Polens Justizreform genau betrachtet 1. Das Gerichtsverfassungsgesetz

Was wurde wie verändert.

Drei neue Gesetze sollen das Fundament einer umfangreichen Justizreform in Polen bilden. Zwei von ihnen, dem Gesetz zum Obersten Gericht und dem zum Landesjustizrat, verweigerte Staatspräsident Andrzej Duda am 24. Juli 2017 die Unterschrift. Er hat Ende September dem Parlament diesbezüglich zwei eigene Gesetzesvorschläge unterbreitet, die Mitte Dezember 2017 verabschiedet wurden.

Das dritte Regelwerk, das neue Gerichtsverfassungsgesetz, trat bereits am 12. August 2017 in Kraft. „Der polnische Justizminister darf Richter nun ohne Grund entlassen oder austauschen“, meldeten die Medien im deutschsprachigen Raum (so z.B. die Zeit Online am 12. 08.2017). Es war eine von vielen Tatarenmeldungen dieser Art.

Was konkret beinhaltet das neue Gerichtsverfassungsgesetz?

1. Gerichtspräsidenten (nicht Richter) werden von nun an vom Justizminister be- und abberufen.

Auch nach der Abberufung aus dieser Verwaltungsfunktion bleiben die ehemaligen Gerichtspräsidenten Richter, führen Verhandlungen, fällen Urteile usw., denn Richter genieβen auch in Polen Weisungsfreiheit, sind und werden weiterhin auf Lebenszeit ernannt. Der Justizminister kann sie nicht entlassen.

Die neue Regelung, so die Absicht, soll die Arbeit der Gerichte effizienter gestalten, denn die Arbeitsorganisation an nicht wenigen von ihnen lässt viel zu wünschen übrig und gibt Anlass zu unzähligen Klagen der Bürger.

Bisher konnten Gerichtspräsidenten nur mit Zustimmung der Richter-Vollversammlung des jeweiligen Gerichtes berufen und abberufen werden. Unfähige, mit der Verwaltung überforderte, den Richterkollegen jedoch oftmals genehme Gerichtspräsidenten waren praktisch nicht absetzbar. „Nach und nach überwucherte ein Dickicht von Filz, Abhängigkeiten, dubiosen Interessengemeinschaften die Gerichtsstrukturen“, so der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro.

Generell gilt in Polen, wie in Deutschland, der Grundsatz, dass die richterliche Unabhängigkeit die Grenzen, die sich aus den Aufgaben der Gerichtsverwaltung bzw. Justizverwaltung ergeben, einhalten muss.

So lesen wir in dem deutschen Standardwerk „Richterrecht“ von Jürgen Thomas (Heymann, 1986):

„Die richterliche Unabhängigkeit stellt den Richter nicht von einer Dienstaufsicht frei. Er unterliegt der Dienstaufsicht insoweit, als nicht die richterliche Unabhängigkeit betroffen ist.
Im Rahmen der Dienstaufsicht kann dem Richter die ordnungswidrige Ausführung der Dienstgeschäfte dann vorgehalten werden, wenn es um die Sicherung des ordnungsgemäßen Geschäftsablaufs, um die äußere Form oder um richterliche Tätigkeiten geht, die dem Kernbereich der Unabhängigkeit so weit entrückt sind, dass für sie die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit nicht in Anspruch genommen werden kann.

So ist es zulässig, den Richter zur Pünktlichkeit und zu angemessenen Umgangsformen mit anderen Verfahrensbeteiligten anzuhalten. Zulässig sind auch Geschäftsprüfungen, Vergleiche von Erledigungszahlen, Vorhalt von Rückständen, das Rügen einer gesetzwidrigen Terminierungspraxis und die Anregung, einen weiteren Sitzungstag in der Woche abzuhalten.

Betrifft die Dienstaufsicht hingegen den Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit wie die Urteile oder Beschlüsse, ist sie nicht zulässig”, so Thomas.

Auf die Rechtsprechung der Richterkollegen hatten und haben die Gerichtspräsidenten, egal von wem berufen, keinen Einfluss. Die Reform bewegt sich also bis jetzt im Rahmen der zulässigen Dienstaufsicht.

In Polen gibt es 11 Appellations-, 45 Distrikt- und 321 Amtsgerichte mit insgesamt 377 Gerichtspräsidenten.

2. Gerichtspräsidenten werden nicht länger den Richtern ihre Verfahren zuweisen.

Vor allem „gut eingebundene“ Gerichtspräsidenten in kleineren Orten standen, berechtigt oder unberechtigt, im Verdacht auf diese Weise die Rechtsprechung zu beeinflussen. Junge, unerfahrene Kollegen bekamen manchmal komplizierte Verfahren zugewiesen, wenn sich der Prozess hinziehen oder gar im Sande verlaufen sollte. Strenge Kollegen saβen zu Gericht über die Feinde der Freunde. Milde Richter durften die Freunde der Freunde verurteilen usw., usf.

Ab sofort weist ein Zentralcomputer im Justizministerium jeden Nachmittag die an diesem Tag neu eingegangenen Fälle zu. Hierzu wurde für jedes polnische Gericht eine entsprechende Applikation entwickelt, die nach dem Zufallsprinzip arbeitet.

3. Spruchkörper und Einzelrichter bleiben während des gesamten Verfahrens dieselben.

Richter, die befördert oder versetzt werden bzw. bald in den Ruhestand treten, sind verpflichtet alle ihre laufenden Verfahren zu Ende zu bringen. Bis jetzt endete der Weggang von Richtern damit, dass Prozesse wieder neu aufgenommen und bereits durchgeführte Beweiserhebungen, Gutachter- und Zeugenanhörungen wiederholt werden mussten.

4. Arbeitsbelastung der Richter – objektivere Kriterien

Ein elektronisches System wird jedes Verfahren nach einheitlichen Kriterien „bewerten“: so z.B. nach der Zahl der Angeklagten, Zeugen und Gutachter, der Dauer der Beweisaufnahme, der Komplexität der rechtlichen Problemstellung und einiges mehr. Für jedes Merkmal werden Punkte vergeben, die, addiert, die Gesamtpunktzahl für das Verfahren ergeben.

Auf diese Weise erhält der Gerichtspräsident ein weitgehend objektives Bild bezüglich der Arbeitsbelastung der einzelnen Richter. So bekommt beispielsweise ein Richter, der zwei juristisch einfache Verfahren mit einer Bewertung von jeweils fünfzehn Punkten abgeschlossen hat, dreißig Punkte. Einem anderen Richter wurden hingegen zweihundert Punkte gutgeschrieben, für nur einen, dafür aber sehr komplizierten und umfangreichen Prozess.

5. Beurteilungen

Planmäβige Kontrollen und zyklische Beurteilungen der Richter werden abgeschafft. Dienstaufsichtskontrollen soll es nur im Falle häufiger Beschwerden geben. Etwa einhundertfünfzig Richter, die bis dato ausschließlich Aufsichts- und Kontrollfunktionen innehatten, sollen in die Gerichtssäle zurückkehren.

6. Gläserne Richter

Wie schon jetzt Abgeordnete, hohe Staatsbeamte und alle Staatsanwälte, müssen zukünftig auch die Richter am Anfang eines jeden Jahres eine Vermögenserklärung abgeben: Nebeneinkünfte, Ersparnisse, Wertpapiere, Grundbesitz, Autos müssen aufgelistet werden. Die Vermögenserklärungen können auf der Internetseite des jeweiligen Gerichtes eingesehen werden.

7. Karriere

In die Appellationsgerichte (dritte Instanz) können von nun an ebenfalls Richter aus den Amtsgerichten berufen werden (die vorherige Arbeit an einem Distriktgericht ist nicht mehr Voraussetzung). Dasselbe gilt für Staatsanwälte, Notare und Anwälte mit einer mindestens zehnjährigen Berufspraxis. Der Landesjustizrat muss auch diese Berufungen absegnen und dem Staatspräsidenten, der die Beufung vornimmt, unterbreiten.

Herausragenden Richtern und Vertretern anderer juristischer Berufe, so die offizielle Absicht, soll auf diese Weise der Weg in die höhere Gerichtsbarkeit geebnet werden. Beim Obersten Gericht gilt diese Regelung schon seit vielen Jahren. Da in den Appellationsgerichten ausnahmslos dreiköpfige Spruchkörper die Urteile fällen, werden die neuen Kollegen unter den wachsamen Augen von zwei in dieser Instanz erfahrenen Richtern ihren Einstieg haben.

8. Gesundheit

Für die gesamte Amtszeit eines Richters wird die Möglichkeit zur Beurlaubung zum Zweck der Rehabilitation von maximal einem Jahr (im Anschluss an eine maximal sechsmonatige Krankschreibung) eingeführt, vorausgesetzt es besteht keine dauerhafte Arbeitsunfähigkeit. Während der Beurlaubung werden fünfundsiebzig Prozent der Bezüge gezahlt.

Bis jetzt konnten Richter, aufgrund ärztlicher Atteste, jedoch ohne Feststellung einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit in den vorgezogenen Ruhestand (mit hundert Prozent der Bezüge) gehen. Während einer Beurlaubung zur Rehabilitation und im vorgezogenen Ruhestand müssen sich Richter ab jetzt regelmäβig Untersuchungen durch eine Ärztekommission der staatlichen Sozialversicherungsanstalt unterziehen, um den Missbrauch, den es in der Vergangenheit gab, zu unterbinden.

9. Entsendungen

Auβer ins Justizministerium können Richter ab jetzt auch in die Kanzlei des Staatspräsidenten und ins Auβenministerium entsandt werden und dort jede Beamtenstelle übernehmen, für die ihr Fachwissen benötigt wird, mit Ausnahme der des Generaldirektors der drei Behörden. Den Antrag auf Entsendung stellen der Justiz- bzw. der Auβenminister oder der Staatspräsident. Etwa einhundertfünfzig Richter arbeiten bereits im Justizministerium. Weitere Entsendungen, und damit noch mehr fehlende Richter, so die Kritiker, werden sich negativ auf die Arbeit der Gerichte auswirken.

10. Ruhestand

Da Polen zu dem von der Regierung Tusk 2013 abgeschafften Renteneintrittsalter (Frauen mit sechzig Jahren, Männer mit fünfundsechzig) zurückkehrt, wurde auch im neuen Gerichtsverfassungsgesetz das Ruhestandseintrittsalter für Richter diesem Niveau angepasst. Richterinnen die bis zum 65. Lebensjahr arbeiten wollen entscheiden das selbst. Die Tusk-Reform hatte das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre für Frauen und Männer festgelegt.

Richter, die maximal drei Jahre länger als bis zum 65. Lebensjahr arbeiten wollen müssen den Justizminister um Erlaubnis bitten. Bis jetzt musste der Justizminister lediglich von solchen Plänen in Kenntnis gesetzt und ein Arbeitstauglichkeitsnachweis vorgelegt werden.

Richter zahlen in Polen keine Sozialversicherungsbeiträge. Ihre gesamte Sozialversorgung, das Ruhestandsgeld eingeschlossen, wird aus dem Staatshaushalt bezahlt.

11. Auslandsbevollmächtigter

An allen Gerichten wird es zukünftig einen sogenannten Auslandsbevollmächtigten geben, der seine Richterkollegen bei Rechtsangelegenheiten mit Auslandsbezug, deren Zahl zunimmt, beraten soll.

Ausführlich über die polnische Justizreform berichten wir in folgenden Beiträgen:

Polens Justizreform. Warum Staatspräsident Duda unterschrieben hat. 

Polens Justizreform genau betrachtet 2. Der Landesjustizrat.

Polens Justizreform genau betrachtet 3. Das Oberste Gericht.

Polens Justizreform. Der tiefe Fall der Richter. 

Polens Justizreform. Mythen und Fakten. 

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