situation in Zukunft wiederholen würde.

Die deutschen Ansprüche an die Tschechische Republik wurden in den Folgejahren zu einem Zankapfel zwischen den beiden Staaten. Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher weigerten sich entschieden, den deutsch-tschechischen Nachbarschaftsvertrag zu unterzeichnen, solange dieser eine Bestimmung über die rechtliche Absicherung des Eigentums der Tschechen im ehemaligen Sudetenland nach der Wende enthielt. Die Verhandlungen zogen sich aufgrund der unnachgiebigen Haltung Berlins in die Länge, aber Prag war hartnäckiger und setzte sich schließlich durch. Das Dokument wurde erst 1996 unterzeichnet, während ein ähnlicher Vertrag zwischen Polen und Deutschland bereits 1991 unterschrieben und ratifiziert wurde.

Die Haltung der Deutschen war die größte Enttäuschung Havels in seiner Außenpolitik. Berlin hatte die moralische Geste eines Idealisten und Romantikers auf das Feld der kalten und rücksichtslosen Realpolitik überführt.

Jetzt erleben wir ein ähnliches Verhalten in der Frage der Kriegsreparationen, die Polen geschuldet werden: Der erwähnte Brief der Bischöfe oder die Umarmung zwischen Kohl und Mazowiecki im niederschlesischen Krzyżowa/Kreisau im November 1989 werden auf die finanzielle Dimension reduziert, als ob symbolische Gesten die fälligen Reparationen aufheben würden. Frankreich hatte es da besser.

RdP




Wenn Polen sich das Leben nehmen

Wie gehen Gesellschaft und Kirche heute mit Suiziden um.

Ich will keinen Alarm auslösen, aber die Situation ist nicht gut. Die Zahl der Selbstmorde unter Teenagern hat sich verdoppelt, sagt Professor Adam Czabański, Soziologe und Suizidologe, stellvertretender Präsident der Polnischen Suizidgesellschaft.

Sind Selbstmorde ein echtes soziales Problem? Immerhin gibt es auf der Welt mehr Opfer von Autounfällen als von Suiziden.

Prof. Adam Czabański

In Polen ist die Zahl der Selbstmorde definitiv höher als die der anderen gewaltsamen Todesfälle. Jedes Jahr nehmen sich bei uns etwa 5.200  Menschen das Leben, während es 2.300 bis 2.400 Opfer von Verkehrsunfällen und etwas mehr als 600 Opfer von Tötungsdelikten gibt.

Das Problem lässt sich jedoch nicht anhand trockener Zahlen beurteilen. Hinter jedem Todesfall steht das Drama eines Menschen, der sich das Leben genommen hat, aber auch das seiner Angehörigen und Freunde. Studien haben gezeigt, dass statistisch gesehen etwa zwanzig Personen unter dem Selbstmord eines Angehörigen oder Freundes leiden, d. h. ein Selbstmord verursacht im Durchschnitt bei zwanzig Menschen das Problem, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Auch nach einem Tötungsdelikt ist die Zahl der Leidtragenden nicht gering.

Aber bei einem Selbstmord gibt es auch andere, akutere Trauermechanismen. Sie werden von Fragen geplagt: Warum hat er es getan? War es nicht meine Schuld? Haben meine Worte, Gesten, Vorwürfe dazu beigetragen? Viele Menschen haben deswegen starke Schuldgefühle.

Polen liegt bei der Selbstmordrate im europäischen Vergleich im Mittelfeld. Hat sich die Lage gebessert?

Es ist besser geworden als noch vor zehn Jahren. Seit etwa 2012 ist die Zahl der Selbstmorde zurückgegangen, damals hatten wir sogar mehr als 6.300 Suizide . Genau gesagt: 2020 gab es in Polen 5.156 Selbstmorde, 2022 – 5.201 und 2022 – 5.801.

Pro 100.000 Einwohner liegt Polen mit 11,1 Suiziden weltweit auf Platz 16. Vor uns befinden sich u. a. die traurigen Rekordhalter Südkorea mit 24,6, Litauen mit 21,6 und Slowenien mit 16,5, hinter uns, auf Platz 24., Deutschland mit 9,7 Fällen.

Die Selbstmordrate hängt in Polen stark mit der wirtschaftlichen Lage zusammen, vor allem mit der Arbeitslosenquote. Im Jahr 2012 betrug sie 13,4 Prozent. Jetzt, im April 2023, liegt sie bei 5,4 Prozent, und das trotz der enormen Zuwanderung ukrainischer Flüchtlinge, von denen Polen dauerhaft knapp zwei Millionen aufgenommen hat.

Die Arbeitslosigkeit wirkt sich dramatisch vor allem auf Männer mittleren Alters aus. Das ist ein weltweites Phänomen. Überall begehen Männer häufiger Selbstmord als Frauen, der Unterschied ist aber nicht so gravierend wie in Polen. In Westeuropa  sind es dreimal so viele, in muslimischen Ländern – eineinhalbmal Mal so viele Männer wie Frauen. In Polen hingegen – mehr als sechsmal so viele!

Kennen wir die Ursachen?

Zweifellos hat die Arbeitslosigkeit oder die drohende Arbeitslosigkeit einen großen Einfluss darauf. Männer mittleren Alters sehen ihre soziale Rolle noch immer traditionell. Der Mann soll der Haupternährer, der Familienvater sein, der eine materielle und schützende Funktion ausübt. Wenn er das nicht kann, fühlt er sich gedemütigt und nutzlos. Bei jungen Männern ist bereits ein deutlicher Wandel in der Einstellung zu dieser Familienrolle zu beobachten. Sie beteiligen sich stärker an der Kindererziehung, an der Pflege der Kinder. Eine echte Bindung zu ihren Kindern ist für moderne Männer in Polen ein Lebensretter. Ein weiteres Phänomen ist der Selbstmord älterer Menschen. Ein Fünftel der Selbstmorde in unserem Land begehen Senioren.

Ist das ein globaler Trend oder eine polnische Eigenart?

Universell. Er ist in den alternden westlichen Gesellschaften deutlich zu erkennen. Im Vereinigten Königreich gab es bereits vor der Pandemie umfangreiche Untersuchungen zum Phänomen der Einsamkeit als etwas, das es objektiv gibt, und der Einsamkeit als dem Gefühl, allein zu sein. Es stellte sich heraus, dass mehrere Millionen ältere Menschen ihren Haushalt allein führen und oft sehr einsam sind. Etwa 200.000 von ihnen haben im letzten Monat mit keiner anderen Person gesprochen. Das zeigt das Ausmaß des Problems, das auch in Polen vorhanden ist.

Welche Auswirkungen hatte die COVID-19-Pandemie auf die Selbstmorde?

Die Situation erinnerte damals ein wenig an Kriegszustände. Die rasche Abfolge von ungewöhnlichen Ereignissen konnte von anderen, insbesondere persönlichen Problemen ablenken. Jeder erlebte Zwänge, war verängstigt, wir bildeten sogar eine Gemeinschaft in dieser Angst. Während des Krieges stabilisiert sich die Selbstmordrate und nimmt sogar ab, was damit zusammenhängt, dass viel passiert, der Gemeinschaftssinn funktioniert, der Überlebenswille stark ist, das Leben einen höheren Wert hat. Wenn der Krieg zu Ende ist, steigt die Zahl der Selbstmorde.

In Polen hat sich die Zahl der Selbstmorde stabilisiert, aber das betrifft nicht die jüngste Generation, die am stärksten von der Pandemie betroffen zu sein scheint.

Wie soll man das verstehen?

Ich will keinen Alarm auslösen, aber die Situation ist nicht gut. Die Zahl der Selbstmorde unter Teenagern hat sich verdoppelt. Das sind für ein Land mit gut 38 Millionen Einwohnern immer noch keine großen Zahlen, jährlich etwa einhundert junge Menschen unter 18 Jahren, aber der hundertprozentige Anstieg bereitet ernsthaft Sorgen.

Das absolute Drama sind die Selbstmorde von Kindern bis zu 12 Jahren. Früher gab es 1 bis 2 solcher Selbstmorde pro Jahr, heute sind es 3 bis 4. Die Dunkelziffer der Selbstmordversuche ist viel höher. Fachleute schätzen, dass auf jeden Selbstmord eines Teenagers etwa einhundert Selbstmordversuche kommen.

In einem Teil der Fälle sind die Gründe für den Selbstmordversuch unbekannt. Nur einzelne Selbstmörder hinterlassen Abschiedsbriefe. Inwieweit ist es möglich, die Gründe zu erfahren?

Es ist unmöglich, sie in Prozentzahlen anzugeben. In den Polizeiberichten wird als Hauptgrund angegeben, was die Leute aus der unmittelbaren Umgebung des Selbstmörders denken: Missverständnisse in der Familie, die Untreue der Ehefrau, Probleme in der Schule, der Verlust des Arbeitsplatzes.

Jedes Mal ist die Kombination der Umstände, die dazu beigetragen haben könnten anders. Wenn man die Geschichte eines bestimmten Falles untersucht, stellt sich heraus, dass jemand nicht nur seinen Arbeitsplatz verloren hat, sondern dass er dort etwas Hässliches zu hören bekommen hat, dass jemand ihn betrogen hat usw., usf. Oft sind die Gründe völlig unbekannt. Für diejenigen, die dem Selbstmörder nahestehen, ist es ein großer Schmerz, eine völlige Überraschung. Er ging in den Wald und erhängte sich. Warum hast du das getan? Das ist die Grundfrage bei den Angehörigen.

Und die Abschiedsbriefe?

Abschiedsbriefe sind mit Vorsicht zu genießen. Nicht selten sind sie aggressiv im Ton und weisen die Schuld ganz konkret zu. Diejenigen, die sie finden, Polizisten, Feuerwehrleute, Rettungssanitäter, die als erste am Ort des Geschehens eintreffen, stehen vor dem Dilemma, ob sie sie der Familie geben sollen. Wenn auf jemanden konkret hingewiesen wird: „Du bist schuld“, wird der Betroffene sein Leben lang Schuldgefühle haben, und das kann wiederum auf dramatische Weise enden. Dabei muss es gar nicht an ihm gelegen haben.

Welche Anzeichen sprechen für einen bevorstehenden Selbstmord?

Die meisten von uns haben nicht einmal ein elementares Wissen über dieses Thema. Dabei gibt es, wie gesagt, nur selten einen Grund für einen Selbstmordversuch. Meistens handelt es sich um eine Reihe von Ereignissen, die in der Umgebung oder in der Psyche des Menschen selbst stattfinden. Ihr Auftreten führt dazu, dass eine Person nicht mehr leben will.

Die Mutter einer meiner Patientinnen, das Mädchen hatte versucht, sich das Leben zu nehmen, fand nichts dabei, dass ihre Tochter selbst an heißen Tagen in einem langärmeligen Sweatshirt herumlief. Die Frau war davon überzeugt, dass es sich um eine Modeerscheinung handelte, sodass sie fast in Ohnmacht fiel, als sie im Krankenhaus das Ausmaß der Selbstverletzungen an den Armen ihres Kindes sah.

Ein ähnlicher Mechanismus wirkt bei Ehefrauen, die es als normal ansehen, dass der Ehemann unter der Woche viel arbeitet und am Wochenende „faulenzt“ und viel Alkohol trinkt. Der Mann in unserer Kultur zeigt keine Schwächen. Er ist dazu da, die Familie zu beschützen, das nötige Geld für eine Wohnung, ein Auto, einen Urlaub unter Palmen zu verdienen. Dass er innerlich höllisch unter Druck steht, ausgebrannt ist, das wird er niemandem sagen. Daraus ergeben sich die Sucht, die Depression und schließlich der Schritt in den Selbstmord.

Und wenn man Symptome bemerkt, die für einen bevorstehenden Suizid sprechen?

Das oberste Gebot in einer Krisensituation lautet: Lass einen Menschen in Not nicht allein, egal ob es sich um einen Bekannten, einen Arbeitskollegen, einen Ehepartner oder ein Kind handelt.

Aber wie bringen wir die Person dazu, sich zu öffnen, sich uns  anzuvertrauen, mit uns reden zu wollen?

Optimal wäre es, sofort einen im Umgang mit Suizidgefährdeten erfahrenen Psychologen oder Psychiater einzuschalten. Das ist nicht immer möglich. Irgendwie muss man dem potenziellen Opfer den Weg zu ihnen bahnen.

Verhält sich zum Bespiel ein Kind seltsam, hat es sich verändert oder sagt, es wolle nicht mehr leben. Hat es ungewöhnliche Spuren an seinen Handgelenken und ist es wenig glaubhaft, dass sie die Katze verursacht hat. Vielleicht geht mit dem Kind etwas Besorgniserregendes vor sich? Das Wichtigste ist, solche Beobachtungen nicht zu ignorieren und nicht zu denken, dass wir schon reden werden, wenn wir die Gelegenheit dazu haben. Es ist bekannt, dass es schwierig ist, über Selbstmordversuche und Selbstverletzungen zu sprechen.

Wenn man von einem nahestehenden Menschen erfährt, dass er sich das Leben nehmen will, weiß man im ersten Moment nicht, was man sagen und tun soll.

Solche Informationen dürfen auf keinen Fall ignoriert werden. Man darf  keine Nervosität zeigen und sollte einen Ort suchen, an dem man in Ruhe reden kann. Nehmen Sie sich Zeit, denn ein solches Gespräch wird nicht kurz sein. Lassen Sie den anderen reden. Manche Menschen erzählen sofort, was mit ihnen los ist, andere brauchen viel Zeit, um über Schwierigkeiten, Kämpfe, Traurigkeit und Leid zu sprechen. Wenden Sie die Methode „vom Allgemeinen zum Speziellen“ an. Fragen Sie zunächst, wie sich die Person fühlt, wie lange sie schon Selbstmordgedanken hat und was passiert ist, dass sie diesen Gedanken hegt. Fragen Sie, ob die Person schon einmal versucht hat, sich das Leben zu nehmen, und wenn ja, was sie dann getan hat.

Die nächste Frage ist sehr wichtig: Wie kann ich helfen? Unterschätzen Sie diese Fragen nicht, denn man kann so einen Hinweis darauf bekommen, in welche Richtung man gehen soll. Weniger reden, mehr zuhören. Nicht unterbrechen, nicht urteilen, nicht kritisieren, keine Selbstmordabsichten leugnen. Keine Predigten halten und die Person vor allem nicht unbeaufsichtigt lassen. Sagen Sie auch nicht: „alles wird gut“ oder „übertreibe nicht“, „hör auf, dich zu beklagen“ oder „Kopf hoch”. Solches Gerede blockiert nur und verstärkt das Gefühl der Einsamkeit, des Unverständnisses und der Isolation. Versichern Sie, dass die Krise gelöst werden kann, aber versprechen Sie nicht, ein Geheimnis zu bewahren.

Die Kirche hat in letzter Zeit ihre Einstellung zum Selbstmord geändert. Die Zeiten, in denen Selbstmördern ein katholisches Begräbnis verweigert wurde, liegen aber gar nicht sehr weit zurück.

Dieser Wandel ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu beobachten. Gleichzeitig kann von einer veränderten Bewertung des Phänomens durch die katholische Kirche keine Rede sein. Kein Wunder: Es ist verheerend für die sozialen Bindungen, für die Gesellschaft, objektiv ist es das Böse.

Was wir jedoch erlebt haben, ist eine Revolution in der Art und Weise, wie die Kirche mit Menschen umgeht, die sich das Leben genommen haben. Die Fortschritte der Wissenschaft, insbesondere in der Psychologie und in der Psychiatrie, wurden berücksichtigt, die eindeutig zeigen, dass viele Menschen, die sich selbst Schaden zufügen, oft nicht vollständig erkennen, was mit ihnen geschieht.

Sie stehen also unter Einfluss von Alkohol, psychoaktiven Substanzen, Drogen?

Generell gilt: Sie haben die Situation, in der sie sich befinden, nicht unter Kontrolle. Ein erheblicher Teil von ihnen leidet an psychischen Störungen:  Depressionen, Schizophrenie, bipolaren affektiven Störungen, Demenzerkrankungen. Das muss man unbedingt berücksichtigen.

Es gibt viele unbeantwortete Fragen, was konkret im Kopf eines  Selbstmörders vorgegangen ist. Ein Mann, der allein lebte, mit dem es fast keinen Kontakt gab, hat sich das Leben genommen. Hat er das durchdacht oder war es eine Kurzschlusshandlung? Fühlte er sich an die Wand gedrängt, glaubte er keine andere Wahl gehabt zu haben? Dabei gibt es immer eine Wahl, eine Lösung. Selbstmord ist die schlechteste aller Möglichkeiten. Diese Menschen sehen das nicht, sie sind gelähmt aufgrund ihrer Situation, durch ihr Versagen, durch ihre Misserfolge, die sich oft im Laufe der Zeit angesammelt haben.

Die Kirche hat sich dem Thema auf eine neue Weise genähert, mit einer Reflexion über das Bewusstsein des Selbstmörders. Ein Pfarrer kann jedoch immer noch eine Bestattung auf geweihtem Boden verweigern, wenn er weiß, dass der Selbstmörder ein militanter Atheist, ein Satanist war oder einer okkulten Gruppe angehörte.

Und kommt so etwas vor?

Ja, das kommt vor. Aber wenn der Priester feststellt, dass die Person ein Gemeindemitglied war, dass sie immer wieder die Messe besuchte, die Sakramente empfing, dann gibt es keine Einwände gegen eine solche Beerdigung. Und das ist in der Regel auch der Fall.

Amerikanische Studien zeigen, dass Menschen die sich zum Glauben bekennen, viel seltener Selbstmord begehen als Atheisten oder Suchende. Wir können davon ausgehen, dass es sich bei den meisten Selbstmördern in Polen um getaufte Menschen handelt, die sich generell als Gläubige bezeichnen. Ich vermute jedoch, dass sie sich in den meisten Fällen vom Glauben und dem, wie man ihn praktiziert, abgewendet haben. Es gibt jedoch keine Untersuchungen zu diesem Thema.

Es gibt Selbstmorde unter Priestern. Das ist ein absolutes Drama.

Es sind Menschen aus Fleisch und Blut, die wie andere auch Schwächen haben und fallen, die vielleicht Probleme mit dem Alkohol haben, Probleme, die aus der Einsamkeit resultieren, aus der kritischen Haltung der Gläubigen, aus der fehlenden Akzeptanz für ihr Handeln. Es erfordert eine Menge Widerstandskraft, um damit fertig zu werden. Aus Gesprächen mit Priestern geht hervor, dass die alljährlichen seelsorgerischen Hausbesuche nach Neujahr nicht mehr wie früher zu angenehmen Gesprächen führen. Oft werden Anschuldigungen gegen Priester und die Kirche erhoben. Die Geistlichen sind keine Menschen vom Mars. Sie kommen aus der Gesellschaft, und daher sind deren Zustand, Probleme und Gefühle auch die ihren.

In dem von Pater Andrzej Pryba mitverfassten Buch „Selbstmord aus katholischer Sicht” schreiben Sie viel über die Rolle, die Seelsorger bei der Verhinderung von Selbstmorden spielen können und sogar sollten.

Unserer Meinung nach können Priester, Ordensleute und Nonnen in dieser Hinsicht sehr viel Gutes tun. Es geht nicht darum, dass sie zu selbst ernannten Psychologen oder Psychiatern werden. Wir haben diese Fachleute.

Die Situation ist für den Klerus sehr schwierig, denn ein Mensch, der sich das Leben nehmen will, spricht meist im Beichtstuhl darüber. Und dort gilt das Beichtgeheimnis. Es gibt keine Ausnahmen von dieser Regel. Der Beichtende weiß das. Das Beichtgeheimnis ist eine Garantie dafür, dass niemand von seinem Vorhaben erfährt.

Aber nichts hindert den Priester daran zu sagen: Ich werde dir deine Beichte abnehmen, aber bitte bleib danach und wir werden reden. Dann gibt es die Möglichkeit zur Weitergabe einer hilfreichen Telefonnummer oder zum Hinweis, dass man einen Psychologen aufsuchen sollte.

Ein Mensch, der in den Beichtstuhl kommt, weiß, dass Selbstmord eine schwere Sünde ist, und er kommt dennoch, um sich mit Gott zu versöhnen, obwohl er kurz darauf versuchen will, sich gegen das göttliche Recht auszusprechen. Das ist die innere Spaltung dieser Menschen.

Wie sind Ihre Prognosen? Müssen wir einen Anstieg der Zahl von Suiziden, vor allem bei Jugendlichen, befürchten?

Das kann niemand vorhersagen. Was wir tun können, ist vorbeugen. Dazu gehört vor allem die Sensibilisierung der Gesellschaft, das Aufmerksammachen auf das Problem und seine Symptome.

RdP

Das Gespräch erschien im katholischen Wochenmagazin „Niedziela” („Der Sonntag”) vom 19.02.2023.




24.04.2023. Angela die Ausgezeichnete

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel für außergewöhnliche Verdienste das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland „in besonderer Ausführung”verliehen. Es ist die höchste deutsche Auszeichnung.

Deutsche Bundespräsidenten erhalten es von Amts wegen, aber in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik haben bisher nur zwei Bundeskanzler, Konrad Adenauer und Helmut Kohl, diesen Orden erhalten. Nicht einmal Willy Brandt, immerhin der einzige Friedensnobelpreisträger unter allen deutschen Kaisern, Königen, Staatspräsidenten und Kanzlern, wurde für würdig genug befunden, derart geehrt zu werden.

Anders Angela Merkel. Sie hat Putin in der internationalen Politik und wirtschaftlich stets gestärkt und so letztendlich, wenigstens indirekt, die Saat des Krieges gemehrt. Und nun, nach all der Kritik an Merkels langjähriger Politik, Deutschland in ein Bündnis mit Putins Russland zu drängen, geht der höchste deutsche Orden an die wichtigste Architektin dieses Vorhabens.

Der ehemaligen DDR-Bürgerin wird nachgesagt, dass sie auf ihrem Schreibtisch stets das Porträt einer anderen souveränen ostdeutschen Frau stehen hat, das von Sophie von Anhalt-Zerbst, der späteren russischen Zarin Katharina II., die 1729 in Pommern geboren wurde. Sie hat Russland in ein Imperium verwandelt. Die Tilgung Polens von der Europakarte für 123 Jahre gehört mit zu den „Glanzleistungen” ihrer Politik. Aus dem westlichen Teil Pommerns, ihrem Wahlkreis jenseits der Oder, wurde  Angela Merkel viele Jahre lang in den Bundestag gewählt.

Ihr irritierendes Beharren darauf, dass sie im Grunde alles richtig gemacht hat, wurde mit der nun vorgenommenen Ehrung im Nachhinein geadelt. Musste das unbedingt sein?

Steht der deutsche Bundespräsident etwa in der Schuld von „Mutti“? Steinmeier ist zwar Sozialdemokrat, aber als Außenminister in zwei Merkel-Kabinetten (2005-2009 und 2013-2017) gehörte er zu den engagiertesten Putinverstehern unter den deutschen Spitzenpolitikern überhaupt und setzte Merkels Russland-Politik hartnäckig um. Weder die Annexion der Krim, noch der Krieg im Donbas und die KGB-Morde an russischen Oppositionellen haben ihn eines Besseren belehrt. Die „deutsch-russische Partnerschaft” war durch nichts zu erschüttern.

Im Gegenzug schlug ihn Angela Merkel 2016 als Kandidaten der GroKO für die Wahl zum Bundespräsidenten vor und hievte ihn so in das höchste deutsche Staatsamt. Jetzt bekam sie von ihm die höchste deutsche Auszeichnung, obwohl (oder vielleicht gerade weil?) sie jede Selbstkritik scheut. Steinmeier hat sich zwar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine von seiner prorussischen Haltung sanft distanziert, aber so ganz falsch konnte sie ja nicht gewesen sein, wenn ihre wichtigste Verfechterin in solcher Weise geehrt wird. Und das gut ein Jahr nach Beginn der russischen Attacke, als auf der Hand liegt, was Putin angerichtet hat.

Das alles setzt ein bitteres Nachdenken in Gang. Trotz der Beteuerungen, Deutschland habe aus dem Flirt mit Putin gelernt, bleibt die deutsche Politik ein Kontinuum. So wie Merkel die SPD-Politik von Bundeskanzler Gerhard Schröder, ein Bündnis mit dem Kreml aufzubauen, fortgesetzt hat, so ehrt nun Bundespräsident Steinmeier, ein ehemaliger SPD-Politiker und Schröders ehemaliger Staatssekretär, Merkel für die Fortsetzung des Flirts mit dem russischen Bären.

Es fällt schwer, dieses nicht auch als eine Geste in Richtung Kreml zu deuten: Wir sind mit euch, wir schämen uns für nichts, wir haben uns nichts vorzuwerfen und wir freuen uns darauf, mit euch bald wieder ‚Geschäfte as usual‘ zu machen. Und die Politikerin, die das Symbol unserer Allianz mit euch ist, schmücken wir so ehrenvoll, wie wir können.

Im Kreml hat man dieses Signal aus Deutschland ganz gewiss mit Genugtuung registriert. Auch das offizielle Warschau hat es wahrgenommen. Das Vertrauen in die deutsche Politik wird es in Polen nicht stärken.

RdP




21.04.2023. Die Flinte nicht ins ukrainische Korn geworfen

Ende gut, alles gut? Die Lage jedenfalls ist im Griff. Die Flut des ukrainischen Weizens ergießt sich seit einigen Tagen nicht mehr unkontrolliert über ganz Polen. Erlaubt sind nur noch verplombte Eisenbahntransfers von der ukrainischen Grenze zu den polnischen Häfen. Wie bereits alle Kraftstofftransporte in Polen, werden die Getreideladungen jetzt zudem von Zoll und Steuerfahndung elektronisch überwacht.

Die Behörden haben buchstäblich im letzten Augenblick die Reißleine gezogen und damit einen gewaltigen Bauernaufruhr abgewendet. Sie überrumpelten Brüssel mit einem sofortigen Importstopp für alle ukrainischen Agrarprodukte. Ungarn, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien schlossen sich bald darauf an, und Kiew wurde am Verhandlungstisch dazu gebracht, der neuen Regelung zuzustimmen. Dabei wurde lediglich der Zustand hergestellt, der von Anfang an hätte gelten sollen.

Die gut gemeinte Solidarität mit der Ukraine hat die polnischen Regierenden monatelang alle Warnungen in den Wind schlagen lassen. Derweil sind seit Juli 2022, als die EU für ein Jahr alle Importzölle für ukrainische Einfuhren aufgehoben hatte,  knapp 1,3 Millionen Tonnen Mais, knapp 800.000 Tonnen Weizen und ca. 700.000 Tonnen ukrainischer Raps nach Polen gelangt.

Eigentlich sollten sie über polnische Häfen nach Afrika gebracht werden. Doch in den meisten Fällen geschah genau das nicht. Ukrainische Lkw hielten stattdessen vor großen und kleinen Futtermittelfirmen, Getreide- und Ӧlmühlen, Silo-Großanlagen, um ihre billige Fracht abzuladen. Auf riesigen Flächen fruchtbarster Schwarzböden, bei niedrigen Arbeitskosten und ohne die zahlreichen kostspieligen EU-Vorgaben, erzielen heute dänische, holländische und deutsche Agrarfirmen in der Ukraine Rekorderträge zu Niedrigpreisen, mit denen keine EU-Landwirtschaft mithalten kann.

Die Nachfrage nach polnischem Getreide sank dramatisch und genauso sanken die Preise. Eine Tonne Konsumweizen kostete Anfang April 2023  maximal 1.150 Zloty, während mindestens 1.400 Zloty notwendig sind, um den Bauern eine kleine Gewinnmarge zu gewähren. Nach der Schließung der Grenze für unkontrollierte ukrainische Einfuhren will die Regierung den Bauern nun die entstandene Differenz pro Tonne auszahlen. Staatliche Siloanlagen sollen den polnischen  Weizen aufnehmen, damit die Speicher der Bauern bis zur Ernte leergeräumt sind. Nur so ist der Ruin von Abertausenden von Bauern abwendbar.

Bevor die Abwehrmaßnahmen im Hauruckverfahren eingeführt wurden, versuchte Landwirtschaftsminister Henryk Kowlaczyk, ein enger Vertrauter des Recht-und-Gerechtigkeit-Chefs Jarosław Kaczyński, schnell noch die Katastrophe, deren Herannahen er zunächst tatenlos zugesehen hatte, im Einvernehmen mit der Brüsseler EU-Zentrale, in deren Kompetenz die Handelspolitik fällt, abzuwenden. Dort sah man jedoch keinen Grund zu schnellem Handeln, um der ungeliebten Warschauer Regierungsmannschaft aus der Bredouille zu helfen.

Anders in Warschau. Im Oktober 2023 finden in Polen Parlamentswahlen statt. Der Unmut der Bauern, der traditionellen Wahlklientel der Nationalkonservativen, würde die seit 2015 regierende Partei zweifelsohne um den dritten Wahlsieg in Folge bringen.

Obwohl eigentlich ein enger Vertrauter, wurde Landwirtschaftsminister Kowalczyk im Nu an die Luft gesetzt. Der Einfuhrstopp trat am 16. April mit sofortiger Wirkung in Kraft. Polen berief sich dabei auf die EU-Verordnung Nr. 478 aus dem Jahr 2015. Diese sieht vor, dass ein EU-Staat Einfuhrverbote und -beschränkungen verhängen kann, wenn dies wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung geboten ist. Und die Gefahr war in diesen Tagen in Polen wahrlich im Verzug. Tausende von Treckern standen bereit, um das Land lahmzulegen.

Kaczyński und seine Umgebung stellten wieder einmal ihre viel  gepriesene Handlungsfähigkeit unter Beweis, diesmal jedoch bei der Abwehr einer Gefahr, die sie lange ignorierten und die sie problemlos hätten im Keim ersticken können.

Das geschah zum Unmut Moskaus, wo man sehr auf eine anti-ukrainische Wende im polnischen Volksempfinden gehofft hatte. Ebenso in Deutschland. Die Zeitung „Die Welt” frohlockte bereits: „Diese Aktion Polens stellt die Loyalität zur Ukraine infrage”. Seht her, sind nicht auch die unbequemen polnischen Musterhelfer im Grunde nur kleinliche Egoisten? Und ist Polens Uneigennützigkeit, aus der seine wachsende Bedeutung in der europäischen Politik aufkeimen soll, eine Mär?

Am meisten enttäuscht ist jedoch die „totale”, wie sie sich selbst nennt, Opposition mit Donald Tusk an der Spitze. Im Unmut der Bauern witterte sie eine neuen Gamechanger, die Chance, eine schnelle Wende zu eigenen Gunsten herbeizuführen. Wo sie schon die Hoffnung auf einen harten Winter aufgeben musste, mit erfrorenen alten Menschen in ihren Wohnungen, unbezahlbaren Strom- und Heizkosten, einem Brotpreis von 30 Zloty (ca. 6,50 Euro, heute kostet 1 kg Brot durchschnittlich 8 Zloty, d.h. ca.1,75 Euro).

Doch die Zustimmungswerte für die Regierenden klettern seit Wochen beständig auf die 40-Prozent-Marke zu. Donald Tusk und die ihm genehmen Medien tun plötzlich so, als hätte es ihre dramatischen Aufrufe zur Grenzschließung nie gegeben. Jetzt prangern sie die „mangelnde Solidarität mit der Ukraine” an, sehen in den Sofortmaßnahmen eine „EU-feindliche Eigenmächtigkeit”, „einen neuen Anlauf zum Polexit” und „puren Wahlkampf”.

In Wahrheit jedoch hat das im letzen Augenblick aufgerüttelte Polen drastische Maßnahmen ergriffen, um die EU und die Ukraine zum Handeln zu zwingen, und es war erfolgreich. Die ursprüngliche Idee, ukrainisches Getreide durch Polen auf den Weg nach Afrika zu bringen, musste wiederbelebt werden, nicht mit dem Ziel, der Ukraine das Leben schwer zu machen, sondern den polnischen Landwirten keine Probleme zu bereiten und den sozialen Frieden zu wahren.

RdP




11.04.2023. Putins Morden macht den ukrainischen Völkermord nicht ungeschehen

Der Staatsbesuch Wolodymyr Selenskyjs in Warschau am 5. April 2023 war ein einziges Festival beiderseitiger Bekundungen von Einigkeit, Solidarität und engster Verbundenheit im Kampf gegen den russischen Überfall auf die Ukraine. In den ansonsten gewohnt kämpferischen und in Warschau mit stürmischem Beifall überschütteten Reden des Gastes, in seinen Lobeshymnen auf die Hilfs- und Opferbereitschaft „unserer polnischen Brüder und Schwestern”, tauchte jedoch das schwierigste historische Thema, die ukrainischen Wolhynienmassaker an etwa 100.000 Polen zwischen 1943 und 1945, nicht auf.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 wurde es von polnischer Seite ganz und gar ausgeklammert. Es sollte in solch harten Zeiten die Beziehungen zu dem sich kämpfend verteidigenden Land nicht belasten. Das funktioniert bis heute, doch immer mehr Polen, auch wenn sie ansonsten hundertprozentig hinter der Ukraine stehen, fällt es schwer, Kiews diesbezügliches beharrliches Schweigen ohne Weiteres hinzunehmen.

Ihre Frage lautet: Sind nicht gerade die grausamen russischen Verbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung der richtige Anlass für die ukrainischen Eliten, über die Verbrechen der ukrainischen Nationalisten während des Zweiten Weltkriegs nachzudenken? Das ist schwierig und erfordert Mut von der ukrainischen Führung. Wolodymyr Selenskyj, der in anderen Fragen sehr schneidig daherkommt, legt hier eine geradezu beklemmende Hasenfüßigkeit an den Tag.

Im Sommer 1943 machten sich ukrainische  Nationalistenführer: Stepan Bandera, Roman Schuchewytsch, Dmytro Kljatschkiwskyj, Mykola Lebed und andere erneut daran, eine polen- und judenfreie Ukraine zu schaffen. Es war ein von langer Hand vorbereiteter Völkermord, der unter der Schirmherrschaft der deutschen Besatzer stattfand.

Ehemalige ukrainische Hilfspolizisten, die sich bereits bei den Massenmorden an Juden „bewährt” hatten, auch Mitglieder ukrainischer KZ-Wachmannschaften folgten massenhaft dem Aufruf der Nationalisten und desertierten mit ihren Waffen in die Partisanenabteilungen der Ukrainischen Aufständischen Armee. Begleitet von Horden aufgestachelter ukrainischer Bauern, leisteten sie ab Juli 1943 ganze Arbeit. Wichtigster Schauplatz dieses Völkermordes war Wolhynien.

Häuser, Gärten, Kirchen, Friedhöfe und alle anderen Anzeichen  jahrhundertelanger polnischer Anwesenheit in Wolhynien haben Banderas Helden dem Erdboden gleichgemacht und diese Erde in den meisten Dörfern umgepflügt. Wo einst  polnisches Leben war, pfeift heute der Wind über die Brachen oder wogt der ukrainische Weizen.

An mindestens 2.122 Orten wurden polnische Zivilisten, die Großeltern der heutigen polnischen „Brüder und Schwestern”, Kinder jeden Alters, Frauen, Männer, Greise, in wahren Blutorgien, zumeist mit Äxten, Messern, Mistgabeln und Holzknüppeln umgebracht. Ihre sterblichen Überreste haben die ukrainischen Mörder wie Tierkadaver in anonymen Gruben verscharrt. Bis heute verweigert die Ukraine Polen, sie zu bergen und sie menschenwürdig zu bestatten. Dahinter verbirgt sich die panische Angst, dass Hunderte von Gedenkorten in Wolhynien der Ӧffentlichkeit das wahre Ausmaß des bis jetzt beharrlich geleugneten Völkermordes vor Augen führen würden.

Das wiederum würde die Frage nach sich ziehen, warum die Massenmörder und die geistigen Urheber dieser Taten: Bandera, Kljatschkiwskyj, Schuchewytsch, Lebed usw., genauso wie die ukrainischen Freiwilligen der verbrecherischen SS Division „Galizien” in der Westukraine mit unzähligen Denkmälern, Gedenktafeln, Umzügen sowie mit Publikationen, und mit Sondermarken der ukrainischen Post zu Galionsfiguren der ukrainischen Freiheit stilisiert werden. Sie gelten als unbefleckte Patrioten und Helden des späteren Kampfes gegen die Sowjets, die 1944 die Westukraine von den Deutschen zurückerobert haben. Was sie zuvor anrichteten, wird geflissentlich ausgeblendet.

Die intellektuelle Elite der Ukraine ist offensichtlich nicht bereit, das einzusehen und daraus die Konsequenzen zu ziehen. Und Polen?

Polen sollte Selenskyj nicht dazu zwingen, denn das Wichtigste ist jetzt der Sieg an der Front und die zukünftige Sicherheit unseres Teils von Europa. Die Eliten in Kiew müssen selbst erkennen, dass das Wegschauen nicht ewig dauern kann.

Es wird nämlich schwer zu vereinbaren sein, Putin vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu schicken und gleichzeitig Bandera zu loben. Und wie lange kann man die russischen Gräueltaten an einigen Hundert Zivilisten in Butscha als Völkermord bezeichnen und gleichzeitig die Wolhynienmassaker abstreiten oder behaupten, dass das ukrainische Abschlachten Zehntausender polnischer Zivilisten kein Völkermord, sondern höchstens eine weitere Ausprägung „ukrainisch-polnischer Zwistigkeiten” war.

Vor zwanzig Jahren hatte es den Anschein, als wäre die offizielle Ukraine bereit, sich in Sachen Wolhynien mit der Wahrheit zu messen. Im wolhynischen Pawliwka, dem früheren polnischen Poryck, wo im Juli 1943 ukrainische „Freiheitskämpfer” 222 Polen bestialisch ermordet hatten, sagte Staatspräsident Aleksander Kwaśniewski, neben ihm der ukrainische Präsident Leonid Kutschma: „Kein Ziel oder Wert, selbst ein so hehres wie die Freiheit und Souveränität einer Nation, kann Völkermord, das Abschlachten von Zivilisten, Gewalt und Vergewaltigung, das Zufügen von grausamen Leiden an Mitmenschen rechtfertigen“. Und er fügte hinzu, dass nicht das gesamte ukrainische Volk für dieses Verbrechen an den Polen verantwortlich gemacht werden könne.

„Wir wollen unsere Versöhnung auf der Wahrheit aufbauen: das Gute als gut und das Böse als böse bezeichnen“, diese Worte Kwaśniewskis aus dem Jahr 2003 muss man den ukrainischen Verantwortlichen von heute wieder in Erinnerung rufen. Und warten.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 12.März bis 8.April 2023

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Vor den Parlamentswahlen im Oktober 2023. Regierungspartei liegt vorn. Keine gemeinsame Wahlliste der Opposition. Donald Tusk baut ausschließlich auf Emotionen ♦ Wie könnte sich ein Machtwechsel im Herbst auf die polnische Außenpolitik auswirken? ♦ Ist Polens im Zuge des Ukraine-Krieges gewachsene internationale Bedeutung auf die Dauer zu halten?




Polen oder die Freiheit, mit Bargeld zu zahlen

Bis jetzt wird sie erfolgreich verteidigt.

Unter den vielen Gedenk- und Aktionstagen, die es auch in Polen gibt, wird am 16. August der Tag des Bargeldes begangen. Im Jahr 1794 wurden an diesem Datum die ersten polnischen Banknoten in Umlauf gebracht.

Die Umstände waren, wie so oft in der polnischen Geschichte, dramatisch.  Seit Mitte März 1794 kämpfte das russisch besetzte Restpolen um seine Existenz. Unter der Führung von General Tadeusz Kościuszko stellte sich das gemeine Stadt- und Landvolk an der Seite der wenigen regulären Truppen gegen die preußische, russische und österreichische Übermacht. Vorausgegangen war die zweifache (1772 und 1793) Zerstückelung Polens durch Preußen, Russland und Ӧsterreich (1.Teilung) sowie Preußen und Russland (2. Teilung).

Unter den ersten polnischen Banknoten war auch ein Einzlotyschein

Nach einigen wenigen gewonnenen Schlachten geriet der Aufstand immer mehr in die Defensive. Mitte Juli 1794 begann die zweimonatige, vorerst erfolgreich abgewehrte preußisch-russische Belagerung Warschaus. Weil es in der Stadt kein Gold und Silber mehr gab, um Münzen zu prägen, ließ der Oberste Nationale Rat Banknoten im Wert von 5 und 10 Groszy sowie 5, 10, 25, 50, 100, 500 und 1000 Zloty drucken. Insgesamt waren damals knapp elf Millionen Papierzloty, „gedeckt durch nationale Güter”, wie es hieß, in Umlauf und gewährleisteten so den Zahlungsverkehr.

Den ersten polnischen Banknoten war nur ein kurzes Dasein beschieden.  Auf die Niederlage und Kapitulation des Aufstandes im November 1794 folgte im Januar 1795 die dritte Teilung und damit das staatsrechtliche Ende Polens für 123 Jahre.

Die zum Portemonnaie greifende Minderheit und ihre Rechte

Am Tag des Bargeldes gibt es keine Feierlichkeiten, aber er bietet bargeldfreundlichen Politikern und Medien die Gelegenheit, auf die Notwendigkeit hinzuweisen, möglichst alle Münzen und Scheine in vollem Umfang beizubehalten. Das ist erforderlich, denn auch in Polen gibt es immer wieder viel diskutierte Überlegungen und Vorstöße gegen das Bargeld.

Im Jahr 2022 wurden in Polen 52,9 Prozent aller Zahlungen im Einzelhandel mit Karte und 46,4 Prozent bar getätigt. Somit befindet sich die elektronische Zahlungsweise eindeutig auf dem Vormarsch, umso mehr aber pocht die vorzugsweise zum Portemonnaie greifende Minderheit auf ihre Rechte.

Bargeldverteidigung. Plakat

Aus ihrer Sicht wird mit jeder Bargeldreduzierung dem Bürger die Möglichkeit geraubt, sich staatlicher Kontrolle zu entziehen. Bargeldtransaktionen schützen die Privatsphäre. Banknoten und Münzen sind außerdem die einzigen Geldformen, die ohne einen Vermittler gehalten werden können. Mit ihnen bezahlt man nicht nur in Echtzeit, sondern hat auch ständig die Kontrolle darüber, wie viel Geld ausgegeben wird. Es gibt keine bessere Art, finanzielle Disziplin zu üben, als zu sehen, wie die Geldbörse immer dünner wird.

Bargeldverteidigung. Buch. Titel: „Bargeld ist Freiheit“ Darunter: „Warum lohnt es sich, mit Bargeld zu bezahlen und elektronisches Zahlen einzuschränken?“. Autor: Rafał Ganowski.

An eine völlige Abschaffung des Bargeldes wird in Polen zwar nicht gedacht, sehr wohl gibt es aber immer wieder amtliche und privatwirtschaftliche Ideen, die zu einer schleichenden teilweisen Verdrängung des Bargelds führen würden.

Die Kleingelddebatte

Bereits 2009 und 2013, zu Zeiten der Tusk-Regierung, erwog die damalige Leitung der Polnischen Nationalbank (NBP), die Ein-, Zwei- und Fünfgroszymünzen aus dem Umlauf zu nehmen. Die Herstellungskosten überstiegen ihren Nominalwert. Den Menschen seien sie angeblich nur lästig, zu Hause wurden sie in Gläsern, Dosen, Kästchen und Schachteln gehortet. Die kleinen Münzen verschwinden zudem massenhaft auf Nimmerwiedersehen in Ritzen, Schlitzen, Fugen und Spalten von Möbeln, Autos und Gehwegen.

Angesichts der vielen „krummen Preise” bemängelt der Einzelhandel jedoch immer wieder das Fehlen des Kleingeldes. Allein im Jahr 2022 hat die Nationalbank 319 Millionen Eingroszy-, 42 Millionen Zweigroszy- und 109 Millionen Fünfgroszymünzen nachgeliefert. Geschätzt müssten allein 5,5 Milliarden Eingroszymünzen im Umlauf sein, doch ein beachtlicher Teil davon schlummert dauerhaft in den Haushalten und in der Natur vor sich hin.

In der damaligen Kleingelddebatte wurde auch auf die Beispiele Tschechiens, der Slowakei (noch vor der Einführung des Euro) und Ungarns verwiesen. Die Tschechen rangierten zwischen 2003 und 2007 ihre Zehn-, Zwanzig- und  Fünfzighellermünzen aus, die Slowaken die ersten beiden und die Ungarn alle Filler- sowie die Ein- und Zweiforintmünzen.

Letztendlich überwog in Polen die Angst davor, der Handel würde massenweise die Preise aufrunden und so die Inflation befeuern. Um Kosten zu sparen, ersetzt die Nationalbank seit März 2014 bei der Herstellung des kleinsten Hartgeldes das teure Manganmessing durch messingbeschichteten Stahl, ohne das Aussehen der Münzen zu verändern.

Wer bar bezahlte, sollte Schuldgefühle haben

Bis Ende 2015 wurde von offizieller Seite der bargeldlose Zahlungsverkehr eindeutig bevorzugt. Vorhaben des Handels, der Banken und verschiedener Dienstleister, durch Einschränkungen und Nachteile die „uneinsichtige” Bargeldkundschaft von ihrem „leidigen” Hang abzubringen, wurden von staatlicher Seite wohlwollend hingenommen, obwohl heute noch knapp 60 Prozent aller über sechzigjährigen Polen keine Kreditkarten benutzen.

Bargeldverteidigung. Plakat. Oben: „Lasst uns das Bargeld verteidigen“. Darunter (1. Handyzeile): „Bank Deiner Zukunft“, links unten „Konto gesperrt“, rechts unten Name des Inhabers: „Jan Sklave“

Unter diesem Trend zu leiden hatten vor allem ältere, arme, weniger gebildete Menschen, die zum Beispiel nicht mehr wie früher ihre Mieten, Gas- und Stromrechnungen direkt und ohne Provision an den Schaltern der Wohnungsgenossenschaften bezahlen konnten. Diese Schalter wurden geschlossen und wer online zahlte, bekam einen Rabatt. Kunden ohne Karte und Homebanking konnten sich an den Postschaltern anstellen, wo für jede Überweisung hohe Gebühren kassiert werden. Hier und da gab es Geschäfte, die Kartenzahlern kleine Rabatte einräumten, und solche, die sie am Eingang ausdrücklich willkommen hießen. Wer bar bezahlte, war lästig, sollte womöglich Schuldgefühle haben.

Die Bargeldbefürworter und ihre Erfolge

Die Lage änderte sich nach dem Wahlsieg der Nationalkonservativen im Herbst 2015 und der Wahl ihres Kandidaten, Prof. Adam Glapiński im Juni 2016 zum Präsidenten der Polnischen Nationalbank. Glapiński ist ein eindeutiger Bargeldbefürworter. Während die Europäische Zentralbank den Fünfhunderteuroschein aus dem Verkehr zog, brachte Glapiński Anfang 2017 den Fünfhundertzlotyschein in Umlauf. Immer wieder sprach er sich auch gegen die Benachteiligung von Bargeldzahlern aus.

Nationalbankpräsident Adam Glapiński

Gekrönt wurde Glapińskis Engagement durch eine von ihm angeregte Novelle zum Finanzdienstleistungsgesetz (Ustawa o usługach płatniczych), die der Sejm im August 2021 verabschiedete.

Sie besagt:

  1. Der Verkauf von Waren und Dienstleistungen darf nicht von einer bargeldlosen Zahlung abhängig gemacht werden.
  2. Die Annahme einer Barzahlung bis zu 5.400 Zloty (ca. 1.200 Euro – Anm. RdP) darf nicht verweigert werden.
  3. Es dürfen keine Gebühren auf Barzahlungen erhoben und keine Preisunterschiede zwischen Bar- und Kartenzahlungen gemacht werden.

Ausnahmen sind: Geschäfte im Internet, Orte, an denen ein Verkauf ohne Personal stattfindet, Massenveranstaltungen, bei denen vorher auf die Ausschließlichkeit bargeldloser Zahlungen hingewiesen wurde.

Einen weiteren Sieg konnten die Bargeldbefürworter Mitte Juni 2023 davontragen. Im umfangreichen Regelwerk zu einem Wirtschaftsförderungsprogramm brachten Beamte des Finanzministeriums Ende 2022 diskret zwei Bestimmungen unter, die die Verwendung von Bargeld deutlich eingeschränkt hätten.

Justizminister Zbigniew Ziobro setzt sich für das Bargeld ein

Zum einen sollte das Limit für Bargeldgeschäfte von 15.000 Zloty (ca. 3.300 Euro) auf 8.000 Zloty (ca. 1.800 Euro) gesenkt werden. Zum anderen war geplant, bei Geschäften, deren Gesamtwert 20.000 Zloty (ca. 4.400 Euro) übersteigt, auch wenn die Zahlungen regelmäßig unbefristet getätigt werden (z.B. beim Mieten von Wohnungen), nur das Zahlen per Überweisung, Dauerauftrag oder Einzugsermächtigung zu erlauben.

Das Vorhaben rief Justizminister Zbigniew Ziobro auf den Plan. Auf sein Betreiben wurden beide Bestimmungen bei der Verabschiedung des Förderprogramms durch den Sejm verworfen. Die alten Limits blieben in Kraft.

Plakat. „Verteidige das Bargeld“.

Auch in Polen erheben sich zahlreiche Stimmen, das Recht auf Bargeldzahlungen in der Verfassung zu verbriefen und so dem Beispiel der benachbarten Slowakei zu folgen, die den Euro seit 2009 als Zahlungsmittel verwendet. Das Land macht sich Sorgen, die geplante Einführung des digitalen Euro könnte der Anfang vom Ende des Bargeldes sein. Doch beim genaueren Hinschauen erweist sich das slowakische Vorbild als sehr fraglich. Denn es wurde dort eine Verfassungsbestimmung geschaffen, die sich selbst widerspricht. Während das Recht des Käufers auf Barzahlung geschützt wird, wird zugleich dem Verkäufer die Möglichkeit eingeräumt, die Annahme von Bargeld aus legitimen Gründen, die sich sehr weit auslegen lassen, zu verweigern.

Ob Ӧsterreich und die Schweiz, wo es ähnliche Absichten gibt, es besser machen werden? In Polen jedenfalls ist an eine Verfassungsänderung vorerst nicht zu denken. Die „totale” Opposition, wie sie sich selbst nennt, die aus Prinzip wahl- und ausnahmslos alles, was die nationalkonservative Regierung tut, ablehnt, würde auch in diesem Fall die Zusammenarbeit verweigern. Und für eine Verfassungsänderung braucht es auch in Polen eine Zweidrittelmehrheit.

Tatsache bleibt, dass die Freiheit, mit Bargeld zu bezahlen, ein kostbares Gut ist, das man wachsam im Auge behalten muss. Wie zum Beispiel in Polen.

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© RdP




Auswanderer. Polen hat sie wieder

Was für die Heimkehr spricht.

Die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache. Seit 2020 sind unter anderem 30.000 Polen aus Irland, 40.000 aus Spanien, 50.000 aus Italien und 300.000 aus England in die Heimat zurückgekehrt.

Die verstärkte Rückkehrwelle macht sich auch in den Personalabteilungen polnischer Unternehmen und Institutionen bemerkbar. „Ich bearbeite Bewerbungen in einer großen öffentlichen Einrichtung, und wir hatten noch nie so viele Anfragen von Menschen, die aus dem Ausland zurückkehren. Das ist bereits ein Trend“, zitierte die Zeitung „Dziennik” im Juli 2023 eine Warschauer  Personalchefin.

Nach dem EU-Beitritt 2004 haben etwa 2,5 Millionen Menschen Polen auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand verlassen. Armut, Wohnungsmangel, hohe Arbeitslosigkeit, karge Löhne, fehlende Sozialleistungen und ein Arbeitsmarkt, auf dem Leiharbeit, Zeitverträge und die Scheinselbstständigkeit vorherrschten, ließen ihnen oft keine Wahl. Das Polen der Neunziger- und Nuller-Jahre war ein raubkapitalistisches Eldorado, wie es im Buche steht.

Inzwischen ist der Westen für viele polnische Emigranten nicht mehr attraktiv genug, um ein Leben in der Fremde zu führen. Sie werden angezogen von der guten Lage auf dem heimischen Arbeitsmarkt (Mai 2023: 2,7 Prozent Arbeitssuchende laut Eurostat), von den deutlich gestiegenen Löhnen und neuen Sozialleistungen. Die immer noch höheren Löhne im Westen werden inzwischen durch die erheblich gestiegenen Lebenshaltungskosten gemindert. Es bleibt kaum etwas übrig, um es auf die hohe Kante zu legen oder der Familie in der Heimat zu schicken.

Viele der Rückkehrer kamen zudem mit der Mentalität der vielen Migranten aus Afrika und dem Mittleren Osten nicht mehr klar, mit denen sie an ihren Wohnorten zusammenlebten. Nicht wenige sorgten sich um ihre Kinder in Anbetracht der ausschweifenden LGBT-Präsenz im öffentlichen Raum und im Schulwesen.  Die Rückkehr wird auch durch die Erlebnisse während der Pandemie beeinflusst, als die Trennung von geliebten Menschen besonders schmerzhaft war. Viele wollen so etwas in Zukunft nicht mehr erleben.

Ein harter Job

Marcin und seine Frau Maria hatten eine mittelgroße Firma, die Hotels, Privatwohnungen und Büros reinigte. Ihr Spezialgebiet waren Teppiche, Polstermöbel, Matratzen und Stoffe aller Art. Ursprünglich aus Lublin stammend, beschlossen sie vor mehr als einem Jahrzehnt auf Anregung von Freunden, ihr Unternehmen in England zu gründen.

„Verlockend waren vor allem Einnahmen, die höher waren als in Polen. Wir hatten immer im Sinn, jeden Monat etwas Geld zu sparen und eines Tages damit in die Heimat zurückzukehren. Die Preise für Dienstleistungen waren tatsächlich besser, und es gab auch viel mehr zu tun als an ähnlichen Orten in Polen. Es war einfach schmutziger, manchmal konnten wir uns nur schwer vorstellen, wie eine Wohnung in einen solchen Zustand gebracht werden konnte. In den Unterkünften in England sind viel mehr Menschen untergebracht als in Polen. Sie kommen  aus der ganzen Welt und  nehmen es oftmals mit der Hygiene weniger genau“, sagt Marcin. Auch die Arbeitsatmosphäre sei viel schlechter als in Polen. Die Briten brachten sehr deutlich zum Ausdruck, dass sie Außenseiter waren und nicht zu ihnen gehörten.

„Für mich war die Zahl der Migranten dort immer ein Problem. Außerdem war es nicht nur in den Wohnungen oder Hotels, die wir reinigten schmutzig, sondern auch auf den Straßen und in den Höfen. Nur die Zentren, die Innenstädte, sind gepflegt, der Rest ist weit mehr heruntergekommen als in Polen. Und welcher in England arbeitende Pole kann es sich leisten, eine Wohnung im Zentrum zu mieten? Wir wohnten in einem heruntergekommenen Außenbezirk der Stadt. Dort lebten auch Engländer, aber man sah vor allem Afrikaner, Inder und Araber auf den Straßen. Das war mir einfach nicht geheuer“, erinnert sich Maria.

Sie gingen 2013 nach England und kehrten Ende 2022 nach Polen zurück. „Wir hatten schon immer geplant, zurückzukehren. Allerdings wurde unsere Rückkehr durch die Pandemie beeinflusst, die unsere berufliche Tätigkeit zum Erliegen brachte und die Lebenshaltungskosten in die Höhe trieb, wir zahlten immer mehr Miete“, berichtet Marcin. „Unsere monatlichen Ausgaben stiegen um bis zu 800 Pfund pro Person.”

„Die derzeitigen Lebenshaltungskosten in Großbritannien erlauben es den Polen nicht, Ersparnisse beiseitezulegen, sodass es keinen Sinn macht, dort zu arbeiten, denn das Geld war eigentlich das Einzige, was uns und die meisten unserer Bekannten nach England lockte. Alles andere ist aus meiner Sicht eher von Nachteil, ich würde dort niemals dauerhaft leben wollen“, sagt Marcin. Er fügt hinzu, dass Auswandern in der Regel mit harter Arbeit verbunden ist. Und selbst wenn das Geld dafür entschädigt, hat man oft nicht die Kraft, noch etwas anderes zu tun, einmal das Land zu erkunden, in dem man sich befindet, soziale Kontakte zu knüpfen usw. Es ist unmöglich, auf Dauer so zu leben.

Flucht vor der Diktatur

Zofia lebte 28 Jahre lang in Kanada, ihr Mann 30 Jahre. Sie arbeiteten beide im Gesundheitswesen, sie als Krankenschwester, er als Krankenpfleger. Jahrelang führten sie in Kanada ein finanziell komfortables Leben. Die Gehälter waren hervorragend, dazu kamen zahlreiche Vergünstigungen. Dieses komfortable Leben wurde durch die Pandemie beendet.

„Der unmittelbare Grund, weshalb wir nach Polen zurückkehrten, war, dass wir uns nicht gegen Covid impfen lassen wollten. Uns drohte der Verlust des Arbeitsplatzes, unsere Tochter und unser Sohn konnten ohne die Impfung ihr Studium nicht fortsetzen, und unsere jüngste Tochter hätte nicht an außerschulischen Aktivitäten wie Schwimmen oder Volleyball teilnehmen können“, sagt Zofia.

„Wir wissen viel über die Viren, unsere ganze Familie hat Covid durchgemacht, meinen Mann hat es hart getroffen, aber wir haben alle überlebt, und wir haben beschlossen, dass die Impfung für uns keinen Sinn macht. Wir hatten nicht das Gefühl, dass es aus gesundheitlichen Gründen notwendig ist, wir wollten unsere Gesundheit nicht riskieren, denn wir kannten Menschen, bei denen es nach der Impfung zu Komplikationen kam oder die dadurch sogar gestorben sind. Wir hatten Familie in Polen, jemanden, zu dem wir zurückkehren konnten. Wir verkauften, was nicht nach Polen gebracht werden konnte, nahmen den Rest unserer Sachen mit nach Hause und begannen ein neues Leben“, berichtet Zofia.

Sie sagt, die Pandemie entblößte das wahre Gesicht der kanadischen Regierung. Für viele Polen war das ein Weckruf, sie erkannten, dass sich die Regierung zu sehr in das Leben der Menschen einmischt und versucht, die Bürger zu kontrollieren. Bisher war es ihr und ihrem Mann gelungen, die Familie und ihre Kinder zu schützen, z. B. vor dem Druck der Gender-Ideologie, aber in der Frage der Impfung beschloss die Regierung, Zwang anzuwenden. Die meisten ihrer Freunde haben sich impfen lassen, einige haben ihren Arbeitsplatz verloren, andere haben von sich aus aufgegeben.

„In Kanada haben sich diese ideologischen Veränderungen schrittweise vollzogen, wir haben uns an viele Dinge langsam gewöhnt, die für viele alltäglich geworden sind. Wir haben unsere eigenen Ansichten, und so haben wir auch unsere Kinder erzogen, aber die Gender-Ideologie und die frühe, oft ziemlich rabiate Sexualisierung der Kinder ließ sich sogar in einer katholischen Schule nicht vermeiden, wo im Juni neben der kanadischen Flagge immer eine Regenbogenfahne auf dem Dach wehte“, erzählt Zofia.

„Als ich im Sommer 2021 an den Protesten gegen die Impfpflicht in Kanada teilnahm, traf ich eine Lehrerin, die kurz davor war, ihre Stelle an der Schule zu kündigen, weil das, was die Regierung in das Bildungssystem einführen wollte, im Widerspruch zu ihren Überzeugungen stand und sie es nicht mehr unterrichten konnte. Eine andere befreundete Lehrerin erzählte mir, dass die Vermittlung der Gender-Ideologie in den öffentlichen Schulen mehr Gewicht hat als der Mathematik- oder Englischunterricht”, erinnert sich Zofia.

Das erste Jahr nach ihrer Rückkehr nach Polen war schwierig, denn es galt, einen Job und eine Wohnung zu finden, aber sie schafften es, alles unter Dach und Fach zu bringen. Heute haben Zofia und ihr Mann Arbeit und fühlen sich in Polen zu Hause. Hier denken die meisten Menschen wie sie, und so erziehen sie auch ihre Kinder. Auch Zofias Kinder, einschließlich der bereits erwachsenen, denen die Eltern ihre Entscheidung freigestellt hatten, wo sie leben wollten, haben den Weg zurück nach Polen gefunden.

Bekannte, zu denen sie viele Jahre lang keinen Kontakt hatten, sind ebenfalls aus Kanada nach Polen zurückgekehrt und leben jetzt nur 20 Kilometer von ihnen entfernt. So führt das Schicksal zerbrochene Bande wieder zusammen. „Ich glaube, dass alles, was in meinem Leben geschieht, nicht dem Zufall, sondern der Vorsehung zu verdanken ist und meinem Wohl dient. Und so ist es auch mit unserer Rückkehr nach Polen“, schließt Zofia.

Kindererziehung in Polen

Anna und ihr Mann lebten 17 Jahre lang in England, zuerst fand ihr Mann dort Arbeit, dann sie. Sie hatten nicht geplant, so lange im Ausland zu leben, aber es ergab sich anders. „Wir sind vor einem Jahr nach Polen zurückgekehrt, und der unmittelbare Grund waren die Kinder. Wir wollten sie dort nicht großziehen – wegen der völlig anderen Kultur und Mentalität. Britische Realität ist, dass es schwierig ist, Kinder im Glauben zu erziehen. Unsere älteren Töchter gingen zur Schule und hatten Religionsunterricht, aber in diesem Fach wurden alle Religionen in einen Topf geworfen und als eine Option unter verschiedenen Legenden und Märchen behandelt. Wir sind auch wegen der Familie, die in Polen lebt, zurückgekommen“, sagt Anna.

Die Anpassung an die Heimat nach so vielen Jahren der Abwesenheit fiel ihr leicht. Sie und ihr Mann hatten immer geplant zurückzukehren. „Wir haben uns beide in England nicht wohlgefühlt, also verlief die Rückkehr problemlos“, berichtet Anna.

Sie und ihre Familie waren in ihrer Gegend in England bei Weitem nicht die einzigen Polen, die heimkehrten. „Wir hatten acht Jahre lang eine Wohnung von Engländern gemietet, die acht Wohnungen besaßen und sie alle an Polen vergeben hatten, weil sie überwiegend gute Erfahrungen mit ihnen gemacht haben. Als wir abreisten, räumten alle Polen ihre Wohnungen und kehrten in die Heimat zurück“, erinnert sich Anna. Der britische Vermieter fragte sogar, ob die Polen noch auf die Inseln kommen würden, aber das ist in absehbarer Zeit eher unwahrscheinlich. Wegen des Brexits ist es einfacher, in der EU zu arbeiten, und der Verdienst in England ist nicht mehr so attraktiv wie früher. Ähnliche Summen lassen sich auch anderswo verdienen, sogar in Polen.

Anna ist mit ihrer Familie von England nach Rzeszów gezogen. Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, fragte die Lehrerin ihrer Tochter, ob sie Angst hätten, so nahe an der Grenze zu leben. Aber ihrer Meinung nach ziehen es die Menschen in solchen Situationen vor, näher bei ihrer Familie zu sein, nicht weit weg, um sich nicht ständig fragen zu müssen, was mit ihren Angehörigen passiert. Das ist auch ein Beweggrund, der die Entscheidung zur Heimkehr beeinflussen kann.

Dieser Trend zur Rückkehr ist eine Chance, das Schrumpfen der polnischen Gesellschaft zu stoppen. Nach dem EU-Beitritt verließen 180.000 Menschen die Woiwodschaft Podlachien an der litauischen Grenze (10 Prozent der Bevölkerung) und 110.000 die Woiwodschaften Vorkarpatenland an der ukrainischen Grenze und Ermland-Masuren an der Grenze zum Kaliningrader Gebiet (8,5 bzw. 7,5 Prozent).

Das beste Mittel gegen Auswanderung ist, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass junge Polen dauerhaft in ihrem Heimatland bleiben wollen. Teilweise ist das bereits passiert, aber es gibt noch viel zu tun.

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Polen kleinhalten. Das Ringen an Oder und Neisse

Wie Deutschland sämtliche polnische Modernisierungsvorhaben torpediert.

Dass es einen starken Interessenkonflikt zwischen Polen und Deutschland gibt, lässt sich am deutlichsten an Oder und Neiße erkennen. Entlang dieser Flüsse verläuft die Linie einer der schärfsten Auseinandersetzungen innerhalb der Europäischen Union. Vom Ausgang dieses Ringens hängt die zukünftige Stellung Polens in Europa ab.

Am 25. März 2022 wurde in Gdańsk/Danzig der Verein „Ostsee-SOS“ registriert. Sein Ziel ist, „die natürlichen Küstengebiete gegen die Bedrohung durch nukleare Infrastruktur zu verteidigen“.

In Anbetracht der Tatsache, dass in Choczewo, einem pommerschen Dorf auf halbem Weg zwischen Karwia/Karwen und Łeba/Leba, das erste Kernkraftwerk Polens mit amerikanischer Technologie gebaut werden soll, liegt der Schluss nahe, dass das Ziel von „Ostsee-SOS” darin bestehen wird, den Bau des Kraftwerks zu verhindern.

Deutsche Medien, deutsche Behörden, deutsche Aktivisten, deutsches Geld

Während in Polen, abgesehen von der unmittelbaren Nachbarschaft des geplanten AKW, niemand von dem etwa zwanzig Mitglieder zählenden Verein Kenntnis genommen hat, erlangte er in Deutschland bereits landesweite Berühmtheit. Das ARD-Fernsehen, die Berliner Zeitung, der Deutschlandfunk, die TAZ und etliche andere deutsche Medien berichten in gewohnter Manier von „Angst”, „Protest”, „Befürchtungen” und dem „Kampf” der Umweltaktivisten, die sich beim genaueren Hinsehen fast ausnahmslos als die knapp zwei Dutzend Eigentümer von Ferienhäusern und Wohnungen entpuppten. Sie machen sich verständlicherweise Sorgen um ihre Investitionen, während die Kommunalpolitiker und die meisten Einwohner darauf hoffen, dass der AKW-Bau ihnen z.B. die lang ersehnte Kanalisation beschert.

„Ostsee-SOS“-Protest. Ein kleiner Verband, in Deutschland berühmt, in Polen kaum bekannt

Die deutsche Medienattacke geht einher mit einer unverblümten offiziellen Drohung, die der „Tagesspiegel” so betitelte: „Vier Bundesländer schreiten ein: Polen will Atomkraftwerk an der Ostsee bauen. Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen wollen das Vorhaben stoppen”. Dass man es ernst meint und dass es sich hier um eine konzertierte Aktion handelt, davon zeugen die Beteuerungen deutscher Aktivisten, ihr Know-how beizusteuern und selbstverständlich an den Blockaden der künftigen Baustelle teilzunehmen. Hinzu kommen erste Andeutungen, dass deutsche Umweltorganisationen Vereine wie den „Ostsee-SOS” mitfinanzieren wollen.

Polnische AKW-Pläne. Deutsche Darstellung

Doch nicht nur in Choczewo fährt Deutschland die geballte Kraft seiner Möglichkeiten gegen polnische Modernisierungsvorhaben auf. Die heute noch bescheidene „Ostsee-SOS”, die deutscherseits aufgepäppelt werden soll, ist eng mit der Initiative „Rettet die Oder“ verbunden. Letztere arbeitet mit der finanzmächtigen deutschen Umweltorganisation BUND zusammen. Ihre Mitglieder blockieren gemeinsam mit polnischen Umweltaktivisten seit einiger Zeit die Wiederherstellung der Binnenschifffahrt auf der Oder.

Deutsche Aktivisten gegen polnische AKW. Frankfurt Oder im Juli 2021

Alle Wege führen nach Deutschland

Worum geht es? Die Oder ist ein sehr attraktiver Schifffahrtsweg, der genutzt werden kann, um Fracht aus Schlesien und Tschechien zu den Häfen von Szczecin/Stettin und Świnoujście/Swinemünde zu befördern. Ein mittelgroßer Lastkahn kann 500 Tonnen Ladung an Bord nehmen, die sonst auf etwa 25 Schwerlastwagen transportiert werden. Und da Binnenschiffe in der Regel nicht allein, sondern im Verband fahren, muss diese Zahl noch multipliziert werden. Die Vorteile der Binnenschifffahrt liegen also auf der Hand: Die Verringerung des Lkw-Aufkommens auf den Straßen wirkt sich auf die Sicherheit, die Umwelt und auch auf die Kosten aus, denn für den Transport von vielen Hunderten Tonnen Ladung sind nur wenige Binnenschiffsbesatzungen anstelle von Dutzenden von Fahrern erforderlich. Der Nachteil ist die Geschwindigkeit, aber bei Schwertransporten, z.B. von Rohstoffen, Zuschlagstoffen und Baumaterialien, ist das nicht so wichtig.

Vor einem halben Jahrhundert wurden auf der Oder jährlich mehrere Millionen Tonnen an Gütern transportiert. Mit dem Ende des kommunistischen Polens begann die Nutzung der Oder jedoch zu sinken. Einer der Gründe dafür war die Vernachlässigung der Wasserstraßen, die ebenso wie die Straßen an Land einer ständigen Pflege bedürfen. In diesem Fall: die Vertiefung der Fahrrinne, Wartung der Anlagen, Schleusen usw. Es stellt sich natürlich die Frage, inwieweit diese Vernachlässigung eine Begleiterscheinung des schlechten Zustands war oder inwieweit sie beabsichtigt war.

In den 1990er-Jahren und im darauffolgenden Jahrzehnt wurde Polen allmählich zu einem Reservoir billiger Arbeitskräfte für die größten EU-Länder, allen voran Deutschland, was erhebliche infrastrukturelle Veränderungen mit sich brachte. Welchen Sinn hatte die Aufrechterhaltung von Nord-Süd-Verkehrswegen (und die Oder ist einer davon), wenn fast der gesamte polnische Handel und Transit in Ost-West-Richtung verlief? Waren wurden von Polen nach Deutschland und zurück sowie zwischen Deutschland und Russland und den postsowjetischen Staaten transportiert.

Der Zusammenbruch des Nord-Süd-Verkehrs war daher ein deutlicher Hinweis auf den Verlust der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Polens und die Unterordnung der polnischen Verkehrsinfrastruktur unter die Bedürfnisse unserer stärkeren EU-Partner. Daher wurden vor allem die durch Polen verlaufenden Ost-West-Strecken neugebaut und modernisiert. Das waren die Autobahnen A2 und A4, deren fehlende Abschnitte unter der Regierung Tusk in aller Eile fertiggestellt wurden. Eine solche Politik verschärfte Polens infrastrukturelle Nachteile, mit all ihren Folgen für seine gesamte Wirtschaft.

Nur über Hamburg

Polens Flüsse hingegen fließen nicht quer durch das Land, und so ist es nicht verwunderlich, dass die Binnenschifffahrt praktisch ausgestorben ist. Mit dem zunehmenden Stillstand auf der Oder begann das Sterben des Stettiner Hafens und machte die einst  prosperierende Hafen- und Schiffbaustadt zu einem armen Vorposten Berlins. Swinemünde hat dank seiner Lage am offenen Meer, einem kleinen Marinehafen und einem Terminal, von dem aus regelmäßig Fähren nach Schweden verkehren, überlebt.

Die Bedeutung von Świnoujście nahm zu, nachdem auf Wolin 2016 ein Flüssiggashafen fertiggebaut worden war. Nur wenige erinnern sich heute an die heftigen deutschen Proteste gegen diese strategische Investition. Zu den Einwänden gehörten sogar die angeblichen Schäden, die der Gashafen mecklenburgischen Vögeln und Fledermäusen zufügen würde. Vordergründig ging es um Fledermäuse, in Wirklichkeit um die Nord-Stream-Pipeline-2, die zur gleichen Zeit gebaut wurde. Der Gashafen Świnoujście stand in direkter Konkurrenz zu den russischen Gaslieferungen.

Die Deutschen warfen Polen außerdem vor, dass schwere Gastanker die unterseeische Pipeline beschädigen könnten, lehnten aber eine Ausbaggerung der Wasserstraße kategorisch ab. Auf diese Weise versuchte Berlin die polnischen Investitionen so weit wie möglich zu verzögern, was wahrscheinlich auch das langsame Tempo der Arbeiten am Gashafen unter der Regierung Tusk erklärt.

Der Wechsel in der polnischen Politik nach der Machtübernahme der Nationalkonservativen im Jahr 2015 bestand darin, eine starke polnische Eigenständigkeit aufzubauen, was zwangsläufig bedeutete, dass man sich von der früheren Abhängigkeit von deutschen Interessen lösen musste. Die ständigen Einwände Berlins konnten die Entwicklung des Landes nicht mehr aufhalten. Das galt auch für die Oder und die Häfen von Stettin und Swinemünde.

Im Jahr 2008 veröffentlichte das Europäische Parlament einen Bericht mit dem Titel „Die sich wandelnde Rolle der EU-Seehäfen in der globalen maritimen Logistik – Kapazitäten, Herausforderungen und Strategien”. In diesem Bericht wurden die fünf wichtigsten Häfen der Union aufgeführt: Rotterdam, Antwerpen, Hamburg, Marseille und Amsterdam.

Nicht ohne Grund unterhält der Hafen Hamburg seit knapp dreißig Jahren eine Repräsentanz in Warschau

Der deutsche Hafen Hamburg wurde als der wichtigste in Mittel- und Osteuropa aufgeführt. Hamburg sollte der Umschlagplatz für den gesamten Seeverkehr in die Ostseegebiete werden. Waren aus Fernost und den USA sollten zunächst auf Riesen-Containerschiffen nach Hamburg gebracht werden und von dort aus mit kleineren Schiffen in die Ostseehäfen transportiert werden. Der Großteil der Ladungen gelangte jedoch auf Lkws in den Osten.

Die polnischen Ostseehäfen Swinemünde, Stettin und Danzig sollten als sogenannte Zubringerhäfen nur noch Empfänger kleinerer Ladungen aus Hamburg sein. Hamburg sollte zu einer maritimen Drehscheibe aufsteigen und Deutschland, als Vermittler für den Weitertransport von Waren in die Ostsee, Geld verdienen.

So gesehen überrascht es nicht, dass die polnische Entscheidung zum Ausbau des Hafens Szczecin-Świnoujście, die mit der Einrichtung eines Containerterminals in Świnoujście und der Vertiefung der Wasserstraße verbunden ist, in Deutschland eine große Welle des Widerstands auslöste.

Im benachbarten Mecklenburg-Vorpommern gab es sofort einen Aufschrei, weil die Hafenerweiterung und der zunehmende Schwerlastverkehr die Region ökologisch verwüsten und die Erholung in den Ostseebädern auf Usedom stören würden. Deutschland weigerte sich daher, die bestehende Wasserstraße, die teilweise auf seinem Territorium liegt und in den Hafen von Swinemünde führt, zu vertiefen. Die Aufnahme größerer Schiffe wurde somit unmöglich gemacht und der Sinn einer Erweiterung des Hafens von Swinemünde infrage gestellt.

Polen beschloss daraufhin eine neue Wasserstraße von Nordosten her abzustecken, die es den Schiffen ermöglichte, das umstrittene Gebiet zu umgehen, auf das die Deutschen schon seit DDR-Zeiten Anspruch erheben. Die Wasserstraße zwischen Swinemünde und Stettin wurde ebenfalls vertieft, sodass größere Schiffe in Stettin einlaufen können. Der Containerterminal in Świnoujście soll bis 2027 fertiggestellt werden, dann wird Polen nicht mehr auf die Umladungen in Hamburg angewiesen sein.

Die Blockade der Oder

Das deutsche Problem mit Stettin und Swinemünde ist jedoch vielschichtiger. Es geht nicht nur darum, dass die neuen Investitionen es ermöglichen, schwere Tiefseeladungen direkt nach Polen zu bringen und damit dem Hamburger Hafen Arbeit und Gewinne wegzunehmen.

Zwei Wasserwege: der Rhein und die Oder

Es ist die Oder, die genutzt werden könnte, um Güter zwischen Swinemünde und Schlesien sowie Süd- und Osteuropa zu transportieren. Wenn dieser Plan in Erfüllung geht, werden die deutschen Häfen und Logistikzentren nicht nur einen Großteil der polnischen Kunden verlieren, auf die sie bisher angewiesen waren, sondern auch einen großen Teil der Auftraggeber aus Ost-Mitteleuropa.

Das ist, so die Überzeugung in Warschau, der wahre Grund für die Hysterie, die im vergangenen Jahr an der Oder ausgebrochen ist. Gemeint ist die in Deutschland erfundene Behauptung, Polen habe eine Quecksilbervergiftung des Flusses verursacht. Diese Darstellung wurde sofort blindlings von den polnischen Lokalbehörden, die der oppositionellen Bürgerplattform nahestehen, aufgegriffen. Als sich später herausstellte, dass das Fischsterben durch die Algenentwicklung verursacht worden war, hat sich niemand entschuldigt.

Bauarbeiten an der Oder im Frühjahr 2023

Sterbende Fische und die ökologische Argumentation sollten die bereits laufende Vertiefung der Oder, die die Schifffahrt auf dem Fluss wieder ermöglichen soll, dauerhaft stoppen. Derzeit hat die Oder die niedrige Schiffbarkeitsklasse II; die Warschauer Behörden wollen sie auf die Klasse III, die Lastkähne mit bis zu 700 Tonnen zulässt, anheben. Deswegen werden auf polnischer Seite die Sporne, seit Jahrzehnten vernachlässigte Uferbefestigungen, modernisiert, um den Fluss schiffbar zu machen, seinen Strom zu kanalisieren und bei dieser Gelegenheit die Hochwassergefahr zu verringern.

Das ist nur der Anfang eines ehrgeizigen Plans zur Wiederherstellung der Binnenschifffahrt in Polen. Im Jahr 2016 ratifizierte Polen das AGN-Übereinkommen, eine europäische Vereinbarung über Hauptbinnenwasserstraßen von internationaler Bedeutung. Im Rahmen dieses Übereinkommens wurden technische Anforderungen für die drei wichtigsten Flussstraßen Polens festgelegt:

die E30 (die Oder von der Mündung in Richtung Schlesien mit einer möglichen Verlängerung über Kanäle bis zur Donau),

die E40 (von Danzig über die Weichsel, dann durch Weißrussland und die Ukraine bis zum Schwarzen Meer) und

die E70 (die die Oder über die Warta/Warthe und die Noteć/Netze mit der Weichsel verbindet).

Diese Wasserstraßen sollen der fünften Schifffahrtsklasse angehören, was mit erheblichen Kosten verbunden sein wird (z. B. Vertiefung und Verbreiterung der Fahrrinne und Vergrößerung der Durchfahrtshöhe unter den Brücken), aber gleichzeitig einen ununterbrochenen Schiffsverkehr ermöglichen wird. Und obwohl diese Pläne nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus politischen Gründen vorerst nicht umgesetzt werden können (so ist es heute schwer vorstellbar, eine Route durch Weißrussland und die Ukraine zu bauen), müssen ihre Entwürfe in Berlin Anlass zu ernster Sorge geben, weil sie wichtige regionale Handelsrouten auf polnische Häfen umzuleiten drohen.

Wahrscheinlich ganz zufällig, sind die Pläne zur Modernisierung der Flüsse seit mehreren Jahren Gegenstand der Kritik und der Proteste von Umweltaktivisten, insbesondere von solchen, die eng mit deutschen Organisationen zusammenarbeiten. Auch der umweltbewusste WWF kritisierte in seinem Bericht 2020 das Vorhaben zum Ausbau der immerhin sehr umweltfreundlichen Flussschifffahrt und schlug vor, besser auf die Schiene zu setzen. Und vielleicht wäre da auch etwas dran, aber wieso kämpft niemand in vergleichbarem Umfang gegen die ausgebauten Binnenwasserstraßen in Westeuropa, damit aus Rhein, Mosel und Spree endlich wieder naturbelassene Gewässer werden?

Der neue Zentrale Flughafen bei Łódź. Visualisierung

Der Kampf darum, wer im östlichen Teil Europas am Handel verdienen wird, dreht sich nicht nur um Seehäfen und Binnenwasserstraßen. Kaum jemand nimmt zur Kenntnis, dass es bei der aktuellen Auseinandersetzung auch um den in der Nähe von Łódź/Lodz zu bauenden neuen polnischen Zentralen Flughafen geht. Nicht nur der Personenverkehr und die Konkurrenz zum neuen Flughafen Berlin Brandenburg stehen zur Debatte. Von viel größerer Bedeutung ist das gleichzeitig entstehende Schienennetz, das sich an dem geplanten Flughafen zu einem riesigen Eisenbahnknotenpunkt bündeln soll.

Geplanter Eisenbahnknotenpunkt am künftigen Zentralen Flughafen (CPK) bei Łódż, der bis 2027 fertiggestellt werden soll

Zurzeit werden mehr als 60 Prozent der polnischen Luftfracht aus Asien und Amerika über deutsche Flughäfen wie Leipzig oder Frankfurt abgewickelt. Nach der Eröffnung des neuen polnischen Zentralen Flughafens droht diesen Flughäfen, dass sie Kunden aus Polen und einem großen Teil Ost-Mitteleuropas verlieren. Seine Schaffung und der Ausbau der polnischen Ostseehäfen bedrohen die deutsche Dominanz in Ost-Mitteleuropa. Und das ist der eigentliche Grund für den Aufschrei.

Ein rebellisches Rädchen

Die Zeit seit Herbst 2015 war für Polen eine Periode des schnellen Wachstums, trotz der Pandemie und der durch den Krieg in der Ukraine verursachten Krise. Das steht in krassem Gegensatz zu der Zeit von Donald Tusk (2007 bis 2015), als die gerade beschriebenen Großvorhaben rundweg als „unrealistisch” abgelehnt wurden. Damals ging es der polnischen Regierung jedoch hauptsächlich darum, die Interessen anderer zu befriedigen.

Es ist klar, dass eine solche Politik in Deutschland keine Begeisterung hervorruft. Denn Polen, das nur ein Rädchen in der deutschen Wirtschaftsmaschinerie und ein untergeordneter Vollstrecker von Anweisungen aus Berlin sein sollte, strebt plötzlich nach der Position eines gleichberechtigten Partners, entwickelt sich zum Rivalen. Kein Wunder, dass Deutschland um seine Interessen bangt, diese Entwicklung Polens auf unterschiedliche Weise blockiert, um sie zu verhindern.

Dabei ist es bemerkenswert, dass Berlin eine direkte Einmischung vermeiden möchte. Stattdessen nutzt es eine Vielzahl von Instrumenten – von den EU-Institutionen über die Medien bis hin zu Umweltschützern. All dies soll den Eindruck erwecken, dass die derzeitige polnische Politik nicht nur ein deutsches, sondern ein breiteres europäisches Problem ist.

Ein solches Szenario wurde an der Oder angewandt, als die brandenburgische Regierung und Umweltorganisationen die polnische Entscheidung zur Regulierung des Flusses vor einem Verwaltungsgericht anfochten. Das Woiwodschafts-Verwaltungsgericht in Warschau ordnete im Dezember 2022 einen Stopp der Regulierungsarbeiten an, und vier Monate später wurde diese Entscheidung vom Obersten Verwaltungsgericht in Warschau bestätigt.

Deutsche Umweltschützer nutzten hier den Vorwand des letztjährigen Fischsterbens im Fluss und behaupteten, dass die Oder nach dieser Katastrophe renaturiert werden müsse und dass jede weitere Arbeit angeblich ein weiteres Aussterben von Leben im Fluss bedeuten würde. Die Umweltschützer sind jedoch so entgegenkommend, dass sie die Schifffahrt auf der Oder nicht grundsätzlich ablehnen, flache Schiffe werden akzeptiert. Das heißt, Schiffe, die nichts transportieren können. Dadurch würden die derzeitigen Investitionen des Staates in die Oderschifffahrt ihren Sinn verlieren. Daher wird trotz des Urteils des Obersten Verwaltungsgerichts weiter an der Regulierung gearbeitet.

Wie man Polen die Energie entzieht

Die Grenzkonflikte sind nicht auf die Oder beschränkt. Wenn man auf der Karte entlang der Grenze ganz nach Süden scrollt, kommt man nach Turów, wo es einen Braunkohletagebau gibt, um den Polen bereits mit der früheren tschechischen Regierung gestritten hat.

Als dieser Streit beigelegt war, schalteten sich die Deutschen ein und waren, wie die Deutsche Welle unverblümt berichtete, von der polnischen Vereinbarung mit den Tschechen „überrascht“. Der Tagebau in Turów deckt fast 10 Prozent des polnischen Energiebedarfs, sodass seine Schließung ein schwerer Schlag für die polnische Wirtschaft gewesen wäre. Da es jedoch nicht möglich war, den polnischen Tagebau durch tschechische Hände zu schließen, wurde diese Aufgabe von den Behörden der deutschen Stadt Zittau übernommen.

Das Kraftwerk und der Braunkohletagebau in Turów. Von hier kommen knapp 10 Prozent der polnischen Elektrizität

Der Bürgermeister der sächsischen Stadt behauptet, dass der Tagebau in Turów das Bodenniveau um einen Meter senken könnte. Außerdem könnte der polnische Tagebau eine Grundwasserverschmutzung und eine zu große Lärmbelästigung verursachen. Deshalb wird Zittau beim EuGH eine Klage gegen das polnische Bergwerk einreichen. Die Braunkohlegruben auf der deutschen Seite der Grenze stören die Zittauer Behörden natürlich nicht so sehr wie die polnische.

Deutsche Online-Petition gegen polnische AKW

Die Energiewirtschaft, das Rückgrat der Wirtschaft, zu treffen, ist noch gefährlicher als der Kampf um die Vorherrschaft im Handel. Ein Teil des Energiekonflikts ist natürlich das Fit-For-55-Klimapaket, das Polen teilweise umgehen möchte, indem es auf Atomstrom setzt. Und hier kommen wir zurück auf das geplante Kraftwerk in Choczewo und den Verein „Ostsee-SOS”, der sich auf eine Auseinandersetzung mit der polnischen Regierung vorbereitet.

Till Backhaus (SPD), der Umweltminister von Mecklenburg-Vorpommern, hat die Regierung in Berlin bereits zum Einschreiten aufgefordert. „Wir sind gegen den Bau eines Atomkraftwerkes, weil diese Technologie nicht beherrschbar ist“, sagte Backhaus und zeigte sich besorgt um die Umwelt. „Die Flora und Fauna der Ostsee wird darunter leiden“, sagte er. So sieht das auch die Umweltorganisation „Ostsee-SOS”. Aber man sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen: Es handelt sich sicherlich um eine zufällige Ähnlichkeit der Ansichten.

Nimmt man alles zusammen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass derzeit ein Konflikt zwischen Polen und Deutschland im Gange ist, in dem es um Entwicklungsperspektiven Polens geht, die Deutschland eindeutig nicht schmecken.

RdP

Der Artikel erschien im Wochenmagazin „Sieci” („Netzwerk”) am 15.05.2023.




Pater Blachnicki. In Deutschland vergiftet

Erst jetzt kommt die Wahrheit ans Licht.

Am 14. März 2023 traten Justizminister Zbigniew Ziobro, der Chef des Instituts für Nationales Gedenken (IPN) Karol Nawrocki und Staatsanwalt Andrzej Pozorski vor die Medien. Ihre Botschaft: Die 2020 wiederaufgenommene Untersuchung hat eindeutige Beweise dafür erbracht, dass Pater Franciszek Blachnicki (phonetisch Blachnitski) am 27. Februar 1987 das Opfer eines Giftmordes geworden ist.

Dieser Schlussfolgerung liegen nach modernsten Methoden erstellte Gutachten auf dem Gebiet der Anthropologie, der Genetik, der Toxikologie, der Gerichtsmedizin und der medizinischen Analyse zugrunde. Neuentdeckte Unterlagen wurden ausgewertet und neue  Zeugen befragt. Man sei in Polen, Deutschland, Ӧsterreich und Ungarn tätig gewesen. Der Leichnam des Opfers wurde exhumiert. An den wissenschaftlichen Untersuchungen beteiligt waren das Professor-Jan-Sehn-Institut für Forensische Studien in Kraków, die Pommersche Medizinische Universität in Szczecin und die Schlesische Medizinische Universität in Katowice.

Die Motive der Tat liegen auf der Hand, den Tätern sei man auf der Spur, so die Feststellung der Verantwortlichen. Mehr könne man im Augenblick nicht offenlegen.

Auf diese Weise lebt ein hochbrisanter politischer Kriminalfall erneut auf, der die polnische Ӧffentlichkeit seit geraumer Zeit immer wieder beschäftigt. Die wichtigsten Fakten konnten inzwischen rekonstruiert werden.

Der Weg nach Carlsberg

Pater Blachnicki verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in erzwungener Emigration. Als General Wojciech Jaruzelski am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht in Polen ausrief und damit eine Welle von Repressalien gegen die Solidarność-Bewegung in Gang setzte, befand  sich Pfarrer Blachnicki in Rom. Es sollte ein kurzer Aufenthalt sein, aber angesichts der neuen Lage überredete ihn der oberste Seelsorger der in der ganzen Welt verstreuten polnischen Diaspora, Bischof Szczepan Wesoły, dazu, nicht nach Polen zurückzukehren. Man konnte sicher davon ausgehen, dass den populären und politisch unbeugsamen Geistlichen die Verhaftung erwartete.

Das Internationale Evangelisierungsszentrum der Bewegung Licht-Leben in Carlsberg heute

Der Bischof bot ihm an, nach Westdeutschland zu gehen, um in dem pfälzischen Städtchen Carlsberg ein Evangelisierungszentrum zu gründen. Dazu wies er Pater Blachnicki eine Immobilie zu, die sich infolge der Nachkriegswirren im Besitz exilpolnischer Kirchenstellen befand.

Pater Blachnicki gab dem Ort den Namen Marianum – Internationales Evangelisisationszentrum Licht-Leben. Es sollte ein Ausstrahlungsort neuer Ideen der Bekehrung nicht nur für Polen, sondern für ganz Osteuropa sein. Zu diesem Zweck gründete er den Christlichen Dienst für die Befreiung der Völker (ChSWN).

„Hirte der Konterrevolution”

Die Aktivitäten des ChSWN zielten darauf ab, Mittel- und Osteuropa von der sowjetischen Herrschaft zu befreien, indem man seine Bürger von der lähmenden inneren Angst befreite, die das kommunistische System ihnen einflößte. Viele Emigranten aus Polen und den Ländern Mittel- und Osteuropas schlossen sich dem ChSWN an.

Es wurden Konferenzen organisiert, um die Befreiungsbestrebungen der Völker, die ihres Rechts auf Selbstbestimmung und politische Unabhängigkeit beraubt worden waren, vorzustellen. Gekrönt wurde diese Arbeit von zwei wichtigen Dokumenten: der Carlsberger Erklärung und dem Manifest für die Befreiung der Völker Mittel- und Osteuropas. Es entstanden ständige Arbeitsgruppen: eine tschechisch-polnisch-slowakische etwa oder eine polnisch-ukrainische, die sich um die Annäherung der Nachbarvölker im Hinblick auf die Zeit nach dem Kommunismus bemühten. Bemerkenswert waren die Märsche für die Befreiung der Völker mit dem Ziel, das Interesse der westlichen Öffentlichkeit für die Lage der Völker Mittel- und Osteuropas zu wecken.

Marsch für die Befreiung der Völker, organisiert vom Christlichen Dienst für die Befreiung der Völker (ChSWN) 1988 in Hambach

Die Ideen des ChSWN wurden auch über die polnische Redaktion von Radio Free Europe verbreitet. In den damaligen Zeiten, ohne Satelliten-TV, Internet und Handy war das von den Amerikanern betriebene und in München ansässige RFE, obwohl dessen Empfang massiv gestört wurde, die wichtigste Informationsquelle für die Völker hinter dem Eisernen Vorhang. Pater Blachnicki, der häufig bei RFE zu Gast war, legte das Wesen des kommunistischen Systems offen und rief zu konkreten Maßnahmen des zivilen Ungehorsams auf.

Seine antikommunistische Effizienz und die Reichweite seines friedlichen Befreiungskreuzzugs versetzten die kommunistischen Machthaber in höchste Alarmstimmung. In enger Abstimmung umspannten die polnische und ostdeutsche Stasi sowie der sowjetische KGB Carlsberg und Pater Blachnicki mit einem Netz von Zuträgern, sie tüftelten Provokationen aus, versuchten seine Arbeit lahmzulegen.

Zeitungsausschnitte mit Anti-Blachnicki-Beiträgen

Gleichzeitig lief eine osteuropaweite Diffamierungskampagne gegen den Pfarrer und sein Werk an. Er wurde bezeichnet als „Hirte der Konterrevolution” (kommunistische Jugendzeitschrift „Molodets Estonii”, „Pfundskerl von Estland“, 24.02.1983), als „Saboteur in Soutane” (die sowjetische „Komsomolskaja Prawda“, 5.02.1983), als „kriegerischer Pfarrer“, „polnischer Ajatollah“, „Politiker in Soutane“, „Theologe der Konterrevolution“ (polnische kommunistische Armeezeitung „Żołnierz Wolności“, „Soldat der Freiheit“, 5.09.1984),  als „zeitgenössischer Kreuzritter“,  „Theologe des nationalen Verrats” (Zentralorgan der polnischen KP „Trybuna Ludu“, „Volkstribüne”, 1.10.1984), als „fanatischer Politiker” (polnische Wochenzeitung „Tu i Teraz”, „Hier und Jetzt“, 29.12.1982) usw., usf.

Broschüren und Bücher des ChSWN gelangten auf illegalen Wegen nach Osteuropa. Sie entstanden im Verlag und in der Druckerei Maximilianum, die ein wichtiger Teil des Vorhabens und im Laufe der Jahre eine Quelle großer Schwierigkeiten und finanzieller Probleme waren. Anhand kürzlich aufgefundener Dokumente wissen wir, dass Pater Blachnicki kurz vor seinem Tod einen Vertrag über zwei Millionen Dollar mit der amerikanischen protestantischen Organisation Campus Crusade for Christ abgeschlossen hatte. Er sollte die Zukunft der Druckerei sichern und die Evangelisierungsprojekte in Polen, Mitteleuropa und der Sowjetunion erheblich ausweiten helfen. Wurde der Priester vergiftet, damit dieses Projekt nicht verwirklicht werden konnte? Die Untersuchung wird sicherlich auch diese Frage zu beantworten versuchen.

Politischer Sprengstoff. Broschüren und Bücher des ChSWN gelangten auf illegalen Wegen nach Osteuropa

Ein charismatischer Priester

Wie sah der Lebensweg desjenigen aus, der eine ganze Generation junger Polen geprägt hat? Blachnicki wurde 1921 in Rybnik, im polnischen Teil Oberschlesiens geboren. Nach dem Abitur 1938 wurde er zum Militärdienst im Divisionskadettenkorps in Katowice eingezogen.

Fähnrich Blachnicki (r. i.B.) bei einer Geländeübung 1938

Er träumte davon, in der Diplomatie zu arbeiten, doch schon bald brach der Krieg aus. Der künftige Priester kämpfte im September 1939 gegen die deutschen Angreifer und wurde bereits im Herbst 1939 in die Untergrundarbeit einbezogen. Im Frühjahr 1940 verhaftete ihn die Gestapo.

Auschwitzhäftling Franciszek Blachnicki

Er wurde in das deutsche Konzentrationslager Auschwitz gebracht. Dort blieb er über ein Jahr lang, war wiederholt dem Tod nahe. Er durchlebte die Hölle der Strafkompanie und blieb auch einen Monat lang im Todesbunker eingesperrt (demselben, in dem die Deutschen später Pater Kolbe ermordeten). Im Herbst 1941 verlegte man ihn ins Gefängnis in Katowice, um ihn vor ein Sondergericht zu stellen. Im Frühjahr 1942 fiel das Urteil: Todesstrafe. Nach Interventionen seiner Familie wurde das Urteil in zehn Jahre Gefängnis umgewandelt.

Zeitungsausschnitt mit der Bekanntgabe von gefällten Todesurteilen, darunter gegen Franciszek Blachnicki, der als „der 21 Jahre alte Franz B.“ bezeichnet wird

Die Monate des Wartens auf den Tod, bevor die Strafe umgewandelt wurde, waren ein Wendepunkt in Blachnickis Leben. Am 17. Juni 1942 erlebte er eine geistige Wandlung. Er beschloss, seinen Glauben mit anderen zu teilen und sein Leben der göttlichen Vorsehung anzuvertrauen.

Den Rest des Krieges verbrachte Blachnicki in den Konzentrations- und Arbeitslagern des Dritten Reiches und trat sofort nach Kriegsende ins Priesterseminar ein. Die Priesterweihe empfing er 1950 auf dem Höhepunkt der Stalinisierung Polens und des Kampfes des Staates gegen die katholische Kirche.

Franciszek Blachnicki (3 v. l. i. B.) als Diakon (erste Stufe des Weihesakraments) 1949

Blachnicki erkannte, dass die Zukunft der Nation und der Kirche im kommunistischen Staat vom Nachwuchs abhängen würde, daher konzentrierte er sich seit Beginn seiner pastoralen Tätigkeit auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. 1957 gründete er aber auch noch den „Kreuzzug der Enthaltsamkeit”, den er ein Jahr später in „Kreuzzug der Nüchternheit” umbenannte, um den starken Alkoholismus der Nachkriegszeit zu bekämpfen. Im Frühjahr 1960 zählte die Bewegung bereits mehr als 100.000 Mitglieder und umfasste rund tausend Gemeinden. Die von ihr herausgegebene Zeitschrift „Niepokalana Zwycięża“ („Die Unbefleckte siegt”) hatte eine Auflage von 120.000 Exemplaren.

Verfolgung

Blachnickis Aktivitäten weckten von Anfang an das Misstrauen der Kommunisten und der polnischen Stasi. Im Jahr 1959 startete die kommunistische Geheimpolizei eine umfangreiche Überwachungsoperation gegen den „Kreuzzug der Nüchternheit”, Deckname „Zawada” („Hindernis’). Bald darauf folgten Dutzende von Hausdurchsuchungen bei Aktivisten, Schikanen und Einschüchterungen. Ende August 1960 umstellte die Polizei das Büro der Bewegung in einer Baracke auf einem Kirchengelände in Katowice. Alle Akten, Publikationen und Möbel wurden beschlagnahmt. Das war das Ende des Vorhabens.

Das Gefängnis in der Mikołowskastraße in Katowice. Hier saß Franciszek Blachnicki 1942 und 1961 ein

Die Kommunisten, die sich mit der großen Popularität des Priesters nicht abfinden konnten, verhafteten ihn schließlich. Im Frühjahr 1961 wurde der Geistliche wegen „Veröffentlichung illegaler Drucke und Verbreitung falscher Nachrichten über die Verfolgung der Kirche“ zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Er saß in demselben Gefängnis in Katowice ein, in dem ihn die Deutschen während des Krieges festgehalten hatten. Damals schrieb er auf: „Man darf den gegenwärtigen Zustand nicht als ein Unglück betrachten und nur in der Hoffnung leben, dass er bald vorübergeht. Im Gegenteil, man muss die Gegenwart als eine Gnade von unschätzbarem Wert betrachten, aus der man das Beste machen muss“.

Nach seiner Entlassung begann er sein Studium an der Katholischen Universität Lublin, wo er promovierte und arbeitete. Da die Behörden seine Habilitation blockierten, verließ er die Universität 1972.

Pfarrer Blachnicki bei der Jugendarbeit in den Sechzigerjahren des 20. Jh.

Blachnicki kehrte bereits in den 1960er-Jahren  zu den Ideen der Oase, eines sehr attraktiven Modells der Evangelisierung von Kindern und Jugendlichen, zurück, aus dem die Bewegung „Lebendige Kirche” und 1976 die Bewegung „Licht-Leben” hervorgingen. Die Oase-Bewegung, deren informelle Hauptstadt Krościenko wurde, ein Dorf und Kurort ca. 110 Kilometer südlich von Kraków, direkt an der slowakischen Grenze, zog Tausende von jungen Menschen an. Die Aktivitäten von Pater Blachnicki waren ein wirksamer Schlag gegen die von den Kommunisten konsequent betriebene Atheisierung und Säkularisierung.

Die enorme Bandbreite der Aktivitäten von Pater Blachnicki in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war in diesem Teil Europas nahezu beispiellos. Unter den Bedingungen eines kommunistischen Staates schuf er eine Massenbewegung, die mit ihrem Programm Hunderttausende von jungen Menschen erfasste. Die Idee der Oase-Bewegung gründet auf einer ganzheitlichen Pädagogik, in der nicht nur Einzelne, sondern ganze Gemeinschaften heranwuchsen. Sie hat das heutige Gesicht der Kirche in Polen und auch das Polens selbst geprägt.

Obwohl die kommunistischen Behörden es verboten haben, entsteht 1979 unter der Leitung von Pfarrer Blachnicki (r. i. B.) in Krościenko ein provisorisches Amphitheater für eine katholische Jugend-Großveranstaltung

Die Erfahrung, gemeinsam zu beten, zu singen oder an der Eucharistie teilzunehmen, hat bei jungen Menschen einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Von nun an verbanden sie die Kirche nicht nur mit der Hierarchie, sondern auch mit einer Gemeinschaft von Menschen und mit einer persönlichen Begegnung mit Gott. Das war das Ziel der Oase, die Pater Blachnicki der Licht-Leben-Bewegung vorangestellt hat. Es ging darum, Generationen von Katholiken heranzuziehen, die die Kirche als ihren Ort betrachten um Verantwortung für sie übernehmen zu können.

Abgabe von Beitrittserklärungen zum Kreuzzug zur Befreiung des Menschen, den Pfarrer Blachnicki 1979 ausgerufen hat. Der Beitretende verpflichtete sich, in den folgenden zwölf Monaten keinen Alkohol zu kaufen, zu trinken oder anderen Alkohol anzubieten

Über ihre Aufgaben sagte er Folgendes: „Wenn die Oase-Bewegung bei einer rein religiösen oder erzieherischen Tätigkeit stehen geblieben wäre und gesagt hätte: Wir mischen uns nicht in andere Angelegenheiten ein, denn das ist Politik, dann hätte die Bewegung ihre eigenen Grundlagen geleugnet. Die Probe aufs Exempel für die Echtheit und Fruchtbarkeit einer Bewegung ist ja gerade die Tatsache, dass aus ihr verschiedene Formen des menschlichen Engagements erwachsen“.

All das führte zu weiteren Schikanen, Verhören und Durchsuchungen in der Wohnung von Pater Blachnicki. In einer Studie der polnischen Stasi ist zu lesen: „Die Führung der Bewegung hatte als Hauptziel, sich der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft und dem sozialistischen Modell der Erziehung von Kindern und Jugendlichen entgegenzustellen. 1977 wurde eine spezielle Arbeitsgruppe gebildet, um die Oase-Bewegung zu untersuchen.” Pater Blachnicki konnte stets auf die Unterstützung des Krakauer Metropoliten Kardinal Karol Wojtyła zählen, was insofern von Bedeutung war, als die Staatssicherheit versuchte, die Kirchenhierarchie gegen den Priester auszuspielen, indem sie Gerüchte kolportierte, Blachnicki sei im Grunde ein Stasi-Zuträger.

Pfarrer Blachnicki mit Karol Wojtyła, dem damaligen Erzbischof von Kraków

Im Jahr 1997 erinnerte sich Johannes Paul II. während einer Pilgerreise nach Polen: „Ich besuchte die Oasen an verschiedenen Orten in der Erzdiözese Krakau und verteidigte die Bewegung gegen die Bedrohungen, die von der Stasi ausgingen. Alle wussten es, sowohl die Priester als auch die Jugendlichen selbst, dass der Kardinal von Krakau mit ihnen war, dass er sie unterstützte, ihnen beistand und bereit war, sie im Falle einer Gefahr zu verteidigen“, sagte der Papst. Etwa zwei Millionen Polen sind durch die Oase-Bewegung gegangen. Sie waren es, die den Grundstein für Solidarność legten und die Zivilgesellschaft formten.

Sand ins Carlsberger Getriebe

1984 kamen die neuen Mitarbeiter des Pfarrers, das Ehepaar Andrzej und Jolanta Gontarczyk und ihr Sohn Gajusz, in Carlsberg an. Sie, promovierte Soziologin, war Assistenzprofessorin am Institut für Lehrerbildung in Łódź gewesen, er Leiter der örtlichen Zweigstelle des staatlichen Filmverleihunternehmens. Sie hatten sich an den Aktivitäten der Solidarność in Polen beteiligt und schienen eine der vielen polnischen Emigrantenfamilien der 1980er-Jahre zu sein, die Polens kommunistische Behörden ziehen ließen, in der Hoffnung, die politische Opposition dadurch ausbluten zu lassen. Jolanta Gontarczyk, geborene Lange, berief sich zudem auf ihre deutsche Abstammung. Ihr Vater hatte in der Wehrmacht gedient und nach dem Krieg änderte er seinen Namen in Piławski. Nun konnte die Familie nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik im September 1982, als „Spätaussiedler”, in Düsseldorf schnell Fuß fassen. Sie bekamen bald darauf die deutsche Staatsangehörigkeit, die sie bis heute, neben der polnischen, besitzen.

In Wirklichkeit waren beide Agenten der polnischen Staatssicherheit, die bereits Ende der 1970er-Jahre angeworben wurden und vor ihrer Ausreise auf die Solidarność in Łódź angesetzt waren. Jetzt erhielten sie die Decknamen „Yon” und „Panna” („Jungfrau”). Ab Frühjahr 1982 hatte man das Agentenduo intensiv nachrichtendienstlich geschult, bevor es im Herbst nach Westdeutschland aufbrechen konnte. Sie waren gut abgeschirmt. Ihre verschlüsselten Nachrichten schickten sie an eine konspirative Adresse im oberschlesischen Gliwice. Ihr Betreuer war kein in Westdeutschland tätiger Geheimdienstmitarbeiter, sondern ein in Österreich wirkender polnischer Stasi-Offizier, mit dem sie sich in Salzburg oder im jugoslawischen Split trafen.

Das Ehepaar Gontarczyk während seiner Zeit in Carlsberg

All das zeigt, welch enorme Bedeutung die kommunistischen Behörden Pater Blachnickis Tätigkeit beimaßen. Ein Jahr lang schlichen sich ihre Agenten behutsam und beharrlich ins Vertrauen des immer noch gutgläubigen und in geschäftlichen Dingen im Westen etwas unbedarften Pfarrers ein. Dann erst zogen sie von Düsseldorf nach Carlsberg um. Się gaben sich tüchtig und verbindlich und boten sich dadurch als nützliche Helfer bei der Umsetzung der ambitionierten Pläne des Geistlichen, dem die dabei auftauchenden Probleme über den Kopf zu wachsen drohten, an.

Zu ihren operativen geheimdienstlichen Aufgaben gehörte es, die Aktivitäten des Marianum-Zentrums und des ChSWN zu kontrollieren und zu beeinflussen, die Kontakte Pater Blachnickis zum polnischen Episkopat und zum Vatikan auszuspähen, Informationen über polnische Emigrantengruppen in Westdeutschland zu beschaffen und deren eventuelle Verbindungen zu den US-amerikanischen und westdeutschen Geheimdiensten zu ermitteln.

Unterdessen betraute Pater Blachnicki die Gontarczyks mit immer wichtigeren Aufgaben. Bereits im Juni 1985 wurde Jolanta Gontarczyk Präsidentin des Christlichen Dienstes zur Befreiung der Völker (ChSWN), und ihr Ehemann wurde Berater im Vorstand des ChSWN. Im April 1986 übertrug ihnen Pater Blachnicki weitere wichtige Funktionen: Jolanta Gontarczyk war von nun an in Carlsberg verantwortlich für die Verwaltung und den Empfang sowie den ChSWN, Andrzej Gontarczyk leitete die Druckerei, den Informationsdienst und das audiovisuelle Studio.

Das Agentenduo konnte nun mit der Sabotage beginnen. Jolanta Gontarczyk verschuldete das Zentrum, indem sie Dokumente unterschlug und manipulierte. Ihr Mann beschädigte unauffällig die Maschinen in dem modernen Druckzentrum, das durch kommerzielle Aufträge Geld für Pater Blachnickis Vorhaben verdienen sollte. Immer wieder wurden Druckfristen nicht eingehalten, die Druckqualität entsprach nicht dem vereinbarten Standard, Vertragsstrafen wurden fällig, Druckmaterial ging verloren, Reparaturen mussten vorgenommen werden. Es hieß, die Geräte seien eben störanfällig.

In den letzten dreizehn Lebensmonaten von Pater Blachnicki sollten eigentlich annähernd 1,3 Millionen D-Mark eingenommen werden. Im Carlsberg-Zentrum reichte das Geld derweil nicht einmal für Benzin und Lebensmittel aus. Gegen Ende seines Lebens war der Priester angesichts des sich anbahnenden Desasters extrem überfordert und deprimiert.

Pater Blachnicki bereitete den Sohn des Ehepaars, das sein Werk auf so perfide Weise zerstörte, auf die Erstkommunion vor. Diese Zeremonie fand in Carlsberg statt. Zeugen berichten auch, dass die Gontarczyks fast jeden Tag in frevelhafter Weise die Heilige Kommunion empfingen und auch zur Beichte gingen. Deswegen seien Risse in der Ehe entstanden, denn es gab Zeiten, in denen Andrzej Gontarczyk die Last dieser Heuchelei und Scheinheiligkeit nicht ertragen konnte.

Tod in Carlsberg

Jolanta Gontarczyk vel Lange, die sich durch außergewöhnliche Rücksichtslosigkeit auszeichnete, war eine Art Krankenpflegerin für Pater Blachnicki. Sie kannte und besorgte alle seine Medikamente und verabreichte sie ihm tagsüber in der vom Arzt verordneten Reihenfolge. Selbst wenn es nicht Jolanta Gontarczyk oder ihr Ehemann waren, die die letzte Dosis des Giftes verabreichten, muss sie seine medizinischen Daten an die Zentrale weitergegeben haben. So konnten Fachleute des Geheimdienstes das richtige Gift in der richtigen Dosis vorbereiten.

In der zweiten Februarhälfte 1987 erhielt Pfarrer Blachnicki über Solidarność-Kanäle aus Brüssel die Warnung, die Gontarczyks seien auf ihn angesetzte Agenten. Der Hinweis kam aus Łódź, wo das Duo seine Zuträger-Karriere begonnen hatte, und wo man sich im Solidarność-Untergrundmilieu im Nachhinein auf erlittene Rückschläge und die Verbindung zu den Gontarczyks einen Reim machen konnte.

Pfarrer Blachnickis Sarg in Carlsberg

Am Abend des 26. Februar 1987 traf sich Pater Blachnicki mit seinen engsten Mitarbeiterinnen: Zuzanna Podlewska und Grażyna Sobieraj. Er sagte ihnen, dass die Gontarczyks das Maximilianum in den Ruin getrieben hätten, und kündigte an, am nächsten Tag ein entscheidendes Gespräch mit ihnen zu führen.

Das Gespräch mit Andrzej Gontarczyk, der für die Druckerei zuständig war, verlief nach Zeugenaussagen stürmisch. Es soll zu Handgreiflichkeiten gekommen sein. Gegen Mittag kehrte der Priester in seine Wohnung zurück und fühlte sich krank. Die Qualen setzten nach dem Mittagessen ein. Der Priester bekam einen Erstickungsanfall, musste stark husten, fiel in Ohnmacht.

Dr. Reiner Fritsch, der seit 1982 sein behandelnder Arzt war, wurde hinzugezogen. Er versuchte, den Kranken zu retten, aber die durchgeführten Maßnahmen, darunter eine Injektion ins Herz, schlugen fehl, und Pater Blachnicki starb am Nachmittag. Während des Todeskampfes und nach dem Eintritt des Todes trat aus seinem Mund ein starkes, schaumiges Sekret aus, das mit Papiertüchern abgewischt wurde. Dies führte zu dem Verdacht, dass der Tod durch eine Vergiftung verursacht worden sein könnte. Da jedoch niemandem etwas vorgeworfen wurde, gab es keine Grundlage für eine Autopsie. Dr. Fritsch kam zu dem Schluss, dass die Todesursache eine Lungenembolie war, die in Verbindung mit einem fortgeschrittenen Diabetes zum Tod führte.

Den Agenten geht es gut

Das wirklich Unfassbare geschah aber erst nach Pater Blachnickis Tod. Das enttarnte Agentenehepaar ist nicht etwa Hals über Kopf geflüchtet, sondern lebte, als wäre nichts geschehen, noch ein ganzes Jahr lang in der Bundesrepublik. Einige Monate später war der Verdacht gegen die Gontarczyks bereits so stark, dass auf der Hauptversammlung des Vereins des Christlichen Dienstes zur Befreiung der Völker (ChSWN), dessen Vorsitzende Jolanta Gontarczyk vel Lange auf Empfehlung von Pater Blachnicki war, der Vorwurf der Agentenkollaboration gegen sie erhoben wurde. Dennoch geschah nichts, obwohl westdeutsche Geheimdienste, der Verfassungsschutz und der BND, im Bilde waren. Erst im April 1988, rechtzeitig vor der bevorstehenden Verhaftung gewarnt, wurde das Duo mit Kind von der polnischen Stasi auf dem Landweg über Ӧsterreich, Jugoslawien nach Budapest evakuiert und von dort nach Warschau ausgeflogen. Die westdeutschen Stellen drückten offensichtlich beide Augen zu und waren froh, sich so des Problems der lästigen „Emigrantenquerelen” entledigt zu haben.

In Polen angekommen bekamen die Gontarczyks 10.000 DM als Rückerstattung ihres in Westdeutschland zurückgelassenen persönlichen Vermögens sowie 1.000 US-Dollar für die Renovierung einer sehr großen Wohnung im Warschauer Stadtzentrum, in der Poznańska-Straße, die sie aus einem Wohnungspool der Staatssicherheit erhalten hatten (zuvor war sie die Kontaktadresse mit dem Decknamen „Czanel II“, in der sich Führungsoffiziere mit ihren IMs trafen). Nach dem Ende des Kommunismus gelang es den Gontarczyks, die Wohnung zu privatisieren, und sie um das Jahr 2000 äußerst gewinnbringend zu verkaufen.

Die Ehe zerbrach. Andrzej Gontarczyk lebt heute zurückgezogen in Łódź. Seine geschiedene Frau hingegen, heute Jolanta Lange, scheut in  Warschau keineswegs das Licht der Ӧffentlichkeit. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des Vereins „Pro Humanum”, dessen „Aktivitäten darauf abzielen, eine offene Zivilgesellschaft aufzubauen, Diskriminierung zu bekämpfen und soziale Ausgrenzung zu verhindern”, so die Selbstdarstellung.

Jolanta Gontarczyk 1988 und Jolanta Lange heute

Bevor ihre wahre Identität im Jahr 2005 publik wurde, engagierte sich Jolanta Lange im radikalfeministischen Flügel der postkommunistischen Allianz der Demokratischen Linken (SLD). Nachdem die Postkommunisten im Jahr 2001 die Wahlen gewonnen hatten und regierende Partei wurden, bekleidete sie einen hohen Posten im Innenministerium, den sie nach ihrer Enttarnung durch die Medien räumen musste.

Der Oberbürgermeister von Warschau Rafał Trzaskowski und Jolanta Lange

Obwohl die Vergangenheit Jolanta Langes bestens bekannt war, gewährte die Stadt Warschau, die vom führenden Politiker der Bürgerplattform und ihrem Präsidentschaftskandidaten 2020 Rafał Trzaskowski regiert wird, im Jahr 2019 „Pro Humanum” einen Zuschuss von umgerechnet gut 400.000 Euro. Im Dezember 2022 wurde ein weiterer Zuschuss von umgerechnet 270.000 Euro gewährt. Beide Summen für ein vom Verein betriebenes „Multikulturelles Zentrum”. Trzaskowski sieht auch nichts Unpassendes darin, sich mit der ehemaligen rücksichtslosen Stasi-Agentin in der Ӧffentlichkeit zu zeigen.

Jolanta Lange gehört heute zu den führenden Persönlichkeiten der Warschauer linken Szene, setzt sich für LGBTQ-Belange ein, predigt Toleranz und Gleichberechtigung. Ihr unmittelbarer Chef, der Stasi-Oberst Aleksander Makowski, gehört heute zu den führenden Sicherheitsexperten des wichtigsten oppositionellen Fernsehsenders TVN. Der „Pro Humanum”-Vorstand steht derweil fest an Jolanta Langes Seite und „ist sich bewusst, dass diese Angriffe Teil einer größeren Hasskampagne gegen diejenigen sind, die sich für gleiche Bürgerrechte und gegen Diskriminierung einsetzen”, so die offizielle Stellungnahme.

Nach neuesten Berichten hat sich Jolanta Lange im Frühjahr 2023 nach Neuseeland abgesetzt.

Am 6. August 2023 verlieh Staatspräsident Andrzej Duda Pfarrer Franciszek Blachnicki postum die höchste polnische Auszeichnung, den Orden des Weißen Adlers.

© RdP




Deutsche Jugendämter, polnische Klagen

Und weg ist das Kind.

Im Dezember 2018 veröffentlichte RdP einen umfangreichen, seinerzeit viel gelesenen und kommentierten Beitrag über den Umgang deutscher Jugendämter mit polnischen Kindern und deren Eltern. (Den Link zu diesem Bericht  finden Sie am Ende dieses Beitrags). In den letzten fünf Jahren hat sich an den Verhältnissen, die, wie es sich zeigt, nicht nur in Deutschland lebende Polen betreffen, leider nichts geändert. Deswegen greifen wir das Thema erneut auf.

Gespräch mit Kosma Złotowski, Mitglied des Europäischen Parlaments.

Kosma Złotowski, geboren 1964. Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit. 1990 bis 1994 Journalist. 1994 bis1995 Stadtpräsident von Bydgoszcz/Bromberg, 1997 bis 2001 und 2011 bis 2014 Abgeordneter des Sejm. 2004 bis 2010 Mitglied des Senats (obere Parlamentskammer). Seit 2014 MdEP.

Der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments (PETI) hat im Anschluss an eine Reise nach Deutschland, bei der er die Tätigkeit der Jugendämter unter die Lupe genommen hat, einen Bericht angenommen, den Sie mitverfasst haben.

Seit Jahren erhält der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments Informationen und Gesuche von verzweifelten Eltern, denen die deutschen Jugendämter und Familiengerichte Unrecht angetan haben. Die Zahl und die Gewichtigkeit der Klagen ist so groß, dass beschlossen wurde, eine Mission des PETI-Ausschusses nach Deutschland zu schicken, um die Situation vor Ort zu erkunden und die uns zugegangenen Informationen, zu überprüfen.

Die Mission hatte es leider nicht einfach. Deutsche Behörden, bei denen wir vorgesprochen haben, zeigten sich völlig ahnungslos, behaupteten, sie wüssten nichts von den Entgleisungen der Jugendämter und hätten keine Kenntnis von den Fällen, die wir ihnen vorlegten. Das lähmte von Anfang an unsere Arbeit, weil wir, ohne die Position der deutschen Behörden zu kennen, die in der Kritik stehenden Maßnahmen nicht überprüfen und nicht beurteilen konnten.

Auf der einen Seite sind die Eltern, die uns erschütternde Geschichten erzählten. Sie verglichen die Art und Weise, wie ihnen ihre Kinder weggenommen wurden, mit Entführungen. Kinder, die ohne Bedenken von ihren Eltern hätten erzogen werden können, landeten bei Fremden.  Auf der anderen Seite hatten wir die deutschen Behörden, die uns offensichtlich auf die Schnelle abspeisen wollten, sich offenbar nicht einmal die Mühe gemacht hatten, sich ausreichend auf unsere Gespräche vorzubereiten.

Diskriminieren deutsche Behörden und Gerichte Kinder ausländischer Herkunft und deren Eltern?

Das geht aus allen Beschwerden hervor, die beim Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments eingegangen sind. Auch in Polen ist dieses Problem nicht unbekannt. Wir wissen, dass die Familiengerichte in Deutschland sich praktisch in allen Fällen auf die Seite der Jugendämter stellen. Die Eltern haben vor den Gerichten das Nachsehen, vor allem, wenn sie Ausländer sind. Dabei spielt die Nationalität eigentlich keine Rolle. Ob  Rumänen, Polen oder Franzosen, allen werden fast schon obligatorisch die Kinder weggenommen. Wer kein Deutscher ist und Kinder hat, der sollte sich vor den Jugendämtern und Familiengerichten sehr in acht nehmen.

Wie viele Beschwerden gehen bei Ihnen ein?

Das ist kein Thema, das erst in letzter Zeit aufgetaucht ist. Seit gut zwanzig Jahren gehen in jeder Legislaturperiode des Europäischen Parlaments Dutzende, wenn nicht Hunderte von Beschwerden ein. Schon in der letzten Legislaturperiode des EP wurde eine Parlamentariermission nach Deutschland geschickt, um die Situation zu untersuchen. Da sich seither nichts geändert hat, wurde jetzt eine weitere Mission erforderlich.

Wie erklären die Deutschen ihr Vorgehen?

Sie verstecken sich immer hinter den in ihrem Land geltenden Gesetzen. Sie sagen, dass diese nie übertreten werden, und dass die Kindesentnahmen von Gerichten überwacht werden. Rein formell gesehen ist das alles richtig. Nur sind die diesbezüglichen deutschen Gesetze und Vorgehensweisen eindeutig familienfeindlich. Die Praxis weist zudem eindeutig auf eine unterschiedliche Behandlung von rein deutschen gegenüber ausländischen Familien, beziehungsweise solchen mit einem ausländischen Elternteil, hin.

Haben sich die dortigen Beamten wirklich nichts vorzuwerfen?

Nein, denn für sie zählt nur, dass sie sich an das geltende Recht halten, und das erlaubt ihnen oft, sehr willkürlich einzuschreiten. Sie sagen, sie tragen Sorge für das Wohl des Kindes und das sei ja auch der Hauptzweck der Arbeit der Jugendämter. Dieses Kindeswohl ist jedoch so definiert, dass es dem Kind grundsätzlich in einem Waisenhaus oder bei einer Pflegefamilie viel besser geht, als bei seinen Eltern.

Der Begriff des Kindeswohls ist offensichtlich zu weit gefasst. Gibt es Empfehlungen, Hinweise an die Deutschen, ihre Gesetze anders zu fassen?

Im Anschluss an die neueste Mission in Deutschland, hat der Petitionsausschuss einen Bericht zu dem Thema angenommen. Er enthält eine Reihe von Empfehlungen, aber leider fand sich in dem Dokument kein Platz für eine eindeutige Forderung an Deutschland, die natürlichen Rechte der Familie zu achten. Es wurden zwar Forderungsvorschläge zu diesem Thema gemacht, aber es fand sich keine Mehrheit, um sie in den Bericht einzubringen.

Der deutsche Druck hinter den Kulissen war sehr wirksam und hat das verhindert. Generell kann man sagen, dass deutsche Abgeordnete aller Couleur im Europäischen Parlament an vorderster Front stehen, wenn es darum geht, die moralische Keule zu schwingen, Resolutionen gegen andere Länder zu verfassen und zu verabschieden. Wir in Polen, können ein Lied davon singen. Die Abgeordneten halten sich aber strikt an Anweisungen aus Berlin, die sie diskret über die einzelnen Parteischienen erreichen. So muss es auch in diesem Fall gewesen sein. Und die Möglichkeiten mit Versprechungen oder angedeutetem Liebesentzug Mehrheiten aufzubauen, sind angesichts der deutschen Dominanz in Europa groß.

Aus der Sicht des Petitionsausschusses ist also alles in Ordnung. Wir sind hingefahren, wir haben einen Bericht verfasst, der aber Deutschland in dieser Hinsicht nicht wehtut. Und ich bin sicher, dass bald neue Klagen und Beschwerden eingehen werden, in denen weitere schockierende Fälle über die Zerstörung von Familien beschrieben werden. Dann wird es eine weitere PETI-Mission geben, und die Deutschen werden uns wieder sagen, dass sie zu den von uns vorgelegten Fällen nicht Stellung nehmen können, weil sie sich nicht darauf vorbereitet haben und die Fälle nicht kennen. Und der Kreis wird sich wiederum schließen, so wie er sich nach den ersten beiden Missionen geschlossen hat.

Kann das Europäische Parlament in dieser Frage wirklich nichts mehr tun?

Es kann, aber das ist, wie ich gerade geschildert habe, sehr schwierig.  Deshalb sollte jeder, der die Möglichkeit dazu hat, das Thema lautstark ansprechen. Nur ein massiver internationaler Druck kann zu Veränderungen führen.

Seit Jahren berichten Eltern massenhaft, dass die Beamten der Jugendämter ihren Kindern nicht erlauben, in ihrer Muttersprache Kontakt zu den Eltern aufzunehmen. Hat sich in dieser Hinsicht etwas geändert?

Nichts hat sich geändert. Das ist ein weiteres Beispiel für die unerbittliche deutsche Hartnäckigkeit. Das Gesetz garantiert, dass ein Kind mit seinen Eltern in der Sprache sprechen kann, in der es kommunizieren möchte: Rumänisch, Französisch, Polnisch, Ungarisch und so weiter. Hier ist gesetzlich eine vollständige Freiheit gesetzlich garantiert. Andere Bestimmungen im Gesetz besagen jedoch, dass der Beamte, der bei diesem Gespräch verpflichtend anwesend ist, unbedingt den Inhalt kennen  muss. Dadurch sind die Eltern gezwungen, mit ihrem Kind  Deutsch zu sprechen, da das oft die einzige Sprache ist, die der Beamte versteht.

Kommen die Klagen, die Sie erreichen, auch von in Deutschland lebenden Polen?

Nicht nur von ihnen, sondern auch von Deutschen polnischer Herkunft. Auch die Rumänen haben sehr viele Probleme mit den örtlichen Behörden. Des Weiteren gibt es nicht wenige Petitionen von Franzosen. Keine Nationalität ist vor den Aktionen des Jugendamtes sicher.

Wenn es dem Europäischen Parlament nicht gelingt ihnen zu helfen, dann muss es anderswo geschehen. Ich zähle sehr auf die Unterstützung der Medien. Sie konnten den Europäern erschreckende Beispiele für die Wegnahme von Kindern präsentieren.

Könnten Sie einen dieser Fälle schildern?

Es ging um eine rumänische Familie. Ein Kind hatte einen Unfall. Die Mutter brachte es in ein Krankenhaus. Das Krankenhaus stellte aber fest, dass der Unfall ohne die Nachlässigkeit der Eltern nicht passiert wäre. Sofort wurden Mitarbeiter des Jugendamtes hinzugezogen, die die Auffassung der Ärzte teilten.

Die Beamten nahmen die beiden Kinder sofort mit und brachten sie bei zwei Pflegefamilien unter. Sie erklärten, dass die Pflegefamilie, die eines der Kinder aufgenommen hatte, sich bereits um andere Kinder kümmere und nicht in der Lage sei, zwei Kinder aufzunehmen. Das war der Grund, weshalb die Geschwister getrennt wurden. Sie wurden nicht nur aus ihrem Zuhause gerissen, sondern es wurde ihnen auch das Recht verweigert, zusammenzuleben. Das Gericht ignorierte die Erklärungen der Eltern zu den Umständen des Unfalls völlig. Als ob es im Leben nie Situationen gäbe, die sich unserer Kontrolle entziehen. Aus solch scheinbar trivialen Angelegenheiten entstehen Familientragödien.

Lesenswert auch: „Deutsche Jugendämter, polnisches Leid“

RdP

Das Interview erschien in der Tageszeitung „Nasz Dziennik” („Unser Tagblatt”) vom 2. Mai 2023.