Einhundert und ein Jahr Menschlichkeit

Am 24. Oktober 2023 starb Wanda Półtawska.

Die Deutsche Presseagentur (DPA) erklärte sie in ihrem kargen Nachruf kurzerhand zur Jüdin. Offensichtlich erschien den DPA-Redakteuren nur so alles, was sie durchlitten und geleistet hatte. „gut genug”, um postum erwähnt zu werden. Die in Deutschland oft angewandte Rangordnung der Opfer wurde wieder einmal gewahrt. Die Polin Wanda Półtawska hätte es sicherlich mit einem Achselzucken quittiert. Deutschland und den Deutschen begegnete sie bar jeglicher Illusionen.

Nur wenige Menschen können von sich sagen, dass sie ein ganzes Jahrhundert in Würde gelebt haben. Niemand, weder deutsche Gestapobeamte, SS-Aufseher und SS-Mordärzte, noch heimische Kommunisten vermochten sie ihr zu nehmen. Ihr schier unerschöpfliches Gottvertrauen, die unversiegbare Ausdauer, Selbstbeherrschung und Zuversicht machten sie innerlich unangreifbar. Während und nach dem Krieg immer wieder vom Tod belauert, verschrieb sie sich dem Engagement für das Leben. Das brachte ihr nicht nur Respekt und Anerkennung, sondern auch erbitterten Hass ein.

Pfadfinderin im Widerstand

Wanda Półtawska als Gymnasiastin

Sie kam 1921 in Lublin als dritte Tochter des Postbeamten Adam Wojtasik und seiner Frau Anna zur Welt. Wanda Wojtasik, die Musterschülerin des Ursulinen-Gymnasiums, engagierte sich mit Leib und Seele bei den Pfadfindern, verinnerlichte deren vom Patriotismus, Glauben, von Selbstlosigkeit und Kameradschaft geprägtes Ethos. Mit ihren Gefährtinnen schloss sich die 18-Jährige im Herbst 1939, gleich nach dem Beginn der deutschen Besatzung, dem Widerstand an.

Wanda Półtawska mit Pfadfinderinnen kurz nach dem Krieg

Tausende von vierzehn- bis achtzehnjährigen Pfadfindern stellten im  besetzten Polen einen wesentlichen Teil des Verbandes des Bewaffneten Kampfes (ZWZ) dar, der im Februar 1942 in Armia Krajowa (Heimatarmee, Abkürzung: AK) umbenannt wurde. Sie unterstand der polnischen Exilregierung in London und war, nach eigenem Selbstverständnis, die reguläre Polnische Armee, die sich zeitweilig im Untergrund befand. Nach und nach stellte die AK immer mehr Partisanenabteilungen in der Provinz, betrieb aber vor allem, wie man heute sagen würde, eine Stadtguerilla.

Polen während der deutschen Besatzung. Kleine Sabotage

Die jungen Leute nahmen nicht unmittelbar am bewaffneten Kampf teil. Die Jungs wurden auf ihn vorbereitet, vor allem militärisch geschult und mit der sogenannten „kleinen Sabotage” betraut: Herunterholen von Hakenkreuzfahnen, Vernichtung deutscher Propagandalosungen und Schautafeln, Lautsprecheranlagen zur Übertragung von Siegesmeldungen und Marschmusik, Flugblattaktionen, Aufmalen von antideutschen Sprüchen an Hauswänden usw. Wen die deutsche Polizei oder Feldgendarmerie dabei erwischte, der war so gut wie tot.

Die Mädchen wurden für den Sanitätsdienst ausgebildet. Sie waren auch die „łączniczki” (phonetisch; lontschnitschki), die Überbringerinnen von Befehlen und Nachrichten, die auf dünnem Löschpapier verfasst wurden, das man bei Gefahr schnell zerknüllen und herunterschlucken konnte. Sie transportierten Flugblätter sowie die handzettelgroßen Exemplare der Untergrundpresse, brachten den Widerstandskämpfern falsche Papiere, Waffen, meistens Pistolen und Granaten, in die Nähe des nächsten Kampfeinsatzes, nahmen sie anschließend wieder in Empfang, um sie zurück in die Verstecke zu bringen.

Jung, unscheinbar und findig hatten sie die besten Chancen, bei Straßenrazzien und Ausweiskontrollen davonzukommen. Wanda Wojtasik war eine von ihnen, bis die Gestapo Anfang 1941 durch Ermittlungen und Zuträger tief in die Strukturen der Lubliner ZWZ eindringen konnte. Die Verhaftungswelle erfasste am 17. Februar 1941 auch Wanda.

Der Weg durch die Hölle

Ihr Martyrium begann  in der Lubliner Gestapo-Dienststelle in der Uniwersyteckastraße, wo sie zwei Tage und Nächte lang bei Verhören mit Knüppeln und Tischbeinen geschlagen wurde. Sie verriet niemanden. Danach landete sie im deutschen Polizeigefängnis im Lubliner Schloss.

Zellen, die für sechs Gefangene gedacht waren, bevölkerten zwanzig und mehr Frauen. Gang zur Toilette einmal am Tag, ansonsten ein ständig überlaufender Eimer mit Exkrementen in der Ecke. Läuse, Kakerlaken. Tägliche Essensrationen bestehend aus 200 Gramm Brot und einer Kelle undefinierbarer Brühe. Keine Seife, einmal in der Woche kalt duschen im Schnelldurchlauf.

Als man sie fünf Monate später, im Juli 1941, mit einem mehrere Hundert Frauen zählenden Transport in Viehwaggons ins Frauen-KZ Ravensbrück schickte, war sie bereits mit etwa sechzig weiteren Polinnen in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Solche Verurteilungen erfolgten innerhalb von Minuten, während der Aktendurchsicht durch ein „Polizeigericht”.

SS-Arzt Karl Gebhard

Alle zum Tode verurteilten Frauen durften vorerst am Leben bleiben, denn sie waren als Geschenk für den SS-Arzt Karl Gebhard gedacht, der in Ravensbrück mit Experimenten an Menschen Forschung betrieb. Kurz nach ihrer Ankunft begann Gebhard, Kriegsverletzungen zu simulieren, indem er den Opfern unter Narkose beispielsweise eine Wade aufschneiden, Muskeln quetschen, Holz- und Glassplitter, Erde, Holzwolle in die Wunde einnähen ließ. Er testete verschiedene Sulfonamide (Antibiotika) nach den von ihm festgelegten Kriterien. Am vierten Tag der Versuchsreihe ließ er die eiternden Wunden chirurgisch behandeln. Es kam zu zahlreichen Todesfällen, unter anderem durch künstlich hervorgerufene Blutvergiftungen, bei denen Gebhard den Frauen Eiter in die Venen spritzte. Sie litten entsetzlich.

Die ehemalige polnische Ravensbrück-Insassin Jadwiga Dzido zeigt 1947 beim Nürnberger Ärzteprozess die infolge der medizinischen Experimente entstandenen Narben

Das menschliche Versuchskaninchen Wanda Wojtasik hat Gebhards Eingriffe überlebt, aber noch Jahrzehnte später öffneten sich ihre Wunden und die damals eingenähten Verunreinigungen traten in kleinen Mengen heraus.

Knapp vier Jahre sollte sie ihr Dasein in Ravensbrück fristen. Schwerstarbeit auf den Feldern umliegender Bauernhöfe, beim Straßenbau und nach der Rückkehr der Arbeitskolonnen ins Lager nicht enden wollende Stehappelle, Misshandlungen sadistischer Aufseherinnen, fast jeden Abend das Aussortieren der Schwächsten, die bald darauf umgebracht wurden.

Wanda Półtawska 2005 bei den Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung von Ravensbrück

Gemeinsam mit einigen Gleichgesinnten rettete Wanda Wojtasik in Ravensbrück Säuglingen das Leben. Nachdem im Sommer und Herbst 1944 viele schwangere Frauen eingeliefert wurden, schaffte man im Lager Möglichkeiten zur Entbindung. Doch man ließ die Schwangeren und ihre Neugeborenen absichtlich unversorgt. Die meisten Babys starben nach wenigen Tagen oder Wochen. Frauen, die ihr Neugeborenes verloren hatten, stillten die lebenden Säuglinge. Wanda Wojtasik organisierte für sie immer wieder ein paar Scheiben trockenes Brot, ab und zu eine Decke, etwas Seife, sogar Zucker aus der SS-Kantine. Dreißig Babys konnten so gerettet werden, bis das Schwedische Rote Kreuz sie im April 1945 aufgrund einer Vereinbarung mit der SS nach Schweden evakuierte.

Im Nachhinein betrachtete sie die Zeit in Ravensbrück als „große Exerzitien“, in denen sie gelernt habe, wie man unter extrem widrigen Umständen überlebt. „Ich habe dort niemals meine innere Freiheit verloren. Ich habe nichts gegen meinen Willen getan. Niemand konnte mich dazu bewegen, etwas zu stehlen oder mich in ein Tier zu verwandeln. Du wirst diejenige, die Du sein willst. Erlaube niemandem, Macht über Deine Seele zu haben.“

Vor der anrückenden Roten Armee trieb die SS im April 1945 einen Teil der Ravensbrück-Frauen in das etwa 150 Kilometer weiter westlich gelegene Außenlager Neustadt-Glewe. Wanda war am Ende ihrer Kräfte. Für tot befunden lag sie in der Totenbaracke. „Aber ich lebte”, schrieb sie Jahrzehnte später. „Als ich an der kalten Leiche einer Zigeunerin liegend aufwachte, habe ich beschlossen, Medizin zu studieren und nach Krakau an die Jagiellonen-Universität zu gehen.” Am 2. Mai 1945 erfolgte die Befreiung.

Nur nicht verzagen

Das Wichtigste war jedoch, dass die grausamen Kriegserfahrungen sie nicht in den Abgrund der Verbitterung, der Mutlosigkeit,  der Lebensverneinung stießen. Das war bei vielen Opfern der Fall. Sie konnten das Ausmaß der Demütigungen und Gräueltaten, die sie erlebt hatten, nicht verkraften. Wanda traf eine andere Entscheidung. Nachdem sie die düstere Allgegenwart des Todes erlebt hatte, griff sie nach dem Glauben an Gott und dem Beruf des Lebensretters, zwei Fäden, die zum Licht führen konnten.

Ihr Medizinstudium absolvierte sie 1951. Es folgte die Facharztausbildung zum Psychiater und die Arbeit am Psychiatrischen Klinikum der Krakauer Medizinischen Akademie. Auf den Doktortitel, den sie 1964 erwarb, sollte die Habilitation folgen. Die Habilitationsschrift war fertig. Im Jahr 1968 fehlte nur noch das Endkolloquium, als man das Verfahren auf Anweisung von oben stoppte. Angeblich „aus formalen Gründen”, die im Einzelnen nie ausgeführt wurden. Es lag jedoch auf der Hand, dass sie politischer Natur waren. Jemand, der der Kirche so nahestand, durfte kein Dr. habil. werden. Die herrschenden Kommunisten verhinderten auf diese Weise ihre weitere, bis zum Professorentitel führende wissenschaftliche Karriere. Sich verbiegen lassen, faule Kompromisse schließen, das war nicht ihre Sache. Prompt schmiss sie ihre Stelle als leitende Stationsärztin an der Medizinischen Akademie hin und widmete sich von nun an der praktischen Arbeit in der Frauen- und Familienseelsorge im Auftrag der Krakauer Bischofskurie.

Leben schenken, Leben schützen

Zwei Begegnungen, die sie kurz nach dem Krieg hatte, sollten ihr Leben nachhaltig prägen. Im Jahr 1946 lernte sie den Philosophiestudenten und Warschauer Aufständischen von 1944 Andrzej Półtawski kennen. Silvester 1947 heirateten die beiden, hatten vier Töchter und blieben bis Andrzejs Tod 2020 mehr als siebzig Jahre lang ein Ehepaar.

Wenn man davon ausgeht, dass es im Leben keine Zufälle, sondern nur Zeichen der Vorsehung gibt, dann war es ein Zeichen der Hoffnung für eine vom Krieg verwüstete Welt, als 1951 Kardinal Adam Sapieha den jungen Priester Karol Wojtyła, der gerade von seinem Studium in Rom zurückkehrte, in die Ärzteseelsorge in Krakau entsandte.

Wanda Półtawska und Pfarrer Karol Wojtyła Mitte der 50er-Jahre in Krakau. Das Foto wurde insgeheim von der polnischen Stasi gemacht

In der Zeit des wütenden Stalinismus und der heftigsten kommunistischen Kirchenverfolgung in Polen, unternahmen Pfarrer Wojtyła und eine Gruppe junger katholischer Krakauer Ärzte, darunter Wanda Półtawska, immer wieder Ausflüge in die nicht weit entfernten Tatraberge. Inspiriert durch die majestätische Ruhe der kolossalen Landschaft, entstanden aus den auf der Wanderschaft geführten Gesprächen zeitgemäße theologische Ansätze zu Fragen der Sexualität, zum Schutz des ungeborenen Lebens und schließlich der Eheethik.

Man vergisst heute, welch demoralisierenden Einfluss die erstmalige Freigabe der Abtreibungen in Polen durch die deutschen Besatzungsbehörden im Zweiten Weltkrieg hatte. Die Kommunisten legalisierten die uneingeschränkte Abtreibung auf Wunsch bis zur 12. Woche, ohne Beratung, im April 1956 ein zweites Mal. Jahre später erinnerte sich Wanda Półtawska daran, wie sehr sie der plötzliche Ansturm von Schwangeren zur Tötung ihres eigenen Kindes bedrückte.

Sie schrieb: „Ich traute meinen Augen nicht, aber vielleicht lag das daran, dass ich von vielen Dingen keine Ahnung hatte. Vor den Praxen der Gynäkologen sah ich Schlangen von Frauen, die plötzlich begannen, die Möglichkeiten zu nutzen, die das neue Gesetz bot. Zusammen mit anderen Ärzten, die das Drama dieser Mädchen verstanden, begannen wir spontan zu handeln. Wir versuchten, auf sie zuzugehen und ihnen zu erklären, dass eine Abtreibung einen Schatten auf ihr restliches Leben werfen würde. Einmal erhielt ich nachts um zwei Uhr einen Anruf von einem sehr besorgten Priester, dem ein Mädchen gestand, dass es am nächsten Morgen um neun Uhr einen Termin für eine Abtreibung hatte. Ohne groß nachzudenken, lief ich sofort in das Studentenheim und begann, sie zu überreden, diesen Weg nicht einzuschlagen“.

Wanda Półtawska half, den Aufbau eines kirchlichen Unterstützungssystems für solche Mädchen zu organisieren. So entstand eine Art lokale Krakauer Koalition für das Leben: Der Bischof von Krakau, Karol Wojtyła,  Abtreibungsgegner wie Wanda Półtawska,  mobilisierte Laien gegen Abtreibungen. Der Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszyński, und Kardinal Wojtyła stellten damals die Frau und ihr gezeugtes Kind in den Mittelpunkt der seelsorgerischen Aufmerksamkeit.

Sehr wichtig waren die Begriffe. Wanda Półtawska betonte stets, dass es keine „werdenden Mütter“ gibt. Eine Frau wird in dem Moment Mutter, in dem die Empfängnis stattfindet. Es gibt keinen Fötus, es gibt ein Kind. Die Abtreibung führt zum Tod des Kindes, also ist es eine Tötung. Das Kind ist kein Organ der Frau, das herausoperiert wird, sondern von Anfang an ein autonomer Mensch mit eigenen Fingerabdrücken und einer eigenen DNA. Es ist nicht vertretbar, Abtreibungen in irgendeiner Weise mit dem Krankenwesen in Verbindung zu bringen, denn eine Schwangerschaft ist keine Krankheit.

Die Antwort der Kirche auf die Freigabe der Abtreibungen in Polen war die Einrichtung kirchlicher Beratungsstellen, von Heimen für alleinerziehende Mütter und die Bildung von Selbsthilfegruppen. In einem Land, in dem es keine Kirchensteuer gibt, musste auch das, wie alle anderen Kirchenausgaben, durch die Kollekte finanziert werden. Es galt sich zudem mit der staatlichen „Gesundheitspropaganda” zu messen, die die Abtreibung als eine Errungenschaft des Sozialismus, als ein Recht und eine Verhütungsmethode pries, von der die selbstbestimmte, berufstätige Frau nach Belieben Gebrauch machen konnte. Die „reaktionäre”, „altbackene” Kirche will ihr diese Freiheit streitig machen, hieß es.

Dem konnte die Kirche nur ihre Sonntagspredigten entgegensetzen, denn die staatliche Zensur unterband alle Versuche, Anti-Abtreibungskampagnen zu organisieren. Zudem wussten viele Priester, vor allem der älteren Generation, nicht so recht, wie sie über diese Themen sprechen sollten. Sehr oft konzentrierten sie sich darauf, die Sünderin zu verurteilen, anstatt darüber nachzudenken, wie man ihr helfen und das Kind retten kann.

Wichtig war hier Półtawskas Einfluss auf die Priester. Aus Hunderten von Gesprächen mit verzweifelten jungen Frauen kannte sie das Ausmaß der Probleme, mit denen diese konfrontiert waren. Sie sensibilisierte die Priester dazu, vor allem zuzuhören. Unterstützt wurde sie dabei von Bischof  Wojtyła, der bei den Treffen zu diesem Problem zu sagen pflegte: „Wer ist schuld daran, dass Mädchen ihr eigenes Kind töten wollen?“. Und er antwortete: „Wir sind alle schuld. Die einen, weil sie es tun, die anderen, weil sie nicht reagieren“.

Er nahm das dicke Notizbuch von Wanda Półtawska mit nach Rom, in dem sie die Berichte betroffener Frauen während ihrer Sprechstunden in der Krakauer katholischen Beratungsstelle niedergeschrieben hatte. Während der Sitzung der Familienkommission des Zweiten Vatikanischen Konzils  zitierte Wojtyła mehrmals daraus. Die Schilderungen beeindruckten Papst Paul VI. so, dass er dem Druck nicht nachgab, die katholische Lehre in der Frage der Abtreibung zu lockern. „Humanae vitae“, die Enzyklika Pauls VI. von 1968 über die moralischen Grundsätze für die Weitergabe des menschlichen Lebens, wäre ohne die intellektuelle Arbeit von Wojtyła und Półtawska zur Definition des Übels der Abtreibung vielleicht nicht geschrieben worden. Der italienische Papst regierte ein weiteres Jahrzehnt, dann folgte das kurze Pontifikat von Johannes Paul I. und schließlich wurde der päpstliche Thron von einem polnischen Papst bestiegen. Die Ära von Johannes Paul II. stoppte weitere 27 Jahre lang die Versuche, die Lehre der Kirche über die Heiligkeit des Lebens zu ändern.

Das Gewissen des Arztes

Das Thema ließ Wanda Półtawska nie los. Sie war 93 Jahre alt, lag im Krankenhaus mit schweren Verbrennungen im Gesicht, die sie sich durch eine Ungeschicktheit zu Hause zugezogen hatte, als die von ihr im März 2014 in sechs Punkten zusammengefasste „Glaubenserklärung katholischer Ärzte und Medizinstudenten zum Thema menschliche Sexualität und Fruchtbarkeit“ in Polen für helle Aufregung sorgte. Sie löste eine heftige öffentliche Debatte über die Rolle, die Bedeutung und die Grenzen der Anwendung der Gewissensklausel durch Ärzte aus.

„Der Zeitpunkt der Zeugung eines Menschen und der Zeitpunkt des Verlassens dieser Welt hängen ausschließlich von der Entscheidung Gottes ab“, hieß es dort. Und: „Ohne jemandem ihre Anschauungen und Überzeugungen aufzuzwingen, haben katholische Ärzte das Recht, Respekt für ihre Ansichten und die Freiheit zu erwarten und zu fordern, ihre beruflichen Tätigkeiten in Übereinstimmung mit ihrem Gewissen auszuüben.“

Knapp viertausend Ärzte, Krankenschwestern und Medizinstudenten unterschrieben die Erklärung, darunter 59 Professoren der Medizin. Wie zu erwarten, erntete die greise Autorin heftigen Widerspruch, aber auch Hohn und Spott aus dem politischen Lager der Postkommunisten, die die Behörden aufforderten, die Gewissensklausel abzuschaffen und Ärzte, die sich zu ihr bekennen, aus der staatlichen Gesundheitsfürsorge zu entfernen. Ähnlich äußerten sich die in Polen dominierenden linksliberalen Medien.

Ein Gebet mit schneller Wirkung

Auch das Leben der Lebensretterin drohte abrupt zu enden, als sie gerade 41 Jahre alt war. Im Herbst 1962 stellte man bei ihr Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium fest. Die Ärzte gaben ihr keine großen Chancen. Ihr Duzfreund Karol Wojtyła weilte gerade in Rom zur ersten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils. Sie schrieb ihm, getragen von der Angst, sie könnte bereits tot sein, wenn er in einigen Wochen zurückkehrte.

Der heilige Pater Pio. Briefmarke von 2018

Seine Reaktion? Am 17. November 1962 verfasste Wojtyła an Pater Pio, den Mystiker, Kapuzinerpriester und italienischen Volksheiligen mit Stigmata und dem scharfen Blick, einen kurzen Brief in lateinischer Sprache, mit der Bitte um ein Gebet. Der Überbringer nach San Giovanni Rotondo war ein Vatikanmitarbeiter namens Angelo Battisti, der einen guten Draht zu Pater Pio hatte. Laut Battisti sagte Pio: „Angelino, dazu kann man nicht nein sagen.“ Und: „Versichern Sie ihm, dass ich viel für diese Frau beten werde.“

Es war ein Gebet mit schneller Wirkung. Als bei Wanda Półtawska am 21. November, vor der geplanten Operation, noch einmal eine Untersuchung gemacht wurde, zeigte sich: Der Tumor war nicht mehr da, die Operation also überflüssig. Diese Nachricht gelangte schnell von Krakau nach Rom. Doch die wundersam Geheilte hatte keine Ahnung von Wojtyłas Brief, sie wusste nicht einmal, dass es einen Pater Pio gab. Die Wahrheit erfuhr sie im Dezember 1962 von Wojtyła, als er aus Rom zurückkam. Bei dem Mystiker persönlich bedanken konnte sie sich erst 1967, ein Jahr vor dessen Tod.

Wanda Półtawska 2002 vor dem Bild des hl. Pater Pio in ihrer Wohnung in Kraków

Verlässlichkeit, Respekt, geistiger Austausch. Die Freundschaft mit dem Papst

Bei dem was über die enge Beziehung der beiden geschrieben wurde, gab es auch einige weitgehende Unterstellungen sittlicher Natur, die man getrost auslassen kann. Johannes Paul II., dem alle nahen Verwandten schon in seiner Jugend weggestorben waren, schätzte die wenigen festen und verlässlichen Freundschaften aus seiner Krakauer Zeit sehr. Für ihn war es im Vatikan eine Art Familienersatz. Zu diesem engen Kreis gehörte übrigens auch Wandas Ehemann, Andrzej. Wojtyła war froh, wenn die Krakauer Freunde ihn besuchen kamen, fand immer Zeit für längere Gespräche. Auch lud er sie im Sommer nach Castel Gandolfo ein, damit sie ihn während des Urlaubs begleiteten. Arturo Mari, der persönliche Fotograf des Papstes, erinnerte sich später: „Wenn Wanda mit ihrem Ehemann und den Enkelkindern nach Castel Gandolfo kam, brachten sie viel Freude in das Leben des Papstes.“

Johannes Paul II., Wanda Półtawska und ihr Ehemann Andrzej in Castel Gandolfo

„Thesen jedoch über einen großen Einfluss Półtawskas auf den Papst sind stark übertrieben. Sie haben zusammengearbeitet, sich ausgetauscht, aber Johannes Paul II. hat seine Dokumente, in denen er die  Lehre der Kirche bestätigte, unabhängig verfasst“, sagt Tomasz Terlikowski, einer der führenden katholischen Publizisten und Kirchenkenner  Polens.

Der Respekt, mit dem die allermeisten Polen ihrem Landsmann Johannes Paul II. begegnen, ist dem polnischen postkommunistisch-linksliberalen Lager seit Langem ein Dorn im Auge. Sie unternehmen viel, um den verstorbenen Papst herabzusetzen. Dazu gehört der Versuch, Johannes Paul II. als einen unselbstständigen Akteur darzustellen, der deswegen „irrte“, weil er den Einflüsterungen des „bösen Geistes“ Wanda Półtawska erlag.

Sie sei schuld daran, dass Paul VI. sich vehement gegen die Empfängnisverhütung ausgesprochen habe, denn schließlich habe sie mit Wojtyła zu einer Zeit zusammengearbeitet, als es in der Kirche eine Diskussion über dieses Thema gab. Sie soll Johannes Paul II. zum Schreiben der Enzyklika „Evangelium vitae“ mit dem Untertitel „Über den Wert und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens“  überredet haben. Półtawskas schlechter Einfluss auf Johannes Paul II. sei für die angeblich „pathologische Haltung der Kirche gegenüber dem Sex“ verantwortlich. Sie hat bewirkt, dass Johannes Paul II. Radio Maryja wohlwollend gegenüberstand usw., usf.

Wer mag, der soll es glauben, aber wer sich nur ein wenig mit Johannes Pauls II. Lebensweg, Lebens- und Denkart befasste, dem ist klar, dass er sich gerne mit klugen Menschen austauschte, und Półtawska war eine katholische Intellektuelle, die auf gleicher Wellenlänge wie er „sendete“. Aber seine theologischen Schlussfolgerungen zog und formulierte er selbst. Seine innere Autonomie war nicht zu brechen.

Wanda Półtawska hatte einen ständigen, ungehinderten Zugang zu ihm, wenn sie in Rom weilte, was oft zum Verdruss seiner engsten Mitarbeiter führte. Im Jahr 2001 nutzte der Rektor des Erzbischöflichen Priesterseminars in Poznań diesen Zugang, um sie darum zu bitten, seinen umfangreichen Brief direkt dem Papst zu übergeben. Alle Versuche, mit der Nachricht in den Vatikan durchzudringen, der Posener Erzbischof Juliusz Paetz sei durch seine ungezügelten homosexuellen Eskapaden nicht mehr tragbar, wurden bis dahin abgewehrt. Półtawska sagte zu. Der Papst zeigte sich tief erschüttert über Paetz‘ Verhalten und darüber, dass man den Skandal vor ihm verheimlicht hatte. Paetz musste sein Amt räumen.

Im Juni 2009 nahm Wanda Półtawska zum ersten und letzten Mal dazu öffentlich Stellung: „Ja, ich war der Briefträger, aber auch nichts anderes. Ich habe weder mit Paetz noch mit anderen gesprochen. Es gab nur den Brief, den mir der Rektor des Priesterseminars in Poznań anvertraute und den ich direkt übergab. Ich habe nichts referiert. Der Brief selbst war entscheidend. Der Heilige Vater reagierte umgehend.“

Wanda Półtawska gehörte zu den Auserwählten, die im Februar und März 2005 am Sterbebett Johannes Pauls II. harren durften. Sie hörte auch den letzten Satz des großen Mannes und Papstes: „Der Welt fehlt es an Weisheit.“

Spurt auf der Zielgeraden

Was nun? Plötzlich klaffte in ihrem Leben eine riesige Leere, aber Półtawska wusste, was sie zu tun hatte. Sie erinnerte sich an die Worte Papst Wojtyłas von vor Jahren: „Du wirst sehen, sie werden alle nach dir die Hände ausstrecken“. Und sie strecken sie aus. Warschau, Lublin, Rzeszów, Poznań, Gdańsk. Hier ein Treffen mit Ärzten, dort mit Priestern,  Nonnen bitten sie zu kommen, ein Schulleiter ruft an und sie sagt ein Treffen mit Jugendlichen zu. Die Gespräche und Buchsignierungen dauern bis spät in die Nacht. Hier ein Familiensymposium, dort die Teilnahme an einer Konferenz über die Theologie Johannes Paul II. Dann wieder eine Vorlesung an einer Universität des Dritten Lebensalters, gefolgt von einem Vortrag für junge Mütter. Derweil ruft ein Bürgermeister an, mit der Bitte um Annahme der Ehrenbürgerschaft, und die Katholische Universität Lublin will ihr die Ehrendoktorwürde verleihen. Ihr Terminkalender war prall gefüllt, und man hörte ihr überall gespannt zu. Vier Stunden unterwegs, zwei Stunden Vortrag und zurück. Sie musste überdies immer wieder bei den einstigen Mitgefangenen von Ravensbrück vorbeischauen, auch wenn es von Mal zu Mal weniger wurden. Selbst in ihrem letzten Lebensabschnitt schienen Ihre Kräfte unbegrenzt zu sein.

Im Jahr 2016 dekorierte sie Staatspräsident Andrzej Duda mit der höchsten polnischen Auszeichnung, dem Orden des Weißen Adlers.

Staatspräsident Andrzej Duda bei der Auszeichnung Wanda Półtawskas mit dem Orden des Weißen Adlers

Półtawska und Simone Veil

Im 20. Jahrhundert zogen zwei Zeugen und Opfer der Barbarei in den Konzentrationslagern gegenteilige Schlussfolgerungen aus ihren schrecklichen Kriegserlebnissen. Simone Veil, ehemalige Insassin von Auschwitz-Birkenau, die die Ermordung ihrer Mutter und ihrer Schwester miterlebte, setzte als französische Gesundheitsministerin 1975 die Legalisierung der Tötung ungeborener Kinder auf Wunsch durch.

Wanda Półtawskas Erfahrungen im Lager Ravensbrück veranlassten sie, hartnäckig und zäh für die Anerkennung der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens und gegen die „Zivilisation des Todes”, ein Begriff, den Johannes Paul II. formulierte, zu kämpfen. Es war ein sehr lange dauernder Kampf. Sie starb acht Tage vor ihrem 102. Geburtstag.

Lesenswert auch: „Die Frauen des Polnischen Papstes“ und „Erzbischof Juliusz Paetz. Der Hirte der Triebe“

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26.06.2022. Die Freiheit zu töten ist keine Freiheit

Am 23. Juni schmetterte der Sejm den Gesetzentwurf zur Einführung faktisch uneingeschränkter Abtreibungen in Polen mit einer überwältigenden Mehrheit ab. Den Vorschlag ausgearbeitet hatte die Bürgerinitiative „Legale Abtreibung ohne Kompromisse“. Mit 201.000 Unterschriften versehen, wurde er im Parlament eingereicht und kam auf die Tagesordnung.

Die polnische Verfassung sieht vor, dass Gesetzentwürfe von Bürgerinitiativen, die innerhalb von maximal drei Monaten von mindestens 100.000 Menschen unterschrieben wurden, im Sejm debattiert werden müssen. Dabei entscheiden die Abgeordneten, ob sie den Entwurf in zweiter (Ausschüsse) und dritter Lesung (Abstimmung im Plenum) behandeln oder ihn bereits in der ersten Lesung (Debatte und Abstimmung im Plenum), wie jetzt geschehen, verwerfen wollen.

Die Initiative hielt, was ihr Titel versprach. Sie öffnete einer Abtreibungspraxis, die durch nichts beeinträchtigt werden sollte, Tür und Tor. Abtreibung auf Wunsch bis zur 12. Woche, ohne jegliche Beratung. Danach fast genauso, denn die Kriterien wurden bewusst verschwommen definiert und der Katalog war umfangreich: „Gefahr für das Leben der Frau“, „für ihre körperliche und geistige Gesundheit“, „falls das Ergebnis der pränatalen Diagnostik“ oder „andere medizinische Hinweise“ „auf das Vorliegen von Entwicklungsstörungen oder genetischen Anomalien des Fötus hinweisen“ sollten. In Anbetracht solch dehnbarer Begriffe wie „geistige Gesundheit“, „andere medizinische Hinweise“, „Entwicklungsstörungen“ hätte der ungeborene Mensch auch nach der 12. Schwangerschaftswoche, bei entsprechendem Wunsch, keine Überlebenschance gehabt.

Zwar gilt die Schwangerschaft (noch) nicht als Krankheit, dennoch sollte deren Beseitigung vom Nationalen Gesundheitsfonds erstattet werden. Bereits 13-jährige Mädchen sollten entscheiden dürfen, ob sie abtreiben wollen.

Im 460-köpfigen Sejm stimmten 265 Abgeordnete gegen die Gesetzesinitiative, 175 dafür, 4 enthielten sich der Stimme, 16 waren abwesend. Mit seinem klaren Votum für das Leben hat das Parlament alles beim Alten belassen. Nur eine Vergewaltigung und eine akute Gefahr für das Leben der Mutter rechtfertigen in Polen eine Abtreibung. Abtreibende Frauen werden strafrechtlich nicht verfolgt, dafür aber, zumindest theoretisch, alle, die ihnen dabei zur Hand gehen.

Seit dem Verfassungsgerichtsurteil vom Oktober 2020 genießen nicht nur gesunde, sondern auch kranke und behinderte ungeborene Menschen in Polen ein uneingeschränktes Recht auf Leben. Kurzum: Was nach der Geburt gilt, gilt auch vorher. Führen Kranke und Behinderte etwa ein „lebensunwertes“ Leben und dürfen deswegen schon vorab eliminiert werden? Der Stolz, mit dem so „fortschrittliche“ Länder wie Dänemark verkünden, man habe „erfolgreiche Arbeit“ geleistet und es geschafft, dass praktisch keine Kinder mehr mit dem Down- oder Turner-Syndrom zur Welt kommen, lässt jeden empfindsamen Menschen schaudern.

Ein noch größeres Schaudern empfindet man beim Lesen von Berichten über brutale „Fließband-Abtreibungen“ in Sowjet-Russland kurz nach seiner Entstehung. Die erste Regierung der Welt, die vor fast genau einhundert Jahren ein uneingeschränktes Töten von ungeborenen Kindern erlaubte, war nämlich das verbrecherische bolschewistische Regime.

Nach Polen brachten die deutschen Besatzer die uneingeschränkte Abtreibung auf Wunsch. Am 9. März 1943 wurde diese, vorher bereits im Rahmen der deutschen Vernichtungspolitik praktizierte, Verfahrensweise, durch einen „Führererlass“ offiziell sanktioniert. Deswegen haben die heutigen Appelle und Initiativen, dass bevorzugt Ärzte in Deutschland bei polnischen Frauen Abtreibungen vornehmen sollen (wollen), einen wahrlich makabren Beigeschmack. Für deutsche Frauen übrigens standen auf Abtreibung im Dritten Reich bis zu fünfzehn Jahre Zuchthaus oder die Todesstrafe.

So gesehen, war der 23. Juni 2022 in Polen ein guter Tag für die Menschlichkeit. Gewiss, der Staat darf und soll sich nicht in das Intimleben der Bürger einmischen, solange sexuelle Vorlieben einvernehmlich und nicht mit Kindern praktiziert werden.

Doch die Abtreibung ist eine ganz andere Sache. Hier wird kein Blinddarm herausoperiert, sondern ein Schmerz empfindender, werdender Mensch mit einer eigenen DNA, Fingerabdrücken und anderen nur für ihn typischen Wesensmerkmalen durch Tötungspillen, tödliche Injektionen, das Heraussaugen oder Herausreißen, um sein Leben gebracht. Es handelt sich um eine Verletzung einer Grundfreiheit, des Rechts auf Leben der Schwächsten. Und der demokratische Staat ist dazu da, um die Schwächsten zu schützen.

RdP




Auch wer nicht super ist, hat ein Recht auf Leben

Kaja Godek. Polens führende Pro-Life-Aktivistin im Portrait und im Gespräch.

Eine hübsche, weiche Schale umgibt einen granitharten Kern, in dem es keinen Platz gibt für Kompromisse, wenn es um das Lebensrecht ungeborener Kinder geht. Kaja Godek, Jahrgang 1982, Warschauerin und studierte Anglistin, ist die wohl bekannteste Gestalt der polnischen Pro-Life-Bewegung.

Kommt der heftige Abtreibungskonflikt in Polen zur Sprache, werden in den deutschsprachigen Medien ausnahmslos Befürworter der Tötung ungeborener Kinder mit viel bejahendem Engagement der Autoren portraitiert. Wer sich in Polen für das Leben einsetzt, das bleibt in diesen Berichten im Dunkeln. Es genügt ja, diese Gruppe allgemein als „katholische Extremisten“, „frauenfeindliche Eiferer“ oder gar als „Lebensfanatiker“ (!) in einem Nebensatz zu umschreiben. Dass „Fanatiker“ nicht wissen, was sie tun, und aus niedrigen Beweggründen agieren, versteht sich von selbst. Damit ist der Ausgewogenheit der Berichterstattung Genüge getan.

Darüber, ob Kaja Godek in dieses Schema passt, kann sich der Leser des nachfolgenden Gespräches mit ihr selbst eine Meinung bilden.

Wider die eugenische Abtreibung

Die Mutter von drei Kindern engagierte sich in der Pro-Life-Bewegung erstmals 2012, als sie zum zweiten Mal ein Kind erwartete. In Polen galt zu dieser Zeit, seit 1993, der sogenannte „Abtreibungskompromiss“.

Die Soziale Indikation, also im Grunde Abtreibung auf Wunsch, war ausgeschlossen. Ein ungeborenes Kind jedoch durfte getötet werden, wenn das Leben der Mutter bedroht sei, wenn es durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde oder wenn es schwere Behinderungen aufwies.

Vor allem der dritte Abtreibungsgrund stieß bei Lebensschützern auf heftigen Widerspruch. Ein großer Teil der in Polen jedes Jahr zwischen 1000 und 1200 legal durchgeführten Abtreibungen nahm ungeborenen Kindern mit dem Down- und Turner-Syndrom das Leben. Behinderungen, mit denen man leben kann, wurden zum legalen Tötungsgrund.

Der Begriff „eugenische Abtreibung“ machte zunehmend die Runde, und mit Schaudern blickten viele in Polen auf Länder wie Dänemark, die sich dessen rühmen, dass bei ihnen bis zu 99 Prozent aller ungeborenen Kinder mit dem Down-Syndrom „rechtzeitig eliminiert“ werden. Die „Selektion“ ist beinahe perfekt.

Kaja Godek wusste sehr gut, wogegen sie protestierte. Eines ihrer Kinder hat das Down-Syndrom. Sie schloss sich zuerst einer der größten polnischen Pro-Life-Organisationen an: „Pro – Prawo do Życia“ („Pro – Recht auf Leben“). An ihrer Spitze steht Mariusz Dzierżawski (fonetisch Dserschawski), eine weitere herausragende Persönlichkeit unter den polnischen Lebensschützern.

Gemeinsam stellten sie 2013 vor dem Sejm eine Pyramide aus Kartons auf,  darin 600.000 Unterschriften unter einer Bürger-Gesetzesinitiative. Ihre Gegner sprachen vom Abtreibungsverbot, das sie anstreben. Sie selbst sprachen vom Schutz des ungeborenen Lebens, das anderen hilflos ausgeliefert sei. Staat und Gesetz müssen ihm beistehen in einer Zeit, in der das Töten ungeborener Kinder sogar in der UNO immer öfter zu einem neuen „Menschenrecht“ erhoben wird, so ihre Argumentation.

Feuerprobe im Tollhaus

Werden mindestens 100.000 Unterschriften unter einer Bürger-Gesetzesinitiative gesammelt, muss das Parlament nach einer Debatte (erste Lesung) abstimmen, ob es die Initiative ablehnt oder an dem Gesetzentwurf in den Ausschüssen weiterarbeiten möchte.

Kaja Godek während ihrer politischen Jungfernrede vor dem Sejm am 23. September 2013.

Die bisher kaum bekannte Kaja Godek hielt am 23. September 2013, im Namen der Antragsteller, eine fulminante Rede im Sejm-Plenum, das mit jedem Satz, den sie aussprach, zunehmend einem Tollhaus glich. Sie ließ sich nicht aus dem Konzept bringen, weder durch Fußstampfen, laute Buh-, Schmäh- und gehässige Zwischenrufe, durch das Poltern beim Verlassen des Saales unter Protest durch die Linke noch durch die ständigen Ermahnungen der Parlamentspräsidentin, sie möge nicht vom „Töten ungeborener Kinder“, sondern von „der Abtreibung“ sprechen.

830.000 Unterschriften unter einer Bürger-Gesetzesinitiative gegen die Abtreibung. Vor der Abgabe im Sejm am 30. November 2017.

Die Initiative wurde damals mit fünf Stimmen Mehrheit abgelehnt, aber ein selbstgeborenes rhetorisches und politisches Talent hatte die öffentliche Bühne betreten. Kaja Godek hat noch zweimal, im Juli 2016 (500.000 Unterschriften) und im November 2017 (830.000 Unterschriften in knapp drei Monaten zusammengetragen), Bürger-Gesetzesinitiativen gegen die Abtreibung im Sejm eingebracht.

Bittere Lehrstunden

Die Abgeordneten der seit 2015  regierenden Nationalkonservativen, die Godeks Rede von den Oppositionsbänken aus 2013 mit Standing Ovations honorierten, lehnten die beiden letzten Initiativen ab (2016) beziehungsweise bugsierten sie (2017) auf das tote Gleis eines parlamentarischen Sonderausschusses. Jetzt, da er an der Macht war, ging Jarosław Kaczyński die ganze Angelegenheit zu weit, war ihm politisch zu riskant.

Kaja Godek mitten im Jubel der Lebensschützer vor dem Verfassungsgericht in Warschau nach der Verkündung des Urteils über die Nichtzulässigkeit der eugenischen Abtreibung am 22. Oktober 2020.

Erst das Verfassungsgericht hat (nachdem es die Eingabe vier Jahre lang unbearbeitet ließ) auf Antrag von knapp einhundert Recht-und-Gerechtigkeit-Abgeordneten die eugenische Abtreibung am 22. Oktober 2020 aus dem „Abtreibungskompromiss“ von 1993 entfernt. Die nachfolgenden heftigen Proteste dagegen ebbten nach einigen Tagen ab.

Kaja Godek nahm auf diese Weise ihre bitteren Lehrstunden in Sachen Realpolitik. Auch als sie sich 2019, vor den Europawahlen, der nationalradikalen Partei Konfederacja (elf Abgeordnete) anschloss, in der Hoffnung, ihre Überzeugung ins Europäische Parlament tragen zu können. Ihre neuen politischen Freunde hatten aber nur ihre Popularität im Sinn. Godeks Überzeugungen waren ihnen eher ein Ballast. Man trennte sich schnell.

Ihre scharfe Zunge, ihre Schlagfertigkeit und mediale Gewandtheit, zugleich aber auch die Aura von Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit, die sie als Mutter eines Kindes mit dem Down-Syndrom umgibt, sind die Pfunde, mit denen sie wirkungsvoll wuchert.

Der Preis des Erfolgs

Seit 2016 leitet sie ihre eigene Pro-Life-Initiative, die Stiftung „Rodzina i Życie“ („Familie und Leben“). An Volontären fehlt es nicht und mit dem beachtlichen Spendenaufkommen aus dem großen konservativen Teil der polnischen Gesellschaft lassen sich spektakuläre Aktionen finanzieren. Gemeinsames Rosenkranzbeten und Mahnwachen vor Krankenhäusern, in denen Abtreibungen vorgenommen werden. Gezeigt werden dabei plakatwandgroße, farbige Transparente, auf denen makabre Fotos von zerstückelten Kinderleibern zu sehen sind, die aus dem Mutterschoß herausgerissen wurden. Immer wieder landesweite Unterschriftensammlungen, Flugblattaktionen, Medienkampagnen.

In ihrer Verteidigung der traditionellen Familie lehnt sich Kaja Godek, gerade in der Zeit der um sich greifenden politischen Korrektheit, immer wieder sehr weit aus dem Fenster. Als am 30. Mai 2018 während einer heftigen Fernsehdebatte im TV-Sender Polsat Plus, in Bezug auf die Homosexualität, aus ihrem Mund das Wort „Abartigkeit“ fiel, wurde sie von sechzehn Homosexuellen wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte verklagt. Da die Kläger jedoch nicht nachweisen konnten, dass sich Godeks Aussage auf sie persönlich bezog, hat das Warschauer Kreisgericht am 12. Januar 2021 die Klage abgewiesen.

Das LGBT-Milieu zahlt es ihr mit gleicher Münze heim. Wirkungsvoll in dem, was sie tut und was sie vertritt, ist Kaja Godek in ihren Augen ein schwer bezwingbarer Gegner, der seinen Weg geht und sich nicht einschüchtern lässt. Unermesslich sind daher der Hohn, Spott, sind die Schmähungen, mit denen sie in den sozialen Medien überzogen wird. „Jeder Erfolg hat seinen Preis“, so ihr Kommentar dazu.

„Es gibt nichts zu entscheiden.“ Kaja Godek im Gespräch

 

Was ging in Ihnen vor, als Sie erfuhren, dass Sie höchstwahrscheinlich ein Kind mit dem Down-Syndrom zur Welt bringen werden?

Ich habe eine Überweisung zu einem Screening bekommen und war weit davon entfernt anzunehmen, dass es irgendwelche Defekte meines Kindes aufdecken wird. Das war für mich eine weitere Routineuntersuchung, die während der Schwangerschaft gemacht wird. Das Ergebnis hat leider den Verdacht auf einen Defekt zutage gebracht.

Schon während der Überprüfung habe ich gespürt, dass es Probleme gibt. Der Arzt war sehr zugeknöpft. Als er anschließend das Resultat mit mir besprach, sagte er, dass man zur Sicherheit eine invasive Untersuchung machen könne, um alle Zweifel zu zerstreuen.

Ich und mein Mann, wir waren damals in einer Situation, in der wir uns überhaupt nicht vorstellen konnten, ein behindertes Kind großzuziehen.

Warum?

Wir waren ein junges Ehepaar, das früh geheiratet hat, noch während des Studiums. Als ich schwanger wurde, schrieb mein Mann gerade seine Magisterarbeit. Wir hatten nichts. Null Lebensstabilität. Die Schwangerschaft betrachteten wir als ein großes Glück, aber wir wussten auch, dass es nicht einfach sein würde. Ein behindertes Kind kam also überhaupt nicht infrage. Mein Kopf war voll mit Denkschablonen von einer lebenslangen Versklavung und davon, dass ich daran zugrunde gehen würde.

Sie hatten Angst um ihre Familie und sich selbst.

Ja. Ich bewundere Mütter, die behaupten, sie hätten sich damit sofort abgefunden. Ich war entsetzt. Es hat mich belastet. Ich konnte mich in dieser Situation nicht zurechtfinden.

Als wir davon erfuhren, haben mein Mann und ich angefangen abzuwägen, ob es sich lohnt, eine invasive Untersuchung zu riskieren, die ja mit einer Fehlgeburt enden kann. Zum Schluss sagten wir uns, dass ein halbes Jahr der Belastung und des Rätselns, ob ein gesundes Kind zur Welt kommt, dem Kind noch mehr schaden wird. Ich habe mir gesagt: „Du gehst zu dieser Untersuchung. Ganz sicher wird sich herausstellen, dass es falscher Alarm war und die Sache ist ausgestanden“.

Es war kein falscher Alarm.

Als endgültig feststand, dass ich ein Kind mit dem Down-Syndrom gebären werde, war ich fünfundzwanzig Jahre alt und meine Welt brach ganz und gar zusammen. Ich war überzeugt, dass ich diese Last nicht stemmen werde. Ich war weit entfernt davon zu denken, es geschieht etwas Grandioses, etwas Wunderbares, und ich werde dieses Kreuz heldenhaft schultern, werde mich diesem einzigartigen Kind widmen, es allen und vor allem mir selbst beweisen, was für eine außergewöhnliche Mutter ich sei.

Ich hatte nicht im Entferntesten solche Gedanken. Deswegen verstehe ich Frauen, die in einer solchen Lage in Verwirrung und Aufregung geraten. Ich kenne das sehr gut.

Was dachten Sie vor der Schwangerschaft über die Abtreibung?

Ich war immer dagegen. Der Mensch entsteht im Augenblick der Zeugung. Ich habe nie daran gezweifelt, dass man ungeborene Kinder niemals töten darf.

Und das unabhängig vom Glauben?

Ja. Der Widerspruch gegen das Töten ungeborener Kinder war für mich ein Gebot der Vernunft, der Moral und eine logische Schlussfolgerung. Was nichts daran änderte, dass ich, als ich von der Behinderung meines Kindes erfuhr, es Gott sehr übel nahm.

„Gott gab mir mein Kind“. Kaja Godek mit Ehemann Jan und Sohn Wojciech.

Ich habe mit Ihm nicht mehr geredet. Ich habe betont geschwiegen, als es bei der Heiligen Messe galt, dem Priester laut nachzusprechen. Ich stand auf, wenn alle aufstanden, ich setzte mich, wenn alle sich setzten, um keine Verwirrung zu stiften, aber ich habe geschwiegen. Ich habe Gott gesagt: „Du hast es mir angetan. Deswegen werde ich nicht mit Dir reden“.

Und was hat Gott dazu gesagt?

Er gab mir mein Kind und der Unfug war vorbei.

Haben die Ärzte versucht, Sie zur Abtreibung zu überreden?

Als Erstes fiel mir die Veränderung der Sprache auf, die sie verwendeten. Am Anfang der Schwangerschaft bekam ich zu hören, mein Kind sei schon fünf Millimeter groß, dann fünf Zentimeter. Als aber feststand, dass es das Down-Syndrom haben werde, dann war es nur noch ein Fötus. Es war nicht krank, es hatte einen „anomalen Karyotyp“. Sie sagten nicht, ich werde einen Jungen zur Welt bringen, sondern „einen Fötus mit einem männlichen Karyotyp“.

Sie haben Ihr Kind sprachlich entmenschlicht.

Ich glaube, sie wollten mich so auf die Abtreibung vorbereiten. Also haben sie aufgehört, Begriffe zu verwenden, die eine gefühlvolle Bindung an das Kind stärken könnten.

Als ich die Down-Syndrom-Diagnose bekam, war ich am Ende des vierten Monats schwanger. Die Ärzte sagten mir, dass die Situation nicht die schlechteste sei, weil man noch abtreiben könne. Ich sei noch jung, die Diagnose kam früh genug, „wir können Sie noch retten“. Als ich den Kopf schüttelte, sagten sie: „Ja, das ist schwierig, aber manchmal muss man eben ganz einfach eine Schwangerschaft beenden. Sie sollten sich an diesen Gedanken gewöhnen.“

Wie haben Sie reagiert?

Abtreibung kam für mich schlichtweg nicht infrage. Ich habe sofort abgelehnt. Es hat mich aufgebracht, dass sie mir überhaupt so etwas vorgeschlagen haben, aber ich war nicht in der Lage, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ich war psychisch am Ende. Obwohl ich abgelehnt hatte, haben die Ärzte ständig Andeutungen gemacht, dass man solche Schwangerschaften abbrechen sollte, und wenn jemand das nicht tun wolle, dann sei das eine Laune.

So war es bis zum Schluss, sogar als ich mit Geburtswehen ins Krankenhaus kam. Die Hebamme schaute in die Unterlagen und fragte verwundert: „Haben Sie nicht gewusst, dass man das hätte anders handhaben können?“

In einem Augenblick, wenn Du gleich ein krankes Kind zur Welt bringen sollst, von dem man nicht weiß, in welchem Zustand es sein wird, stellt sie so eine Frage. Es war eine Dreistigkeit ohnegleichen. Aber was soll man von einer Person erwarten, die mal einer Geburt, mal einer Abtreibung beiwohnt? Für sie ist es das Normalste von der Welt, ein Kind töten.

Mit anderen Pro-Life-Aktivistinnen anlässlich einer Anhörung im Sejm.

Was hat Sie an der Aussicht, ein Kind mit dem Down-Syndrom großzuziehen, am meisten erschreckt?

In meinem Kopf schwirrten die verschiedensten Gedanken. Ich hatte Angst, dass das Geld knapp werden könnte, dass wir das tagtägliche Leben nicht auf die Reihe bekommen werden, dass alle mit dem Finger auf mein Kind zeigen und sagen werden: „Was für ein hässliches Kind“. Wenn ich draußen jemanden mit dem Down-Syndrom sah, habe ich die Straßenseite gewechselt. Ich konnte mich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass ich ein solches Kind unter meinem Herzen trage.

Hatten Sie Augenblicke der Schwäche und haben die Abtreibung doch in Erwägung gezogen?

Nein, niemals. Hier gab es nichts zu entscheiden. Das Ergebnis einer Schwangerschaft ist die Geburt eines Kindes.

Ich habe es sehr übel genommen, dass man mich ständig darauf ansprach. Ich musste gerade mit einer sehr schweren Situation fertig werden, und die erzählten mir ständig etwas von ihrer Abtreibung.

Es verging die achtzehnte, neunzehnte, zwanzigste Woche. Das Kind bewegte sich. Ich habe es gespürt. Mein Mann und ich haben uns angeguckt und konnten es nicht fassen, dass man es immer noch ganz legal töten konnte.

Was hat Ihnen in dieser Situation die Kraft zum Durchhalten verliehen?

Ein Durchbruch war das Treffen mit einer Frau, die ein Kind mit dem Down-Syndrom adoptiert hatte. Ich habe den Jungen in die Arme genommen und er lächelte mich an. Es kam mir vor, als gäbe mir mein Kind so zu verstehen: „Mutti, ich lächle Dich an“.

Ich war sehr überrascht, als Wojtek zur Welt kam. Ich hatte ein Aussehen, ein Verhalten erwartet, die man mit dem Down-Syndrom verbindet. Indessen geschah etwas Unerwartetes. Ich sah, dass mein Kind die Augen vom Papa hat, dass seine Gesichtshaut sehr zart ist. Kurzum, ich habe all die Einzelheiten gesehen, die eine Mutter an ihrem Kind gleich nach seiner Geburt entdeckt.

Ja, es gab viele Probleme. Es war mein erstes Kind, zudem eines, das einer ganz besonderen Fürsorge bedurfte. Vieles habe ich nicht gewusst, nicht gekonnt und ich habe Fehler gemacht. Doch die Liebe zum Kind hat mir den Rücken gestärkt. Es gab nie einen Augenblick, an dem ich wollte, dass es ihn nicht gibt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er nicht da sein könnte.

Außer Wojtek haben Sie noch zwei Töchter.

Unsere Kinder sind emotional sehr miteinander verbunden. Wenn eins nicht da ist, sagen die anderen beiden, sie haben Sehnsucht. Aus der heutigen Perspektive denke ich mir, dass heute ein wichtiger Bestandteil unserer Familie fehlen würde, wenn ich so dumm gewesen wäre abzutreiben. Eine Lücke würde klaffen.

Wie ist es, Mutter eines Kindes mit dem Down-Syndrom zu sein?

Es gibt eine verbreitete, aber von Grund auf falsche Überzeugung, dass eine solche Mutter eine Rolle zu spielen habe. Aber ich bin ich. Ich habe meine Interessen. Ich bin außerhalb der Familie sehr aktiv. Meine Kindererziehung entspricht sicherlich nicht dem Ideal, aber ich erziehe sie so gut ich kann. Ich reife dank ihnen. Durch ihr Dasein bringen sie mir gutes Organisieren bei, die Fähigkeit, viele Aufgaben auf einmal zu bewältigen. Ich lerne durch sie, Situationen schnell und nüchtern einzuschätzen, flexibel zu reagieren. Das kommt mir auch außerhalb der Familie zugute.

Ich habe gelernt einige von Wojteks Problemen zu lösen und damit zu leben, dass ich andere Probleme, die er hat, nie werde lösen können. Ich will nicht behaupten, dass Kinder mit dem Down-Syndrom so sind wie alle anderen Kinder. Sie haben ihre eigenen Verhaltensweisen und Anforderungen, und sie haben ein Recht darauf. Es gibt bei ihnen krankheitsbedingte Entwicklungsgrenzen, die man nicht überwinden kann.

Wie ist Wojtek?

Wir, die Mütter von Kindern mit dem Down-Syndrom, müssen ständig beweisen, dass unsere Sprösslinge okay sind. Die Abtreibungsbefürworter wollen hören, wie sehr wir leiden. Die Befürworter des Lebens wollen hören, wie schön es ist.

Und wie ist Ihre realistische Einschätzung?

Ich bin von Wojtek eingenommen. Er ist super! Man muss aber eine Einschränkung machen. Der Mensch hat ein Recht auf Leben, auch wenn er nicht super ist.

Mein Sohn ist zwölf Jahre alt, aber wegen seiner Krankheit ist er nicht so wie ein gewöhnlicher Zwölfjähriger. Dafür hat er ein großes Bedürfnis der Nähe. Er braucht viel Umgang mit Menschen. Wenn er aus der Schule kommt und mich von Weitem sieht, schreit er lauthals „Mutti, ich liebe dich!“. Wenn er früh aus dem Haus in die Schule geht, dann sagt er, dass er Sehnsucht nach mir haben wird. Ich zeichne ihm daraufhin mit dem Kugelschreiber ein Herz auf die Hand und sage: „Wenn Du traurig bist, schaue auf das Herz von Mutti“.

Er verehrt den Fußball, liest Bücher über Fußballer, trägt Socken in den Farben seines Lieblingsfußballclubs. Er hat auch Launen. Kinder mit dem Down-Syndrom können sehr stur sein, in Rage geraten. Oft jedoch ist er sehr fröhlich, vor allem wenn er mich überreden will, ihm eine Cola bei McDonald’s zu spendieren. Dann ist er sehr schlitzohrig. Er erinnert mich sofort daran, dass er sein Zimmer schön aufgeräumt hat und eine Belohnung verdient. Wenn Probleme auftreten, dann werde ich sofort mit dem Down-Syndrom konfrontiert, aber im Alltag vergessen wir es schnell.

Warum haben Sie sich in der Pro-Life-Bewegung engagiert?

Ich habe Wanda Nowicka gehört, wie sie im Namen von Müttern behinderter Kinder sprach. Wie dramatisch ihr Schicksal sei und dass die Abtreibung, also die Tötung eines behinderten Kindes, die beste Lösung sei.

Konkurrentinnen auf Tod und Leben ungeborener Kinder. Im Sejm unterwegs vom (Wanda Nowicka) und zum Rednerpult (Kaja Godek r.) am 15. April 2020.

Konkret ging es um ein ungeborenes Kind, das die Ärzte in Poznań nicht töten wollten. Ein Krankenhaus in Warschau hat es daraufhin getan. Nowicka ging vor die Medien, um das in ihrem Sinne zu kommentieren. Wieso eigentlich? Umso mehr als gerade herauskam, dass sie von Abtreibungsfirmen bezahlt wurde. Einen solchen Anwalt will ich als Mutter eines Kindes mit dem Down-Syndrom nicht.

(Anm. RdP: Wanda Nowicka, Jahrgang 1956, ist eine der führenden Gestalten der polnischen Bewegung der Befürworter der Abtreibung auf Wunsch. Politikerin der postkommunistischen Linken, zwischendurch auch anderer ihr nahestehender Parteien und Bewegungen. Sejm-Abgeordnete 2011-2015 und seit 2019.

Wanda Nowicka.

Im Jahre 2009 wurde bekannt, dass die von Nowicka geleitete feministische Föderation für Frauen und Familienplanung (Federa) Spenden von ausländischen Herstellern von Abtreibungsbesteck und Abtreibungspillen bekommen habe. Aus diesen Geldern wurden bei der Federa Gehälter gezahlt.

Gerichte urteilten 2011 (erste Instanz) und 2012 (zweite Instanz), dass es rechtens sei zu behaupten, Nowicka handle nicht aus ideellen, sondern aus materiellen Gründen und „stehe auf den Gehaltslisten internationaler Abtreibungskonzerne“ – Anm. RdP).

Kaja Godek (Fortsetzung): Es ging darum, laut zu sagen, dass man, egal welche großen Probleme ein Kind bereitet, es deswegen nicht umbringen darf.

Ja, die Aussicht, ein solches Kind zur Welt zu bringen, verursacht viel Angst, viel Stress, aber am Ende kommt man damit ins Reine. Es passiert oft, dass ich die Kinder von der Schule abhole und wir im Stau stehen. Ich gucke in den Rückspiegel, sehe meine drei in den Kindersitzen, wie sie miteinander herumalbern und hebe buchstäblich ab vor Freude. Alle sind da, niemand fehlt, niemandem wurde Leid angetan. Wir wissen nicht, was uns erwartet, aber wir wissen, dass wir zusammenhalten werden. Wir haben einander.

Weitere interessante Beiträge zu dem Thema:

„Das Wunder des Abschiednehmens. Vom Umgang mit todkranken ungeborenen Kindern.“

„Allein für das Leben. Polnische Ärztin gegen den Staat Norwegen.“

„Das Wunder von Wrocław. Geboren 55 Tage nach dem Tod der Mutter.“

„Fenster mit Ausssicht auf Leben. Babyklappen in Polen.“

„Ein Priester kauft Windeln. Der Szczeciner Pfarrer Tomasz Kancelarczyk hat Hunderte ungeborene Leben gerettet.“

RdP

Das Gespräch, das wir, mit freundlicher Genehmigung, leicht gekürzt wiedergeben, erschien im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 27. Dezember 2020.

 




Das Wichtigste aus Polen 22.November bis 26.Dezember 2020

Kommentator Prof. Waldemar Czachur und Janusz Tycner streiten lebhaft über die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦  Die Corona-Epidemie macht dem Land zu schaffen, aber das Blatt wendet sich zum Besseren.  ♦  Recht auf Leben versus Recht auf Entscheidung gegen das Leben. Proteste gegen das Urteil des Verfassungsgerichts zum besseren Schutz des ungeborenen Lebens werden immer kleiner und immer extremer.  ♦ Nach dem EU-Gipfel ohne polnisch-ungarisches Veto.  Polnisches Befinden auf dem Weg vom  Minderwertigkeitskomplex zu neuem Selbstwertgefühl.




Das Wunder des Abschiednehmens

Vom Umgang mit todkranken ungeborenen Kindern.

Gespräch mit Tisa Żawrocka-Kwiatkowska, der Begründerin der Gajusz-Stiftung in Łódź/Lodsch.

Wie viele Kinder haben Sie gemeinsam mit deren Eltern auf dieser Welt in Empfang genommen und wie viele verabschiedet?

Die Gajusz-Stiftung gibt es seit mehr als zwanzig Jahren. Sie hilft unheilbar kranken Kindern, indem sie sie hospizmäßig zu Hause oder stationär betreut. Unser stationäres, pränatales, also vorgeburtliches, Hospiz besteht seit sieben Jahren. Inzwischen bin ich bei knapp zwanzig Geburten dabei gewesen, aber das sind beileibe nicht alle. Wir haben oder hatten insgesamt etwa einhundert Familien in Betreuung.

Tisa Żawrocka-Kwiatkowska.

Können Sie sich an alle erinnern?

Ich erinnere mich sehr gut an Vornamen und an die Geschichten. Ich lösche die Fotos auf meinem Handy nicht. Gemeinsam haben wir die schwierigsten und wichtigsten Augenblicke erlebt. Das verbindet, und zwar, das wird mir jetzt bewusst, über Jahre.

Welche Geschichte hat sich Ihnen am tiefsten eingeprägt?

Es waren viele. Zum Beispiel diese. Sie passierte kurz vor Ausbruch der Corona-Epidemie. Die Mutter war unter zwanzig, schön wie eine Madonna und ungewöhnlich erwachsen. Sie gebar einen Sohn, auf den sie sehnsüchtig wartete. Das ungeborene Kind war schwer krank und starb sofort nach der Niederkunft. Sie sagte zu ihm, als sie ihn im Arm hielt: „Wie gut, dass du nicht lebst, dass du nicht leidest. Ich hatte solche Angst davor. Ich habe für dich alles getan, was ich tun konnte.“

Und der erste Patient?

Er hieß Mieszko. Seine Mutter hatte zuvor zwei Fehlgeburten. Deswegen entschied sie sich dafür eine vorgeburtliche Untersuchung durchzuführen. Sehr schnell hatte sich herausgestellt, dass der Junge, der unter ihrem Herzen heranwuchs, einen genetischen Defekt aufwies. Die Diagnose wurde mehrere Male bestätigt. Man legte ihr die vorgeburtliche Tötung des Kindes nahe. Sie hat abgelehnt.

Es war eine Monosomie des 13. Chromosoms. Neunzig Prozent der ungeborenen Kinder mit diesem Defekt sterben daran bis zum dritten Schwangerschaftsmonat. Die verbleibenden zehn Prozent leben höchstens bis zum siebenten Monat. Etwa 0,4 Prozent kommen auf die Welt. Das am längsten lebende Baby mit diesem Defekt starb nach 29 Tagen.

Wie hat sich die Mutter entschieden?

Sie wollte es auf die Welt bringen. Sie genoss jeden Moment der Schwangerschaft. Sie freute sich über die Schwangerschaft, wie jede Frau, die ein Kind erwartet. Sie wollte die Zeit so gut es geht nutzen, denn ihr war klar, dass die Zeit umso knapper wurde, je näher die Geburt rückte. Der Tag der Geburt konnte zugleich der Todestag sein.

Also verbannte sie alle Kalender und alle Uhren aus ihrem Leben. Sie betete, dass Mieszko lebend geboren wird. Sie wollte, dass die Großeltern ihn sehen, dass er getauft wird, dass er die Liebe der Familie erfährt. Die Familie wollte von ihm Abschied nehmen.

„Ich hatte einen schönen Traum. Er währte 40 Wochen und 4 Tage lang. Ich will ihn bis in die kleinsten Einzelheiten in Erinnerung behalten. Mein Traum, mein Wunsch, mein allerliebster Sohn ist heute im Himmel und schaut von dort auf mich. Er umsorgt mich von dort, »mein kleiner Familienheiliger«. Er gab uns etwas Besonderes: den Glauben daran, dass es Wunder gibt, dass die Liebe siegt, dass die Menschen gut sind“, so hat sie ihre Geschichte beschrieben. Wir haben sie später veröffentlicht.

Hat sie es geschafft, Abschied zu nehmen?

Ja. Sie konnte einige Augenblicke mit ihrem Sohn verbringen. Ihn begrüßen und verabschieden. Die nächsten Angehörigen haben ihn kennengelernt. Er wurde getauft. Die Taufpaten haben ihn im Arm gehalten. Die Großeltern haben seine Händchen gestreichelt. „Ich bin stolz, dass ich einen solchen Sohn gehabt habe. Niemals würde ich anders handeln. Ich habe auf Dich nicht verzichtet, mein kleiner Sohn. Ich liebe Dich für immer. Deine Mutter“, schrieb sie später in ihrem Brief.

Einmal haben wir Zwillinge in unserer Obhut gehabt. Der Junge kam gesund und kräftig zur Welt, seine Schwester ohne ein Händchen und ohne Nieren. Die Eltern wollten sie würdig verabschieden, und so ist es geschehen. Das Mädchen lebte acht Stunden lang. Als es starb, weinte der Bruder eine Stunde lang so heftig, dass man ihn auf keine Weise beruhigen konnte.

Polens First Lady Agata Kornhauser-Duda besuchte die Gajusz-Stiftung im November 2015.

Da war auch Janek, der kurz vor Weihnachten geboren wurde. Er lebte zwanzig Minuten lang. Er hat es geschafft, sich an die Mutter anzuschmiegen, an seinem Fäustchen zu nuckeln. Er wurde getauft. Vater und Oma konnten ihn im Arm halten. Der Fotograf machte wunderschöne Bilder. Für die Eltern sind sie von unschätzbarem Wert, weil sie die Erinnerungen wachhalten. Janek starb im Arm der Mutter, angeschmiegt, still, ohne Schmerzsymptome. Er hörte auf, an seinem Fäustchen zu nuckeln. Jedes Kind ist eine andere Geschichte.

Halten Sie Kontakt zu den Müttern?

Ja. Jahrelang. Ich weiß, was sie machen. Einige nähen für uns wunderschöne Kleidchen und Steckkissen, in denen Kinder bestattet werden können. Von keiner der Mütter habe ich jemals gehört, sie würde es bereuen, ihrem Kind ermöglicht zu haben, auf die Welt zu kommen. Im Gegenteil, sie wähnen sich glücklich, weil sie ihre Kinder kennenlernen konnten.

Warum nehmen die Eltern das alles auf sich?

Ihnen ist die Gewissheit wichtig, alles was möglich war, und manchmal mehr als das, für ihr krankes Kind getan zu haben. Je schwieriger es am Anfang ist, umso leichter ist es danach, damit fertig zu werden. Sie haben ihr Kind gesehen, von ihm Abschied genommen und es, wie es sich für einen Menschen gehört, bestattet. Es tut furchtbar weh, aber sie sind mit sich im Reinen. Das verleiht Kraft. Sie können am Grab ihres Kindes trauern und irgendwann zum normalen Leben zurückkehren.

Ihr Kind wurde nicht wie medizinischer Abfall, zusammen mit amputierten Gliedmaßen und herausoperierten krebskranken Organen, entsorgt. Es ist nicht, nach Einnahme von Abtreibungspillen, die Toilette hinuntergespült worden. Mit diesem Trauma werden viele Frauen ihr Leben lang nicht fertig.

Gab es Eltern, die es bereut haben?

Sicher kann man nie sein. Ich habe von einer der Mütter gehört, dass sie ihr erstes ungeborenes Kind beseitigen ließ, als sie von seiner schweren Krankheit erfuhr. Das habe bei ihr sehr tiefe seelische Wunden hinterlassen, die die Zeit nicht heilen kann. Deswegen hat sie ihr zweites unheilbar krankes Kind bei uns auf die Welt gebracht.

Schrecken die Entstellungen der Kinder die Eltern nicht ab?

Manche sehr. Auf diesen Anblick muss man sich vorbereiten. Mit einer der Mütter haben wir Fotos solcher Kinder angeschaut. Sie wollte sich abhärten. Es war sehr schwierig.

Nach der Geburt habe ich die Kleine angezogen, sie in eine Decke gehüllt und habe sie erst dann der Mutter gegeben. Sehr langsam, in ihrem Tempo hat sie ihr Töchterchen enthüllt.

Manche Kinder kommen wirklich sehr entstellt zur Welt, aber für die Frauen, die sie geboren haben, sind sie ihre allerliebsten Schätze. Eine der Mütter hatte sehr große Angst, ihr Kind anzuschauen. Sie nahm es mit geschlossenen Augen in den Arm und begann ihm ein Wiegenlied zu singen, das sie während der ganzen Schwangerschaft gesungen hatte. Irgendwann öffnete sie die Augen, sah ihr Kind und sagte: „Mein Sohn, was bin ich für eine Mutter! Ich hatte Angst, dich anzuschauen, und du bist so schön“. Eine andere Mutter bat mich, allen Frauen in dieser Situation zu sagen, dass am Ende die Liebe stärker sein wird als die Angst.

Der Anblick ist manchmal kaum zu verkraften. Kann man die Mutter auf eine solche Begegnung vorbereiten?

Man kann, aber nicht immer. Für mich ist der Anblick eines schwer kranken Kindes nicht abstoßend. Unsere Hospiz-Mitarbeiter bereiten die Mutter auf das vor, was sie erwartet. Sie erfährt, wie ihr Kind aussehen wird, wie man ihm helfen kann, was und wie man es der Familie und den Geschwistern sagen soll, und ob sie ihre kranke Schwester oder ihren kranken Bruder zu sehen bekommen sollen. Was nicht heißt, dass die Mütter nicht leiden. Sie leiden, aber sie wissen, was sie erwartet, und haben Menschen um sich, die ihnen helfen.

Haus der Gajusz-Stiftung in Łódź.

Wann beginnt die Hilfe des pränatalen Hospizes?

Sie sollte gleich nach der Diagnose einsetzen. Zuallermeist jedoch passiert das später oder zu spät, weil der Arzt die Patientin nicht darüber informiert hat, dass es unsere Einrichtung gibt. Nur wenige Frauen erfahren von uns im Sprechzimmer. Der Rest gelangt zu uns über Facebook oder weil es ihnen jemand gesagt hat.

Dabei sollte die Standard-Verfahrensweise der Ärzte sein, einfach zu sagen: „Wir überweisen Sie in die Obhut des Pränatal-Hospizes. Die wissen dort, wie man verfährt. Sie haben Psychologen, Genetiker, Gynäkologen, Neonatologen, Kinderärzte und werden sich Ihrer professionell annehmen. Alles ist umsonst, es gibt keine Wartezeiten. Soll ich für Sie einen Termin vereinbaren?“ Leider passiert das sehr selten, auch wenn die Frau das kranke Kind auf die Welt bringen will.

Und was dann?

Die Folge dieser ärztlichen Nachlässigkeit und des fehlenden Prozedere sind große Tragödien. In einem der Krankenhäuser in Łódź gebar eine Mutter, die ihr krankes ungeborenes Kind nicht abtöten lassen wollte, ein hirnloses Baby. Leider hatte sie niemand darauf vorbereitet, was sie erwartet, niemand mit ihr geredet. Die Frau bekam Weinkrämpfe, schrie, wollte niemanden sehen, verfiel in Depression.

Uns ist so etwas niemals widerfahren, weil wir professionell und genau auf solche Fälle vorbereitet sind. Ein pränatales Hospiz ist nicht einfach nur eine Einrichtung. Das ist vor allem eine Art, darüber nachzudenken, wie zu verfahren ist, um den Eltern zu helfen, die auf die Geburt eines schwer kranken Kindes warten. Wir betreuen Schwangerschaften, an deren Ende keine glückliche Entbindung stehen wird.

Zu uns kommen zumeist Eltern, die bestürzt und betäubt sind vor  seelischem Schmerz, die nicht weiterwissen. Es gilt, mit dem riesigen Unterschied fertig zu werden, wie Frauen und Männer mit einer solchen Situation umgehen. Der Psychologe muss versuchen, eine schwere Ehekrise abzumildern oder zu verhindern. Unsere Ärzte müssen bereit sein, sich manchmal sehr viel Zeit für die Eltern zu nehmen, weil Menschen, die einem solchen Stress ausgesetzt sind, große Probleme haben, sich zu konzentrieren, sich zu merken, was ihnen vermittelt wird.

Es geht darum, eine fortwährende medizinische, psychologische und soziale Hilfe zu gewährleisten von der Diagnose an, während der ganzen Schwangerschaft bis zur Niederkunft, die von uns organisiert wird. Das geborene kranke Kind wird im Hospiz oder, wenn es möglich ist, zu Hause von uns betreut.

Kommt es vor, dass Fehldiagnosen gestellt werden und die Kinder gesund geboren wurden?

In den sieben Jahren hatten wir fünf solcher Fälle. Vier Mal wurden Kinder geboren, die nicht schwer, sondern nur leicht oder sehr leicht geschädigt waren. Ein Kindlein war völlig gesund. Wie man sieht, können sich Ärzte irren, können auch die modernsten Geräte für pränatale Untersuchungen irreführende Diagnosen herbeiführen. Es sind jedoch absolute Ausnahmen.

Kam es vor, dass trotz aller gutgemeinten Beratung, die Eltern sich dennoch für die Abtreibung entschieden haben?

Alles, was wir machen, ist auf die Erhaltung des Lebens ausgerichtet. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, ein Leben, das ihm vergönnt ist. Egal ob es zwanzig Minuten oder hundert Jahre lang währen soll. Wir sagen, wie wir helfen können, und wir sagen, dass wir helfen wollen. Aber wir missionieren nicht. Das ist nicht die Aufgabe eines pränatalen Hospizes. Von den etwa einhundert Familien, die zu uns kamen, haben zwei die Abtreibung vorgezogen.

Was muss einhergehen mit dem durch das Verfassungsgerichtsurteil am 22. Oktober 2020 auf kranke, ungeborene Kinder ausgeweiteten Schutz des ungeborenen Lebens?

Dieser ausgeweitete Schutz ist wichtig. Abtreibungen waren möglich, wie es hieß, aufgrund einer schweren Schädigung eines ungeborenen Kindes. Zu mehr als neunzig Prozent aber handelte es sich dabei aber um Kinder mit dem Down- und dem Turner-Syndrom. Lebensfähige ungeborene Menschen wurden aufgrund ihrer Behinderung getötet. Es gibt inzwischen Länder in Europa, die mit Stolz darauf verweisen, dass bei ihnen praktisch keine Kinder mit diesen beiden Krankheiten zur Welt kommen. Das soll bei uns nicht so sein.

Wir sprechen hier aber die ganze Zeit von diesen etwa fünf bis sechs Prozent der Fälle, in denen die Kinder nur geringe Überlebenschancen haben. Was wir jetzt brauchen, ist die Entstehung eines funktionierenden Systems. Die Ärzte überweisen nicht an pränatale Hospize, die Krankenhäuser arbeiten mit ihnen zusammen, mehr schlecht als recht. Das Personal ist nicht geschult im Umgang mit Müttern schwer kranker ungeborener Kinder. Die Mütter leiden sehr darunter, weil sie keine Ahnung davon haben, dass sie fachgerechte Hilfe in Anspruch nehmen können.

Woran mangelt es den pränatalen Hospizen in Polen?

Wir haben knapp fünfzig davon im Land. Es mangelt vor allem an einer guten Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern.

Tisa Żawrocka-Kwiatkowska mit Sohn Gajusz.

Wie entstand die Gajusz-Stiftung?

Sie entstand in einer unruhigen Winternacht des Jahres 1997. In der zweiten Etage des Krankenhauses in der Spornastraße in Łódź. Sie entstand aus Liebe und Angst. Mein mehrmonatiges Kind hatte keinen kompatiblen Knochenmarkspender und die Befunde wurden immer schlechter. Die Ärzte bereiteten mich auf das Schlimmste vor.

Damals kam mir die Idee, eine Stiftung zu gründen, die so heißen sollte wie mein drittes Kind, mein Sohn: Gajusz-Stiftung. Sie sollte kranken Kindern und ihren Familien helfen. Ich habe an ein Wunder geglaubt. Nach gut zehn Tagen wurden die Befunde besser. Gajusz wurde gesund. Er ist inzwischen 24 Jahre alt, fast zwei Meter groß, hat sein Studium in England abgeschlossen.

Kurz nach seiner Genesung habe ich bei Gericht die Registerunterlagen der neu gegründeten Gajusz-Stiftung abgeholt. Seitdem tue ich alles, damit kranke Kinder nicht allein bleiben, so wie das Mädchen aus dem Waisenhaus, das im Isolierzimmer gegenüber dem meines Sohnes starb, festgeklammert an die Hand der Stationshilfe.

Wie entwickelt sich die Tätigkeit der Stiftung?

Zu dynamisch. Wir betreuen mehr als fünfhundert Kinder. Wir lieben sie und wir versuchen mit dem lieben Gott ins Gespräch über eine Verlängerung von Tag und Nacht auf mindestens sechsunddreißig Stunden zu kommen.

Was haben Sie noch vor?

Auf keinen Fall noch größer zu werden. Wir brauchen schon jetzt mehr Mitarbeiter.

Als ich vor vier Jahren bei Ihnen war, habe ich Ania kennengelernt, ein schwer geschädigtes Mädchen, dessen Eltern die Kraft fehlte, es zu pflegen und zu erziehen. Was ist mit ihr passiert?

Es war wichtig, die Eltern zu unterstützen und darin zu bestärken, dem Kind das Leben zu schenken. Sie gaben es anschließend zur Adoption frei. Ania lebt heute in einer Pflegefamilie und ist glücklich. Wunder geschehen bei uns am laufenden Band.

Das Gespräch, das wir, mit freundlicher Genehmigung, leicht gekürzt wiedergeben, erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 8. November 2020.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 25.Oktober bis 21.November 2020

Aleksandra Rybińska und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Radikal. Brutal. Vulgär.  Massenproteste gegen das Verfassungsgerichtsurteil zum besseren Schutz des ungeborenen Lebens scheiterten an ihren Maßlosigkeiten und verkamen zu machtlosen Wutausbrüchen  immer kleinerer Aktivisitengruppen. ♦  Wie der Unabhängigkeitsmarsch am Nationalfeiertag, dem 11. November, außer Kontrolle geriet. ♦  Polens Veto gegen den sog. EU-Rechtsstaatsmechanismus.  Vorgeschlagene Androhung des Geldentzugs erlaubt uneingeschränkte Fremdeinmischung in alle Bereiche der Innenpolitik.




Allein für das Leben

Polnische Ärztin gegen den Staat Norwegen.

Fast fünf Jahre lang kämpfte Katarzyna Jachimowicz darum als Ärztin arbeiten zu dürfen ohne an der Tötung ungeborener Kinder teilnehmen zu müssen.

Dr. Katarzyna Jachimowicz arbeitete nach dem Medizinstudium, seit 1999, als Familienärztin in ihrer Heimatstadt Białystok. Im Jahr 2008 siedelte sie nach Norwegen um, wo ihr Ehemann, ein Radiologe, ein lukratives Arbeitsangebot erhalten hatte. Nach zwei Jahren des Norwegischlernens und der Erledigung notwendiger Formalitäten, begann sie 2010 als Hausärztin in der Viertausend-Einwohner-Gemeinde Sauherad in der Provinz Telemark, in Südnorwegen.

Das Gespräch mit Frau Jachimowicz veröffentlichte das Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 8. Dezember 2019.

Das Titelbild entstammt einer Solidaritätsaktion mit ihr.

Wie ist es um den Schutz des ungeborenen Lebens in Norwegen bestellt?

Die Abtreibung auf Wunsch ist bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlaubt. Wird beim Kind oder bei der Mutter eine Erkrankung festgestellt, dann verlängert sich die Frist bis zur achtzehnten Schwangerschaftswoche.

Die Verabschiedung dieser Regelungen (1978 – Anm. RdP) war nur eine Zwischenstation in einer fortlaufenden Entwicklung. Wobei in Norwegen die Verschiebung der Grenzen nur in eine Richtung vonstattengeht: gegen das Leben.

Das Gesetz, das den Schutz der ungeborenen Kinder aufgehoben hat, wurde mit nur einer Stimme Mehrheit verabschiedet, begleitet von Massenprotesten christlicher Kreise. Viele Teilnehmer dieser Proteste wurden verhaftet. Ich bin Leuten begegnet, die deswegen bis zu zwei Wochen im Gefängnis verbracht haben. Protestierende Pastoren wurden entlassen, weil die Kirche in Norwegen eine staatliche Institution ist. Von 1978 an wurden in Norwegen eine halbe Million ungeborene Kinder beseitigt. Das sind zehn Prozent der Bevölkerung.

Gemeinde Sauherad.

Wann haben Sie erfahren, dass die Gewissensklausel aufgehoben wird?

Als ich nach Norwegen übersiedelte wusste ich, dass es dort zu den Pflichten eines Hausarztes gehört Frauen zur Abtreibung zu überweisen und Mittel für eine frühe Abtreibung einzusetzen. Ich wusste aber auch, dass in Norwegen die Gewissensklausel gilt und dass ich mich weigern darf solche Handlungen vorzunehmen. Mir war nicht klar, dass Norwegen, ein Land der Freiheit und Toleranz, sich in dieser Hinsicht dermaßen totalitär geben würde.

Bald stellte sich heraus, dass, wenn Sie sich auf die Gewissensklausel berufen, sie als Hausärztin nicht arbeiten dürfen.

Ab Januar 2015 galt das neue Hausärzte-Gesetz. Es hob die Gewissensklausel in der Familienmedizin auf.

Hat die Gesellschaft das befürwortet?

Als das Hausärzte-Gesetz geändert wurde, gab es in ganz Norwegen sechzehn Mediziner, die sich auf die Gewissensklausel beriefen. Darunter mich.

Poliklinik in Sauherad.

Gegen uns haben Feministinnen Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmern veranstaltet. Meine Vorgesetzte stellte mich damals vor die Wahl: entweder du änderst deine Meinung oder du kündigst. Man erwartete, dass ich von alleine aufgebe. Damals hatten bereits zwei Kollegen in derselben Lage wie ich den Dienst quittiert.

Ich habe mich geweigert, weil ich sah wie die Rechte christlicher Ärzte zielstrebig eingeschränkt wurden. Das Recht auf die Gewissensklausel ist ein Menschenrecht. Man kann dem Beruf nicht gleichzeitig mit zwei entgegengesetzten Wertenormen nachgehen. Ich bin Katholikin, also bin ich für das Leben. Die Tötung eines Menschen, sei es auch in einer sehr frühen Lebensphase, ist unzulässig.

Man hat jedoch von mir erwartet, dass ich meine Arbeit verrichte und meine Wertvorstellungen währenddessen an der Garderobe abgebe. Als Mensch bin ich jedoch ein Ganzes. Ich habe meinen Vorgesetzten gesagt, dass sie es sind, die mich entlassen müssen. Von alleine gehen würde ich nicht.

Was passierte dann?

In einer ausweglosen Lage findet man manchmal doch einen Weg. Man hat mir gekündigt. Aber das erlaubte mir, einige in Norwegen geltende Mechanismen bloßzustellen und das war, gewissermaßen, bereits ein Sieg.

Was zeigte ihr Rausschmiss?

Dass Norwegen ein intolerantes Land ist. Man achtet dort verschiedene Nationalitäten, Glaubensrichtungen, Minderheiten, alle möglichen Lebensweisen, aber meine wurde nicht akzeptiert. Das ist ein eklatanter Bruch von Menschenrechten und die öffentliche Meinung nahm das wahr.

Ich war die erste Person meines Berufsstandes, der in Norwegen aufgrund von ihr vertretener Ansichten gekündigt wurde. Allein zu zeigen, wie das funktioniert war ein Sieg. Ich hatte erwogen vor Gericht zu klagen, aber damals erschien mir das unrealistisch. Es bedurfte eines großen finanziellen Aufwands, eines guten Anwalts, eines medizinischen Umfelds, das bereit war mich zu unterstützen. Ich war jedoch allein.

Sie waren ohne Arbeit. Was haben sie gemacht?

Nach meiner Entlassung bekam ich, rein zufällig, ein Angebot in der Psychiatrie zu arbeiten. Ich habe es angenommen.

Psychiatrie, das ist ein ganz anderes Fachgebiet.

Norwegens Christliche Ärztevereinigung. Logo.

Ja, eine völlig neue Herausforderung. Gleichzeitig kamen Vertreter der Christlichen Ärztevereinigung auf mich zu. Protestanten. Sie fanden einen Anwalt und stellten Geld zur Verfügung, damit ich meinen Arbeitgeber verklagen konnte.

Wie hat die Gemeinde, die Sie entlassen hat darauf, reagiert?

Die Verantwortlichen waren wütend. Sie versuchten mich zu bestechen, damit ich die Klage zurücknehme. Ich sollte ein Entgelt für meine Umschulung bekommen, und zwar in Höhe des norwegischen Mindestgehalts. Die Summe konnte nicht einmal den Verlust eines vorherigen Monatsgehalts aufwiegen.

Haben Sie aus materiellen Beweggründen geklagt?

Nein. Es ging mir darum, dass das geltende Recht all jene benachteiligt, die der Meinung sind, das Leben sei heilig von der Zeugung bis zum natürlichen Tod. Niemand, der das behauptet könnte jemals in Norwegen Hausarzt werden. Dagegen bin ich vorgegangen. Keine Geldsumme konnte mich davon abhalten.

Katarzyna Jachimowicz mit ihrem Anwalt Haakon Bleken.

Wie sah die erste Verhandlung aus?

Mein Anwalt hatte sich sehr gut vorbereitet. Was er vorgetragen hat, war eine philosophische, historische, juristische Ausführung über die Bedeutung der Gewissensklausel für den Menschen, die Menschheit und die Ärzteschaft. Seiner Argumentation wurde kein Gehör geschenkt. Das Gericht hat meine Klage (im Februar 2017 – Anm. RdP) abgewiesen.

Es sah in meiner Kündigung keinen Rechtsbruch. Das Gericht befand, dass mein Umgang mit Frauen diskriminierend sei, weil ich einer Frau die zu mir kommt das Einsetzen einer Spirale verweigern könnte, ein Mann jedoch mit einer solchen Weigerung nicht konfrontiert wäre. Als ich das hörte, konnte ich mich, obwohl ich verloren hatte, vor Lachen kaum halten.

Welche Folgen hatte Ihre Niederlage in erster Instanz?

Vor allem enorme Gerichtskosten. Es waren einige Hunderttausend Kronen (1 Euro entspricht ca. 10 NOK – Anm. RdP). Ich war jedoch entschlossen weiter zu kämpfen und auf einen langen Verfahrensweg gefasst, sogar bis nach Straßburg (bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – Anm. RdP).

Hatte der Prozess Widerhall gefunden?

Ja. Schon nach der ersten Verhandlung änderte sich in den norwegischen Medien der Ton. Die Kommentare wurden ausgewogener. Die Hetzjagd auf die christliche Ärzteschaft war zu Ende. Auch die Leserkommentare waren interessant. Sie reichten von Hohn und Verharmlosung bis hin zu Hochachtung. Zudem hatten Feministinnen ein Problem mit mir, weil ja eine Frau, eine Immigrantin und dazu noch die Vertreterin einer religiösen Minderheit gefeuert worden war.

Norwegisches Antiabtreibungs-Plakat.

Dann fand die Verhandlung in der zweiten Instanz statt.

Wir wiederholten unsere Darlegung, aber dieses Mal hatten wir den Vorsitzenden der Familienärztlichen Vereinigung als Zeugen berufen. Er sagte aus, dass ihn die Zusammenarbeit mit einer Person wie mir, die aus moralischen und religiösen Beweggründen die Anwendung einiger Prozeduren verweigert, nicht stören würde. Man könne die Arbeit so organisieren, dass sich die Achtung vor den Wertvorstellungen eines Arztes und der reibungslose Arbeitsablauf in einer Poliklinik miteinander vereinbaren ließen.

In der Verhandlung sagte ein weiterer Arzt als Zeuge aus. Auch er benahm sich sehr anständig. Die berufliche Solidarität hatte für ihn ebenfalls Vorrang, obwohl er meine Ansichten nicht teilte. Direkte Arbeitskollegen von mir hatten einen Appell zu meinen Gunsten verfasst. Ich bekam viel Unterstützung.

Aber alle diese Leute waren nicht Ihrer Meinung.

Ja, doch sie fanden, dass ich das Recht habe Handlungen zu verweigern, die ich für niederträchtig halte. Meine Haltung hat bei ihnen Gewissenskonflikte hervorgerufen. Sie wurden mit Problemen konfrontiert, die sie eigentlich für längst entschieden hielten. Meine Botschaft war eindeutig: das Leben ist heilig vom Augenblick der Zeugung bis zum natürlichen Tod. Gleichzeitig ist es aber erlaubt ungeborene Kinder im Alter von bis zu zwölf Wochen zu töten. Diese beiden, nebeneinander existierenden Situationen verunsichern, verstören das Gewissen von Ärzten und Patienten.

Damals hatte ich sehr viele Gespräche mit Patientinnen, die ihre Kinder hatten abtreiben lassen. Sie kamen und erzählten mir ihr Leid. Dass sie vielleicht anders hätten handeln sollen. Eins wiederholte sich immer wieder und jedes Mal lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter; jede von ihnen erzählte von ihrer endlosen Vereinsamung.

Als sie sich für die Abtreibung entschieden haben, wurde ihnen gut zugeredet, hieß es von allen Seiten: „Das ist dein Recht, deine Entscheidung“. Danach war aber niemand mehr da. Alle diese Frauen berichteten von ihrem schrecklichen, einsamen Ringen mit den psychischen Folgen, weil sie ihr Kind hatten abtreiben lassen. Wo sind die Familien, wo ist die medizinische Fürsorge, wo ist die Gesellschaft? Warum helfen sie diesen Frauen nicht?

Ich frage manchmal katholische Priester, ob Frauen die Abtreibung beichten. Ja, das tun sie. Und wie viele Männer beichten sie? Es gibt sie nicht! Wo sind die Ehemänner, die Partner, die Väter dieser Kinder? Sie haben sich abgewandt, sie haben die Frauen allein gelassen oder sie zur Abtreibung überredet, nicht selten genötigt, erpresst mit der Drohung „Ich oder das Kind“.

Wie endete das Verfahren in der zweiten Instanz?

Ich habe gewonnen. Die Urteilsbegründung enthielt das, worauf ich bestanden habe: die Menschenrechte.

Katarzyna Jachimowicz gibt ein Fernsehinterview vor der Verhandlung vor dem Obersten Gericht in Oslo.

Doch das war nicht das Ende.

Die Gemeinde hat Berufung beim Obersten Gericht eingelegt. Es kam zu einer weiteren Verhandlung. Das Spruchgremium bestand aus fünf Richtern und ich habe mit fünf zu null Stimmen gewonnen. Das hat meine kühnsten Erwartungen übertroffen.

Ihr Sieg fand ein großes Echo in den Medien. Wie haben die christlichen Kreise reagiert?

Die Christliche Ärztevereinigung wertete das als einen großen Erfolg, den wir auf einer eigens veranstalteten Konferenz dann auch gefeiert haben.

Erschöpft und glücklich. Gewonnen!

Und wie hat die katholische Kirche reagiert?

Zwei norwegische katholische Gemeinden haben mich eingeladen, aber ansonsten war es so, als würde die Sache für die Kirche nicht existieren.

Und die Polen in Norwegen. Betrachteten sie es als ihren Erfolg?

Schwierige Frage. Die polnischen Organisationen in Norwegen haben es offiziell nicht vermerkt. (In Norwegen lebten, laut offiziellen Statistiken, im Jahr 2019 gut 105.000 Polen. Sie stellten die größte Gruppe von Ausländern – Anm. RdP).

Und die polnischen Pfarreien, polnische Priester, vielleicht die Bischöfe in Polen?

Nein. Niemand sagte zum Beispiel zu mir „Gute Arbeit! Du hast die katholischen Werte verteidigt.“

(Die lange Auseinandersetzung Frau Jachimowiczs mit den norwegischen Behörden wurde in Polen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Zahlreiche Presseberichte, Solidaritätsbekundungen und You-Tube-Aufnahmen sind im Internet leicht zu finden – Anm. RdP).

Woher nahmen Sie die Kraft für Ihren Kampf?

Ich habe viel gearbeitet und viel gebetet: ora et labora. Ich bekam auch Unterstützung von unerwarteter Seite.

Unmittelbar vor der letzten Verhandlung hat eine Bekannte von mir kontemplative Orden in ganz Polen benachrichtigt. Ich bekam Tausende von E-Mails mit der Nachricht, dass Menschen für mich beten. Es war wie ein Windrauschen. Die lebendige, betende Kirche stand mir bei.

Die Protestanten haben gefragt: „Wir haben den Anwalt organisiert. Wir sammeln Geld. Was wird die katholische Kirche beisteuern?“ Meine Antwort war: „Ich habe kein Geld, aber ich weiß, dass in allen kontemplativen Klöstern in Polen für uns gebetet wird, auch für euch Protestanten“.

Das war richtige Ökumene. Katholische Nonnen und Mönche beten für Protestanten, wenn wir gemeinsam ein Ziel verfolgen. In solchen Augenblicken friert die Hölle ein.

Als meine Patienten erfuhren, dass ich entlassen werde, haben sie verständnisvoll mit den Köpfen genickt. „Du hattest keine andere Wahl. Bei den Katholiken ist das so“. Ich war die einzige Katholikin die sie persönlich kannten und sie waren der Meinung, so sei der Katholizismus.

Wie waren die juristischen Folgen des gewonnenen Prozesses?

Es erschien eine Veröffentlichung der Regierung über die Gewissensklausel in verschiedenen Berufen, darin wurde mein Fall als Quelle wichtiger institutioneller und juristischer Erwägungen besprochen. Ich bin in die Geschichte eingegangen (lacht).

Es gab auch eine junge Ärztin aus der Pfingstkirche, die man während des Praktikums entlassen hatte, weil sie sich auf die Gewissensklausel berufen hatte. In der Urteilsbegründung stützte sich das Gericht auf meinen Fall. Sie gewann ihren Prozess und konnte ihr Praktikum beenden.

Leider richten sich alle Veränderungen in Norwegen gegen das werdende Leben. Vor Kurzem beschäftigte eine Debatte über die selektive Abtreibung bei Mehrlingsschwangerschaften das Land. Es gibt Fälle, bei denen Frauen, die gesunde Zwillinge zur Welt bringen könnten, eines der Kinder abtreiben wollen.

Wie geht das vonstatten?

Unter Anwendung der Ultraschalltechnik wird mit einer Nadel in das Herz des Kindes gestochen, das sich in der Nähe des Ultraschallkopfes befindet. Über die Nadel wird Kaliumchlorid injiziert. Es kommt zum Herzstillstand, das Kind stirbt. Der Organismus ist in der Lage den abgetöteten Embryo zu absorbieren, sodass das andere Kind sich theoretisch unbeschadet weiterentwickeln kann. Nicht selten kommt es jedoch zu Komplikationen, die eine Fehlgeburt und somit auch den Tod des zweiten Kindes nach sich ziehen. Am Ende der heftigen Debatte gelang es, die selektive Tötung auf Wunsch bei Mehrlingsschwangerschaften zu verbieten. Entweder beide oder keins. Das ist das Maß des „Erfolgs“.

In der letzten Legislaturperiode (2015 – 2019 – Anm. RdP) des Sejm gelang es nicht den Schutz des ungeborenen Lebens auf ungeborene Kinder auszuweiten, bei denen eine Krankheit oder eine Behinderung festgestellt wurden. Was sagen Sie Müttern, die Angst haben ein krankes Kind auf die Welt zu bringen?

Kranke Kinder muss man heilen und nicht töten. Es gibt in Polen vorgeburtliche Hospize mit hochqualifiziertem Personal, das dazu da ist, um in solchen Fällen zu helfen.

Ihr Kampf ist noch nicht zu Ende. Warum?

Das Gericht sprach mir eine Entschädigung zu für die Zeit, in der ich nicht arbeiten konnte, legte jedoch deren Hõhe nicht fest. Ein Jahr ist vergangen, aber die Gemeinde Sauherad hat bis jetzt nicht gezahlt. Sie behauptet, ich hätte keine finanziellen Einbußen gehabt und stellt verschiedene unwahre Behauptungen auf.

Fünf Jahre Kampf und kein Ende in Sicht. War es das wert?

Auf jeden Fall! Wenn nicht wir, wer dann? Irgendjemand musste das Problem aufgreifen. Die Gewissensklausel hat mein Leben geprägt, also musste ich es tun. Es lohnt sich anständig zu sein. Hier und jetzt, egal was es kostet.

Meine Geschichte zeigt, dass auch eine Einzelperson ohne große Mittel etwas bewirken kann. Das ist meine Botschaft. Wir dürfen keine Angst haben. Wir können etwas ausrichten, sagen was wir denken. Die Folgen können schwerwiegend sein, der Lohn wiegt aber ebensoviel.

Woher haben Sie die Kraft geschöpft?

Wenn du einen langen und schweren Weg vor dir hast, solltest du ihn in kleine Etappen aufteilen und sie gefasst, Schritt für Schritt, stets vom Gebet begleitet, zurücklegen.

Wenn man in eine anscheinend ausweglose Lage gerät, hat man immer die Wahl. Entweder sich zu beklagen und seine Feinde zu verwünschen oder zu den stärksten Waffen eines Christen zu greifen: zur Liebe und zur Vergebung.

Ich habe von Anfang an für die Leute aus dem gegnerischen Lager gebetet. Ich begann stets mit der Bitte ihnen zu vergeben.

Die Christen haben triumphiert, nicht weil sie von Löwen in den römischen Arenen zerfetzt wurden, sondern weil sie fähig waren zu vergeben. Gott begegnet uns unter verschiedenen schwierigen Umständen, damit die andere Seite etwas auskosten kann. Vielleicht sich bekehren? Das ist ein großes Wort. Einen solchen Ehrgeiz habe ich nicht. Wichtig ist, welche Haltung man an den Tag legt. Man muss den aufrechten Gang gehen.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 22. April – 12. Mai 2018

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Tragisches Grubenunglück und das Hoffen auf das Wunder von Jastrzębia Góra ♦ Karl-Marx-Feierlichkeiten in Deutschland lösen in Polen ungläubiges Staunen aus ♦ Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit blockiert weitergehenden Schutz  des ungeborenen Lebens, bricht damit eines ihrer Wahlversprechen und verprellt Hunderttausende treuester Wähler ♦ Gute Nachricht aus Brüssel: im EU-Haushaltsentwurf für 2021-2027 wird Polen weder bestraft noch diskriminiert.




Das Wichtigste aus Polen 24. Dezember 2017 – 23. Januar 2018

Kommentator Prof. Grzegorz Kucharczyk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Pragmatiker ersetzten Vorkämpfer. Regierungsumbildung abgeschlossen: Einschätzungen, Deutungen, Prognosen. ♦ Zwei Bürgergesetzinitiativen: für und gegen die Tötung ungeborener Kinder. Debatte und Abstimmung im Sejm. Parlamentarische Opposition versetzt sich selbst einen vernichtenden K O-Schlag.  ♦ Welche Gefahren gehen für Polen von der deutschen GroKo aus?

 




Das Wunder von Wrocław

Geboren 55 Tage nach dem Tod der Mutter.

Die Frau war einunddreiβig, als die Ärzte bei ihr einen Gehirntumor feststellten. Operieren lassen wollte sie sich nicht. Die möglichen Folgen des Eingriffs erschienen ihr zu riskant und so lebte sie zehn Jahre lang mit dem Tumor im Kopf weiter. Der Zusammenbruch kam in der 17. Schwangerschaftswoche. Ein Rettungswagen brachte sie ins Krankenhaus, doch die Neurochirurgen konnten der Patientin nicht mehr helfen.

Nachfolgend dokumentieren wir groβe Auszüge eines Berichts des Wochenmagazins „wSieci“ („Im Netzwerk“) vom 02. – 08. Mai 2016.

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Prof. Andrzej Kübler

„Als sie zu uns kam, lag sie bereits im tiefen Koma und wurde künstlich beatmet. Alles deutete auf den Gehirntod hin“, berichtet Prof. Dr. hab. med. Andrzej Kübler, Leiter der Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin der Universitätsklinik in Wrocław/Breslau.

Die Frau war tot, doch ihr ungeborenes Kind lebte. „Als Neonatologin wurde ich gefragt, ob das Kind im Schoβ der Mutter eine Überlebenschance habe“, erinnert sich Prof. Barbara Królak-Olejnik, Leiterin der Klinik für Neugeborenenmedizin des Uniklinikums in Wrocław. „Meine Antwort war, dass höchstens fünf Prozent aller Frühchen, die bis zur 23. Woche auf die Welt kommen, eine solche Chance haben. Bei einer Frühgeburt zwischen der 24. und der 26. Woche dagegen überleben schon bis zu siebzig Prozent von ihnen. Deswegen sollte man versuchen die Schwangerschaft bis zur 25. oder, noch besser, bis zur 30. Woche aufrecht zu erhalten.“

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Prof. Barbara Królak-Olejnik

Die Ärzte stellten sich dieser Herausforderung.

„Eine Kommission zur offiziellen Feststellung des Hirntodes wurde nicht einberufen, denn einige damit verbundene Untersuchungen (Apnoetest, Angiografie der Hirngefäβe) hätten das ungeborene Kind schädigen können. So blieb die Patientin, juristisch gesehen, eine lebende Person. Um das Kind zu retten hielten wir, mit den Möglichkeiten, die die heutige Intensivmedizin bietet, die Funktionen der inneren Organe der Mutter aufrecht, ohne jedoch die Hoffnung zu haben, die werdende Mutter am Leben erhalten zu können“, schildert Prof. Kübler.

Kampf gegen die Zeit

Dass der Vater sein Kind unbedingt retten wollte, war für die Mediziner zusätzlicher Ansporn, aber wie der Kampf ausgehen würde, stand in den Sternen.

Zwar kennt die Medizin einige Dutzend ähnlicher Fälle, aber die meisten betrafen fortgeschrittenere Schwangerschaften, bei denen die lebenserhaltende Therapie für einen kürzeren Zeitraum durchgeführt werden musste.

„Wir hatten keinerlei Erfahrung mit der langfristigen Aufrechterhaltung von lebensnotwendigen Funktionen bei gehrintoten Patienten. Im Normalfall, d.h. im Rahmen der Transplantationsmedizin, dauert es ein, höchstens zwei Tage, bis die Organe für eine Organverpflanzung entnommen werden. Dann werden die Maβnahmen beendet“, sagt Prof. Kübler.

Die schwangere Frau war an ein Beatmungsgerät angeschlossen, bekam blutdruckstabilisierende Medikamente und wurde durch eine in die Bauchwand gelegte Öffnung über eine Magensonde ernährt. Den Ärzten war klar, dass sich ihr Zustand jeden Augenblick verschlechtern konnte, denn beim Ausfall des Gehirns laufen die Funktionen aller inneren Organe sehr leicht aus dem Ruder.

„Das ungeborene Kind wurde kontinuierlich überwacht. Ein Ärzteteam stand stets „Gewehr bei Fuβ“, um im Notfall einen Kaiserschnitt vornehmen zu können, ebenso wir, die Neugeborenenmediziner, um uns des Frühchens anzunehmen“, berichtet Prof. Królak-Olejnik.

Sehr schnell tauchten Probleme auf. Die Patientin erkrankte an einer Lungenentzündung, die mit einem für das ungeborene Kind unbedenklichen Antibiotikum ausgeheilt wurde. Immer wieder fiel der Blutdruck ab, es kam zu Störungen im Hormon- und Elektrolytehaushalt, Insulin musste gespritzt werden.

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Dr. Agnieszka Jalowska

Das Kind entwickelte sich normal, doch die Ärzte können nicht sagen, ob und gegebenenfalls welchen Einfluss, die langfristige Aufrechterhaltung von lebensnotwendigen Funktionen bei der Mutter auf den Jungen haben würde. „Viele schwangere Frauen erkranken an Infektionen und nehmen Medikamente“, erläutert Dr. Agnieszka Jalowska von der Klinik für Neugeborenenmedizin des Uniklinikums in Wrocław. „Diese Mutter jedoch bekam weit mehr Medikamente, und es gab viele bedrohliche Situationen.“

Sehr wichtig war die Arbeit der Krankenschwestern. Sie haben die Patientin gewaschen, eingerieben, ständig die Körperlage verändert, Medikamente verabreicht. Ihr Ehemann war ständig bei ihr, hörte mit ihr gemeinsam Musik, sprach mit ihr, las ihr vor.

Sie waren gut vorbereitet

Fünfundfünfzig lange Tage rangen die Ärzte mit dem Tod. Die Schwangerschaft konnte bis zum Ende der 26. Woche aufrechterhalten werden. Dann kam es zum Kaiserschnitt. Es war höchste Zeit, denn bei dem Eingriff stellte sich heraus, dass der Mutterkuchen nur noch ungenügend durchblutet wurde. Ein Junge mit einem Gewicht von 1.000 Gramm kam auf die Welt.

„Wir waren gut vorbereitet. Der Operationssaal befand sich gleich neben der Intensivstation, in dem die Mutter bis dahin gelegen hatte. Ein Arbeitsplatz für die Neugeborenenmediziner war eingerichtet, ein transportabler Brutkasten mit einem Beatmungsgerät stand bereit. In ihm wurde der Junge auf die Neugeborenen-Intensivstation gebracht. Dort wurde ihm als erstes ein Medikament zur Förderung des Lungenwachstums verabreicht. Das Kind war jedoch so schwach, dass es nicht selbständig atmen konnte. So wurde es vierzig Tage lang künstlich beatmet. In dieser Zeit bekam es schmerzstillende- und die Muskeln entspannende Mittel, um eine schmerzfreie Beatmung und Ernährung zu gewährleisten.

Nach der Geburt trat die Ärztekommission zusammen und stellte den Tod der Mutter fest.

„Dennoch, es ist eine wunderbare Geschichte. Die neuesten Errungenschaften der Medizin wurden angewandt, um ein junges Leben zu retten. Sie sollte immer wieder erzählt werden, da, in demselben Alter, in dem der ungeborene Junge sich beim Hirntod seiner Mutter befand viele Föten, bei denen z. B. das Down-Syndrom diagnostiziert wurde, durch Abtreibung getötet werden“, sagt Dr. Agnieszka Jalowska.

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Universitätsklinik in Wrocław

„Dieser Fall zeigt, dass Unmögliches möglich wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Arzt nicht Leben retten könnte. Das Leben war da, es existierte im Schoβ der Mutter. Wer, und warum sollte jemand entscheiden dürfen, dass es beendet werden soll?“, fügt Prof. Królak-Olejnik hinzu.

Drei Monate nach der Geburt verlieβ der kleine Wojciech das Krankernhaus. Er wog bereits drei Kilogramm, konnte selbständig aus dem Fläschchen trinken und sein Entwicklungsstand entsprach dem von Säuglingen im selben Alter. Es heiβt, Spazierfahrten an der frischen Luft bekommen ihm gut.

RdP




Fenster mit Aussicht auf Leben

Die UNO wird sie nicht schlieβen.

Als Fenster des Lebens bezeichnet man in Polen das, was in Deutschland, etwas salopp, Babyklappe genannt wird, seitdem die erste im Jahr 2000 in Hamburg eröffnet wurde. Knapp sechzig solcher Fenster gibt es heute im Land. Sie sollen Kurzschlussreaktionen verhindern, wenn Schock, Panik und Verzweiflung Mütter dazu bringen ihre Neugeborenen irgendwo abzulegen und dem Tod auszusetzten.

Seitdem es in Polen die Fenster des Lebens gibt, und die Medien über jedes dort gefundene Baby berichten, ist die Zahl tot aufgefundener Kleinstkinder deutlich zurückgegangen. Dennoch werden immer noch bis zu zwei Dutzend tote Neugeborene pro Jahr auf Müllkippen, in Parks und Wäldern gefunden.

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Das Fenster des Lebens in Koszalin von Innen und von Auβen gesehen.

Als Ende Januar 2016 Schwester Malwina Iwanicka (fonetisch Iwanitzka) als Erste mitten in der Nacht das Klingeln hörte und hinunterlief, war klar, was das bedeutete. Zum ersten Mal seit sie vor sechs Jahren das lebensrettende Fenster in ihrem Kloster der Gemeinschaft der Töchter der Gottesliebe in Koszalin/Köslin eingebaut hatten, hatte jemand dort ein Neugeborenes zurückgelassen.

Der Junge war nur in eine Trainingsjacke eingewickelt, blutverschmiert und unterkühlt. Er musste erst kurz zuvor zur Welt gebracht worden sein, nicht einmal die Nabelschnur war abgebunden. Die Schwestern legten das Baby in ein vorgewärmtes Bettchen und riefen, wie vorgesehen, den Rettungsdienst herbei. Das Kind wurde umgehend ins Krankenhaus gebracht. Es schwebte in Lebensgefahr, so die Ärzte.

Zum Glück konnte Gabriel, diesen Namen haben ihm die Schwestern gegeben, selbständig atmen und wachte in einem Brutkasten wieder auf. Er wurde ins Register Aufgefundener Kinder eingetragen und kann adoptiert werden. Es sei denn, seine Mutter meldet sich und möchte ihn zu sich nehmen. Laut polnischem Recht hat sie sechs Wochen Zeit dazu und muss keinerlei strafrechtliche Folgen fürchten.

Entsprechende Fälle gab es bereits. So geschehen z. B. 2013 in Zamość. Dort hatten die Franziskanerinnen ein in ein weiβes Handtuch eigewickeltes Neugeborenes in ihrem Fenster des Lebens gefunden. Das Kind kam ins Krankenhaus, zwei Wochen später bestätigte das Gericht seinen Vornamen Piotr, den ihm die Schwestern gegeben hatten, und fügte noch einen Nachnamen hinzu, denn nur so konnte eine Geburtsurkunde ausgestellt werden. Der Kleine kam in ein Heim und sollte sehr bald Adoptiveltern vermittelt bekommen. Adoptionswillige Paare gibt es auch in Polen weit mehr als Neugeborene, die angenommen werden können.

Plötzlich jedoch erschien die Mutter bei Gericht mit dem Antrag auf Feststellung ihrer Mutterschaft. Die Gentests bestätigten dann, sie war Piotrs Mutter. Das Gericht gab ihr Piotr zurück, schränkte aber ihre Elternrechte ein. Mittlerweile kommt der Betreuer nicht mehr jede Woche sondern schaut nur noch alle drei Monate bei Mutter und Kind vorbei. Das ist nun ausreichend.

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Fenster des Lebens in Wrocław.

Manchmal allerdings, gibt es leider kein Happy End. Mitte März 2016 fanden die Borromäerinnen-Schwestern in Wrocław/Breslau in ihrem Fenster ein totes Baby. „Hoffentlich wird es Martyna woanders besser haben“, stand auf einem beigelegten Zettel. Das Mädchen war ein Frühgeborenes. Es kam etwa im sechsten Monat zur Welt und war kurz danach im Fenster abgelegt worden.

Einen glücklichen Ausgang hatte hingegen die Geschichte der kleinen Agata, die eines Tages in 2010 im Fenster des Lebens am Kloster der Schwestern der Hl. Familie von Nazareth in Kielce lag. Ärzte stellten fest, das Kind sei gesund und gut gepflegt. Wenige Stunden später meldeten sich die Mutter und deren Großmutter im Krankenhaus.

Die junge Frau konnte zwar nicht beweisen, dass sie die Mutter sei, als sie aber Agata auf den Arm nahm und das Kind vor Freude zu strampeln und zu lachen begann, war das Misstrauen überwunden. Die Mutter legte das Baby an ihre Brust an, und beide durften im Krankenhaus übernachten.

Pfarrer Krzysztof Banasik, stellv. Leiter der Caritas in Kielce, deren Büros sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Fensters befinden, ging der Sache nach und fand eine sehr typische Situation vor. Das Leben der jungen Frau, die einer zerrütteten Familie entstammte, war ganz und gar aus den Fugen geraten. Der Vater des Kindes, ein noch nicht erwachsener Tunichtgut, hatte sich aus dem Staub gemacht, genauso wie schon lange zuvor ihre alkoholabhängigen Eltern. Die im Krankenhaus mit erschienene Großmutter lamentierte nur, dass die Enkeltochter es nie im Leben schaffen werde die Kleine groβzuuziehen.

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Pfarrer Krzysztof Banasik.

Pfarrer Banasik beschaffte zwei Kinderwagen und die übrige Säuglingsausstattung, und das Sozialhilfezentrum der Stadt versprach längerfristige Unterstützung. Das wiederum veranlasste das Familiengericht Agata der Mutter anzuvertrauen, allerdings unter der Kontrolle einer Betreuerin. Mittlerweile ist eine solche Betreuung nicht mehr erforderlich.

Die Fenster des Lebens sollen auf jeden Fall die Anonymität garantieren: ruhige Lage, keine Kameras, kein helles Laternenlicht, das Fenster muss von Auβen leicht zu öffnen sein, der Innenraum ist warm und klimatisiert. Die meisten befinden sich in Klöstern und Krankenhäusern.

Das erste Fenster dieser Art in Polen wurde 2006 in Kraków von den Nazarethanerinnen-Schwestern eingerichtet. Drei Monate später lag dort ein kleiner Junge. Die Schwestern wussten in der ersten Aufregung nicht was sie tun sollten. Das Neugeborene war unterkühlt und sehr schwach. Die Ärzte konnten es retten. Das Baby bekam bald darauf eine Geburtsurkunde ausgestellt, nach einigen Monaten hatte es eine Familie gefunden, in der es aufwachsen kann.

Heute dauert es nicht mehr so lange, bis dass ein Kind in seine neue Familie darf. Seit 2006 wurde auf diese Weise allein in Kraków 18 kleinen Menschen das Leben gerettet. Im Jahr 2014 entkamen in ganz Polen 77 Neugeborene durch die Fenster womöglich dem Tod.

Derweil versucht das UN-Komitee für Kinderrechte seit 2012 ein Verbot von Babyklappen durchzusetzen. Im November 2015 wurde auch Polen von der UNO namentlich aufgefordert die Fenster des Lebens abzuschaffen, weil sie das „Recht der Kinder“ verletzen, die eigenen Eltern kennenzulernen. Zitat: „Zudem unterbleibe eine Abwägung des Rechts auf Leben und Entwicklung (Artikel 6 der Kinderrechtskonvention) mit dem Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Identität und auf Beziehungen zu seinen Eltern.“

Okna życia Marek Michalak foto
Marek Michalak, der Kinderrechtsbeauftragte des polnischen Parlaments.

Dieser Appell der UNO dürfte wirkungslos bleiben, denn bei der Abwägung, die in Polen keineswegs unterbleibt, kommen die polnischen Behörden zu einem anderen Schluss als die UNO.

Marek Michalak, der Kinderrechtsbeauftragte des polnischen Parlaments bringt die offizielle Haltung auf den Punkt, indem er sagt: „Das Recht auf Leben hat Vorrang vor dem Recht auf Identität. Die Fenster des Lebens sind der ein Teil der Alternative, deren anderer Part sind die Müllkippe, der Wald oder ein Kübel. Das UN-Komitee spricht von der Identität des Kindes. Das ist für uns kein Argument im Wettlauf um sein Leben.“

Die Behörden wissen sehr wohl, was sie tun wenn sie der UNO widersprechen. Eine andere Haltung wäre der Öffentlichkeit nicht zu vermitteln und auch nicht durchsetzbar. Laut neusten Angaben kommen in Polen 99 Prozent der ungewollten Kinder in Krankenhäusern zur Welt und werden von dort zur Adoption vermittelt. Es geht also um das letzte eine Prozent. Dieses letzte Prozent soll auch eine Aussicht auf Leben haben.

© RdP




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