Wie trinken die Polen

Alte Regeln und neueste Wodka-Erkenntnisse aus dem Land des weissen Adlers.

In Olszowo (Name geändert) haben sie nichts gehört von den neuesten Untersuchungsergebnissen des Polnischen Verbandes der Spirituosenindustrie vom Juni 2017 über das Trinkverhalten der Polen, die kürzlich hier und da in den Medien zitiert wurden. Hier wird nicht geforscht sondern eifrig praktiziert, und deswegen gibt es in Olszowo kein Erbarmen für den Gast und kein Entkommen.

Auf gutes Gelingen, auf die Heimat, auf dass das Wetter uns nie im Stich lässt, auf, auf, auf . . . Unzählige Trinksprüche, der Kopf wird schwerer und schwerer, immer heftiger werden die Umarmungen, die Freundschaftsausbrüche über den Tisch hinweg.

Irgendwann, sichtlich bewegt und Ruhe erbittend, erhebt sich der Kommandant und spricht allen Anwesenden aus dem Herzen: „Trinken wir auf uns, auf die freiwillige Feuerwehr von Olszowo, die seit Generationen Brände und Durst gleichermaßen gut zu löschen versteht.“ Ringsum feuchte Augen, also hoch mit dem erlahmten Arm und das randvolle Glas, mit weiteren fünfzig Gramm Wodka, „auf ex“ heruntergekippt.

Sofort, wie von Geisterhand, wird nachgefüllt. Alles sprudelt: der Alkohol, die Reden, die Großzügigkeit. Anrührende, ländliche Gastfreundschaft als Heimsuchung, keine Chance, den Fünfziggrammkelch des Leidens bis zur bitteren Neige nicht zu leeren. Noch ist der grausame Morgen danach weit.

Wódka Star fot.
Vom Durstlöschen bezahlt. Löschfahrzeug der einheimischen Marke Star, Baujahr 1999.

Anders als der Wodka macht Olszowo nicht gerade schwindlig. Vielleicht achthundert Seelen, ein Laden, die große Kapelle, eine kleine Schule und die „remiza“, das Spritzenhaus: hochtrabende Bezeichnung für einen Geräteschuppen nebst bescheidener Feuerwehrgarage für ein Löschfahrzeug der einheimischen Marke Star, Baujahr 1999.

Wand an Wand zu der Garage das schlichte Klubhaus aus weißem Klinker, Eigentum der freiwilligen Feuerwehr von Olszowo und der Stolz ihres Kommandanten. Versammlungsort und Dorfdisko, Schauplatz von zahllosen Hochzeitsfeiern, Leichenschmäusen, Festen, Gelagen, Raufereien.

Man trinkt hier gegen die Melancholie, gegen die Misslichkeiten des Alltags und auf die Freude. Zelebriert wird da nicht viel, doch gibt es einen Verhaltenskodex. Dessen Kenntnis macht das Trinken für Außenstehende zwar nicht leichter, aber auf jeden Fall nachvollziehbarer.

Regel eins lautet:

Wer allein zur Flasche greift, ist ein Säufer. Also: Trinke nur in Gesellschaft.

Nun wird es höchste Zeit, den Toast auszubringen auf die nie verblassende Schönheit der anwesenden Weiblichkeit, die genauso wacker zum Wodka greift. Der ist ja im Polnischen auch weiblichen Geschlechts.

Und man merke sich bei der Gelegenheit die

Regel zwei:

Es gibt auf der Welt keine hässlichen Frauen, es gibt nur zu wenig Wodka.

Gelöst die Stimmung, immer leidenschaftlicher die Lieder. Viel zu trinken ist bei solchen Festen oberste Bürgerpflicht. Denn wie hier in Olszowo sind Saalmieten und Erlöse vom Alkoholverkauf oft die wichtigsten Finanzierungsquellen für Polens freiwillige Feuerwehren. Benzingeld, neue Schläuche, kleine Aufwandsentschädigungen für die Feuerwehrleute, dunkelblaue Ausgehuniformen und eine schmucke Fahne, die bei der Fronleichnamsprozession nie fehlen darf. . .

Es muss schon einiges hinter die Binde gekippt werden, um das alles zu bezahlen.

Sehr, sehr viele Kilometer trennen Olszowo und Warschau. Die Hauptstadt liegt mitten in der Moderne, das Dorf dagegen noch hinter solch traurigen Provinznestern wie Łomża und Ostrołęka, eigentlich schon hinterm Mond.

Wódka Pawlak 1
Waldemar „Waldek“ Pawlak. Chef aller freiwilligen Feuerwehrmänner. Mit der „Feuerwehrklausel“ im Alkoholgesetz in die Geschichte eingegangen.

Große Politik, bestehend aus politischen Krächen, vertrackten Korruptionsskandalen, Nato-Ostflanke-Verstärkungsdebatten finden in einer Welt statt, die um Lichtjahre von Olszowo entfernt liegt. Verstanden wird hier nur, was einen unmittelbar betrifft. Zum Beispiel wenn sich, wie einst geschehen, Warschauer Politiker erdreisten, freiwilligen Feuerwehren das Gewohnheitsrecht zu entziehen, nach Belieben Alkohol bei ihren Festen auszuschenken.

Also erheben wir jetzt die Gläser auf „unseren Waldek“. Nur dank Waldeks rechtzeitigem Eingreifen können wir heute so schön beisammensitzen.

Waldemar Pawlak, ehemaliger Ministerpräsident (1993 – 1995), bis vor ein paar Jahren Vorsitzender der Bauernpartei und seit 1992 bis heute oberster Chef aller freiwilligen Feuerwehrmänner zwischen Oder und Bug, hat als erster Alarm im Parlament geschlagen. Das war inzwischen vor knapp einem Vierteljahrhundert, aber Heldentaten leben ewig, gemeiβelt in den Marmor der Legende. Auf sein Betreiben hin wurde das verschärfte Antialkoholgesetz mit einer „Feuerwehrklausel“ versehen. „Zum Wohl also!“

Die Russen mögen Wodka, der so richtig im Hals kratzt. Die Polen lieben es milder.

Regel drei

jedoch gilt in beiden klassischen Wodka-Ländern: Trinke nie ohne Zubiss, polnisch: zakąska (phonetisch: sakonska), russisch: sakuska. Dass in Warschau, wie im Westen, bereits „einfach so“ getrunken werden soll, erregt in Olszowo ungläubiges Kopfschütteln und echtes Mitgefühl. Hering und Aal schwimmen im polnischen Wodka besonders gern.

Wódka PRL 1 fot.
Kommunistische Tristesse der 70er Jahre. Man trank gegen die Melancholie, die Misslichkeiten des Alltags. „Wodkaleichen“ an der Haltestelle.

Der Korrektheit wegen darf man noch einen weiteren Unterschied nicht unerwähnt lassen. Die Russen trinken Wodka, auf Polnisch aber schreibt sich das Wort: “wódka“, und ausgesprochen wird es “wutka“. Wahre Kenner und Feinschmecker unter den Wodkafreunden wissen natürlich, dass nicht nur der Querstrich über dem „o“ den Unterschied zwischen Wodka Moskowskaja und Wódka Wyborowa ausmacht.

Wódka w PRL 2
„Ein kultivierter Mensch betrinkt sich nicht“. Antialkoholpropaganda im kommunistischen Polen.

Früher, als die Kommunisten, angeführt von General Jaruzelski, den Alkoholgenuss streng reglementierten, als Kneipen und Monopolläden erst von dreizehn Uhr an Hochprozentiges verkaufen durften, auf dass das Proletariat wenigstens am Vormittag nüchtern sei, da blühten die „melinas“, Schlupfwinkel.

Zumeist pensionierte Prostituierte vom Straβenstrich verwandelten ihre grausamen „Liebesnester“ in Alkohollager, zu denen sich durstige Eingeweihte durch bestimmte Klopfzeichen zu jeder Tages- und Nachtzeit Zutritt verschaffen konnten. Bei der „melina“-„Spekulantin“ kostete die Flasche das Vier- bis Fünffache des Ladenpreises.

Im Jahre 1983 konnte man für ein polnisches Durchschnittsgehalt gerade mal 22 Halbliterflaschen Wodka kaufen, 1997 waren es etwa 65, heute sind es 175. Jetzt bedarf es keiner guten Beziehungen zum Oberkellner mehr, um vor dreizehn Uhr Mineralwasser „mit Strom“ zu ergattern. Auch die „melinas“ sind mit dem Kommunismus in der Versenkung verschwunden.

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Wódka 1 fot.
Viele Polen wenig Flaschen, viele Flaschen wenig Polen oder der Triumph der Marktwirtschaft.

Dutzende neuer Wodka-Marken füllen die Regale, verkauft wird in den Geschäften rund um die Uhr, aber gekauft wird weniger. Dreiβig Halbliterflaschen im Jahr trinkt ein erwachsener Pole weg. Bier und Wein sind im Kommen. Von den gut zwölf Litern reinen Alkohols, die durchschnittlich im Jahr jeder mündige Einwohner des Landes verzehrt, entfallen 54 Prozent auf Bier, 39 Prozent auf Wodka und 7 Prozent auf Wein.

Das Trinken am Arbeitsplatz, einst eine Plage, hat ohne jegliche Appelle und Propaganda-Kampagnen erheblich abgenommen, weil Arbeit kostbar geworden ist. Dennoch: Es sind knapp eine Million Menschen, die in Polen als alkoholabhängig gelten.

Mehr als fünftausend Polen machen sich jeden Tag auf den Weg, um landesweit in Wodkafabriken und Brauereien für den Nachschub zu sorgen. Gut 750.000 Tonnen Getreide aber auch 50.000 Tonnen Kartoffeln sind dafür im Jahr notwendig, denn gerade aus den Erdäpfeln versteht man in Polen hervorragenden Wodka zu zaubern. Weitere 89.000 Leute verdienen ihr Geld als Zulieferer der Alkoholindustrie, besorgen den Transport und Verkauf der hochprozentigen Ware.

Wódka Himmilsbach bimber fot.
Nichts geht über einen guten „bimber‘, den Selbsgebrannten, aber nur wenn man seine Herkunft kennt. Filmszene aus dem polnischen Kinostreifen (1984) „Smażalnia story“ („Grillstuben-Story“) mit Iwona Kubisz und Jan Himmilsbach.

Der allerbilligste halbe Liter Wodka kostet beim Discounter um die 15 Zloty (knapp 4 Euro). Doch egal wie hoch der Preis ist, der Staat kassiert immer mit, und zwar knapp 60 Prozent des Preises. Auf diese Weise gelangten im Jahr 2016 gut 12,5 Milliarden Zloty (ca. 3 Milliarden Euro) in die polnische Staatskasse. Zum Vergleich: die jährliche EU-Förderung beträgt im Durchschnitt 9 Milliarden Euro.

Den Kommunismus vorzüglich überlebt hat „bimber“, auch, wie in Russland, „samogon“ genannt: Zucker. Karamell, Hefe, Tomatenmark, sogar alkoholhaltiger Tischlerleim verschwinden vor allem in ärmeren Gegenden aus den Regalen, sobald jemand herausfindet, dass sie sich billig zu Trinkbarem verarbeiten lassen. Der Selbstgebrannte hat schon manches Opfer gefordert, also sollte man die

Regel vier

unbedingt beherzigen: Von Flaschen ohne Steuerbanderole lieber die Finger lassen.

Die Nacht wird lang, der Schlaf kommt und so mancher Feuerwehrfest-Teilnehmer fällt mit dem Gesicht direkt ins Schweinskotelett. Die Tische haben sich längst in Schlachtfelder verwandelt. Kreuz und quer über die Reste von diversen Mayonnaisesalaten, Karpfenplatten in Gelee und Mohnkuchen-Rückständen hinweg finden Verbrüderungen statt. Doch nirgendwo ist eine einzige leere Wodka-Flasche zu sehen, denn

Regel fünf besagt:

Leere Flaschen auf dem Tisch bringen Unglück.

Wódka kieliszki fot.
Aus solchen Gläsern schmeckt der polnische Wodka natürlich noch besser.

 

Der nächste Tag ist natürlich hin. Doch je übler der Morgen danach, so

die Regel sechs,

desto besser war die Feier. Dem Katzenjammer nach dem Aufwachen kann man am besten mit einem Hundertgrammglas „auf ex“ beikommen. „Ein Keil treibt den anderen“:

Regel sieben.

Das Titelbild entstammt der polnischen Kult-TV-Serie „Alternatywy-Strasse 4“ (1983), hier mit dem Schauspieler Witold Pyrkosz. Der Name des Ortes wurde geändert.

© RdP

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