Warschau 1927. Das Attentat auf den Zarenmörder

Pjotr Woikow war der sowjetische Gesandte in Polen.

Ein junger Russe erschoss auf dem Bahnhof in Warschau den sowjetischen Gesandten in Polen, der das Blut der russischen Zarenfamilie an seinen Händen hatte.

Jekaterinburg am 17. Juli 1918

„Nikolai Alexandrowitsch, das Uraler Exekutivkomitee hat beschlossen, Sie hinzurichten“, verlas der Tschekist Jakow Jurowski hastig das Urteil, das auf einem fettigen, zerknitterten Blatt Papier stand.

Der Zar, der auf einem Stuhl saß und seinen Sohn, den vierzehnjährigen Thronfolger Alexei auf dem Schoß hatte, wurde blass. Er blickte unsicher auf die um ihn versammelte Familie. „Wie bitte, wie bitte?“, fragte er.

Zar Nikolai II. und die Zarenfamilie. Russische Briefmarken von 1998.

Er versuchte aufzustehen, aber in diesem Moment stürmten die Henker, die bis dahin im Korridor gewartet hatten, in den Keller. Der Zar verstand. In einer letzten verzweifelten Geste versuchte er, seine Frau, die neben ihm saß, zu schützen. Jurowski schoss dem wehrlosen Nikolai II. eine Kugel direkt in die Brust. Der Zar sank mit einem Ausdruck des Entsetzens auf den schmutzigen Boden. Dann zielte der Henker ein zweites Mal und schoss dem Zarensohn aus kurzer Entfernung in den Kopf.

Die Ermordung der Zarenfamilie. Zeitgenössische Darstellung.

Im Keller brach die Hölle aus. Betrunkene Tschekisten schossen wie wild auf die kaiserliche Familie und mehrere Diener. Sie stachen mit Bajonetten auf ihre Opfer ein, schlugen sie mit Gewehrkolben, traten und bespuckten sie. Der Lärm der Schüsse in dem kleinen Raum war so ohrenbetäubend, dass den Mördern fast die Trommelfelle platzten. Die vier Zarentöchter, die Prinzessinnen Olga (23 Jahre), Tatjana (21 Jahre), Maria (19 Jahre) und Anastasia (17 Jahre), hatten am meisten zu leiden. Da sie Familienschmuck in ihre Kleidung eingenäht hatten, prallten die Kugeln der Folterknechte an den verängstigten Mädchen ab, die an der Wand standen. Sie bluteten, schrien und versuchten, ihre Köpfe mit den Händen zu bedecken. Die Tschekisten stachen mit Bajonetten auf sie ein.

Auch der erste Schuss, der auf den Zarensohn Alexei abgefeuert wurde, war nicht tödlich. Jurowski stand mit einem schweren Stiefel auf dem Hals des stöhnenden, sich am Boden windenden Jungen. Er hielt die Waffe an sein Ohr und drückte ab. In einem sadistischen Rausch erschlugen die Tschekisten den geliebten Hund des Zaren mit ihren Gewehrkolben.

Nach ein paar Minuten war das Blutbad in dem kleinen Keller vorbei. Auf dem festgestampften Boden lagen die Leichen von sieben Mitgliedern der kaiserlichen Familie, des kaiserlichen Leibarztes Jewgeni Botkin und ihrer drei treuen Diener. Der Raum war erfüllt von beißenden Rauchwolken und dem Gestank von Schießpulver. Der Boden, die Wände und sogar die Decke waren mit Blut bespritzt. In diesem Moment betrat ein kleiner, dunkelhaariger Mann in einer Lederjacke den Raum. Er sah sich gleichgültig im Keller um und fragte: „Fertig?

Der Keller nach der Ermordung der Zarenfamilie.

Jurowski, der von der harten Henkersarbeit erschöpft war und kaum zum Atem kam, nickte.

Jetzt müssen wir sie loswerden“, sagte der Neuankömmling und trat gegen die Leiche, die am nächsten bei ihm lag.

Jakow Jurowski.

Bei dem neu Eingetretenen handelte es sich um Pjotr Lasarewitsch Woikow, einen jungen bolschewistischen Kommissar, der sich im Ural bereits durch seine unglaubliche Grausamkeit gegenüber „Weißgardisten“ und Bauern „einen Namen gemacht hatte“. Bei Letzteren beschlagnahmte er erbarmungslos Nahrungsmittel und Saatgut, und verurteilte sie damit zum Hungertod. Er war ein rücksichtsloser Fanatiker, der der Partei blindlings ergeben war.

Woikow hatte das Haus des pensionierten Hauptmanns der Zarenarmee Nikolaj Ipatiew in Jekaterinburg als Ort für die Inhaftierung der Zarenfamilie ausgewählt. Das Gebäude war in den 1880er Jahren erbaut worden. Es bestand aus zwei Flügeln: der vordere, östliche Flügel war einstöckig und 30 Meter lang. Der Westflügel hingegen bestand aus zwei Stockwerken. Das Gebäude war für russische Verhältnisse sehr modern, verfügte über fließendes Wasser, Kanalisation, einen Strom- und Telefonanschluss.

Das Ipatiew-Haus in Jekaterinburg. Woikow ließ es mit einem hohen Bretterzaun umgeben, um die Zarenfamilie vollends zu isolieren.

Es war auch Woikow, der ein Komplott organisierte, um die Romanows zu diskreditieren. Er gab sich als weißer Offizier aus, schmuggelte Briefe an den inhaftierten Zaren und gab vor, die Flucht der Zarenfamilie organisieren zu wollen. Diese Briefe und die hoffnungsvollen Antworten der ahnungslosen kaiserlichen Familie dienten Lenin als Vorwand und Rechtfertigung für den Mord an Nikolai II. und seinen Angehörigen.

Der Abriss des Ipatiew-Hauses 1978. Die Erinnerung an den Zaren-Mord sollte endgültig getilgt werden.

Woikows Decknamen in der Partei waren „Der Intellektuelle“ und „Chemiker“. Letzteres kam daher, dass er sich nach der Flucht aus Russland 1907, während seines Mathematik- und Physikstudiums an der Genfer Universität, auch einige Kenntnisse in Chemie angeeignet hatte. Aus diesem Grund überließ man ihm auch die Vernichtung der Leichen nach der Hinrichtung.

Woikow beschaffte 400 Pfund Schwefelsäure aus den örtlichen Apotheken, 150 Gallonen Benzin aus den Beständen der Roten Armee und eine große Menge an Kalk.

Einige Tote der kaiserlichen Familie und ihrer Diener ließ Woikow mit Säure übergießen. Andere wurden mit Benzin übergossen und verbrannt. Die Gesichter der Leichen befahl Woikow mit Gewehrkolben zu massakrieren. Die sterblichen Überreste des Zarensohns und einer seiner Schwestern wurden mit Schaufeln gevierteilt. Die beiden Schächte, in die die Leichen hineingeworfen wurden, hat man mit gelöstem Kalk geflutet.

Als die makabre Prozedur beendet war, wischte sich der junge Kommissar mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und sagte: „Jetzt wird die Welt nie erfahren, was wir mit ihnen gemacht haben.“

Warschau am 7. Juni 1927

Pjotr Woikow hatte nichts mehr an sich von dem ausgemergelten Bolschewiken mit den brennenden Augen aus den blutigen Tagen der Revolution. Statt einer Lederjacke und Militärstiefeln trug er nun teure Anzüge und polierte Schuhe. Er hatte einen Bauch, und seine Stirn war leicht gewölbt.

Der Gesandte Woikow (r. i. B.) begleitet im September 1925 den sowjetischen Außenminister Georgi Tschitscherin bei seinem Besuch in Warschau.

Wojkow war jetzt Diplomat. Er lebte in Warschau, wo er als außerordentlicher und bevollmächtigter Gesandter der Sowjetunion tätig war. Als Vertreter der roten Großmacht glänzte er in den Salons, speiste in den besten Restaurants und verbrachte die Nächte mit schönen Schauspielerinnen. Er wurde in einer Limousine chauffiert und war Mitglied der neuen roten Elite, der Parteinomenklatura.

Arkadi Rosenholz.

Der Tag versprach keine großen Sensationen. Woikow fuhr zum Hauptbahnhof, wo er, in Begleitung eines anderen Beamten der Gesandtschaft, den aus London zurückkehrenden hochrangigen sowjetischen Diplomaten Arkadi Rosenholz begrüßen sollte. Dieser war wegen Spionage aus London ausgewiesen worden.

Rosenholz musste in Warschau umsteigen; der Zug nach Moskau fuhr um 9.55 Uhr ab. Als Woikow und Rosenholz an den Stufen des Schlafwagens standen, kam ein junger Mann auf sie zu. Es kam zu einem kurzen Wortwechsel auf Russisch, woraufhin der Fremde einen Revolver in der Hand hielt.

„Stirb für Russland!“, der Ruf des Attentäters vermischte sich mit dem Knall des Schusses.

Woikow, der ein tierisches Quieken ausstieß, versuchte wegzulaufen. Der junge Mann begann ihm hinterherzuschießen. Als der Diplomat sah, dass er nicht entkommen konnte, blieb er nach ein paar Schritten stehen und drehte sich um. Eine Pistole blitzte nun auch in seiner Hand auf.

Es begann eine Schießerei, die an ein Duell im Wilden Westen erinnerte. Die Männer standen sich gegenüber und schossen aufeinander. Nach einem kurzen Moment taumelte Woikow und fiel direkt in die Arme eines herbeilaufenden polnischen Polizisten.

Der Angreifer, der nicht einmal einen Kratzer abbekommen hatte, hob seinen Revolver über den Kopf und begann sich langsam vom Bahnsteig zu entfernen. Zwei Polizeibeamte stürmten auf ihn zu. Er wehrte sich nicht und ließ sich widerstandslos entwaffnen.

Boris Kowerda nach seiner Verhaftung.

„Mein Name ist Boris Kowerda“, sagte er. „Ich habe es getan, um Russland und die Millionen ermordeter Menschen zu rächen.“

Sofort wurde ein Krankenwagen zum Bahnhof gerufen, der Woikow in das Jesus-Krankenhaus brachte. Es gab jedoch keine Rettung mehr. Der Sowjet-Diplomat starb um 10.40 Uhr.

Eine Obduktion durch den renommierten Gerichtsmediziner Professor Wiktor Grzywo-Dąbrowski ergab, dass der Verstorbene zwei Schusswunden aufwies.

Die erste Kugel hatte die Weichteile seiner rechten Schulter durchschlagen. Diese Wunde war harmlos. Erst die zweite Kugel, die die linke Seite seiner Brust durchschlug, führte zum Tod des Mannes. Sie zerriss beide Lappen des linken Lungenflügels und verursachte eine große Blutung in die Pleurahöhle.

Rache für Millionen

Als Boris Kowerda Woikow tötete, war er 19 Jahre alt. Bereits am 15. Juni 1927 stand er in Warschau vor Gericht. Vier renommierte Warschauer Anwälte hatten sich unentgeltlich seiner Verteidigung angenommen. Um das Verfahren zu beschleunigen, machten die polnischen Behörden von den Bestimmungen über Schnellgerichte bei schweren Straftaten gegen polnische Beamte Gebrauch. Die Urteile dieser Gerichte waren nicht anfechtbar. Die Anhörung begann um 10.45 Uhr. Als erster Zeuge wurde der Polizeimeister Marian Jasiński vernommen.

Der damalige Warschauer Hauptbahnhof (vormals Wiener Bahnhof) im April 1928 vor der Ankunft des afghanischen Königs Amanullah Khan zum Staatsbesuch in Polen. Das Gebäude musste Mitte der 30er Jahre einem modernen Bahnhof weichen.

„Ich habe mehrere Schüsse gehört“, sagte der Polizist aus. „Als ich über die Gleise lief, bemerkte ich, dass die Menschen vom Bahnsteig 8-9 wegliefen. In der Mitte des Bahnsteigs waren zwei Personen, die mit Revolvern aufeinander schossen. Einer lief auf das Bahnhofsgebäude zu, der andere schoss auf ihn. Der Flüchtende gab zwei Schüsse in Richtung des Angreifers ab. Ich lief auf ihn zu und packte ihn am Arm. Er schwankte und fiel hin. Ich fragte den Verwundeten, wer er sei, aber er antwortete nur mit einem unverständlichen Wort, und sofort wurden seine Lippen blau und er wurde leichenblass.“

Der Warschauer Hauptbahnhof Mitte der 20er Jahre. Der Bahnsteig 8-9, auf dem Woikow erschossen wurde, ist der fünfte von links, ganz in der Ferne.

Danach trat Wachtmeister Konstanty Dąbrowski in den Zeugenstand. Er sagte aus: „Ich sah eine Person mit einem Revolver in der Hand, die auf den Bahnsteig fiel. Reisende in den Waggonfenstern riefen, dass sich auf dem Bahnsteig ein weiterer Schütze befinden würde. Ich bemerkte noch einen Mann auf dem Bahnsteig, der einen Revolver in der Hand hielt. Wir liefen ihm hinterher. Er blieb stehen, das Gesicht zu uns gewandt, und hielt einen Revolver in der Hand. Auf Anruf legte er ihn auf den Boden. Bei der Durchsuchung fand ich vier Revolverpatronen in seiner Hosentasche. Kowerda war völlig ruhig, als wir ihn festnahmen.“

Zu diesem Zeitpunkt wurde dem Gericht die bei Kowerda sichergestellte Tatwaffe gezeigt. Es handelte sich um einen Mauser-Revolver mit sieben Schuss und einer unleserlichen Seriennummer. An diesem unseligen Tag des Attentats hatte der Mörder sechs Schüsse abgegeben. Woikow hingegen hatte mit einer Browning-Pistole mit der Seriennummer 80481 geschossen. In seiner Tasche wurden außerdem zwei volle Magazine gefunden.

Das Gericht befragte auch Kowerdas Verwandte und Freunde. Aus ihren Aussagen ging hervor, dass Woikows Mörder das Gymnasium der Russischen Gesellschaft in dem damals polnischen Wilno besucht hatte. Er war ein glühender russischer Patriot und ein angehender Journalist. Er arbeitete als Expedient in der Redaktion der Wilnaer Zeitung „Białoruskie Słowo“ („Weißrussisches Wort“) und verdiente sich nachts mit Korrekturlesen und Schriftsetzen etwas dazu. Er verdiente 170 Zloty im Monat.

Sein mageres Gehalt gab er seiner arbeitslosen, kranken Mutter. Vier Personen mussten davon leben. Er, seine Mutter und zwei minderjährige Schwestern. Die ganze Familie war von dem jungen Kowerda abhängig. Der Vater hatte sich von ihnen getrennt. Als der junge Kowerda an Scharlach und Diphtherie erkrankte und sechs Wochen lang im Krankenhaus lag, hungerte die Familie. Und ein weiteres wichtiges Merkmal des jungen Mannes: Kowerda war sehr religiös und ging regelmäßig in die orthodoxe Kirche, wo er die Kommunion empfing.

„Boris war sehr sensibel, ruhig und bescheiden“, sagte seine Mutter aus. „Er unterstützte die Familie, weil ich krank war und keine Arbeit hatte. Boris war mein Helfer und Beschützer. Er war fürsorglich gegenüber seinen Schwestern. Er war ein sehr guter Sohn. Er wollte alles in seiner Macht Stehende tun, damit seine Mutter nicht leidet. Er sorgte dafür, dass mir kein Leid zugefügt wurde.“

Der Vater des Mörders, Sofronius Kowerda, äußerte sich ebenfalls in diesem Sinne. „Er war von Kindesbeinen an sensibel“, sagte der Vater aus. „Und ich verstehe jetzt die Tragödie seiner Seele. Seine ganze Abneigung brach hervor. Als Kind war Boris Augenzeuge der bolschewistischen Barbarei geworden, die für immer ihre Spuren hinterlassen hat.“

Als die Revolution ausbrach, hielt sich die Familie Kowerda in Samara auf. Der Junge sah mit eigenen Augen die bolschewistischen Massenmorde, Plünderungen, die Schändung orthodoxer Kirchen. Die Leichen der Ermordeten wurden unter das Eis des Flusses geworfen. Die Geheimpolizei Tscheka ermordete seine Verwandten und viele seiner Freunde. Er selbst wurde als „bürgerliches Kind“ Opfer von Schikanen und Verfolgung.

Alle Bekannten Kowerdas, die vor Gericht aussagten, schilderten ihn als einen Mann mit guten Eigenschaften: bescheiden, edel, rechtschaffen. Und ein überzeugter Anti-Bolschewik. Kowerda konnte nicht hinnehmen, dass die Bolschewiki in dem von ihnen kontrollierten Gebiet Millionen von Menschen ermordeten und verfolgten, während die ganze Welt gleichgültig zusah.

„Ich kenne den Angeklagten seit 1921“, sagte Szymon Zachoronak. „Ich halte ihn für einen sehr ehrlichen und zuverlässigen Mann. Ich hielt Kowerda für einen Gegner des Kommunismus. Kowerda wies auf die Lebensumstände in Sowjetrussland hin, zeigte auf, was dort geschah, und sagte, es sei eine Abscheulichkeit. Das russische Justizsystem, die Strafen haben ihn sehr berührt.“

Der Direktor des Russischen Gymnasiums in Wilno, Leonid Bielewski, sagte: „Ich wusste, dass Kowerda in sehr schwierigen materiellen Verhältnissen lebte, dass er arbeiten musste, um seine Familie zu unterstützen. Das gesamte Lehrpersonal war gegenüber Kowerda sehr freundlich eingestellt. Er war ruhig, gehorsam, sanftmütig, konzentriert und selbstbewusst. Es gab nie Auseinandersetzungen mit Lehrern oder Kollegen. Als Direktor einer Mittelschule kann ich sagen, dass Kowerda einen sehr angenehmen Eindruck hinterlassen hat.“

Schließlich ergriff Kowerda selbst das Wort: „In Samara sah ich demoralisierte Soldaten. Ich wurde Zeuge, wie an einem Bahnhof bolschewistischer Mob den Bahnhofsvorsteher verprügelte und der Lokführer angeblich in einen Ofen geworfen wurde. Häuser wurden geplündert und Eigentum wurde geraubt. Menschen wurden verhaftet und misshandelt.

Auf dem Weg nach Polen wurde ich mehrmals von den Roten aus dem Zug geworfen. In Russland herrschte Chaos. Ich war zwar klein, aber ich erinnere mich, dass vorher Ordnung geherrscht hatte, und als es mir gelang, aus diesem „Paradies“ auszubrechen, holte ich tief Luft. Eine innere Stimme sagte mir, dass ich kämpfen müsste. Dass hier niemand etwas unternehmen wird, während sich in Russland eine Partei von blutigen Schlägern breit gemacht hat. In mir kam der Wille auf, sie zu bekämpfen. Ich begann zu überlegen, was ich tun könnte, um meinem Heimatland zu dienen.

Ich beschloss, Woikow als den Vertreter der Bande bolschewistischer Kommissare zu töten. Es tut mir sehr leid, dass ich dies auf polnischem Boden getan habe, der für mich eine zweite Heimat ist. Doch die Bolschewiki setzen auf den Terror, nicht nur in Russland, sondern auch in Polen. Indem ich Woikow tötete, wollte ich Millionen rächen.“

Kowerda sagte, dass er allein gehandelt habe, „ohne dass ihn jemand überredet hat oder mitschuldig wurde“. Er kam zwei Wochen vor dem Attentat in Warschau an und wohnte in einem gemieteten Zimmer im Haus einer alten Jüdin, Sura Fenigsztajn, der er sagte, er wolle in der Hauptstadt „Prüfungen ablegen“. Er kannte Woikows Gesicht aus der Zeitung. Aus den Zeitungen erfuhr er auch, dass der Gesandte am 7. Juni am Bahnhof sein würde.

Bei den Ermittlungen der polnischen Polizei ging es vor allem darum, herauszufinden, ob Kowerda die Wahrheit gesagt hatte. Denn es wurde vermutet, dass das Attentat das Werk einer Organisation russischer Monarchisten war. Die Polizei führte in Wilno eine Durchsuchung in Kowerdas Wohnung durch. Die Suche führte jedoch zu keinem Ergebnis. Es wurde lediglich ein verdächtiges Dokument gefunden: eine Quittung des Komitees von Großfürst Nikolai Nikolajewitsch. Kowerda hatte einen Dollar gespendet.

Die Besänftigung der Sowjets

Die Anhörung vor Gericht dauerte nur einen Tag. Obwohl alles für eine milde Bestrafung sprach, verhängte das Gericht am 15. Juni 1927 ein drakonisches Urteil. Boris Kowerda wurde zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt, die später in 15 Jahre Gefängnis umgewandelt wurde. Als das Urteil am späten Abend verlesen wurde, soll Kowerda traurig und melancholisch gelächelt haben.

„Der Mord auf polnischem Territorium“, so die Urteilsbegründung, „wurde von einem Emigranten unter Verletzung der Dankbarkeit für das Asylrecht begangen und darüber hinaus an der Person des Vertreters eines fremden Staates, d.h. unter erheblicher Schädigung des moralischen Ansehens der Republik Polen und ihrer politischen Interessen. Das erfordert eine härtere strafrechtliche Verfolgung.“ Das Urteil sollte zudem die wütenden Bolschewiken besänftigen.

Sowohl Polen als auch die Sowjets hatten ein großes Interesse daran, die Sache so schnell wie möglich zu beenden. Die Polen wollten die Beziehungen zu ihrem großen Nachbarn, mit dem sie erst vor wenigen Jahren einen heftigen Krieg beendet hatten, nicht verschlechtern.

Andererseits drohte ein längerer Prozess, unbequeme Tatsachen über die Sowjetunion sowohl in Bezug auf die Ermordung der Zarenfamilie als auch über andere bolschewistische Verbrechen ans Licht zu bringen. Die Sowjets befürchteten die Wiederholung einer Situation aus dem Prozess gegen einen anderen russischen Emigranten, Moritz Konradi, der 1923 den Sekretär der sowjetischen Delegation, Wazlaw Worowski, in Lausanne erschossen hatte. Aufgrund von Zeugenaussagen und des Vorgehens der Verteidiger verwandelte sich das Gerichtsverfahren in einen Prozess über den Bolschewismus und die Folgen der Oktoberrevolution von 1917 für Russland und Europa.

Nach Woikows Tod sandte der sowjetische Außenminister Maxim Litwinow eine äußerst harsche Note an die polnische Regierung, in der er Warschau die Verantwortung für den Mord an dem Gesandten zuschrieb. Er warf ihr vor, ihre Pflicht zum Schutz eines ausländischen Diplomaten vernachlässigt zu haben und „weiße“ russische Emigranten auf ihrem Hoheitsgebiet zu dulden. Litwinow zufolge waren die polnischen Geheimdienste an dem Attentat beteiligt.

Wütende, „spontane“ Kundgebungen mit Fäusten drohender „arbeitender Massen“ wurden von der kommunistischen Partei in den Straßen der sowjetischen Städte organisiert. Die Zeitungen waren voll mit wütenden Angriffen auf Polen, Briefen von Arbeitern und Kolchosbauern, die über den Mord schockiert waren, und in „Protest-Zusammenkünften“ gefassten Entschließungen, die eine harte Bestrafung des Täters forderten. Im Moskauer Lubjanka-Gefängnis ermordete die Geheimpolizei GPU Berichten zufolge zwanzig Geiseln aus der Elite des vorrevolutionären Russlands als Teil der Repression.

Der aufgebahrte Leichnam Woikows in der sowjetischen Gesandtschaft in Warschau.

Nach dem Tod Woikows schickte Józef Piłsudski seine Visitenkarte an die sowjetische Gesandtschaft, um seine Anteilnahme auszudrücken. Und Staatspräsident Ignacy Mościcki übermittelte Stalin und anderen Mitgliedern des sowjetischen Politbüros sein Beileid. Die Polen erklärten sich gegenüber den Bolschewiki und versicherten ihnen, dass sie mit der Tat Kowerdas nichts zu tun hätten.

Woikows Leichnam wird zum Bahnhof in Warschau gebracht.

Woikows Leichnam wurde in einem großen Trauerzug zum Bahnhof gebracht, an dem auch Regierungsmitglieder, Innenminister Felicjan Sławoj-Składkowski sowie Wirtschafts- und Handelsminister Eugeniusz Kwiatkowski teilnahmen. Ein Spalier von Soldaten säumte den Weg vom Gesandtschaftsgebäude zum Bahnhof. Der Sonderzug mit der Leiche des Zarenmörders wurde mit einem Ehrensalut und von Offizieren mit blanken Säbeln verabschiedet. Der Sarg versank in Blumen, die von polnischen Behörden geschickt worden waren.

Kowerda wurde 1937, nach Verbüßung von zehn Jahren Haft, aus dem Gefängnis entlassen. Er ging nach Jugoslawien und ließ sich nach dem Krieg in New York nieder. Dort arbeitete er für russische Emigrantenzeitungen. Er starb 1987. Jahre später stellte sich heraus, dass er nicht allein gehandelt hatte.

Das Attentat auf Woikow war von Esaul Michail Jakowlew geplant worden, einem tapferen Kosakenoffizier, der während des Krieges 1920 an der Seite der polnischen Armee gegen die Bolschewiki gekämpft hatte.

Sowjetische Briefmarke von 1988 zum 100. Geburtstag von Pjotr Woikow.

Währenddessen wurde Woikow in Moskau als Märtyrer für den Bolschewismus „heiliggesprochen“. An seiner Beerdigung an der Kremlmauer nahm eine große Menschenmenge teil. Nach Woikow wurden mehrere Straßen, ein Kohlebergwerk in der Ukraine, ein Stadtteil Moskaus und eine Metrostation, die Woikowskaia, benannt.

Letztere trägt diesen Namen bis heute. Und das, obwohl die orthodoxe Kirche, die die Mitglieder der kaiserlichen Familie als Heilige anerkennt, die Regierung seit Jahren auffordert, den Namen zu ändern. Der vor kurzem aufgelöste Verein Memorial und demokratische Oppositionskreise nehmen eine ähnliche Haltung ein. Die Moskauer Behörden gaben dem Druck nach und führten 2015 eine Online-Umfrage durch. 300.000 Moskauer nahmen daran teil. 53 Prozent der Befragten sprachen sich gegen die Umbenennung aus. Nur 35 Prozent waren dafür, sodass der Name beibehalten wurde. Denn bekanntlich hören die Behörden in Russland ja auf die Öffentlichkeit.

RdP




Preussens Raub tilgt Polens Gloria

Vernichtet. Das betrübliche Schicksal der polnischen Kronjuwelen.

„Das schlechte Gewissen ist ein böser Gast, gönnt dem Übeltäter weder Ruh‘ noch Rast.“ So erging es auch den Preußen. Der Raub der polnischen königlichen Insignien im Jahr 1795 fand im Geheimen statt und wurde auch jahrzehntelang geheim gehalten. Die Beute war erheblich, aber bei Weitem nicht von solch einem berauschenden Wert wie erhofft. Sie wurde im Stillen eingeschmolzen. Der ideelle Schaden, den die Preußen mit ihrem rücksichtslosen Vorgehen der polnischen Nation, ihrer Identität, Kultur und Tradition zugefügt haben, bleibt unermesslich.

Das Wawel-Schloss in Kraków. Krönungsort und Grablege polnischer Könige.

Widerrechtlich in die königliche Schatzkammer des Wawel-Schlosses von Krakau zu gelangen, galt jahrhundertelang als schier unmöglich. Den Zugang versperrten sechs massive Eisentüren. Zu jeder von ihnen hatte ein anderer Senator die Schlüssel.

Um sie zu verwenden, musste das Parlament, der Sejm, jedes Mal einen neuen Beschluss fassen. Nicht einmal Polens Könige konnten an dieser Regelung vorbei in die Schatzkammer gelangen. Sie beherbergte Staatsvermögen, das klar getrennt war vom Privatvermögen der jeweiligen Herrscher.

Aber auch nach dem Öffnen der Eisentüren war der Zugang zum Inhalt der Schatzkammer nicht einfach. Er befand sich nämlich in zwei eisernen Truhen, die mit Doppelschlössern und sieben Vorhängeschlössern gesichert waren. In den Truhen wiederum befanden sich neunzehn Schatullen mit königlichen Insignien, von denen einige bereits seit achthundert Jahren hier gelagert wurden.

Polen: Ohnmächtig, gedemütigt, besetzt

Polens letzter König Stanislaus II. August Poniatowski. Briefmarke von 2000.

Im Jahr 1795 sollte Polen für 123 Jahre endgültig von der Europakarte verschwinden. Nach den ersten beiden Teilungen, 1772 und 1793, bahnte sich 1794 die dritte und letzte Aufspaltung der Reste des Landes an. Diese befanden sich bereits unter russischer Besatzung.

Und der russische Botschafter in Warschau, Iosif Igelström verhängte, nach eigenem Gutdünken, Verbote (z. B. den höchsten polnischen Orden – der des Weißen Adlers zu tragen). Er verfügte eine rigorose Pressezensur und gründete eine politische Geheimpolizei. Persönlich beaufsichtigte er deren weitverzweigtes Zuträger-Netzwerk in den Innungen, im Handel, im Schulwesen, in der katholischen Kirche und innerhalb des Königshofes.

Polen vor den Teilungen.

Bezeichnend auch, dass Igelström nach seinem Eintreffen in Warschau, im Dezember 1793, es nicht für notwendig hielt, sich Polens letztem, bereits völlig machtlosem König Stanislaus II. August Poniatowski vorzustellen. In die Lebenszeit des Monarchen (1732-1798) fielen alle drei und in die Zeit seiner Herrschaft die letzten beiden Teilungen des Landes.

Polen nach der ersten Teilung 1772

Dieses ohnmächtige und tief gedemütigte, russisch besetzte Restpolen, mit einer Fläche von gut 220.000 Quadratkilometern, sollte nun endgültig unter seine drei Nachbarn: Russland, Preußen und Österreich, aufgeteilt werden. Im Oktober 1795 unterschrieben die Teilungsmächte einen entsprechenden Vertrag.

Polen nach der zweiten Teilung 1793.

Ein letztes Aufbäumen

Der letzte Versuch die Katastrophe abzuwenden war der im März 1794 ausgebrochene nationale Aufstand unter der Führung von General Tadeusz Kościuszko (fonetisch: Koschtschiuschko, 1746-1817). Der erfolgreiche Kommandeur im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg war 1784 heimgekehrt. Jetzt, zehn Jahre später, gelang es ihm nicht, nach einigen ersten, vielversprechenden Erfolgen, die russischen Besatzungstruppen aus dem nur noch auf dem Papier als unabhängig geltenden Restpolen zu vertreiben.

Kościuszko-Denkmal in Washington. US-Briefmarke von 1933.

Und es sollte noch schlimmer kommen. Mitte Mai 1794 verwarf Friedrich Wilhelm II. von Preußen das Neutralitätsversprechen und stellte sich an die Seite der Russen, um die Bekämpfung des Aufstands zu unterstützen. Ende Juni 1794 gesellte sich auch Österreich hinzu.

Tadeusz Kościuszko. Briefmarke von 2017.

Anfang Juni 1794 fügten die vereinigten russisch-preußischen Truppen den polnischen Aufständischen eine schmerzhafte  Niederlage in der Schlacht bei Szczekociny (fonetisch: Schtschekotzini), knapp 80 Kilometer nördlich von Kraków, zu. Der Aufstand sollte noch bis Ende November 1794 andauern.

Nach seinem Fall brauchten die drei Sieger knapp ein Jahr, um sich darüber einig zu werden, wer sich wieviel von der polnischen Beute nehmen durfte. Der Vertrag über die dritte Teilung Polens wurde, wie bereits beschrieben, im Oktober 1795 unterzeichnet.

Nach der dritten Teilung 1795: kein Polen mehr .

Nach dem Sieg von Szczekociny trennten sich die Wege der Verbündeten. Die Preußen zogen nach Kraków. Kościuszko hatte den aufständischen Kommandeur der Krakauer Garnison, General Ignacy Wieniawski, mit der Verteidigung der Stadt beauftragt. Bei aussichtsloser Lage sollte Wieniawski Krakau übergeben, aber nicht an den preußischen Befehlshaber General Elsner, sondern unbedingt an die Österreicher.

Doch Wieniawski kapitulierte vor den Preußen ohne den Kampf aufzunehmen. Er verfügte gerade einmal über 3.800 Soldaten, von denen etwa 2.000 unbewaffnet waren. Die Preußen marschierten am 15. Juni 1794 in die ehemalige polnische Hauptstadt ein und blieben dort fast eineinhalb Jahre lang. Erst Anfang 1796 übernahmen die Österreicher auf der Grundlage der endgültigen Bestimmungen des dritten Teilungsvertrages die Stadt. Bis 1918 sollten sie dortbleiben.

Ausfindig machen und diskret plündern

Nach der Einnahme von Krakau erhielten die preußischen Verwalter der Stadt: General von Ruets und der Gouverneur von Krakau Hartwig van Hoym, von Friedrich Wilhelm II. den Befehl, so viel wie möglich über den Ort der Lagerung der wertvollsten Juwelen der polnischen Adelsrepublik in Erfahrung zu bringen und den Plan einer diskreten Plünderung auszuarbeiten.

Preußische Patrouille in den Arkadengängen des Wawel-Innenhofs. Ansichtskarte zu Beginn des 20. Jh.

Diskret, denn auch die beiden anderen Teilungsmächte waren an der Beute interessiert. Zudem gehörte der Diebstahl von Kronjuwelen keineswegs zu den Taten, dessen sich ein Herrscher rühmen wollte.

Pater Sebastian Sierakowski.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich alle Schlüssel zur Schatzkammer in den Händen von Pater Sebastian Sierakowski (1743-1824), Pfarrer der Königskathedrale auf dem Wawel-Hügel. Der Priester war ein außerordentlich ehrlicher, pflichtbewusster und diskreter Mensch. Und die Sicherheit der Kronjuwelen wurde vor allem durch Verschwiegenheit gewährleistet. Aus diesem Grund hatte man die Art der Schlüsselaufbewahrung geändert. Gewölbe im Erdgeschoss eines Flügels des Arkadenhofs des Wawel beherbergten die Schatzkammer. Nur wenige Eingeweihte wussten, wo genau sich die Räume befanden. Nicht einmal den Russen, die noch vor dem Kościuszko-Aufstand von 1794 in Krakau auf Beutezug gegangen waren und alles geplündert hatten, was sie finden konnten, war es gelungen die Schatzkammer ausfindig zu machen.

Die Preußen hatten den Raubzug fortgesetzt, aber der polnische Staatsschatz blieb unversehrt. Und vielleicht hätte diese Situation angedauert, wenn nicht…

Ein gewisser Zubrzycki (fonetisch: Subschitski), der als Lagerhalter auf dem Wawel arbeitete herausgefunden hätte, wo sich die Schatzkammer befand. Er gab die Information an den preußischen Gouverneur der Stadt, von Hoym weiter. Im Gegenzug bekam Zubrzycki das Amt des königlichen Kommissars in Częstochowa/Tschenstochau, eine Wohnung und 180 Taler Judaslohn pro Jahr.

Zu dem Einbruch kam es dann in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober 1795, als bereits klar war, dass Krakau bald in österreichische Hände fallen würde. Die Angelegenheit war ernst, sodass davon auszugehen ist, dass Friedrich Wilhelm II. selbst den Diebstahl angeordnet haben muss.

Von Hoym wurde von mehreren Offizieren, einigen Arbeitern und einem eigens aus Breslau angereisten Schlosser, einem gewissen Lang, begleitet. Schon vor der ersten Tresortür musste der Schlosser kapitulieren. Die Schlösser waren nicht zu knacken. Die Zeit verging, die Einbrecher wurden ungeduldig, denn es galt die Angelegenheit im Schutz der Dunkelheit zu erledigen.

Einer der Offiziere schlug vor, eine Kanone heranzuholen und die Tür zu durchschießen. Die Idee wurde jedoch schnell verworfen. Der Knall würde die Stadt aufschrecken und der Schuss könnte zudem die mittelalterliche Konstruktion der Kammer zum Einsturz bringen.

So wurde beschlossen, den besten Schlosser in Krakau, Meister Weiss, einzuschalten. Aus dem Bett geholt, bestätigte auch er, dass sich die Schlösser ohne die passenden Schlüssel nicht öffnen lassen.

Die „rettende“ Idee am Ende war: Einen der Steinbalken unter der mächtigen Tür zu entfernen, sich durch das entstandene Loch zu zwängen und die Tür von innen zu entriegeln. Stundenlang wurde auf die Steinschwelle mit Spitzhacken eingeschlagen, bis es gelang eine Öffnung zu schaffen. Weiss, der Dünnste der Truppe, zwängte sich unter der Tür hindurch und öffnete sie.

Auch bei den nächsten fünf Türen ließen sich die Schlösser nicht öffnen, aber das Herausschlagen der seitlichen Steinbalken ging verhältnismäßig leicht vonstatten. Am frühen Morgen des 4. Oktober 1795 standen die Einbrecher schließlich vor den Eisentruhen, in denen die königlichen Kostbarkeiten versteckt waren. Meister Lang konnte die Scharniere durchsägen. Die Räuber brachten alle neunzehn Schatullen zum Wagen und fuhren, ohne sie zu öffnen, zur Krakauer Residenz von Hoyms.

Pfarrer Sierakowski entdeckte den Raub bereits am nächsten Morgen. Ihm waren in der Nacht verdächtige Geräusche zu Ohren gekommen. Er hatte aber alle sechs Schlüssel zur Schatzkammer bei sich und ging davon aus, dass die mächtigen Türen jedem Einbruchsversuch standhalten würden.

Er machte die Angelegenheit nicht publik. Offiziell wurde die leere Schatzkammer erst von den Österreichern entdeckt, nachdem sie die Kontrolle über Krakau von den Preußen übernommen hatten. Dies geschah drei Monate später, am 05. Januar 1796.

Die Tannenberg-Schwerter

Grunwald-Schwerter als Denkmal.

Der neue österreichische Landeshauptmann forderte den Stadtrat auf, eine Sonderkommission zum Wawel zu entsenden, um den Schaden zu ermitteln. Die Österreicher wollten offenbar nicht des Raubes bezichtigt werden. Als Pater Sierakowski die erste Tür öffnete, sahen die Delegierten eine völlig verwüstete Schatzkammer: Aufgebrochene Türen, offene Truhen, zerstörte Verriegelungen, mehrere Dokumente, auf dem Boden verstreut.

Die Einbrecher hatten auch zwei mittelalterliche Schwerter ohne Juwelen oder wertvolle Verzierungen auf dem Boden zurückgelassen. Es waren einfache Militärwaffen, aber sie hatten für die polnische Nation einen hohen symbolischen Wert. Der Großmeister des Deutschen Ordens Ulrich von Jungingen hatte sie unmittelbar vor der Schlacht bei Grunwald/Tannenberg am 15. Juli 1410 an König Władysław Jagiełło gesandt, zusammen mit der Aufforderung, sich dem Kampf zu stellen.

Grunwald-Schwerter im Emblem des ehem. staatlichen „Gedenkstättenrates“ für die Betreuung nationaler Gedenkstätten und Soldatenfriedhöfe.

Der Orden wurde vernichtend geschlagen. Später wurden die Schwerter bei offiziellen Anlässen den polnischen Königen vorangetragen, als Symbol der Macht der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Bis heute werden die  Grunwald-Schwerter  als wichtige nationale Symbole betrachtet und verwendet.

Die Räuber hatten offenbar keine Ahnung von der historischen Bedeutung der beiden Schwerter, auch für Preußen. Schließlich waren sie ein Zeugnis der germanischen Niederlage von 1410. Als solches hätte man sie in Berlin ganz bestimmt gerne zurückerhalten, so wie es weit später mit den bei Tannenberg von den Polen erbeuteten Fahnen des Deutschen Ordens geschah.

Grunwald-Schwerter als Ordensmotiv.

Die beiden Schwerter jedoch gerieten in den Besitz der Adelsfamilie Czartoryski, bis sie 1853 von der russischen Gendarmerie als „illegale Waffen“ beschlagnahmt wurden. Seitdem sind sie verschollen.

Die Verluste

In einer Schätzung der Verluste im Auftrag der Österreicher, stellte die Sonderkommission des Krakauer Stadtrates fest, dass insgesamt 120 Gegenstände von unterschiedlichem Wert aus der Schatzkammer verschwunden waren.

Die Chrobry-Krone.

Der bedeutendste war die so genannte Chrobry-Krone, auch Corona Privilegiata (Privilegierte Krone) genannt, die seit der Krönung von Władysław Łokietek/Ellenlang (König von Polen bis 1333) am 20. Januar 1320 die Köpfe aller seiner Nachfolger bei den Krönungszeremonien zierte. Abgesehen von ihrem unschätzbaren symbolischen und historischen Wert, bestand sie aus fast eineinhalb Kilogramm reinem Gold und war mit 300 Edelsteinen sowie 80 Perlen verziert.

Die Königinnen-Krone.

Die Preußen hatten außerdem vier weitere Kronen gestohlen. Die der Königinnen. Sie war aus reinem Gold gefertigt, mit Edelsteinen und Perlen besetzt.

Die Ungarische Krone, mit nach Polen gebracht von Stephan Batory (Wahlkönig von Polen 1576 bis 1586).

Die Ungarische Krone.

Die Schwedische Krone, zusammen mit weiteren dynastischen Insignien der Wasa-Dynastie. Drei Mitglieder dieses Königshauses wurden nacheinander auf den polnischen Thron gewählt und regierten Polen insgesamt von 1587 bis 1668.

Entwendet wurde auch die sogenannte Huldigungskrone, mit der die Könige bei den hierfür vorgesehenen Zeremonien auftraten.

Die Schwedische Krone.

Die Räuber hatten zudem vier Zepter erbeutet, zwei goldene und zwei aus vergoldetem Silber. Das Zepter von Stanisław II. August Poniatowski, des letzten polnischen Königs, war außergewöhnlich reich mit den kostbarsten Steinen verziert, darunter Diamanten, Smaragden, Saphiren und Rubinen.

Das schartige Schwert

Des Weiteren kamen fünf Reichsäpfel und das berühmteste polnische Schwert – der Szczerbiec (fonetisch: Schtscherbjets), das „Schartige Schwert” abhanden. Das Schwert kehrte später nach Krakau zurück und ist heute das wichtigste Kronjuwel Polens, das einzige erhaltene Insigne der Piasten-Dynastie.

Die Huldigungskrone.

Einer Legende nach entstand die Scharte, als Bolesław I. Chrobry/ Der Tapfere Herrscher von Polen war (in den Jahren 992 bis 1025) und 1018 mit dem Schwert, beim Verlassen des von ihm eroberten Kiew, auf das Goldene Tor von Kiew schlug. Tatsächlich wurde das Goldene Tor erst 1037, neunzehn Jahre später, errichtet.

Das zweischneidige zeremonielle Schwert, knapp ein Meter lang, versehen mit üppigen gotischen Verzierungen, entstand vermutlich Ende des 12. oder zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Es wurde zum ersten Mal bei der Krönung von Władysław I. Łokietek/Ellenlang 1320 verwendet. Bei allen weiteren Krönungszeremonien wurde es als das Symbol der Kontinuität des Königreiches genutzt.

Bolesław der Tapfere am Goldenen Tor in Kiew. Bild von Jan Matejko (1838-1893).

Preußische Behörden hatten es, nach der Einschmelzung der goldenen Insignien, verkauft und es befand sich ab 1810 in den Händen verschiedener, meist russischer Sammler. 1884 hatte es die Petersburger Eremitage aus der Sammlung des russischen Botschafters in Paris erworben. Nach dem verlorenen Krieg gegen Polen im Jahr 1920, verpflichteten die Bolschewisten sich zur Rückgabe der vom Zarenreich in Polen, während der Teilungen, geraubten Kulturgüter. Im Jahr 1928 kehrte der Szczerbiec nach Polen zurück.

Das Schwert, das im Königsschloss auf dem Wawel ausgestellt wird, hat in der Nähe des Griffs ein Austrittsloch im Keil, das als „Scharte“ bezeichnet wird. Forscher interpretieren diese unterschiedlich. Vielleicht ist es der Rückstand eines herausgebrochenen Ornaments oder das Loch ist durch Rost entstanden und seine regelmäßige Form ist das Ergebnis eines Versuchs den Schaden zu verbergen.

Das schartige Schwert.

Die Scham im Gesicht von Königin Luise

Außerdem verschwunden waren: Reliquienschreine, Rittergürtel und viele kleinere Gegenstände, wertvoll, aber nicht unersetzlich. Alles war schnell aus Hoyms Residenz geholt und über Schlesien nach Berlin gebracht worden.

Die Moskauer Krone.

In dem einige Jahre später erstellten Inventar sind alle diese Gegenstände verzeichnet, und sogar einer mehr. Dabei handelte es sich um die sogenannte Moskauer Krone. Sie jedoch war nicht geraubt, sondern als Pfand nach Berlin gebracht worden, für ein preußisches Darlehen an den polnischen König Johann II. Kasimir.

Friedrich Wilhelm II. hatte diesen Raub nicht angeordnet, um in den Besitz der symbolträchtigen Insignien des polnischen Staates zu gelangen, an dessen Abschaffung er mitgewirkt hatte, sondern wegen ihres Schmuckwertes. Daher mussten die Stücke, solange die preußische Staatskasse gefüllt war, weder durch ihn noch durch seinen Nachfolger Friedrich Wilhelm III. angerührt werden.

Julian Ursyn Niemcewicz.

Auf jeden Fall waren sie 1800 noch in Berlin. Das bestätigte August Friedrich, Herzog von Sussex, dem polnischen Schriftsteller und Politiker Julian Ursyn Niemcewicz (1758-1841). Er hatte sie dort gesehen und sogar eine der Kronen anprobiert.

1797 bemerkte der polnische Adelige Feliks Łubieński (1758-1848) bei der Krönung von Friedrich Wilhelm III. (Sohn Friedrich Wilhelms II.), dass Königin Luise von Preußen, die Ehefrau des frisch gekrönten Königs, eine Halskette trug, die sich im polnischen Kronschatz auf dem Wawel befunden hatte.

Feliks Łubieński.

Die Königin muss davon nichts gewusst haben, denn als Graf Łubieński ihr davon erzählte, stand sie wie vom Blitz getroffen auf, wurde rot wie eine Pfingstrose und verließ sofort die Zeremonie. Offenbar kündigte sie anschließend ihrem Gatten an, dass sie nie wieder Schmuck von ihm tragen würde. Von da an trug Luise nur noch Eisenschmuck. Er soll wirklich schön gewesen sein und wurde damals an allen europäischen Höfen akzeptiert.

Edelsteine herausgebrochen, Insignien eingeschmolzen

Bald jedoch wurden die Zeiten sehr turbulent. Die Napoleonischen Kriege entbrannten. Die vernichtende Niederlage Preußens in der ersten Phase dieser Kriege entblößte die Schwäche des Staates und wies auf die dringende Notwendigkeit von Reformen hin, vor allem innerhalb der Armee. Selbst Friedrich Wilhelm III., den Historiker fast einvernehmlich als einen „eher begrenzten“ Herrscher charakterisieren, hatte das verstanden.

Friedrich Wilhelm II hat den Raub angeordnet.

Doch die notwendigen Reformen waren nicht die einzige Ursache, weshalb sich die Berliner Staatskasse leerte. Die Niederlage im Krieg mit Frankreich bedeutete, dass eine hohe Kontribution gezahlt werden musste. Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts benötigte Berlin daher sehr schnell, viel Geld. Damit war das Schicksal der polnischen Insignien besiegelt.

Anfang 1809 ließ der preußische Monarch den Wert der geraubten Juwelen schätzen. Das Ergebnis: 525.259 Taler. Das war eine beträchtliche Summe. Doch bei der Größe des preußischen Staates reichte sie nur für relativ geringe, laufende Ausgaben aus.

Außerdem zeigt die Tatsache, dass hundert Jahre zuvor ein Darlehen von 300.000 Talern gegen die Verpfändung einer einzigen, der Moskauer Krone aus polnischem Besitz gewährt wurde, deutlich, dass der symbolische Wert des gesamten Schatzes unvergleichlich höher war.

Friedrich Wilhelm III. war jedoch kein weitsichtiger Herrscher, und anstatt Russland, das schon immer Anspruch auf den polnischen Thron erhoben hatte und zu dieser Zeit sehr reich war, anzubieten, den Wawel-Schatz ganz oder teilweise zu kaufen, beschloss er die königlichen Insignien einfach einzuschmelzen.

Knapp zwei Jahrzehnte später, als sich Zar Nikolaus I. im Mai 1829 zum König von Polen (Kongresspolen) krönen ließ, suchte St. Petersburg tatsächlich händeringend nach den Symbolen der polnischen Königsmacht, um sie politisch für sich zu vereinnahmen. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät.

Friedrich Wilhelm III. ließ die polnischen Kronjuwelen vernichten.

Die Einschmelzung hatte am 17. März 1809 in Königsberg unter strengster Geheimhaltung stattgefunden. Nur Friedrich Wilhelm III. und sein engster Kreis wussten von dem Vorhaben, das von Staatsminister von Altenstein überwacht wurde. Zunächst wurden die polnischen Kronjuwelen zu Goldklumpen eingeschmolzen. Daraus gelang es ca. 12 Kilogramm Goldbarren zu gewinnen, wie in den Archiven akribisch festgehalten wurde.

Im Juli desselben Jahres ließ der König daraus Münzen prägen. Wer heute im Besitz von preußischen Talern aus dem Jahr 1809 ist, der kann davon ausgehen, dass sie aus dem Gold der polnischen Königsinsignien geprägt wurden. Die aus den Kronen, Schwertern und anderen Schätzen herausgebrochenen Edelsteine wurden auf etwa 50.000 Taler geschätzt und verkauft.

Eine letzte Chance wird vertan

Die ganze Angelegenheit hätte in einem großen diplomatischen Skandal enden können. Zu dieser Zeit existierte nämlich bereits das Herzogtum Warschau mit einer Fläche von 155.000 Quadratkilometern und 4,3 Millionen Einwohnern. Es war ein von Napoleon errichteter, kurzlebiger (1807-1815) polnischer Rumpf-und Satellitenstaat, der sich aber erstaunlich dynamisch entwickelte und durchaus effizient regiert wurde.

Herzogtum Warschau.

Bereits im Jahr 1807 hatte das siegreiche Frankreich Preußen unter anderem zur Rückgabe der geraubten Insignien an Warschau verpflichtet. Der Historiker und Politiker Józef Kalasanty Szaniawski (1764-1843) wurde auf polnischer Seite ermächtigt, über diese Angelegenheit und die Rückgabe der von Preußen geraubten polnischen Archive in Berlin zu verhandeln. Zu diesem Zeitpunkt gab es eine reelle Chance die Insignien wiederzufinden. Der Intendant der napoleonischen Armee, Prinz Daru, wurde in dieser Angelegenheit mit Forderungen überhäuft.

Józef Kalasanty Szaniawski.

Es entstand jedoch ein klarer polnisch-französischer Interessenkonflikt. Die Polen wollten ihre wichtigsten Staatssymbole zurückhaben. Der Verwaltungschef der napoleonischen Armee, Herzog Daru, hingegen wollte vor allem die riesigen Kontributionen eintreiben, die Frankreich Preußen auferlegt hatte. Die französische Armee, die sich auf die Invasion Russlands vorbereitete, verschlang Unsummen.

Die Angelegenheit zog sich hin. Es ist anzunehmen, dass die Franzosen sogar indirekt Einfluss auf die Entscheidung zum Einschmelzen der Insignien genommen haben. Friedrich Wilhelm III. wurde von ihnen heftig bedrängt schnell zu zahlen und er beschaffte sich so einen Teil der Forderungen.

In eine Zwickmühle geraten, spielten die Preußen auf Zeit, hielten sich nach der Einschmelzung bedeckt und, wie sich herausstellte, war das die richtige Strategie. Als Napoleon 1812 nach Russland aufbrach, kümmerten die polnischen Schätze niemanden mehr. Drei Jahre später wurde Napoleon besiegt und mit ihm ging auch seine Schöpfung, das Herzogtum Warschau, unter.

Eine Kopie erweckt Aufsehen

Nicht alle haben sich mit dem bitteren Verlust abgefunden. Adam Orzechowski, ein Antiquitätenhändler aus Nowy Sącz/Neu Sandez im Süden Polens führte Ende der 90er Jahre eine Ankaufsaktion für preußische Münzen aus dem Jahr 1809 durch. In diesem Jahr waren das Gold und das Silber aus den polnischen Kronjuwelen in die preußischen Münzstätten gelangt. Zumindest einige dieser Münzen müssen Gold und Silber aus den königlichen polnischen Kronen, Reichsäpfeln und Zeptern enthalten.

Zwischen 2001 und 2003 fertigte eine Gruppe von Goldschmieden und Juwelieren mit Interesse an der Geschichte Polens, unter Beteiligung von Orzechowski, eine Nachbildung der Chrobry-Krone (Corona Privilegiata) an.

Kunsthistoriker, Goldschmiede, Edelsteinschleifer. Neun Enthusiasten haben die Chrobry-Krone wiederaufleben lassen. 2 v. l. vorne der Urheber und Sponsor Adam Orzechowski.

Die Replik basiert auf den Erkenntnissen von zwei Kunsthistorikern: Jerzy Lileyka und Michał Rożek. Die beiden analysierten Zeichnungen und Gemälde von Krzysztof Józef Werner (1718-1778) und von Marcello Bacciarelli (1731-1818), zwei Malern, die den letzten König Polens, Stanisław August Poniatowski mit den Krönungsinsignien „live“ porträtiert hatten. Die Wissenschaftler stützten sich auch auf Dokumente aus der Überprüfung des Kronschatzes von 1730, die detaillierte Skizzen aller Krönungsinsignien enthielten, darunter natürlich auch der Chrobry-Krone.

Zeitgenössische Goldschmiede verwendeten unter anderem 0,6  Kilogramm Gold (0,9 Kilogramm weniger als das Original) und 60 Gramm Silber. Die Nachbilder achteten darauf, dass das Gold, wie das Original, 16 bis18 Karat hatte. Echte Rubine einzusetzen erwies sich als zu teuer. In der Kopie sind es synthetische. Dafür sind alle anderen 88 Edelsteine (Smaragde, Saphire und Granate) und die 80 Perlen echt. Die Goldschmiede und Edelsteinschleifer, die an der Kopie arbeiteten, verwendeten Handwerksmethoden aus der Zeit, in der das Original geschaffen wurde.

Die prächtigen Kopien: Chrobry-Krone, Zepter, Reichsapfel.

„Die nachgebaute Krone“, so Orzechowski, „ist eine exakte Rekonstruktion. Jedes kleine Detail ist korrekt ausgeführt, selbst der kleinste Edelstein musste dem Original entsprechen.“

Mit ähnlicher Genauigkeit gestalteten Orzechowski und sein Team auch eines der von den Preußen gestohlenen Zepter und einen der Reichsäpfel nach.

Die prächtigen Kopien wurden in den letzten zehn Jahren immer wieder an verschiedenen Orten in Polen gezeigt. Wann und ob sie jemals in der heutigen königlichen Schatzkammer des Wawel-Schlosses ihren endgültigen Aufbewahrungs- und Ausstellungsort finden werden, ist nicht bekannt.

Lesenswert auch: Polens Goldschatz auf der Flucht. In sechs Jahren (1939-1944) durch drei Kontinente.

© RdP




1945. Das Ende des polnischen Lwów

Die Herzen bluten noch heute.

Am 18. Juli 1944 gab es kein Halten mehr. Die Sowjets hatten kurz zuvor bei Brody eine riesige Lücke in die deutsche Frontlinie gerissen und stürmten nach vorn. In Lwów/Lemberg machten sich deutsche Besatzungsbehörden, Wehrmachtsdienststellen, Gestapo, SS sowie die berüchtigte Ukrainische Hilfspolizei Hals über Kopf davon.

Übrig blieben einige gut befestigte Stützpunkte, deutsche Inseln in einer ansonsten nicht mehr besetzten Stadt. Drei Tage lang lag Lwów zwischen den Fronten, ehe frühmorgens am 22. Juli 1944 erste Panzer der Roten Armee von Südosten aus in die Stadt eindrangen, versprengte deutsche Fronttruppen vor sich her treibend.

Der polnische Aufstand

Lwów 22. Juli 1944. Sowjets, polnisches Wappen, polnische Fahnen.

Die russischen Panzerbesatzungen sahen hie und da weiß-rote Fahnen an Balkonen und Toreinfahrten hängen. Bewaffnete junge Männer mit weiß-roten Armbinden gaben sich als Verbündete zu erkennen. Die Sowjets nahmen die Hilfe der ortskundigen Kämpfer gerne an. Ihre Panzer waren ohne Infanteriebegleitung weit vorgeprescht. Auf sich alleine gestellt, wären sie in den sich anbahnenden Straßenkämpfen schnell vernichtet worden.

Lwów 22.-27. Juli 1944. Ein AK-Trupp auf dem Weg in den Kampf.

Lwów 22.-28. Juli 1944. Kämpfer der Heimatarmee vor der Technischen Hochschule.

Fünf Tage lang kämpften die polnischen Aufständischen gemeinsam mit den Sowjets um Lwów. Es waren Soldaten der Heimatarmee (Armia Krajowa), die sich während der deutschen Besatzung, seit mindestens 1942, im ganzen besetzten Polen im Untergrund auf diesen Augenblick vorbereitet hatten.

Lwów 22.-28. Juli 1944. Polnische Fahne auf dem Gebäude der Universität.

Die AK-Strukturen in Lwów zählten etwa fünftausend Mitglieder, darunter ungefähr vierhundert Frauen, die für den Sanitätsdienst und die Nachrichtenübermittlung ausgebildet waren. Nur etwa zweitausend Mann konnten bewaffnet in den Kampf ziehen. In den konspirativen Waffenkammern der AK gab es lediglich Granaten und Handfeuerwaffen: Pistolen, Revolver, Gewehre und etwa 750 Maschinenpistolen verschiedenster Bauart. Der Munitionsvorrat reichte für zwei Tage. Weitere Waffen mussten erst einmal im Kampf erbeutet werden.

Die AK in Lwów war eine Untergrundarmee, die innerhalb von knapp fünf Jahren aufgebaut worden war. Das geschah unter den Bedingungen eines gnadenlosen Besatzungsterrors, zuerst der Sowjets (September 1939 bis Juni 1941), dann der Deutschen und der mit ihnen eng zusammenarbeitenden ukrainischen Nationalisten (Juli 1941 bis Juli 1944). Lwów war in dieser Zeit zuerst Schauplatz sowjetischer Massenmorde und Massendeportationen.

Der Einmarsch der Deutschen und das zeitgleiche Auftauchen der ukrainischen Nationalisten im Juli 1941 löste anschließend einen Blutrausch aus, dem vor allem Juden, aber auch Polen (darunter 45 polnische Professoren der Universität Lwów) zum Opfer fielen. Und das war nur der Anfang.

Lwów. Das 2011 errichtete Denkmal für die 1941 ermordeten polnischen Professoren.

Dass es der Armia Krajowa gelungen war, unter den Augen der Gestapo und ihrer Zuträger, in strengster Geheimhaltung, eine solche Zahl von zumeist jungen Menschen, die sich nach Außen als Zivilisten nichts anmerken lassen durften, zu rekrutieren, zu schulen, in konspirativen Einheiten zusammenzufassen, war eine herausragende Leistung gewesen. Dass man unter den geschilderten Umständen jedoch keine Kanonen und keine Panzer beschaffen konnte, lag auf der Hand.

Aktion „Gewittersturm“

Kommandant der AK in Lwów war seit Februar 1944, als Eisenbahner getarnt, Oberleutnant Stefan Czerwiński (Deckname „Zamkowski“). Vor dem Krieg Offizier der polnischen Artillerie. Ende September 1939, nach schweren Kämpfen unweit von Lublin in deutsche Gefangenschaft geraten, floh Czerwiński kurz darauf und war seitdem in Warschau, später in Białystok in den geheimen Strukturen der AK und ihrer Vorgängerorganisation ZWZ tätig.

Oberleutnant Stefan Czerwiński („Zamkowski“).

In Anbetracht der herannahenden Front stellte der Kommandeur seinen Kämpfern im Einsatzbefehl vom 15. Juli 1944 folgende Aufgaben:

1. Angriffe auf Eisenbahn- und Straßenverbindungen der Deutschen während ihres Rückzugs.

2. Angriffe auf die Nachhut der sich zurückziehenden deutschen Einheiten.

3. Schutz der polnischen Zivilbevölkerung vor möglichen Übergriffen und Massakern durch deutsche, beziehungsweise ukrainische Verbände.

4. Besetzung wichtiger öffentlicher Einrichtungen und Dienststellen damit die (auch im Untergrund wirkende – Anm. RdP) polnische Verwaltung ihre Arbeit sofort aufnehmen kann. Kontaktaufnahme mit sowjetischen Einheiten und deren Unterstützung im Kampf.

22.-28. Juli 1944. Sowjets während der Kämpfe um Lwów.

Diese Vorgaben galten nicht nur für die Heimatarmee in Lwów, sondern in allen polnischen Gebieten, seitdem die Sowjets am 4. Januar 1944 in der Nähe von Sarny, etwa dreihundert Kilometer nordöstlich von Lwów, erstmals die polnisch-sowjetische Grenze von 1921 bis 1939 überschritten hatten.

Es war der Plan eines rollenden Aufstandes mit dem Decknamen „Burza“ (fonetisch Buscha – „Gewittersturm“). Die Heimatarmee, der damals einzigen legalen polnischen Regierung unterstellt, welche sich im Londoner Exil befand, sollte zwischen den sich zurückziehenden Deutschen und den anrückenden Sowjets kämpfend in Erscheinung treten.

Sie sollte, als Hausherr, die Rote Armee begrüßen und die Sowjets so vor vollendete Tatsachen stellen. In der Hoffnung, die Russen würden die Fakten, auch unterstützt durch den Druck der USA und Großbritanniens, respektieren. Es war ein letztes, verzweifeltes Aufbäumen des freien Polens, um das Unausweichliche noch zu verhindern: die Verwandlung Polens in eine von polnischen Kommunisten verwaltete Sowjet-Kolonie, die es bis 1989 dann doch war.

Ende Juli 1944. Soldaten der Heimatarmee während der sowjetisch-deutschen Kämpfe um Lublin.

Um ihr Ziel zu erreichen unterstützte die AK die Sowjets bei den Kämpfen um Kowel, Włodzimierz Wołyński, Wilno, Lwów, Białystok, Lublin und viele kleinere Ortschaften gegen die deutschen Besatzer. Die tragischste Episode des „Gewittersturms“ spielte sich in Warschau ab. Der dortige Aufstand brach am 1. August 1944 aus, als erste sowjetische Panzerspitzen unweit der Stadtgrenze gesichtet wurden. Die für zwei bis drei Tage geplante Erhebung dauerte 63 Tage lang. Sie endete mit dem Tod von etwa zweihunderttausend Warschauern und der Vernichtung der Stadt, weil die Sowjets ihren Vormarsch stoppten, um die Niederschlagung des Aufstands durch die Deutschen abzuwarten.

Das Ringen um Lwów endete in der Frühe des 28. Juli 1944. Die AK war fünf Tage lang in allen Stadtteilen pausenlos im Gefecht gewesen. Dreißig ihrer Kämpfer fielen, einhundertsechzig wurden verwundet. Während der Kämpfe herrschte zwischen den sowjetischen Fronttruppen und den Polen bestes Einvernehmen, die Zusammenarbeit der beiden Befehlsstellen funktionierte reibungslos.

22.-28. Juli 1944. AK-Soldaten (in der Mitte und links im Bild) und Rotarmisten während der Kämpfe um Lwów.

Am 28. Juli 1944, gegen Mittag, während der gemeinsamen Schlussberatung der beiden Stäbe in der AK-Standortkommandantur in der Kochanowskiegostraße 27 (heute: Lewyckoho), dankte der sowjetische General Sergej Schatilow den „polnischen Waffenbrüdern“ für die erwiesene Hilfe. Den Dank nahm Oberst Władysław Filipkowski („Stach“), der AK-Kommandeur für die gesamte Region Lwów entgegen.

General Sergej Schatilow.

Was die Polen nicht wussten

Filipkowski hatte vor dem Krieg, wie sein Untergebener, der AK-Stadtkommandant Oberleutnant Stefan Czerwiński, bei der Artillerie gedient. Seine Einheit war eine der letzten, die im polnischen Verteidigungskrieg von 1939, am 2. Oktober, die Waffen niederlegte. Nach schweren Kämpfen mit der deutschen 27. Infanteriedivision in der Nähe von Lublin, wich sie nach Osten aus und ergab sich den, zwei Wochen zuvor in Polen eingefallenen, Sowjets. Filipkowski floh im anfänglichen Durcheinander aus der sowjetischen Gefangenschaft, ohne damals wissen zu können, dass er sie als polnischer Offizier nicht überlebt hätte.

Oberst Władysław Filipkowski („Stach“).

Als General Schatilow 1944 seine Dankesrede schwang, gab es schon seit über einem Jahr keine diplomatischen Beziehungen mehr zwischen der UdSSR und der polnischen Regierung im Exil, der die AK unterstand. Stalin hatte sie am 25. April 1943 abgebrochen. Kurz zuvor hatte der deutsche Rundfunk folgende Nachricht gebracht: in Katyn bei Smolensk, auf besetztem sowjetischen Gebiet, hätten die Deutschen Massengräber Tausender polnischer Offiziere entdeckt, alle durch Genickschuss ermordet.

Katyń 1943. Massengräber polnischer Offiziere.

Laut den bei Exhumierungen gefundenen Papieren, handelte es sich um polnische Offiziere, die im September 1939 von den Sowjets bei ihrem Einmarsch in Polen gefangen genommen wurden. Sie galten seit April 1940, als keine Post mehr von ihnen aus der sowjetischen Gefangenschaft kam, als vermisst.

Die polnische Regierung im Exil bat das Internationale Rote Kreuz, die Angelegenheit zu untersuchen. Die Sowjets, die ihre Schuld in Abrede stellten, nahmen das zum Anlass die Beziehungen abzubrechen.

Jetzt, da sich nach Stalingrad das Blatt zu ihren Gunsten gewendet hatte, mussten sie sich in ihrer Polen-Politik nicht mehr gegenüber den Briten und Amerikanern verstellen. Sie konnten nun offen auf moskauhörige polnische Kommunisten setzen, die ihre Verwalter in Polen sein sollten. Die Heimatarmee wollte und sollte gerade das, im Auftrag und im Namen der polnischen Regierung im Exil, durch ihren „Gewittersturm“ verhindern.

Stalin, Roosevelt und Churchill während der Konferenz in Teheran (28. November bis 1. Dezember 1943).

Als die Kämpfe um Lwów zu Ende gingen, wussten die AK-Soldaten und die übrigen polnischen Bewohner der Stadt nicht, dass Stalin, Churchill und Roosevelt das Nachkriegsschicksal von Lwów bereits im Herbst 1943 auf der Konferenz in Teheran besiegelt hatten. Ostpolen, das sich die Sowjets im September 1939, in Folge des Hitler-Stalin-Paktes genommen hatten, und im Juni 1941 auf der Flucht vor der Wehrmacht räumen mussten, sollte ihnen gehören.

Das war ein Teil des Preises, den die Westmächte Stalin zu zahlen bereit waren, damit er weiterhin die Hauptlast des Krieges gegen seinen Verbündeten von 1939 bis 1941, Adolf Hitler, tragen und in absehbarer Zeit in Fernost in den Krieg gegen Japan ziehen würde.

Die Beschlüsse von Teheran vom Herbst 1943 wurden von den Briten und Amerikanern vor der polnischen Exilregierung mit Sitz in London geheim gehalten. Obwohl beide Staaten sie weiterhin offiziell, anders als die Sowjets, als die einzige legitime Regierung Polens anerkannten.

Moskau hatte derweil das Polnische Komitee der Nationalen Befreiung (PKWN) ins Leben gerufen. Eine provisorische Regierung, die mit hörigen polnischen Kommunisten besetzt war und auf den von der Roten Armee eroberten polnischen Gebieten eine kommunistische Verwaltung errichten sollte.

Die Vertreter dieses Komitees unterschrieben am 26. Juli 1944, als die Armia Krajowa noch in Lwów kämpfte, in Moskau insgeheim eine Grenzvereinbarung mit der UdSSR, in der sie auf etwa die Hälfte des polnischen Vorkriegsterritoriums zugunsten der Sowjets verzichteten, unter anderem auf Lwów, eine Stadt die sechshundert Jahre lang aufs engste mit Polen verbunden war.

Die Polen in Lwów wussten nicht, dass die Sowjets und ihre polnischen Vasallen gleichzeitig einen Zeitplan für ihre Vertreibung festgelegt hatten. Sie sollte am 15. Oktober 1944 beginnen. Bis zum 31. Dezember 1944 war die Erfassung aller „Ausreisewilligen“ vorgesehen. Am 1. April 1945 sollte es in Lwów keine Polen mehr geben. Auch diese Maßnahme wurde vorerst geheim gehalten.

Nur langsam bahnte sich in der zweiten Jahreshälfte 1944 die ganze bittere Wahrheit den Weg ins Bewusstsein der Polen. Das Vorgehen der Sowjets in Ostpolen, darunter in Lwów, war ein wichtiger Bestandteil der Ernüchterung, die der Historiker und Literaturkritiker Jan Józef Lipski so beschrieb:

„Der Schock nach dem Ende des Krieges war für Polen schrecklich. Polen, das erste Land, das sich Hitler entgegengestellt hatte. Die Polen, ein Volk das an vielen Fronten des Krieges gekämpft hat. Polen, ein Land, das einen mächtigen Staat und eine Armee im Untergrund aufbaute. Es wurde von den eigenen Verbündeten, Groβbritannien und den USA, an den sowjetischen Angreifer ausgeliefert. Es war ein schreckliches Erlebnis und eine Demütigung, mit einer Schlinge um den Hals, an den Sattel des Siegers geknüpft, in sein eurasisches Imperium gezerrt zu werden.“

Die Heimatarmee wird enthauptet

Schon einen Tag nach dem Ende der Kämpfe um Lwów war es vorbei mit der Eintracht. Nicht mehr die sowjetische Fronttruppe, die weiterzog, hatte ab jetzt das Sagen. Es waren die dicht hinter ihnen folgende politische Geheimpolizei NKWD, die ebenso für ihre bestialische Vorgehensweise berüchtigte militärische Spionageabwehr SMERSch und der kommunistische Parteiapparat.

General Schatilows Dankesrede endete mit der Feststellung, die Heimatarmee in Lwów habe ihre Aufgabe erfüllt. Darauf folgte die unzweideutige Aufforderung, die AK solle sich unverzüglich auflösen, nachdem ihre Kämpfer die Waffen an vorgegebenen Stellen in der Stadt niederlegt hätten.

Die Übermacht der Sowjets war zu groß, als dass man Widerstand leisten konnte. Oberst Filipkowski gab den Befehl der Forderung der Sowjets Folge zu leisten. Nachdem sie einen Teil der Waffen abgegeben, einen weiteren Teil versteckt hatten, gingen AK-Offiziere und Mannschaften nach Hause. Kontakte wurden konspirativ aufrechterhalten. Gegen Abend des 28. Juli 1944 waren die letzten polnischen Fahnen in der Stadt heruntergerissen.

Am 31. Juli flogen die fünf wichtigsten Kommandeure der AK in Lwów und Umgebung, darunter Oberst Filipkowski und Oberleutnant Czerwiński, mit einer sowjetischen Militärmaschine nach Schytomyr. Die Sowjets empfahlen ihnen ein Treffen im Stab der polnischen Division, die an der Seite der Roten Armee kämpfte.

Es war die Keimzelle der künftigen Armee des kommunistischen Polen. Ihre Kommandeure waren moskautreue Kommunisten. Es sollte beraten werden, ob man die AK-Kämpfer in diese Einheit integrieren könne. Kurz nach dem Eintreffen wurden die fünf verhaftet. So begann ihre Zwangswanderung durch sowjetische Gefängnisse und Lager, die erst im November 1947 mit der Entlassung nach Polen endete.

Lwów 22.-28. Juli 1944. AK-Kommandantur in der Kochanowskiegostraße

Zu diesem Zeitpunkt existierte in Lwów noch die AK-Kommandantur in der Kochanowskiegostraße, die von bewaffneten AK-Kämpfern bewacht wurde. Es war ein wichtiger polnischer Treffpunkt in der Stadt, jetzt vor allem eine Nachrichtenbörse. AK-Leute und Zivilisten gingen hier ein und aus.

Die Sowjets schlugen daher vor, dort am 31. Juli 1944 um 21 Uhr eine Beratung über die mögliche Verwendung der AK-Soldaten im gemeinsamen Kampf abzuhalten. Es kamen etwa dreißig Stadtteil- und Abschnittskommandeure der Heimatarmee. Nach einigem Warten erschien ein sowjetischer Offizier. General Schatilow sei sehr beschäftigt und bitte deswegen die Beratung in seinem Stab abzuhalten. Mehrere Autos brachten die Polen ins Biesiadecki-Palais am Halicki-Platz (heute Halycki Pl.).

Man bat sie in die erste Etage, in einen geräumigen Saal, zu dem mehrere Türen führten. In der Mitte standen in Hufeisenform aufgestellte Tische. Am offenen Ende ein gewaltiger Schreibtisch. Auf Stühlen an den Wänden, saßen verstreut Sowjet-Offiziere. Die Gäste nahmen zwischen ihnen Platz. Man unterhielt sich höflich bis ein unbekannter Oberst der Roten Armee den Raum betrat.

Biesiadecki-Palais einst und der heutige Zustand.

Vom Schreibtisch aus bat er alle, der Rangfolge entsprechend, am Beratungstisch Platz zu nehmen. Der ranghöchste polnische Offizier möge Meldung erstatten. Major Kornel Stasiewicz („Prosper“) stand auf und gab an, man sei gekommen, um über die Teilnahme der Armia Krajowa am Kampf gegen die Deutschen an der Seite der Roten Armee zu beraten.

Daraufhin zog der Oberst zwei Pistolen aus der Schublade und schrie „Hände hoch!“. Die sowjetischen Offiziere stürzten sich auf die Polen, durch die Türen stürmten bewaffnete Soldaten in den Saal.

Gleichzeitig besetzten die Sowjets mitten in der Nacht diskret die AK-Kommandantur in der Kochanowskiegostraße. Bis zum 1. August abends, wurde jeder der an die Pforte klopfte reingelassen und sofort festgenommen. So fielen den Sowjets weitere vierzig AK-Leute und Unterstützer in die Hände.

Das Schicksal aller damals Festgenommenen endete zumeist tragisch. Als erster starb bereits Anfang August 1944 Major Kornel Stasiewicz. Wie alle anderen, war auch er in Kellern verschiedener sowjetischer Sicherheitsbehörden in Lwów untergebracht. Unter furchtbaren hygienischen Umständen, starb der zuckerkranke Stasiewicz, auf dreckigem Boden hockend, weil er seine Medikamente nicht dabei hatte.

Einige der Verhafteten überlebten die bestialischen Verhöre der nächsten Tage und Wochen nicht. Sie wurden zu Tode geprügelt. Andere wurden in geheimen Blitzverfahren wegen „antisowjetischer Tätigkeit“ zum Tode verurteilt und ermordet. Viele bekamen Lagerstrafen und kamen, durch sklavische Arbeit vernichtet, irgendwo in Workuta oder Magadan, ums Leben. Wer genug Kraft und Glück hatte, wurde irgendwann entlassen und nach Polen abgeschoben. Die letzten kamen als menschliche Wracks 1956 zurück.

Das Schicksal der Heimatarmee in Lwów ist exemplarisch dafür, was den AK-Soldaten 1944 bis 1945, nach dem Einmarsch der Sowjets, widerfuhr: gemeinsamer Kampf, Entwaffnung, Verhaftungen, Folter, Deportationen, Tod. So war es in Kowel, in Włodzimierz Wołyński, in Wilno, in Białystok, in Lublin und in vielen kleineren Ortschaften.

Spätestens vier Tage nach dem Ende der Kämpfe um Lwów war die Heimatarmee in der Stadt ihrer Führung beraubt. Am 2. August 1944 erreichte eine Meldung darüber die AK-Hauptkommandantur in Warschau, wo am Tag zuvor der Aufstand ausgebrochen war. Noch konnte die AK in Lwów ihr Funkgerät vor den Sowjets verbergen. Es sollte, allen Peilungsversuchen der Sowjets zum Trotz, noch einige Wochen lang Lageberichte ins kämpfende Warschau und nach London, zur Exilregierung, funken.

„Es lebe das polnische Lwów!“

Lwów 30. Juli 1944. Tribüne vor der Oper während der Kundgebung für die „befreiten Volksmassen“.

Inmitten der Verhaftungswelle bekamen oberste Sowjetfunktionäre den zivilen Widerstand der Polen zu sehen und zu hören. Am 30. Juli 1944 bestiegen der Parteichef der Sowjet-Ukraine Nikita Chruschtschow und der Kommandierende der 1. Ukrainischen Front, Marschall Iwan Konjew, eine vor der Oper errichtete Tribüne, um zu „den befreiten Volksmassen“ von Lwów zu sprechen. Die Hochrufe der kommunistischen Claqueure vermischten sich unüberhörbar mit der mit Inbrunst gesungenen polnischen Nationalhymne, mit skandierten Sprechchören: „Es lebe das polnische Lwów!“, „Lwów zu Polen!“, „Polnisches Lwów!“

Laut einer von den Sowjets durchgeführten Volkszählung lebten am 1. Oktober 1944 in Lwów: 102.983 Polen (66,7 Prozent), 40.743 Ukrainer (26,4 Prozent), 8.426 Russen (5,5 Prozent) und 1.689 Juden (1,1 Prozent). Insgesamt kam man auf 154.284 Menschen.

Den Sowjets wurde vor der Oper noch einmal vor Augen geführt, dass es ohne eine einschneidende Änderung der nationalen Struktur, keine Sowjetisierung Lwóws geben konnte. Chaotisch zusammengestellt und durchgeführt, trafen daraufhin im Oktober 1944, von einem Tag auf den anderen, Lkw- und Eisenbahntransporte mit Zehntausenden von Ukrainern und Russen in der Stadt ein.

Binnen nur eines Monats hatte Lwów gut 80.000 Einwohner mehr. Nach amtlichen sowjetischen Schätzungen lebten am 1. November 1944 in der Stadt 244.285 Menschen, davon waren 112.413 Polen, also nur noch 46 Prozent.

Mit der Sowjetisierung einher ging, eine nicht enden wollende Kette von großen und kleinen polizeilichen und bürokratischen Schikanen. Eine der empfindlichsten war die „Verdichtung der Wohnflächen“.

Nun galt auch in Lwów, wie in der übrigen Sowjetunion, das Unterbringungsprinzip „Ein Raum, eine Familie“. In die Wohnungen der polnischen Bewohner wurden zwangsweise Ukrainer und Russen einquartiert, die nicht selten bis dahin in ihrer Heimat unter primitivsten Bedingungen gehaust hatten.

Das Leben einer Familie, die gerade noch in einer Dreizimmerwohnung gelebt hatte, verwandelte sich im Nu in eine Hölle, da man sich nicht mehr zu dritt oder viert, sondern zu zehnt oder zwölft Küche und Toilette teilen musste. Von dem, mit einem solchen Leben verbundenen, ständigen Krach und Zank gar nicht zu reden.

Nicht wenige polnische Bewohner wurden binnen Minuten aus den Wohnungen geworfen, um privilegierten Sowjets und ihren Familien Platz zu machen. Hinzu kamen die nicht enden wollenden nächtlichen Kontrollen und Durchsuchungen der Wohnhäuser, um festzustellen, ob nicht angemeldete Fremde dort nächtigten. Bei dieser Gelegenheit nahmen sich die Streifen aus den Wohnungen mit, was ihnen gefiel.

Weil der private, „kapitalistische“ Handel immer weniger toleriert und immer mehr mit brutalen Methoden eingeschränkt wurde, war die Versorgung katastrophal. Das Wenige, was man mit viel Glück auf Marken bekommen konnte, erwies sich oft als ungenießbar.

Lwów. Łyczakowski Friedhof (oben) und das Mausoleum der polnischen Verteidiger der Stadt 1918.

Ein zweiter großer polnischer Protest fand an Allerheiligen, dem 1. November 1944, auf dem Łyczakowski Friedhof statt. Wie es polnischer Brauch ist, gingen an diesem Tag Tausende mit Blumen und Kerzen zu den Gräbern ihrer Verwandten, zu den Gräbern zahlloser berühmter polnischer Künstler, Politiker, Militärs und zum Mausoleum der polnischen Verteidiger der Stadt 1918, die sich alle dort befinden.

Unter den Bedingungen des sowjetischen Terrors war der Friedhof der einzige Ort, an dem sich die Polen noch ungehindert, spontan versammeln konnten. Spruchbänder tauchten auf: „Wir werden Lwów nicht hergeben!“, „Ruhm den Kämpfern für das polnische Lwów“. Tausende sangen die polnische Nationalhymne. Sprechchöre donnerten über den Gräbern: „Es lebe Polen!“, „Es lebe die Heimatarmee!“, „Tod den Bolschewisten!“

Aufgeschreckt von diesen Ereignissen, versetzten die Sowjets ihren gesamten Apparat in Alarmbereitschaft. Sie befürchteten, am 11. November 1944, dem polnischen Nationalfeiertag, könnte in Lwów ein polnischer Aufstand ausbrechen.

Erzbischof von Lwów Bolesław Twardowski.

Dazu kam es nicht, aber die einsatzbereiten Truppen traten in Erscheinung, und zwar am 25. November 1944. Etwa einhunderttausend Menschen gaben an diesem Tag dem verstorbenen katholischen Erzbischof von Lwów, Bolesław Twardowski, das letzte Geleit. Der Trauerzug bewegte sich zwischen dichten Spalieren schwer bewaffneter Rotarmisten. An jeder Kreuzung stand ein Panzer.

Polnische Hoffnungen, sowjetischer Terror

Noch glaubten viele, Lwów werde bei Polen bleiben. Noch dauerte der Krieg an. Noch befanden sich das Ruinenmeer Warschau, nach der Niederschlagung des Aufstands und der Kapitulation am 3. Oktober 1944, sowie das ganze Polen westlich der Weichsel in deutscher Hand. Es sollte erst im Verlauf des Januar und Februar 1945 von den Sowjets erobert werden.

Weitere Konferenzen der Großen Drei waren geplant. Noch schien nicht alles verloren zu sein. Noch harrten die Polen, trotz aller Repressalien, in Lwów aus. Nur einige wenige ließen sich für die Ausreise registrieren.

Iwan Hruschetzkyj.

Die Sowjets zogen daraufhin die Daumenschrauben noch enger an. Den Drohfinger erhob am 6. Dezember 1944 der kommunistische Parteichef von Lwów, Iwan Hruschetzkyj: „Die polnische Bevölkerung sollte begreifen, dass Lwów eine sowjetische Stadt war, ist und sein wird. Dementsprechend werden auch die Zustände in Lwów sowjetisch sein.“ Ein unbarmherziger Befürworter der Entpolonisierung der Stadt war der ukrainische Parteichef Nikita Chruschtschow.

Noch im Dezember 1944 wurden 63 Straßennamen in sowjetische oder ukrainische umgewandelt, alle polnischen nationalen und kirchlichen Feiertage, einschließlich Weihnachten, abgeschafft. An ihre Stelle traten Neujahr, der Tag der Sowjetischen Armee (23. Februar), der Frauentag (8. März), Lenins Geburtstag (22. April), Feiertag der Oktoberrevolution (7. und 8. November), Tag der Stalin-Verfassung (5. Dezember), Gründungstag der UdSSR (30. Dezember). Nach dem 1945 gewonnen Krieg kam noch der Tag des Sieges (9. Mai) hinzu. Der Religionsunterricht in den Schulen wurde verboten.

Polnisches Lwów. Gebäude der Universität. Briefmarke von 1937.

Gleichzeitig holte die Geheimpolizei NKWD zu einem mächtigen Schlag aus. In der Nacht vom 3. auf den 4. Januar 1945 begann eine Verhaftungswelle durch Lwów zu rollen, die das polnische Lwów seiner intellektuellen Schicht berauben sollte. Etwa 17.300 Professoren, Ingenieure, Techniker, Ärzte, Apotheker, Künstler, Priester, Richter, Anwälte, Beamte, Handwerker, AK-Offiziere, teilweise mit Familien, verschwanden in den unermesslichen Weiten Sowjetrusslands, preisgegeben der Vernichtung durch das mörderische Schuften beim Holzfällen und in Bergwerken.

Polnisches Lwów. Denkmal für König Jan III. Sobieski. Von den Sowjets demontiert und den Polen nachgeschickt, steht es heute in Gdańsk. Briefmarke von 1925.

In einem Schauprozess gegen die Führung der polnischen Administration im Untergrund, die noch während der Kampfhandlungen im Namen der polnischen Regierung im Exil die Verwaltung der Stadt übernommen hatte, wurden die Angeklagten zu langjährigen Lageraufenthalten verurteilt. Für die meisten war das das Todesurteil.

Das alles zeigte Wirkung. Die Zahl der polnischen Familien, die sich für die Ausreise registrieren ließen, stieg sprunghaft an.

Mord, Raub, Vergewaltigungen

Derweil wurde die Situation in der Stadt immer unerträglicher. Mord, Raub und Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Mikołaj Kowociniewski berichtete dem polnischen Historiker Stanisław Nicieja nach 1990, als man frei darüber reden durfte:

„Ende März 1945 wurde meine Mutter Helena Kowociniewska von einer russischen Untermieterin grausam ermordet. Sie hat ihr die Kehle durchgeschnitten. Die Beerdigung auf dem Lyczakowski-Friedhof geriet zu einer Manifestation der Empörung. Nach kurzer Zeit wurde die Mörderin freigelassen. Sie lief durch die Tarnowskiegostraße (heute: Tarnawskoho), kam sogar in das Haus Nummer 14, wo unsere Familie wohnte. Sie hat gedroht, dass, wenn die Polen nicht ausreisen, sie dasselbe Schicksal wie meine Mutter erwarte. Das hat gewirkt. Einige Dutzend Leute, die in dieser Straße wohnten haben sich noch am selben Tag zur Ausreise angemeldet.“

Das ganze Grauen der Lage sahen auch die Sowjets. Major Kotlarow beschrieb in seinen Erinnerungen einen Märzabend 1945 in Lwów:

„Am Hotel „Inturist“ (vormals: „George“) droschen, wild fluchend, einige betrunkene Soldaten aufeinander ein. Dasselbe in der Wałowastraße (der Name gilt bis heute) am Haus Nummer 11. Auf dem Nachhauseweg hörte ich wilde Schreie und eine Schießerei in der Mickiewiczastraße (heute: Lystopadowoho Tschinu). In unserer Straße im Haus Nummer 5 schrie jemand „Hilfe, sie rauben uns aus!“ In der Stadt geschieht Schreckliches. Abends gehe ich nicht mehr zur Dienststelle und wenn ich dort bis zum Abend bin, bleibe ich über Nacht. Überall Schießereien, Drohungen, Raub, Totschlag, und damit beschäftigen sich unsere Militärs oder solche, die sich für sie ausgeben. Die Stadt wird terrorisiert.“

Immer noch glaubten viele Polen in Lwów, dass es irgendwie gelingen würde, die schwere Zeit auszusitzen. Noch pulsierte in vielen Bereichen das polnische Leben. Es gab immer noch vierzig polnische Grund- und Mittelschulen. An den Hochschulen bestand der Lehrkörper überwiegend aus Polen. Die katholischen Kirchen funktionierten, der polnische Klerus war gewillt zu bleiben.

Trotz aller Verhaftungswellen setzte auch die Armia Krajowa ihre Untergrundtätigkeit fort. Jetzt trug sie den Namen NIE, abgeleitet von dem polnischen Wort Niepodległość – Unabhängigkeit. Ihre Flugblätter und Untergrundschriften flößten Trost und Hoffnung ein. Ihre Attentate auf besonders eifrige und gefährliche Sowjets und ihre polnischen Helfer sollten dem Terror Einhalt gebieten.

Großes Aufsehen erregte die Erschießung des Dozenten Zdzisław Bieliński, eines der namhaftesten Sowjet-Kollaborateure in der Stadt. Der Tod ereilte auch Dozent Donat Längauer, der einige Dutzend von den Sowjets verhaftete polnische Professoren und Angestellte der Technischen Hochschule denunziert hatte.

Lwów in Polen bis 1939.

Barbara Miękarska-Kozłowska erinnerte sich in ihrem im Jahr 2000 erschienenen Buch: „Wir haben immer noch auf die Amerika-Polen gehofft, die sich unermüdlich für das Land ihrer Väter in den USA einsetzten und auf die West-Alliierten, die uns nicht im Stich lassen würden. Wir dachten zuerst, die Sowjets wollten uns nur einschüchtern, zur Ausreise zwingen, um sich die Stadt unter den Nagel zu reißen. Also muss man um jeden Preis ausharren.“

Lwów nach 1945.

Diese Hoffnungen zerstreuten sich endgültig nach der Konferenz der Großen Drei in Jalta auf der Krim (4. bis 11. Februar 1945). Die Sowjets bekamen den Ostteil Polens mit Lwów zugesprochen.

In der Stadt gab man zunächst die Beschlüsse von Jalta nicht bekannt, aber nach und nach wurden sie publik. Die endgültige Bestätigung brachte die neue Karte Polens, die auf den Wały Hetmańskie (heute: Prospekt Swobody) zur Schau gestellt wurde. Jetzt meldeten sich die Polen immer zahlreicher zur Ausreise an, was die internen Berichte der Sowjet-Verwaltung nicht ohne Genugtuung festhielten.

Der Krieg in Europa ging am 8. Mai 1945 (am 9. Mai Moskauer Zeit) zu Ende. In Lwów betranken sich die Rotarmisten bis zur Bewusstlosigkeit und schossen die ganze Nacht lang aus allen Rohren. Etliche Zivilisten wurden erschossen oder verwundet, Gebäude beschädigt.

Jerzy Rychłowski erinnerte sich: „Ich habe gesehen, wie ein NKWD-Hauptmann aus der zweiten Toreinfahrt in der Ossolińskichstraße (heute: Stefanykstraße) einen schlitzäugigen Kalmücken mit heruntergelassener Hose, der eine Frau vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigte, auf die Straße zerrte. Der Hauptmann lehnte ihn an die Hauswand und schoss ihm in den Kopf. Er ließ die Leiche liegen und ging in aller Ruhe in Richtung Chorążczyznystraße (heute: Tschaikowskoho – Anm. RdP.).“

Das Ende

Zofia Szwabowiczówna erinnerte sich folgendermaßen an diesen Tag: „Wir wurden auf dem Fabrikhof versammelt und der stellvertretende Direktor sagte uns, dass der Krieg zu Ende sei. Wir, die Polen, die den größten Teil der Belegschaft ausmachten, nahmen diese Nachricht mit düsterem Schweigen zur Kenntnis. Wir wussten was das bedeutete. Lasst jede Hoffnung fahren! Solange der Krieg dauerte, konnte noch alles passieren. Jetzt war unser Schicksal besiegelt.“

Der Deckel der Geschichte schloss sich nun über dem polnischen Lwów endgültig. Kurz darauf verließ der erste Transport mit polnischen Wissenschaftlern und Hochschulangestellten die Stadt. Am 16. August 1945 unterschrieben in Moskau die Vertreter der Warschauer kommunistischen Regierung den Grenzvertrag mit der Sowjetunion, der an die Stelle der provisorischen Vereinbarung vom 26. Juli 1944 treten sollte.

Erzbischof Eugeniusz Baziak.

Im Herbst mussten die Professoren und die Priesteranwärter des Priesterseminars Lwów verlassen. Katholische Pfarreien und Klöster wurden von den Sowjets enteignet. In den Kirchen wurden nach und nach die letzten Heiligen Messen gefeiert. Danach wurden sie von den Behörden geschlossen und versiegelt. Da die Zahl der Schüler sank, verwandelten sich immer mehr polnische Schulen in sowjetische.

Offiziell hieß es, bis zum 25. Oktober 1945 haben etwa fünfzigtausend Polen Lwów verlassen. Der Karmelitenpater Alojzy Kostyrko schrieb in sein Tagebuch: „Die Stimmung in Lwów ist sehr bedrückend. Die Stadt hat sich sehr verändert. Wenn man noch die polnische Sprache auf der Straße hört, dann ist das ein freudiges Ereignis, das das Herz höher schlagen lässt. Dafür bekommt man auf Schritt und Tritt die Frage zu hören: »Was wollt ihr Polen noch hier?«“

Im April 1946 verließ, als einer der Letzten, der polnische Erzbischof Eugeniusz Baziak Lwów. Im August 1946 fuhr der letzte Zug mit abgeschobenen Polen ab. Insgesamt mussten etwa 105.000 Polen ihre Heimatstadt verlassen. Das polnische Lwów wurde Geschichte.

© RdP




Polens Goldschatz auf der Flucht

In sechs Jahren durch drei Kontinente.

Als im Sommer 2019 die Polnische Nationalbank bekannt gab, sie habe knapp 126 Tonnen Gold gekauft, wurden schnell Erinnerungen wach an die abenteuerliche Rettung der Goldreserven des Landes bei Kriegsausbruch im September 1939.

Die Zukäufe stockten die polnischen Goldvorräte zwischen 2018 und 2019 auf knapp 229 Tonnen auf. Damit stieg Polens Zentralbank von Platz 35 auf Rang 22 unter den gröβten Goldinhabern der Welt auf, vor Schweden (126 Tonnen) und Belgien (227 Tonnen). Gegenüber den deutschen (3.374 Tonnen) und US-amerikanischen (8.134 Tonnen) Vorräten jedoch, fallen die polnischen Reserven immer noch mehr als bescheiden aus.

Die gute Wirtschaftslage und das starke Anwachsen (allein 2018 um knapp zehn Prozent) der Devisenreserven auf gut 94 Milliarden Euro haben die Zentralbank veranlasst, so hieβ es, die finanzielle Sicherheit des Landes „auf ein breiteres Fundament“ zu stellen. Der gesamte polnische Goldbestand lagert in den Kellern der Bank of England. Bald jedoch sollen 100 Tonnen nach Hause geholt werden.

Schon einmal, im Dezember 1943, wurden in den britischen Kellern gut 78 Tonnen polnischen Goldes untergebracht, nachdem sie mehr als vier Jahre lang durch Europa und Afrika geirrt waren. Ein Teil davon gelangte bald darauf in die USA und nach Kanada.

Geldpolitik in Ordnung bringen

Als im November 1918 Polen als Staat, nach 123 Jahren der Dreiteilung, wiedererstanden war, dauerte es noch sechs lange Jahre bis die polnische Geldpolitik in geordnete Bahnen kam.

Zuvor waren noch einige schwierige Hürden zu nehmen: der hart errungene Sieg über die Sowjets, die im August 1920 vor Warschau standen und sich anschickten Polen in eine Sowjetrepublik zu verwandeln. Die im Versailler Friedensvertrag vorgesehenen Volksabstimmungen über die Zugehörigkeit Masurens und Oberschlesiens zu Polen bzw. zu Deutschland. Die polnischen Aufstände gegen die Deutschen im Posener Land (1918-1919) und in Oberschlesien (1919, 1920, 1921). Die Grenzkonflikte mit Litauen und der Tschechoslowakei. Erst danach, seit etwa 1923, hatte das Land endgültig festgelegte Grenzen.

Hyperinflation. Zehn Millionen polnische Mark. Banknote von 1923.

Das bereits im Ersten Weltkrieg aufgrund blutiger Schlachten, die sich deutsche, österreichische und russische Truppen in den polnischen Gebieten geliefert hatten, schwer zerstörte und ausgeplünderte Land, konnte 1924 endlich auch seine Geldpolitik in Ordnung bringen.

Der Hyperinflation und dem Geldchaos hat die Währungsreform vom April 1924 abrupt ein Ende gesetzt. Die marka polska (Polnische Mark), ein Besatzungsgeld, das seit der Eroberung des russischen Teilungsgebietes von Polen mit Warschau durch deutsche Truppen,  ab 1916 im Umlauf war, wurde durch den Zloty ersetzt.

Der Name war abgeleitet vom polnischen Adjektiv „złoty“ (der Goldene) und dem Substantiv „złoto“ (Gold) in der Bedeutung „goldene Münze“, „goldenes Geld“. Ähnlich wie im Deutschen, wo das Substantiv Gulden auf Gold zurückgeht. Der neuen Währung lag eine Goldparität zugrunde: 1 Zloty = 0,1687 Gramm Gold.

Bank Polski

Der Goldstandard musste durch entsprechend groβe Vorräte an Gold und Devisen gewährleistet sein. Diese Reserven, so das Gesetz, mussten mindestens vierzig Prozent der im Umlauf befindlichen Geldmenge abdecken.

Gebäude der Bank Polski in der Warschauer Bielanskastrasse.

Mit der Währungsreform vom April 1924 wurde auch die Zentralbank ins Leben gerufen. Es sollte keine staatliche Institution, sondern eine Aktiengesellschaft sein, mit dem Namen Bank Polski. Sie hatte gut zweihunderttausend Aktionäre. Das sollte ihre Unabhängigkeit gewährleisten. Ihr wichtigstes Organ war die Hauptversammlung, die den Aufsichtsrat wählte. Der Präsident und sein Stellvertreter wurden jedoch vom Staatspräsidenten, auf Antrag der Regierung, eingesetzt, die so den notwendigen staatlichen Einfluss auf die laufende Geldpolitik geltend machen konnten.

Die Bücher der Bank Polski in der Warschauer Bielanskastrasse listeten 1939 knapp 80 Tonnen Gold in Barren und Münzen auf. Polens Goldreserven fielen für die damalige Zeit eher gering aus, gemessen etwa an den spanischen (660 Tonnen) oder belgischen (560 Tonnen). Geradezu riesig erschienen sie jedoch, wollte man sie aus dem vom Krieg erfassten Land schaffen.

Am 2. September 1939, dem zweiten Tag des Krieges, trafen sich in dem bereits schwer von der deutschen Luftwaffe bombardierten Warschau die wichtigsten Aktionäre der Bank Polski zu einer Not-Hauptversammlung. Sie weitete das Kreditvolumen für Staatsausgaben kriegsbedingt erheblich aus und gab die Goldreserven zur Evakuierung frei.

Das Gold flieht in Bussen

In Warschau lagerten zu der Zeit 40 Tonnen Gold. Die andere Hälfte der Vorräte hatte der Vorstand der Bank kurz vor Kriegsausbruch vorsorglich nach Brest am Bug (heute in Weiβrussland) sowie nach Lublin, Siedlce und Zamość verlegt.

Es hatte auch Erwägungen gegeben, die Goldreserven gleich nach Frankreich, England oder Kanada zu bringen. Mit der schnellen Einnahme Warschaus durch die Deutschen hatte in den letzten Vorkriegsmonaten jedoch niemand gerechnet. Eine Verlagerung des Goldes in den Westen hätte z. B. Waffeneinkäufe sehr erleichtern können.

Bei diesen Überlegungen berief man sich auf die Lage Russlands während des Ersten Weltkrieges. Russland verfügte damals zwar über riesige Goldvorräte auf eigenem Territorium, doch aufgrund eines Kordons feindlicher Staaten (Deutschland, Österreich-Ungarn, die Türkei) vom Westen abgeschnitten, konnten die Russen, die keine nennenswerten Aktiva im Westen besaßen, dort keine Waffen in groβem Umfang einkaufen. Trotz dieser Überlegungen blieben die Goldreserven am Ende zunächst in Polen.

Stefan Starzyński. Warschauer Stadtpräsident 1939.

Als später, am Montag, dem 4. September 1939 die Evakuierung des Goldes begann, herrschte in Warschau ein ziemliches Durcheinander. Das schnelle Vorrücken deutscher Truppen drängte zur Eile. Behörden packten, Polizei und Feuerwehr schickten sich an, auf Anordnung, die Stadt in Richtung Osten zu verlassen.

Erst zwei Tage später gelang es Oberbürgermeister Stefan Starzyński (fonetisch Staschinski) die Lage gemeinsam mit der Militärkommandantur unter Kontrolle zu bringen. Als am 8. September 1939 die 4. Deutsche Panzerdivision versuchte Warschau aus dem Marsch heraus einzunehmen, war die Stadt zur Verteidigung, die anschließend bis zum 28. September dauern sollte, vorbereitet.

Oberst Adam Koc.

Starzyński organisierte die Verteidigung und rief die Bevölkerung in dramatischen Rundfunkansprachen zum Durchhalten auf. Er bezahlte dafür mit dem Leben. Die Gestapo verhaftete ihn im Oktober 1939. Drei Gestapo-Beamte erschossen ihn im Dezember 1939 in einem Wald bei Warschau.

Oberst Ignacy Matuszewski.

Die Verlagerung des Goldes beaufsichtigten im Auftrag des Ministerpräsidenten Felicjan Slawoj-Skladkowski zwei Obristen. Adam Koc war im zivilen Leben einer der führenden Finanzpolitiker des Landes und seiner Zeit Präsident der Bank Polski. Ignacy Matuszewski stand einst dem Finanzministerium vor, war Diplomat und einflussreicher Wirtschaftspublizist.

Ab dem 2. September verstauten Bankangestellte Tag und Nacht Barren und Münzen in Leinensäckchen verpackt, in kleinen Holzkisten, die mit Stroh gepolstert waren und vernagelten sie. In weiser Voraussicht hatte die Bank Polski-Leitung eine groβe Menge dieser Kisten bereits im Frühjahr 1939 bestellt.

Lkws waren jedoch in ganz Warschau nicht aufzutreiben. Koc beschlagnahmte daraufhin den ganzen Fuhrpark einer Firma mit Überlandbussen. Ihre Fahrer wurden dienstverpflichtet. Auf den Sitzen und in den Gängen stapelten sich schlieβlich 1.208 Kisten. So beladen, wog ein Steyr-Bus leicht zwölf Tonnen, doch die meisten Brücken unterwegs nach Lublin waren höchstens auf fünf bis sechs Tonnen ausgelegt.

Halina Konopacka. Ignacy Matuszewskis Ehefrau und Olympiasiegerin im Diskuswerfen in Amsterdam 1928.

Um sie passieren zu können, wurden die Busse vor jeder Brücke ent- und auf dem anderen Ufer neu beladen. Die Kolonne fuhr nur nachts, am Tag versteckte sie sich unter Bäumen, denn am Himmel herrschte fast uneingeschränkt die deutsche Luftwaffe. Diese beschoss und bombardierte alles, was sich auf den mit Flüchtlingen überfüllten Landstraβen bewegte. Einen der Busse lenkte Matuszewskis Ehefrau Halina Konopacka, die Goldmedaillengewinnerin im Diskuswerfen 1928 bei der Olympiade in Amsterdam.

Das Wunder von Śniatyń

Am 8. September war die 170 Kilometer zählende Strecke nach Lublin endlich zurückgelegt. Doch an Rast war nicht zu denken. Der deutsche Vormarsch vollzog sich so schnell, dass die gut dreiβig Busse und Pkws zählende Kolonne sofort ins zweihundert Kilometer Richtung Osten entfernte Luzk (heute in der Ukraine) weitergeleitet wurde. Kurz darauf fiel die Entscheidung, sämtliche Goldreserven auβer Landes zu bringen.

Am 13. September 1939 gelang Oberst Koc das schier Unmögliche. Im Chaos des Rückzugs führte er Polens gesamte Goldreserven aus Warschau/Luzk, Lublin, Brest, Siedlce und Zamość in der Kleinstadt Śniatyń/Snajtyn (heute in der Ukraine) zusammen. Polen hatte vor dem Zweiten Weltkrieg eine gemeinsame Grenze mit Rumänien (siehe Karte). Śniatyń trennte vom Nachbarland nur die Brücke über den Fluss Prut/Pruth.

Rumänien: freie Fahrt

Polens Botschafter in Bukarest Roger Raczyński war es bei der rumänischen Regierung gelungen Einlass zu erwirken. Acht verplombte Güterwaggons, vollbeladen mit Gold, passierten in der Nacht vom 13. auf den 14. September 1939 die rumänische Grenze, um in den Schwarzmeer-Hafen von Konstanza zu gelangen. Von dort sollte es auf dem Seeweg nach Frankreich gehen, wo sich schon bald die polnische Exilregierung etablieren sollte.

Roger Raczyński. Polnischer Botschafter in Bukarest.

Doch die Deutschen bekamen Wind von alldem. Botschafter Wilhem Fabricius intervenierte in Bukarest bei Auβenminister Grigore Gafencu. Rumänien, so Fabricius, breche seine Neutralität. Das polnische Gold stehe Deutschland als Kriegsbeute zu.

In jenen, für Polen so schweren, Herbstwochen 1939 verhielten sich seine südlichen Nachbarn ausgesprochen loyal. Rumänen und die Ungarn, mit denen Polen seit der „Beseitigung der Resttschechei“ durch Hitler im März 1939 auch eine gemeinsame, 180 Kilometer lange Grenze hatte, nahmen Massen flüchtender polnischer Truppen und Zivilisten auf und versorgten sie.

Wilhelm Fabricius. Deutscher Botschafter in Bukarest.

Die Rumänen drückten monatelang beide Augen zu und lieβen Tausende polnischer Soldaten und Offiziere, notdürftig als Zivilisten getarnt, in Konstanza auf Schiffe gehen, die sie durch den Bosporus in französische Mittelmeerhäfen brachten. Auch die Ungarn schauten weg als internierte Polen sich mit demselben Ziel auf den Weg zu jugoslawischen Häfen aufmachten. Die polnische Armee in Frankreich wurde auf diese Weise schnell erweitert. Mit dem Gold sollte sie von der polnischen Exilregierung mitfinanziert werden.

Gafencu gab sich Fabricius gegenüber ahnungslos. Er wisse nichts von polnischem Gold, werde aber sofort eine Untersuchung veranlassen. Hinter vorgehaltener Hand bekamen die Polen 48 Stunden, um die „heiβe Ware“ aus Rumänien herauszuschaffen.

Deutsche Botschafter und deutsche U-Boote

In Konstanza befahl der britische Konsul dem zu diesem Zeitpunkt weit und breit einzigen britischen Schiff im Hafen, das Gold an Bord zu nehmen. Kapitän Robert Brett befehligte den Mini-Tanker „Eocene“, hundert Meter lang, fünfzehn Meter breit, der eigentlich rumänisches Erdöl abholen wollte. Zwei leitende Mitarbeiter der Bank Polski, die den Konvoi begleiteten, wollten auf keinen Fall das gesamte Gold in einer solchen Nussschale davonfahren lassen. Oberst Koc jedoch blieb eisern. Egal wie, der Schatz musste weg. Ein anderes Schiff war nicht in Sicht.

Am 15. September 1939 nachmittags stach „Eocene“, ohne eine Auslaufgenehmigung abzuwarten, in See. Erleichtert schauten die Rumänen weg.

Brett entfernte sich nur eine halbe Seemeile vom Ufer. Er wollte „Eocene“ bei einem möglichen U-Boot-Angriff auf Grund setzten und so das Gold retten. Diese Vorsichtsmaβnahme war mehr als berechtigt. Zwei deutsche U-Boote lagen bei Konstanza auf der Lauer. Das Gold konnte nach Istanbul entkommen, da die U-Boote ein Fischerboot mit der „Eocine“ verwechselten.

Michał Sokolnicki. Polnischer Botschafter in Ankara.

Auch in Istanbul war höchste Eile geboten. Polens Botschafter in Ankara, Michał Sokolnicki, gab sich im türkischen Auβenministerium beinahe mit dem deutschen Vertreter Franz von Papen die Klinke in die Hand. Wie lange würden die Türken dem deutschen Druck standhalten?

Franz von Papen. Deutscher Botschafter in Ankara.

Wieder hörten die Polen: „Ihr müsst sofort weiter“. Dieses Mal aus zwölf Güterwaggons bestehend, fuhr der polnische Goldzug, ohne anzuhalten, am 20. September 1939 von Istanbul über Ankara in Richtung Syrien, damals ein französisches Protektorat. In Aleppo konnten Koc, Matuszewski und die restlichen polnischen Begleiter endlich aufatmen. Endstation war, am 24. September, Beirut.

Von dort brachte der französische Kreuzer „Ḕmile Bertin“ die Ladung nach Tulon, von wo aus sie im Oktober 1939 in die Tresorräume der Filiale der Banque de France in Nevers, zweihundert Kilometer südlich von Paris, gelangte. Dort, so nahm man an, würde der Goldschatz bis Kriegende bleiben.

Schon wieder Alarm

Der deutsche Überfall auf Belgien, Holland und Frankreich am 10. Mai 1940 begrub diese Hoffnung. Die polnische Exilregierung schlug Alarm, die Franzosen lieβen sich Zeit. Als es endlich soweit war, hängten die Franzosen den jetzt nur noch vier Waggons polnischen Goldes dreiβig weitere Waggons, beladen mit knapp 200 Tonnen belgischer Goldvorräte an.

Erst am 16. Juni 1940 gelangte der Zug auf Umwegen in den bretonischen Hafen von Lorient, von wo aus die Fregatte „Victor Schölcher“ das Gold in die USA bringen sollte. An diesem Tag entschloss sich die französische Regierung zur Kapitulation, die am 22. Juni 1940 in Compiègne unterzeichnet wurde.

Die polnischen und belgischen Begleiter staunten nicht schlecht, als das Schiff am 28. Juni 1940 im Hafen von Dakar, in der französischen Kolonie Senegal anlegte. Die französischen Behörden, der nun mit den Deutschen kollaborierenden Vichy-Regierung des Marschalls Philippe Pétain, befürchteten, die britische Flotte könnte versuchen des Goldes habhaft zu werden.  Um dies zu verhindern,  wurden daraufhin  die Goldreserven Polens achthundert Kilometer weit ins Landesinnere, in das Städtchen Kayes im heutigen Mali gebracht.

Das Pech der Belgier

Die Belgier hatten weniger Glück. Ihr Gold wurde von den Franzosen umgehend an Deutschland übergeben. Über Algerien und Marseille gelangte es nach Berlin. Nachdem es in den Kellergewölben der Reichsbank gelagert worden war begannen die Deutschen die Goldbarren in der Preuβischen Staatsmünze nach und nach einzuschmelzen. Um jeden Verdacht zu zerstreuen, stempelten sie die neuen Barren mit den Jahreszahlen 1936 und 1937. Nach dem Krieg musste die Banque de France die Belgier in vollem Umfang entschädigen.

Gold in Afrika, Klage in Amerika

Das polnische Gold blieb in Kayes. Um es herauszuholen legte Oberst Adam Koc der polnischen Exilregierung, die inzwischen in London amtierte, nahe, die Franzosen in Amerika zu verklagen. Gute Anwälte wurden angeheuert und es gelang eine einstweilige Verfügung zu erwirken. So lange die Franzosen das polnische Gold nicht herausgaben, wurden ihre Goldbestände in amerikanischen Banken blockiert.

Die Pétain-Behörden taten so, als würde sie die Niederlage vor einem amerikanischen Gericht nicht beeindrucken, aber von der Übergabe des polnischen Goldes an die Deutschen lieβen sie ab. Erst als die freien Franzosen unter General de Gaulle die afrikanischen Kolonien unter ihre Kontrolle brachten, bekamen die Polen ihr kostbares Eigentum wieder. Polnische Beamte konnten im Januar 1944 in Kayes die Übernahmeprotokolle unterzeichnen.

Die Exilregierung beschloss, die Bestände jeweils zu einem Drittel in New York, Ottawa und London zu deponieren, wohin diese im März 1944 auch gelangten.

Der bittere Geschmack des Erfolgs

Ein Jahr später, während der Konferenz von Jalta auf der Krim im Februar 1945, akzeptierten die USA und Groβbritannien die sowjetische Herrschaft über Osteuropa, auch über Polen, ihren treuesten Verbündeten. Im Juli 1945 entzogen die beiden Westmächte und mit ihnen andere westliche Staaten der Exilregierung in London die Anerkennung.

Die sowjetische Statthalter-Regierung in Warschau leitete aus diesen Abmachungen ihren Anspruch auf die polnischen Goldreserven im Ausland ab und konnte sich damit durchsetzen. Die Amerikaner gaben das polnische Gold heraus, nachdem sie einige Tonnen als Entschädigung für das in Polen von den Kommunisten enteignete amerikanische Eigentum erhielten. Die Briten behielten sechs Tonnen als Rückzahlung von Krediten ein, die sie während des Krieges an die polnische Exilregierung vergeben hatten. Aus Rumänien kehrten drei Tonnen von den vier Tonnen zurück, die 1939 dort zurückgelassen wurden, um die Versorgung Tausender polnischer Flüchtlinge zu bezahlen.

Im kommunistischen Polen bis Mitte 1947 angekommen, wurde das Gold schnell für laufende Bedürfnisse des völlig ruinierten Landes ausgegeben. Erst 1950 kam das Gold aus Kanada in Polen an.

Die beiden Retter des Goldschatzes, Adam Koc und Ignacy Matuszewski taten gut daran nicht ins kommunistische Polen zurückzukehren, wo ihresgleichen, als Reaktionäre, Feinde des Volkes und Spione, sehr schnell in den Folterkellern der Staatssicherheit endeten.

Adam Koc, einst ein führender Politiker im Vorkriegspolen, verdingte sich als Koch und Rezeptionist im New Yorker Hotel Waldorf-Astoria, war Lebensmittelhändler, bis er als Bibliothekar eine etwas bessere Stelle fand. So erging es damals Tausenden polnischer Emigranten: Piloten, Kommandeuren, Politikern, Intellektuellen. Adam Koc starb, völlig vergessen, 1969 in New York. Sein Kollege Ignacy Matuszewski starb bereits 1946, ebenfalls in New York.

Lesenswert auch: Preußens Raub tilgt Polens Gloria. Vernichtet. Das betrübliche Schicksal der polnischen Kronjuwelen.

© RdP




Agitprop im EU-Haus der Geschichte

Ein Vorhaben, das spaltet, anstatt zu einigen.

Den Zusammenhalt stärken und eine europäische Identität schaffen, das ist der Traum aller EU-Begeisterten. Ein in Mauern und Vitrinen gefasster offizieller EU-Blick in die Vergangenheit: das Brüsseler Haus der Europäischen Geschichte sollte dabei helfen. Die Botschaft jedoch, die von dort ausgeht ist erschreckend einseitig und kleingeistig.

Prof. Andrzej Nowak, einer der namhaftesten polnischen Historiker, hat das Brüsseler EU-Geschichtsmuseum besucht. Seinen ausführlichen Bericht druckte das Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 9. Juli 2018.

Vorher schon gab es aus Polen kritische Stimmen zu der Ausstellung. Im Oktober 2017 schrieb der polnische Kulturminister Prof. Piotr Gliński an EU-Parlamentschef Antonio Tajani, „die Ausstellung verstoβe gegen fundamentale historische Wahrheiten“. Alle Beanstandungen wurden in Brüssel jedoch beiseitegeschoben, und alles blieb beim Alten.

Prof. Andrzej Nowak.

Nachstehend bringen wir die deutsche Übersetzung des Berichtes von Prof. Andrzej Nowak. Der Krakauer Historiker gehört zu den angeshendsten Vertretern seines Faches in Polen.

Schablonen kommunistischer Propaganda

„Anfang Mai 2017 wurde in Brüssel das Haus der Europäischen Geschichte eröffnet. Das Museum, ein Muster des EU-gewünschten Geschichtsbewusstseins, ist ein offizielles Vorhaben des Europäischen Parlaments und befindet sich in dessen unmittelbarer Nachbarschaft. Leider erinnert die in dem Brüsseler Haus vorgenommene Zusammenfassung der überaus reichhaltigen und vielschichtigen europäischen Geschichte eher an die Schablonen kommunistischer Propaganda aus den Zeiten Josef Stalins: vom Bösen der Zersplitterung und Kleinstaaterei, hin zum Guten der Eintracht; aus der Finsternis der Geschichte empor zum Lichte der EU.

Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel.

Ideengeber war vor gut zehn Jahren der damalige Präsident des Europäischen Parlaments Hans-Gert Pöttering. Der jetzige Präsident, Antonio Tajani, sagte bei der Eröffnung klipp und klar: es soll ein Ort sein, an dem nicht nur die europäische Geschichte erzählt wird. Er soll zugleich die europäische Identität und Erinnerung formen helfen. „Ich glaube an die Europäische Union, weil wir keine anderen Lösungen parat haben (…) Der Blick zurück auf unsere Geschichte wird unsere Identität stärken“, so Tajani.

Zu diesem Zweck wurden fünfzig Millionen Euro ausgegeben. Das Ergebnis kann man auf gut viertausend Quadratmetern Ausstellungsfläche in fünf Etagen besichtigen. Die Exponate sind nicht beschriftet. Für den Rundgang erhält man ein Tablet, auf dem die Führung in einer der vierundzwanzig EU-Sprachen gespeichert ist.

Haus der Europäischen Geschichte. Ohne Tablet erfährt man nichts.

Auf der untersten Ebene befindet sich der kleinste Teil der Ausstellung; über den Mythos Europas, der Prinzessin aus Phönizien, bis hin zum 19. Jahrhundert. Der Elan der einführenden Präsentation kann sich mit der kulturgeschichtlichen Einführung für ein Heimatmuseums messen, mit dem Unterschied, dass hier die Kultur gänzlich fehlt. Zu sehen sind einige Glasvitrinen mit Informationen über das Christentum, Philosophie, Nationen, den Kommunismus und deren Bedeutung für die Geschichte Europas. All diesen Erscheinungen werden jeweils etwa zwei Minuten im Tablet-Führer gewidmet.

Christentum und Nationen adieu

Über das Christentum kann man erfahren, dass diese Religion jahrhundertelang in Europa vorherrschend war, aber es zukünftig nicht mehr sein wird, was der Tablet-Kommentar hoffnungsvoll nahelegt. Kein Wort wird an dieser Stelle verloren, über den Stolz Europas, sein christliches Erbe: die Universitäten, die romanischen und gotischen Kathedralen bis hin zur Sagrada Familia in Barcelona.

Kein Wort wird verloren über sakrale Musik von Guillaume de Machaut über Bach, Mozart, Beethoven bis hin zu Strawinsky, Szymanowski, Górecki und Pärt. Nichts ist zu vernehmen über die vom Christentum angeregte Malerei von Giotto über Piero della Francesca, Leonardo da Vinci, Raffael, Dürer bis hin zu Salvatore Dali.

Botschaft im Haus der Europäischen Geschichte: Nationen werden verschwinden. Dazu eine deutsche Pressestimme.

Es folgen die Nationen. Sie entstanden, so heiβt es, in den letzten zwei Jahrhunderten. Interessant wäre es diesbezüglich zu erfahren, was es z. B. mit den Juden und den Armeniern auf sich hatte. Gab es sie nicht vor dem 19. Jahrhundert?

Und gab es tatsächlich keine Engländer, Polen oder Ungarn vor dem 19. Jahrhundert? Die Belgier gab es vorher nicht, das stimmt. Vom Tablet erfährt man, dass die Europäer vorher schlicht und einfach Bewohner von Imperien und Königreichen waren. Als Beispiele für die Nationenbildung werden die Polen und die Griechen erwähnt, die angeblich erst gerademal vor knapp zweihundert Jahren aus den Trümmern von Imperien hervorgingen.

Doch vor zweihundert Jahren, also um 1817, hatten die drei Imperien, die Polen untereinander aufteilten: Russland, Preuβen und Österreich noch knapp einhundert Jahre einer machtvollen Existenz vor sich, die erst am Ende des Ersten Weltkrieges 1918 mit dem Zusammenbruch endete. Um 1817 blickten zudem die Polen auf die achthundertjährige Geschichte ihres kurz zuvor zerschlagenen Staates zurück.

Das vorläufige Phänomen der Nationen wird, so die Botschaft der Einführung in die europäische Geschichte im Haus der Europäischen Geschichte, hoffentlich, die historische Schaubühne endgültig verlassen.

Philosophie in Europa: Aristoteles und Slavoj Žižek. Sonst war da nichts.

Die Philosophie, ja es gab sie in Europa, was man anhand von nur zwei Persönlichkeiten nachvollziehen soll: der von Aristoteles und der von Slavoj Žižek, eines zeitgenössischen slowenischen Neomarxisten und Freudianer. Platon, Augustinus, Thomas von Aquin, ja sogar Hobbes, Locke, Rousseau oder Kant fehlen im europäischen EU-Gedächtnis. Sie wurden aus dem modernen Europa vertrieben, so wie Platon seiner Zeit die Dichter aus seinem Idealstaat verbannte.

Es gibt in dem neuen EU-Idealeuropa nicht einmal eine Vitrine, die der politischen Freiheit in ihren unterschiedlichen Bedeutungen gewidmet wäre: der republikanischen Freiheit zum Beispiel oder der liberalen Freiheit, einer für die europäische Identität so wichtigen Idee. Erwähnt wird nur die antike griechische Demokratie.

Kommunismus und Kolonialismus im falschen Licht

Dafür gibt es den Kommunismus, dem eine eigene Vitrine zugedacht wurde, genauso wie den Nationen und dem Christentum. Nur die Aussage ist hier ganz anders.

Diese edle Idee machte zwar in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine schwierige Phase in Osteuropa durch, aber das, so der Tablet-Kommentar, muss nicht unbedingt heiβen, dass sie heute an Bedeutung verloren und keine Zukunft mehr hat. Eine Etage höher kann man dann, neben einem Exemplar des „Kommunistischen Manifests“ stehend, dem Tablet entnehmen, „der Marxismus war ein »flammender Protest« gegen die Ungerechtigkeiten des europäischen Kapitalismus.“

Ganz Europa trägt die Schuld am Kolonialismus? Afrika-Karte von 1914. Die Polen und viele andere europäische Nationen sind nicht dabei.

Zurecht erfahren wir in der Einführung zur Ausstellung einiges über die Verbrechen des europäischen Kolonialismus. Wir erfahren jedoch nicht konkret, welche Staaten diese Verbrechen begangen haben (zur Erinnerung: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Groβbritannien, die Niederlande, Italien, Portugal, Spanien), und welche von ihnen unter dem Kolonialismus litten. Da sind die Balkanländer als Opfer des türkisch-islamischen Kolonialismus sowie die Mittel-und Osteuropäischen Länder, die dem russischen und deutschen Kolonialismus ausgesetzt waren.

Europa-Karte von 1914. Polen existiert nicht. Es ist damals seit 119 Jahren eine russisch-deutsch-österreichische Kolonie.

Wir hören, dass der Kolonialismus die groβe Schuld ganz Europas sei, und das ist eindeutig eine historische Fälschung. Die Autoren der Ausstellung unterstreichen, dass Europa (ohne die gerade erwähnten Unterschiede) als solches den Rest der Welt, vor allem im 19. Jahrhundert, ausgebeutet und zugleich seine angebliche technische und kulturelle Überlegenheit zur Schau gestellt hat. Wahrscheinlich aus diesem Grund wird sich so gut wie gar nicht der phänomenalen Entwicklung von Wissenschaft und Technik im Europa jener Zeit gewidmet, und genauso wenig der damals aufblühenden Kunst.

Auf diese Weise ausgestattet mit einem ganzen Sortiment an Ideen, die notwendig sind, um dem modernen Europäertum gerecht zu werden, steigen wir, über eine phantasievoll konstruierte Treppe, hinauf zur ersten Etage. Diese Treppe gleicht geradezu verblüffend dem Entwurf eines gigantischen Denkmals der Dritten Internationale, das im kommunistischen Moskau nach 1917 aufgestellt werden sollte.

Haus der Europäischen Geschichte. Treppe.
„Symbole der Epoche des sozialistischen Aufbaus“. Russische Briefmarke aus dem Jahr 2000. Links der Entwurf des vierhundert Meter hohen Denkmals für die Dritte Internationale in Moskau.

Nationen halten her für die Imperien

Wir geraten direkt ins Herz der Finsternis des 19. Jahrhunderts. Hier wüten der Nationalismus und der Kapitalismus. Den Nationalismus symbolisieren Bücher, unter ihnen entdecken wir die erste polnische Spur in dieser Ausstellung: die „Trilogie“ des Literatur-Nobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz.

Die Trilogie („Mit Feuer und Schwert“:, „Sintflut“ und „Pan Wołodyjowski. Der kleine Ritter“) von Henryk Sienkiewicz. Deutsches Hörbuch.

Doch es gibt Hoffnung, verkörpert durch einen riesigen Nachdruck des Symbols der Französischen Revolution, des Gemäldes von Eugène Delacroix „Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden“. Der Marxismus taucht wieder auf und die Arbeiterbewegung betritt die historische Bühne. Soziale Spannungen und internationale Rivalitäten führen schlussendlich zum gigantischen Massenschlachten des Ersten Weltkrieges.

Der Begriff „interNATIONAL“ wird immer wieder hervorgehoben, obwohl es die Rivalitäten zwischen den Imperien waren (welche selbst etliche Nationen unterdrückten) die den Weltkrieg verursachten. Die Ausstellung duldet jedoch keine Zwischentöne: es sind, ohne Unterschied, die NATIONEN und die Nationalismen, die den Krieg entfesselt haben, nicht die Imperien und der Imperialismus.

Der dem Ersten Weltkrieg gewidmete Teil ist zweifelsohne der interessanteste in der ganzen Ausstellung und hinterlässt einen bleibenden Eindruck.

Auf Kriegsfuβ mit der historischen Wahrheit

Aus den Wirren des Krieges gehen „neue Völker“ hervor und natürlich aufs Neue die Nationalismen. Zum Vorschein kommt aber auch ein faszinierendes Experiment: der Versuch eine neue, gerechte Welt zu erschaffen, fuβend auf der Idee des Kommunismus. Doch das grandiose Vorhaben hat es nicht leicht in Russland: auf den furchtbaren „weiβen“ Terror, auf die Konterrevolution und die kapitalistische, bewaffnete Einmischung kann es nur eine Antwort geben: den „roten“ Terror.

Dzierżyński-Biografie. „Der rote Henker“.

Hier tritt der zweite Pole in Erscheinung und zugleich der erste, dessen Antlitz wir sehen können: Feliks Dzierżyński (fonetisch Dserschinski – Anm. RdP), der Begründer der sowjetischen Terror- und Vernichtungsmaschinerie. Dzierżyński erscheint in einem eindeutig positiveren Zusammenhang, als der zuvor durch sein „nationalistisches“ Werk vorgestellte Schriftsteller Henryk Sienkiewicz.

Zerstörung des Dzierżyński-Denkmals in Warschau am 17. November 1989.

Der Kommunismus fungiert in dieser Ausstellung gewissermaβen als eine im Ansatz edle und berechtigte Antwort auf den Nationalismus. Dass der Kommunismus sich, falls erforderlich, hemmungslos des Nationalismus bedient hat, bleibt unerwähnt.

Die Zwischenkriegszeit ist gekennzeichnet durch die Krise der parlamentarischen Demokratie, das Fortschreiten autoritärer Tendenzen und faschistischer Regime, was unter anderem, wie kann es anders sein, eine kleine Statue Józef Piłsudskis, des Begründers des modernen polnischen Staates belegen soll. Die Antwort auf diese Gefahren sind die pazifistische Bewegung und Vorhaben zur europäischen Einigung, wie die Paneuropa-Union von Richard Coudenhove-Kalergi.

Den Kampf des Bösen (General Franco) gegen das Gute (die Republikaner, unterstützt von Stalins Sowjetunion) verkörpert der spanische Bürgerkrieg. Bald darauf bricht der Zweite Weltkrieg aus. Wie kam es aber dazu, dass die Sowjetunion, die bisher versucht hatte die Ausbeutung zu beseitigen und „das Gute“ nach Kräften unterstützte, sich plötzlich mit Hitler verbündete?

Hitler-Stalin-Pakt, Herbst 1939. Treffen an der Leiche Polens. Hitler: „Der Abschaum der Menschheit, wenn ich nicht irre.“, Stalin: „Der blutige Mörder der Arbeiterklasse, wie ich annehme?“. Britische Karikatur.

Die Information über die Unterzeichnung des Hitler(Ribbentrop)-Stalin(Molotow)-Paktes Ende August 1939 wird nicht verheimlicht, aber sie wird relativiert. Zu sehen sind zwei Zeitungsausschnitte: aus dem Organ der französischen Kommunisten „L’Humanité“ und aus der Moskauer „Prawda“. Sie bezeichnen den Pakt als „berechtigt“ und „friedenssichernd“.

Zwei Zeitungsauschnitte aus der polnischen Presse stufen ihn als „beschämend“ und „räuberisch“ ein. Wie viele Ausstellungsbesucher sprechen Französisch und Russisch, und wie viele Polnisch? Davon jedoch hängt letztendlich bei dieser Ausstellung die Möglichkeit ab, sich über den Hitler-Stalin-Pakt eine Meinung zu bilden. Der Text auf dem Tablet erwähnt den Pakt mit keinem Wort.

Und so treten wir ein, in das Grauen des Zweiten Weltkrieges und zugleich in ein ausstellungstechnisches Chaos. Die „Nazis“ und ihre Verbündeten sind verantwortlich für Massenmorde und das Leid der Zivilbevölkerung. Eine Fotoreihe, die das veranschaulichen soll, eröffnet das Bild einer offensichtlich leidenden deutschen Vertriebenenfamilie nach 1945. Es folgen getötete weiβrussische Partisanen, durch Hunger während deutscher Gefangenschaft zu Tode gekommene Rotarmisten, und ganz am Ende sieht man das runde Gesicht einer hübschen, adrett gekleideten Polin, die ein amerikanisches Lager für Displaced Persons (DP) im besetzten Deutschland verlässt. Entspricht die Gewichtung der Bildauswahl exakt der historischen Wahrheit?

Die klaer Botschaft : die Leiden der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg verkörpern an erster Stelle deutsche Vertriebene.

Nicht zur Sprache kommt, dass Hitler mit den Massenvertreibungen begonnen hat. Er befahl den Deutschen aus den von den Sowjets im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes zwischen 1939 und 1941 besetzten Gebieten (Baltikum, Wolhynien, Bukowina usw.) „Heim ins Reich“ zu kommen, in die Wohnungen und Bauernhöfe Zehntausender aus dem Wartheland und aus Pommerellen vertriebener Polen. Es waren polnische Provinzen, die Hitler nach dem Polenfeldzug von 1939 an das Dritte Reich anschloss. Ganz zu schweigen von den geradezu monströsen Vertreibungen und Umsiedlungen innerhalb der Sowjetunion.

Die klare Botschaft: die Leiden der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg verkörpern an erster Stelle deutsche Vertriebene.

Es gab einen „antinazistischen“ Widerstand in Europa, in Frankreich und in Norwegen. Polen bleibt in dieser Hinsicht unerwähnt, ebenso wie Millionen polnischer Opfer der deutschen Barbarei.

Vorbilder Deutschland und Österreich

In der dritten Etage begegnen wir wieder dem Holocaust, der eine Etage tiefer ziemlich verstreut und chaotisch dargestellt wurde. Jetzt geht es um die Erinnerung an den Holocaust als Mahnung und Anklage. An der einen Wand sehen wir die vorbildliche Aufarbeitung des Massenmordes an den Juden in Deutschland und Österreich.

Botschaft des Hauses der Europäischen Geschichte: der vorbildlichen deutschen Aufarbeitung des Holocaust sind die Polen nicht gewachsen. Angela Merkel in der Gedenkstätte Yad Vashem am 4. Oktober 2018.

Gegenüber werden, unter anderem, die Polen als „Mittäter“ vorgeführt, die angeblich Probleme mit der Erinnerung an ihre Beteiligung am Holocaust haben. Die Polen sollten sich wirklich schämen, so das nicht ausgesprochene, aber einleuchtende Fazit dieses Teils der Ausstellung, dass sie der vorbildlichen deutschen Aufarbeitung des Holocaust nicht gewachsen sind.

Man kann nicht sagen, in der Ausstellung herrsche die Art von Geschichtsbetrachtung vor, wie sie im heutigen Deutschland üblich ist. Das wäre zu allgemein gefasst. Es ist das Geschichtsbild der gegenwärtigen deutschen Sozialdemokratie und der Partei Die Linke, das hier vorherrscht, angeregt vom modernen Marxismus. Das Ergebnis ist eine Karikatur der europäischen Geschichte.

Wieder einmal zeigt sich, dass die EU lieber die Finger von solchen Vorhaben lassen sollte. Das ist nicht ihre Rolle. Solche Vorhaben spalten, anstatt zu einigen.

Radio Luxemburg vergessen

Eine Etage höher gelangen wir in die Zeit des Kalten Krieges und der Teilung Europas. Gewiss, so die Ausstellung, die damaligen Veränderungen in Osteuropa waren nicht demokratisch. Doch eine gehörige Portion Schuld dafür tragen die amerikanischen Imperialisten, und der von ihnen angeblich den Sowjets aufgezwungene Rüstungswettlauf, dem sich Stalin entgegenstellen musste.

Doch ein Funke der Hoffnung glüht in Westeuropa auf. Als Antwort auf die Schrecken des durch die Nationalismen entfachten Krieges, entsteht die Idee der europäischen Einigung, die den Nationalismus ausmerzen wird. Daran erinnern die Büsten der EU-Gründungsväter: Monnet, Schumann, Bech, Spaak und einiger anderer. Interessanterweise kam in dem EU-Geschichtsmuseum niemand darauf, an die frühen Vordenker der europäischen Einigung zu erinnern: Sully, Penn, Kant, Czartoryski…

In einem groβen Saal auf dieser Etage werden die ursprünglichen Fundamente der europäischen Integration veranschaulicht: Wohlstand und soziale Sicherheit. Das Auto für jedermann, verkörpert durch den Fiat 500, der Fernseher, eine anständige Wohnung, medizinische Versorgung.

Europa geeint und dennoch vergessen: Radio Luxemburg und der Liederwettbewerb der Eurovision.

Schade, dass die Autoren der Ausstellung die wichtige Rolle der Massenkultur bei der Schaffung eines einheitlichen europäischen Raumes völlig auβer Acht gelassen haben. Da ist zum Beispiel Radio Luxemburg, dem, trotz allen Pfeifens und Rauschens im Rundfunkempfänger, in den Sechzigerjahren Millionen osteuropäischer Jugendlicher gelauscht haben, um in Sachen Pop und Beat auf dem Laufenden zu sein.

Da ist auch der Liederwettbewerb der Eurovision (Eurovision Song Contest). Gerade auf diesem Niveau war und ist die europäische Einigung sehr fortgeschritten.

Nun schließen sich die Zeit des EU-Beitrittes von Griechenland, Portugal und Spanien, die sich ihrer Diktaturen entledigt haben, die Beitritte Schwedens und Österreichs, die EU-Osterweiterung an.

Der Kommunismus funktioniert in dieser Ausstellung gewissermaβen als eine im Ansatz edle und berechtigte Antwort auf den Nationalismus.

Der böse Schatten der Kirche

Papst Johannes Paul II, der vor allem bei der EU-Osterweiterung eine wichtige Rolle gespielt, und, vor dem Fall des Kommunismus, Osteuropa ins Bewusstsein der Westeuropäer gebracht hat, kommt im Europäischen Haus der Geschichte überhaupt nicht vor.
Dafür wirft der Einfluss der katholischen Kirche seine bösen Schatten voraus. Neben einem Exemplar der Enzyklika „Humane Vitae“ von 1968, in der Papst Paul VI. unter anderem an den uneingeschränkten und nicht zu diskutierenden Schutz der ungeborenen Kinder vor der Tötung erinnert, liegt eine furchterregende Zange mit der einst Abtreibungen vorgenommen wurden. Primitiver geht es kaum mehr.

Wir sollen uns Gedanken machen über die vermeintlichen Qualen, die angeblich ausgerechnet die Kirche den Frauen zufügt und nicht darüber, welch wichtige Rolle Johannes Paul II. bei der Verteidigung der Menschenrechte in Osteuropa gespielt hat.

Auβer Paul VI. werden in der Ausstellung noch die Päpste Pius XII. und Franziskus erwähnt. Die beiden letzteren mit Aussagen, in denen sie das EU-Projekt für gut und nützlich befinden.

Der Völkerherbst 1989 ein deutscher Herbst

Der Kommunismus in Osteuropa, der in der Ausstellung als zunehmend fassadenhaft, und immer weiter von den hehren Idealen des Karl Marx entfernt dargestellt wird, beginnt, mir nichts, dir nichts, sich zu demokratisieren. Ein siebenminütiger Film zeigt den Beginn der Gespräche am runden Tisch in Polen, so als hätte es den langjährigen Widerstand der Solidarność nicht gegeben. Es entsteht der Eindruck, die polnischen Kommunisten wollten, wahrscheinlich guten Herzens, ihre Macht mit der Opposition teilen.

Völkerherbst 1989. Berliner Happy End. Nur das zählt.

Auf dieses Fragment und einige Filmsequenzen über die ersten halbfreien Wahlen in Polen am 4. Juni 1989 folgen noch jeweils einige Sekunden zwecks Erwähnung der „Revolutionen“ und Veränderungen in der Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien sowie Rumänien. Mehr als fünf Minuten, also siebzig Prozent der Filmerzählung über das historische Jahr 1989 im Osten Europas, sind Deutschland gewidmet. Beginnend mit der Flucht der DDR-Bürger über Ungarn, bis zum Fall der Berliner Mauer. Nur das zählt, und nur dieser Teil der Erzählung ist schlüssig und ergibt einen Sinn.

Als Gegenteil zum Berliner Happy End, wird der Krieg in Jugoslawien gezeigt. Verursacht haben ihn, daran hegen die EU-Geschichtserklärer keine Zweifel, wieder die Religionen und der Nationalismus. Die Utopie von einem föderalen kommunistischen Staat, durch die der jugoslawische Kommunistenführer Josip Broz Tito seine imperialen Balkanträume verwirklichen wollte, kommt genauso wenig zur Sprache, wie dieselben Ambitionen seines serbischen Nachfolgers Milosevic.

Das Ende des Kalten Krieges öffnet den Weg zur Vereinigung des Kontinents. In der Ausstellungsbroschüre kann man nachlesen, dass „die Völker dem Abgeben von immer mehr und mehr Zuständigkeiten zustimmen, um eine übernationale Wirkkraft zu schaffen“. Die Finanzkrise und die Eurokrise von 2008 waren eine Eignungsprüfung der „europäischen Solidarität“.

Im Vorhof des Paradieses angekommen

Beseelt von dieser Botschaft, erklimmen wir die höchste Etage, wo uns schon der strahlende EU-Ratspräsident Van Rompuy erwartet, der gerade den Friedensnobelpreis für die EU in Empfang genommen hat. Wir sind im Vorhof des Paradieses angekommen.
Irgendwo im Hintergrund soll es einige kritische Akzente geben: Plaketten etwa, die zum Brexit auffordern. Doch nach der Besichtigung der Ausstellung wissen wir sehr gut, was wir davon zu halten haben.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz mit der Friedensnobelpreis-Medaille für die EU in Oslo am 10. Dezember 2012.

Wir wissen jetzt auch worauf die neue europäische Identität beruht: auf Angst vor der Rückkehr zu der entsetzlichen Vergangenheit, in der Europa lebte, bevor diese Identität, geeinigt, dort anlangte, wo sie sich heute unter der weisen Führung der Vorsitzenden Juncker, Tajani und Tusk befindet.

Diese Angst mag teilweise sogar berechtigt sein, aber das Idealbild der Geschichte und der „Erinnerung“, das von der EU offiziell erzeugt wird ist kümmerlich, um nicht zu sagen primitiv.
Europa reicht mit seinen Wurzeln mindestens bis in die Zeit Karls des Groβen zurück und birgt in sich, die Hinterlassenschaft der mediterranen, also der antiken griechischen und römischen Kultur, die mit der jüdisch-christlichen Tradition eng verflochten ist.

Die brutale Reduzierung der breit gefächerten, anspruchsvollen und komplizierten europäischen Geschichte, die in Brüssel von EU-Amtswegen vorgenommen wurde, stimmt traurig und weckt Angst, nicht vor der Rückkehr in die Vergangenheit, sondern eher vor dem jetzigen Zustand unseres Kontinents, auf dem so etwas praktiziert wird.

RdP




Ładoś, der Judenretter

Held und Passfälscher.

Knapp vier Jahre lang beschafften polnische Diplomaten in der Schweiz und jüdische Funktionäre gemeinsam falsche lateinamerikanische Pässe, um Juden im besetzen Polen vor der Ermordung zu retten. Jahrzehntelang unbekannt und verdrängt, kommt die Geschichte der Berner Gruppe erst heute ans Tageslicht.

Botschafter Jakub Kumoch.

Das Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) veröffentlichte am 28. Oktober 2018 ein Gespräch mit dem polnischen Botschafter Jakub Kumoch. Er hat wesentlich beigetragen zur Erforschung dessen, was die Berner Gruppe geleistet hat.

Jakub Kumoch, geboren 1975, ist Politikwissenschaftler und seit Oktober 2016 polnischer Botschafter in der Schweiz und Liechtenstein.

Frage: Wer war Aleksander Ładoś?

Botschafter Jakub Kumoch: Ładoś war polnischer Gesandter in der Schweiz. Er kam 1940 nach Bern, kurz vor der Kapitulation Frankreichs.

Gebäude der polnischen Gesandtschaft in Bern. Heute Residenz des Botschafters.

Anm. RdP: Aleksander Ładoś (fonetisch Uadosch), geboren 1891 in Lwów/Lemberg, gestorben 1963 in Warschau, war bis Juli 1945 polnischer Gesandter in der Schweiz und vertrat die legale polnische Regierung, die sich im Exil befand. Ende 1941 unterhielt diese Regierung 5 Botschaften, 10 Gesandtschaften und gut 50 konsularische Vertretungen verschiedenen Ranges in neutralen und sich im Krieg mit Deutschland befindenden Ländern.

Die Regierung im Exil entstand Ende September 1939 in Frankreich, noch während der letzten Kämpfe der polnischen Armee gegen deutsche und sowjetische Truppen, die am 1. bzw. 17. September 1939 in Polen einmarschiert waren. Nach dem deutschen Überfall auf Frankreich am 10. Mai 1940, der mit der Kapitulation der Franzosen am 22. Juni 1940 endete, wurde die polnische Exilregierung nach London evakuiert. Ihr stand, bis zu seinem Tod am 4. Juli 1943, General Władysław Sikorski vor.

Ładoś arbeitete seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit durch Polen im November 1918 bis 1931 im polnischen diplomatischen Dienst. Er war u.a. Sekretär der polnischen Delegation bei den Friedensverhandlungen mit den Sowjets im lettischen Riga. Dort kam es im März 1921 zur Unterzeichnung eines Friedensabkommens, das den sowjetisch-polnischen Krieg von 1919 – 1920 beendete. Ładoś wurde dann noch Gesandter in Riga und Generalkonsul in München.

Nach seiner Entlassung aus dem Auβenministerium 1931 bekleidete Ładoś den Posten des Chefredakteurs der angesehenen „Gazeta Handlowa“ („Handelsblatt“) und war ein gefragter Publizist.

Noch während der Kampfhandlungen in Polen 1939 gelangte er über Rumänien und Jugoslawien nach Frankreich, wo er als Vertreter der Bauernpartei bis Dezember 1939 in der Koalitions-Exilregierung Sikorskis als Minister ohne Geschäftsbereich fungierte. Kurz darauf wurde er nach Bern entsandt. (Anm. RdP)

Botschafter Jakub Kumoch: Nach seiner Ankunft in Bern musste sich Ładoś sofort einer ernsthaften humanitären Krise stellen. In der Schweiz wurde nämlich die 2. Polnische Infanteriedivision interniert.

Anm. RdP: Die 2. Polnische Infanteriedivision zählte knapp 16.000 Soldaten und Offiziere, und war eine von mehreren Einheiten, die die Exilregierung in Frankreich im Herbst 1939 und Frühjahr 1940, im Einvernehmen mit den Franzosen, aufgestellt hat. Unter ihre Fahnen meldeten sich polnische Flüchtlinge und Polen, die in Frankreich und in den Benelux-Staaten lebten. Die Division kämpfte gegen die Wehrmacht im Elsass. Als der französische Widerstand zusammenbrach, ging sie über die Schweizer Grenze und wurde interniert. (Anm. RdP)

Botschafter Jakub Kumoch: Mit dem polnischen Militär floss auch der Strom polnischer Zivilflüchtlinge aus Belgien, Holland, aus dem von den Deutschen besetzten und nicht besetzten Teil Frankreichs in Richtung Schweiz.

Juden?

Zu einem beträchtlichen Teil. Sie lebten meistens schon lange vor dem Krieg im Ausland und hatten die polnische Staatsangehörigkeit verloren. Jetzt drohte ihnen die Deportation aus der Schweiz in den von den Deutschen besetzten Teil Frankreichs. Die polnische Regierung im Exil gab ihnen die polnische Staatsangehörigkeit zurück. Das verlangte dem polnischen Konsul in Bern, Konstanty Rokicki (fonetisch Rockitzki – Anm. RdP) eine gigantische Arbeit ab. Massenweise stellte er diesen Leuten Pässe der Republik Polen aus.

Wurden zu jener Zeit die Kontakte zu den jüdischen Organisationen geknüpft?

Abraham Silberschein.

Ja. Unter anderem zu dem polnisch-jüdischen Rechtsanwalt Abraham Silberschein, der in Genf an der Spitze des Jüdischen Hilfskomitees stand. Die Polen und die Juden stellten schnell fest, dass sie es jeweils mit einem seriösen Partner zu tun hatten, dem man trauen konnte. Das sollte sich in der Zukunft auszahlen.

Und woher kam die Idee, gefälschte Pässe südamerikanischer Staaten zu verwenden?

Diesbezüglich trafen wir auf zwei Spuren. Beide führten zum polnischen Konsulat in Bern. Die erste besagt, dass der Gesandte Ładoś bereits 1941 einzelne Pässe in der chilenischen Botschaft in Rom beschafft hatte.

Und die zweite Spur?

Diese Spur betrifft polnische Juden, die 1939 in den von den Sowjets besetzten Teil Polens geflohen sind. Sie saβen in einer Falle. Die Sowjets wollten sie nicht bei sich aufnehmen und die Geflohenen wollten nicht in den vom Deutschen Reich besetzten Teil Polens zurückzukehren. Der japanische Konsul im litauischen Kaunas, Chiune Sugihara stellte ihnen z.B. Transitvisa nach Japan aus.

Das ist bekannt, aber was hat das mit der Berner Gruppe zu tun?

Juliusz Kühl.

Ein Helfer Ładoś’, der junge polnische Jude Juliusz Kühl, gab 1943 vor dem schweizerischen Staatsanwalt zu Protokoll, dass die polnischen Diplomaten damals auf die Idee kamen, polnische Juden aus der Sowjetunion rauszuholen, indem sie ihnen die paraguayische Staatsangehörigkeit „verliehen“. Es wurden damals einige Dutzend Pässe dieses Landes gekauft.

Als die Deutschen 1942 die Vernichtungslager in Betrieb nahmen, kam die Tätigkeit der Berner Gruppe richtig in Schwung.

Bis dahin war das ein sehr beschränktes Vorhaben, weil man befürchtete, es könne auffliegen. Lateinamerikanische Pässe erhielten nur ausgewählte Juden, in der Hoffnung, die Deutschen würden sie als Ausländer besser behandeln. Niemand hatte angenommen, Hitler würde ein ganzes Volk ausrotten wollen. Ab 1942 galt es, Menschen um jeden Preis vor dem Tod zu retten.

Falscher paraguayischer Pass für die fünfköpfige Familie Goldzweig.

Die Pässe waren nicht billig.

Sie kosteten bis zu zweitausend Franken pro Stück. Mehr als Ładioś im Monat verdiente. Eine Schweizer Zeitung, die kürzlich über die Berner Gruppe schrieb, hat ausgerechnet, dass das heute in etwa vierzehntausend Franken wären.

Wer nahm das Geld?

Der Berner Anwalt und Honorarkonsul Paraguays Rudolf Hügli. Zuerst verlief alles sehr chaotisch. Die Juden kamen mit dem Geld in die polnische Gesandtschaft. Die Gesandtschaft gab es an Hügli weiter und bekam von ihm die Pässe. Doch Hügli machte auch Passgeschäfte auf eigene Faust und beging einen Fehler. Er verkaufte einem Gestapo-Agenten einen Pass. Die Gestapo interessierte sich von Anfang an für das Vorhaben.

Hügli wurde verhaftet.

Ja. Das war im Januar 1943. Die Schweizer Behörden bezichtigten ihn der Spionage. Um sich herauszureden, verriet Hügli das Vorhaben und wälzte die ganze Schuld auf die Polen ab. Sie hätten ihn zu den Machenschaften überredet. Hügli entstammte einer ehrwürdigen Schweizer Juristenfamilie. Die Behörden glaubten ihm, und da er schon siebzig war gingen sie davon aus, dass er nicht recht wusste, was er tat. Die Polen wurden diskret abgemahnt, die Angelegenheit unter den Teppich gekehrt.

Hügli schied aus.

Nein. Er agierte ab diesem Zeitpunkt nur viel vorsichtiger. Er verkaufte den Polen weiterhin die Pässe und machte, wie bisher, ein Bombengeschäft. Die Papiere waren aber alle vor dem Januar 1943 datiert, damit es so aussah als hätte er sie vor seiner Verhaftung ausgestellt. Im Internet kann man, gescannt, eine Menge solcher Pässe finden. Fast alle sind auf Dezember 1942 datiert.

Chaim Eiss.

Und was taten die Polen nach dem Reinfall?

Sie beschlossen das Ganze neu zu ordnen. Es sollte ein Retten mit System sein. Ab jetzt fertigte Abraham Silberschein in Genf die Listen polnischer Juden an und besorgte das Geld für ihre Rettung in den USA. Der zweite Partner war der polnisch-jüdische Kaufmann Chaim Eiss aus Zürich. Silberschein war ein Zionist, Eiss ein Ultraorthodoxer. Dennoch funktionierte die Zusammenarbeit bestens.

Wer hat gezahlt?

Vor allem jüdische Verbände in Amerika, teilweise auch die polnische Exilregierung. Sehr wichtig war, dass die Polen Hügli zwingen konnten „Groβhandelspreise“ zu nehmen. Zuerst 700 Franken, dann sogar 500 Franken für einen paraguayischen Blankopass. Ausgefüllt hat sie ab jetzt nur noch der polnische Konsul Konstanty Rokicki. Wir haben seine Handschrift einwandfrei identifiziert, da wir vor Kurzem einen 1940 in der Berner Gesandtschaft ausgestellten polnische Pass erhalten haben. Die Handschrift des Konsuls ist identisch mit der in den paraguayischen Dokumenten.

Konstanty Rokicki.

Und was passierte derweil im besetzten Polen?

Ein Teil der beglaubigten Kopien der paraguayischen Pässe ging ins Warschauer Ghetto, die meisten jedoch nach Będzin und Sosnowiec (Städte im Dombrauer Kohlebecken, einst im russischen Teilgebiet Polens, heute mit Oberschlesien zusammengewachsen – Anm. RdP).

Nach welchem Schlüssel wurden die Papiere angefertigt? Sollten vor allem die Eliten gerettet werden?

Am Anfang sollten tatsächlich nur Ausgewählte die Pässe bekommen: Rabbiner, die zionistische Jugend, Intellektuelle, bekannte und einflussreiche Juden. Bald jedoch bekam das Vorhaben Massencharakter.

Pässe wurden ausgestellt für mehrere Generationen einer Familie. Kibbuzim, die vor dem Krieg auswandern wollten, bestellten sie für ihre Mitglieder. Mitglieder des Widerstandes sollten sie bekommen, doch ein Teil von ihnen lehnte ab und kam später während des Aufstandes im Ghetto von Bendzin um. (Historiker verwenden nicht den Begriff Aufstand. Etwa zwanzig junge Juden leisteten am 2. und 3. August 1942 bewaffneten Widerstand bei der Auflösung des Ghettos – Anm. RdP)

Zur Ausstellung eines Passes muss man ein Foto haben.

Fotos wurden durch die Slowakei und Ungarn in die Schweiz geschmuggelt. Vor nicht langer Zeit konnten wir das Archiv von Chaim Eiss übernehmen. Dort gibt es viele Fotos von Juden aus dem besetzten Polen. Man sieht, dass die meisten aus alten Familienbildern herausgeschnitten worden sind. Auf dem einen hält jemand ein Kind auf dem Arm, auf einem anderen sieht man Gestalten im Hintergrund.

Die Fotos kamen auf den Schreibtisch von Konsul Rokicki. Er klebte sie in die falschen Pässe ein. Und wie gelangten die Pässe ins besetzte Polen?

Die Originale der gefälschten Pässe gingen nicht dorthin. Keiner der Pässe sollte jemals die Schweiz verlassen. Nur ganz wenige wurden in Notfällen oder aus Versehen ins besetzte Polen gebracht. Hätte man das getan, hätten Massen von Menschen versucht das besetzte Polen zu verlassen. Die Grenzbeamten, seien es die deutschen, die der mit dem Reich verbündeter Länder oder neutraler Staaten hätten sehr schnell den Schwindel aufdecken können und die neuen „Bürger“ lateinamerikanischer Länder wären in den Vernichtungslagern gelandet.

Was geschah mit den Originalen?

Sie landeten in den Panzerschränken von Abraham Silberschein oder Chaim Eiss und sollten sofort nach dem Krieg vernichtet werden. Der Anwalt und Honorarkonsul Rudolf Hügli fertigte Kopien der Pässe an und beglaubigte sie notariell. Dann schickte er sie mit der Post ins besetzte Polen, versehen mit einem Schreiben an den Empfänger, er sei paraguayischer Staatsbürger geworden. Der Betroffene konnte auf diese Weise versuchen den Deutschen weiszumachen, dass er Ausländer sei, aber er konnte nicht ausreisen.

Wozu also das Ganze?

Damit die Deutschen den Passbesitzer nicht ermorden, sondern in einem Lager für Ausländer einsperren. Die Insassen warteten dort auf einen Austausch gegen Deutsche, die von den Alliierten interniert wurden.

Alles wäre gut gegangen, hätten die Deutschen nicht gemerkt, dass man sie betrogen hat.

Ich sehe das anders. Die Deutschen wussten von vornherein, dass diese Juden mit Paraguay nichts zu tun hatten. Sie hatten zwei Möglichkeiten, die sie ja auch verfolgten. Ein Teil der deutschen Verwaltung war der Meinung, man solle das Spiel spielen und die „Latinos“ gegen Deutsche austauschen. Die anderen waren vom Mordwahn ergriffen. Deswegen wurde ein Teil der Passbesitzer umgebracht, andere wiederum wurden verschont.

Als die Deutschen begannen die Pässe der Insassen im Internierungslager Vittel in Frankreich zu überprüfen, haben die lateinamerikanischen Länder ihre „Bürger“ verleugnet.

Polnischer Exil-Auβenminister Tadeusz Romer.

Das stimmt nicht ganz. Gerade Uruguay kann stolz auf sich sein. Es hat 1944 die Hügli-Pässe anerkannt, ohne irgendeine Gegenleistung dafür zu verlangen nachdem der polnische Exil-Auβenminister Tadeusz Romer in dieser Angelegenheit bei den Uruguayern intervenierte. Auβerdem bekamen alle polnischen diplomatischen Vertretungen in Lateinamerika, unter anderem in Buenos Aires, Rio, Lima, Santiago, Havanna, Mexico City, die Anweisung zu verlangen, dass die den polnischen Juden ausgestellten Pässe anerkannt werden.

Was ist also schiefgelaufen?

Das ist eine ziemlich geheimnisvolle Angelegenheit. Es heiβt, der Botschafter, der Uruguay in Berlin vertreten hat, habe die Nachricht, das Land habe die Pässe der Juden anerkannt nicht rechtzeitig an die deutschen Behörden weitergegeben.

Ladoś wiederum schrieb in einem seiner Berichte an die Exilregierung in London, die Deutschen haben Juden als „Latinos“ nur so lange anerkannt, wie es Deutsche gab, die man gegen sie austauschen konnte. Im Jahr 1944 gab es damit ein Problem, denn Deutschland war dabei den Krieg zu verlieren und die im Ausland internierten Deutschen wollten nicht mehr heim ins Reich.

Die „Latino“-Juden wurden nicht mehr gebraucht.

Leider war das so. Noch am 14. April 1944 intervenierte auf Anweisung Romers der polnische Exil-Botschafter beim Vatikan, Kazimeirz Papée, und bat den vatikanischen Staatssekretär, Luigi Maglione sich bei den Deutschen dafür einzusetzen, dass die Deportationen aus Vittel aufgehalten werden.

Bei der Gestapo jedoch gewannen die Gegner von Abmachungen die Oberhand. Ein Teil der Passbesitzer verschwand in Vernichtungslagern. Wir haben im Archiv des Auschwitz-Museums nachgeforscht. Aus dem Vittel-Transport überlebte kein einziger Passinhaber, mit Ausnahme Zweier, die von dem Zug abgesprungen waren.

So entstand die Behauptung das ganze Vorhaben sei gescheitert.

Ja. Die Auflösung von Vittel war eine Tragödie und ein furchtbares Verbrechen. Daher auch die Legende, die Pässe hätten niemandem das Leben gerettet. Vittel war jedoch nicht das einzige Lager, in dem die Passinhaber untergebracht waren. Noch mehr von ihnen gab es in Tittmoning, einem Unterlager von Bergen-Belsen. Viele befanden sich in Arbeitslagern und die Pässe bewirkten, dass ihre Deportation in Vernichtungslager immer wieder verschoben wurde.

Wie viele konnten gerettet werden?

Von den zweitausendzweihundert Inhabern paraguayischer Pässe haben mindestens achthundert überlebt. Nach meinen vorsichtigen Schätzungen kommen noch vierhundert Juden mit Honduras-Pässen dazu und einzelne Personen, die Pässe von Haiti und Peru vorweisen konnten. Man sollte jedoch sehr umsichtig mit dem Wort „gerettet“ umgehen. Ładoś’ Pässe haben die Überlebenschancen deutlich erhöht, aber nach ihrer Ausstellung konnten die polnischen Diplomaten nichts weiter für deren Inhaber tun. Sie haben versucht einige Tausend Menschen zu retten.

In den Medien wurde kolportiert, es hätten sich etwa vierhundert Personen gerettet.

Diese Angaben sind überholt. Namentlich kennen wir viel mehr Überlebende.

Die Berner Gruppe bestand aus drei polnischen Diplomaten und zwei jüdischen Funktionären.

Es war ein polnisch-jüdisches Vorhaben. Ohne die jüdischen Funktionäre hätten polnische Diplomaten nichts ausrichten können und umgekehrt.

Stefan Ryniewicz.

Und die Motive der Polen?

Der Gesandte Aleksander Ładoś, Gesandtschaftsrat Stefan Ryniewicz und Konsul Konstanty Rokicki taten das, wozu sie als Beamte im diplomatischen Dienst berufen wurden. Sie halfen Bürgern der Republik Polen, die in Not geraten sind. Die Schweizer Polizei, die ja ständig ein waches Auge auf ihr Tun hatte, bezeichnete ihre Motive in ihren internen Berichten als „patriotisch“.

Es gab Gerüchte, die ihre Ehrlichkeit in Frage stellten.

Wo viel Geld flieβt, sind solche Gerüchte immer in Umlauf. Die Tatsachen sind folgende:

Aleksander Ładoś blieb nach dem Krieg im Exil in Frankreich. Er wohnte in einer furchtbaren Bruchbude in Clamart bei Paris und lebte von seinem Gemüsegarten. (Ładoś kehrte 1960 nach Polen zurück und starb 1963 in Warschau – Anm. RdP)

Konstanty Rokicki (1899 – 1958) wurde mit Mitteln der Sozialhilfe auf dem Gräberfeld für Arme des Luzerner Friedhofs bestattet.

Stefan Ryniewicz (1903 – 1987) betrieb eine Auto-Wäsche in Buenos Aires.

Juliusz Kühl (1913-1985) strandete 1949 mit einem Koffer in Kanada, wo er sich mühsam als Bauunternehmer emporarbeitete.

Auch Abraham Silberschein (1882 -1951) und Chaim Eiss (1876 – 1943) haben keine Reichtümer hinterlassen.

Werden Sie mit dem Vorwurf konfrontiert, dass Sie als Botschafter „polnische Propaganda“ betreiben, dass die Geschichte der „Berner Gruppe“ der „polnischen Geschichtspolitik“, die ja angeblich die Polen als Opfer verherrlichen möchte, sehr gelegen kommt?

Anm. RDP: So war die Bezeichnung „Glorifizierung“ u. a. durchweg in den Schweizer Medien Anfang Oktober 2018 in Gebrauch, als Polens Staatspräsident Andrzej Duda nach Luzern kam, um an dem neuerrichteten symbolischen Grab Konstanty Rokicki zu gedenken. Das ursprüngliche Grab war in den Achtzigerjahren aufgelöst worden. Anm. RdP.

Staatspräsident Andrzej Duda mit Gattin am 9. Oktober 2018 in Luzern am neuerrichteten symbolischen Grab Konstanty Rokickis.

Botschafter Jakub Kumoch: Ich habe bis jetzt nichts Derartiges von jüdischer Seite vernommen. Umgekehrt. Die Juden, mit denen ich gesprochen habe begleiten unsere Nachforschungen mit groβem Wohlwollen und sind dankbar, dass wir uns der Sache angenommen haben. Einige haben mich nach den Nachkommen der Mitglieder der Berner Gruppe gefragt, weil sie ihnen danken wollen.

Alles worüber wir reden, können wir belegen. Wir haben Hunderte von Dokumenten. Es gibt keinen Grund irgendetwas zu beschönigen. Die Geschichte an sich ist schön genug.

RdP




Chopins Flügel beflügelt

Der grossartige Nachbau eines historischen Musikinstruments weckt schöne wie schaurige Erinnerungen.

Es war ein berührendes und symbolträchtiges Konzert. Knapp zweitausend Zuhörer lauschten Mitte März 2018 in der Warschauer Oper Fryderyk Chopins Klavierwerken, gespielt auf einem historischen Instrument. Der Buchholtz-Flügel, den russische Soldaten vor 155 Jahren zerschmetterten, war Chopins Jugendliebe. Ein exzellenter Nachbau vermittelte nun den ursprünglichen Klang der Musik des großen Komponisten.

Chopins Jugendliebe. Der nachgebaute Buchholtz-Flügel.

Mit den heutigen Yamaha- und Steinway-Flügeln kann er nicht mithalten. In einer Zeit der Hochleistungsakustik klingt das Instrument verwöhnten Chopin-Liebhabern zu leise, etwas flach, manchmal kurzatmig. Die heutigen Flügel haben einen deutlich stärkeren Klang und erzeugen auch nicht sofort einen Ton, sobald der Pianist beim Spielen unbeabsichtigt eine Nebentaste berührt.

Historische Flügel sind wesentlich fragiler in der Konstruktion und überaus empfindlich. Als auf ihnen musiziert wurde gab es keine Mikrophone, keine Verstärker, keine für den Hörgenuss elektronisch feintarierten Konzertsäle. Gespielt wurde meistens in groβbürgerlichen Salons oder in Ballsälen aristokratischer Residenzen.

Warschau, 17. März 2018. Am nachgebauten Buchholtz-Flügel Krzysztof Ksiażek, es dirigiert Václav Luks.

Alle Rezensenten bescheinigten dem jungen Solisten am rekonstruierten Flügel, dem polnischen Pianisten Krzysztof Książek (fonetisch Ksionschek), einem erfolgreichen Teilnehmer des Warschauer Chopin-Wettbewerbs von 2015, er habe die Herausforderung sehr gut gemeistert. Das tschechische Orchester Collegium 1704 unter Václav Luks, spezialisiert auf alte Musik in historischer Aufführungspraxis, war ihm hierbei ein geradezu kongenialer Begleiter.

„Das Ideal, es hat das Straβenpflaster erreicht“

Bei diesem Konzert handelte es sich jedoch um viel mehr, als nur um ein herausragendes künstlerisches Ereignis. Eine tiefe Demütigung, eine historische Wunde, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde, kann nun endlich vernarben. Chopins zerschmetterter Flügel ist nicht wegzudenken aus dem polnischen nationalen Langzeitgedächtnis.

Schönheit und hehre Werte, die Chopins Musik verkörpert, wurden vor 155 Jahren von einer brutalen und primitiven Horde fremder Besatzer vernichtet. Polens groβer romantischer Dichter Cyprian Kamil Norwid hat den zerstörten Flügel Chopins 1865 zum Symbol des tragischen Schicksals des Landes hochstilisiert, in einem Gedicht, das jeder polnische Schüler gelesen haben muss.

Dichter Cyprian Kamil Norwid (1821 – 1883).

Der Flügel Chopins

(…) Das Bauwerk faβt Feuer, erlischt,
Und erneut flammt es auf, und hier, an der Wand,
Auf Stirnen lese ich Leid – Witwen von Gewehrkolben gebannt.
Fast rauchblind sehe ich, in einem Bogen der Kolonnade,
Ein Stück, wie eine Totenlade,
Heruntergeschoben, und stürzte, stürzte Dein Flügel!

Er kündete von Polen, ein Stück entnommen der Geschichtsvollendung,
Die eben hier fand einen Hymnus verzückt im Zenit,
Polen der gewandelten Radmacher Land.
Er stürzte, auf Pflaster, Granit!

(…) Gerichtsgesang mag erdröhnen,
Laβ rufen uns: „freue Dich Nachfahr ferner Zeit!…
Dumpfes Gestein war im Stöhnen,
Das Ideal, es hat das Straβenpflaster erreicht…“  (Aus dem Polnischen von Peter Gehrisch)

Russen spielen Nero

Diese Szenen spielten sich in Warschau am Sonnabend, dem 19. September 1863 ab. Die Hauptstadt des seit 1795 endgültig von Preuβen, Österreich und Russland aufgeteilten Polens gehörte zum russischen Teilungsgebiet und das sollte bis 1915, als kaiserliche deutsche Truppen in Warschau einmarschierten, so bleiben.

Seit Januar 1863 war dort eine groβe nationale Freiheitserhebung, der Januaraufstand, gegen die Russen im Gange. Es war ein blutiger, verzweifelter, immer wieder aufflammender Partisanenkampf, den die Russen mit Massenenteignungen, öffentlichen Hinrichtungen am Galgen und Deportationen nach Sibirien zu bändigen versuchten.

Tief im Untergrund funktionierte in Warschau eine polnische Nationalregierung, die über ein weitverzweigtes konspiratives Verwaltungsnetz den zivilen Widerstand organisierte und Steuern für den Befreiungskampf eintrieb.

Untergrundgerichte verurteilten polnische Kollaborateure, besonders diensteifrige russische Militärs und Besatzungsbeamte zum Tode. Kleine Trupps der konspirativen Nationalgendarmerie vollstreckten die Urteile auf offener Straβe oder in Wohnungen. Warschau war für die Russen damals ein sehr heiβes Pflaster.

Der russische General Fiodor Berg (eigentlich Friedrich Wilhelm Rembert von Berg) war ein baltendeutscher Adeliger und (1863 – 1874) russischer Statthalter in Warschau.

Ende August 1863 fiel die Entscheidung den gerade neuernannten russischen Statthalter Fiodor Berg zu beseitigen. Der General fuhr jeden Abend zwischen achtzehn und zwanzig Uhr von seinem Dienstsitz in der Kaserne am Łazienki-Park in einer offenen Kutsche, umgeben von Kosaken-Reitern, schnurgerade durch die Innenstadt zu seiner Residenz im Warschauer Schloβ. Die Straβen, die er nahm waren fast menschenleer, denn wer sich vor dem vorbeifahrenden Statthalter nicht verbeugte, riskierte verhaftet zu werden. Die ansonsten brodelnde Stadt boykottierte auf diese Weise ihren Unterdrücker.

Fünf Untergrundkämpfer der Nationalgendarmerie mieteten sich in einer kleinen Wohnung in der vierten Etage eines gutbürgerlichen Wohnhauses ein, das dem polnischen Adeligen Andrzej Zamoyski gehörte, den die Russen ins Exil verjagt hatten. Die Fahrstrecke Bergs durch das Stadtzentrum verengte sich an dieser Stelle zu einer schmalen Straβenschlucht.

Als die Kutsche unter ihrem Fenster vorbeifuhr, schoss einer der Attentäter mit der Schrotflinte auf Berg, verletzte ihn jedoch nur leicht. Die Phosphorflaschen, die die Kutsche in Brand setzten sollten verfehlten das Ziel, ebenso die im Anschluss geworfenen Bomben. Panik brach aus, Rauchschwaden verhüllten das Geschehen. Die Kämpfer flohen, wie geplant, durch benachbarte Hinterhöfe und Gärten.

Warschau, 19. September 1863. Das Attentat auf Statthalter Berg aus dem Haus rechts im Bild. Zeitgenössische Darstellung.

Mit kreidebleichem Gesicht ordnete Berg noch am Ort des Geschehens Vergeltung an. Das von gut 650 Menschen bewohnte Haus, von dem aus der Anschlag verübt worden war, wurde umstellt. Die zweihundert Einwohner, die sich zur Tatzeit in ihm befanden, wurden in den Innenhof gejagt und im Tross in die Warschauer Zitadelle abgeführt, eine von den Russen am Rande des Zentrums erbaute Zwingburg, die ihnen als Kaserne, Gefängnis und Hinrichtungsstätte diente. Einige Dutzend Bewohner fanden sich schon bald in der sibirischen Verbannung wieder, so auch der Sohn des Hausbesitzers, Stanisław Zamoyski.

Berg befahl General Pawel Korff das Gebäude im dichtbebauten Stadtzentrum mit dem Artilleriefeuer der aufgefahrenen Kanonen zu vernichten, was dieser ihm jedoch ausreden konnte. Stattdessen wurde das Gebäude der Zerstörungswut eines entfesselten russischen Soldatenmobs preisgegeben.

Russische Soldaten verwüsten das Zamoyski-Haus in Warschau. Zeitgenössische Darstellung.

„Wie Atillas Horden, die die alte römische Kultur in Schutt und Asche legten, stürzten sie in das riesige Haus, um alles was ihnen unter die Hand kam mit Äxten und Brechstangen kurz und klein zu schlagen und auf die Straβe zu werfen. An mehreren Stellen brannte es“, schrieb später ein Augenzeuge.

In der Wohnung des Fernostforschers Józef Kowalewski wurde sein Lebenswerk, die Handschriften eines vierzigbändigen Wörterbuchs der mongolischen Sprache, vernichtet. Ebenso erging es seiner riesigen Sammlung seltener chinesischer und tibetanischer Handschriften.

Auch bei Izabela Barcińska, der Schwester von Fryderyk Chopin, blieben nach der Vergeltungsnacht nur kahle Wände übrig. Das wertvolle Kaffeeservice, ein Geschenk des französischen Königs Louis-Philippe I. für Chopin, überdauerte die Vernichtungsorgie genauso wenig, wie eine Sammlung von Chopins Briefen, Autogrammen, Manuskripten, Andenken. Auch Chopins Flügel landete auf dem Straβenpflaster.

„Die zertrümmerten Gegenstände bildeten unten auf der Straβe einen drei, vier Meter hohen Wall. Mitten in der Nacht holten die Russen die Feuerwehr herbei, lieβen das zerschmetterte Mobiliar zu drei riesigen Haufen auftürmen und anzünden. Wie Neros der Neuzeit thronten russische Offiziere in sicherer Entfernung auf geraubten Sesseln und genossen den Anblick“, so ein anderer Augenzeuge.

Am 5. August 1864 fand der tragische Aufstand ein symbolisches Ende. In einer öffentlichen Hinrichtung wurden Romuald Traugutt und vier weitere Mitglieder der letzten konspirativen polnischen Nationalregierung am Abhang der Warschauer Zitadelle von den Russen gehängt.

Warschau, 5. August 2014. Feierlichkeiten zum 150. Jahrestag der Hinrichtung der Mitglieder der letzten konspirativen polnischen Nationalregierung durch die Russen . In der Mitte Romuald Traugutt.

Der Klavierbauer und der Komponist

Fryderyk Chopin lebte damals bereits seit fünfzehn Jahren nicht mehr, Fryderyk Buchholtz seit siebenundzwanzig Jahren. Der aus dem ostpreuβischen Hohenstein (Olsztynek) stammende Buchholtz, ein begabter Pianist, Klavierbauer und Orgelbaumeister, später auch Zunftmeister der Warschauer Obergilde, hatte 1815 sein Unternehmen in Warschau gegründet. Schon bald genoss seine Werkstatt den Ruf die beste ihrer Art in ganz Russisch-Polen zu sein.

Giraffenklavier von Buchholtz.

Buchholtz baute anfangs Giraffenklaviere und erlangte hierfür schnell Anerkennung. Nach 1825 beschränkte er sich auf Flügel mit Wiener und englischer Mechanik. Ab 1826 baute er Instrumente in englischer Manier. Als Erster Klavierbauer seiner Gilde verwendete er ab 1827 Metallrahmenhalterungen und verzichtete auf den bis dahin obligatorischen Klavierkastenboden. In den 1830er Jahren baute er auf Bestellung, zusammen mit seinem Sohn Julian, ein Klavier mit einem Schalldämpfer-Zug, das in ein unteres und ein oberes Register getrennt war. Seine Instrumente zählten bei Pianisten zu den besten in Europa.

Chopin war ein ständiger Gast in seiner Fabrikationswerkstatt, freundete sich mit dem Klavierbauer an. Ein Buchholtz-Flügel stand bereits auf der Bühne, als der Komponist 1823 mit 13 Jahren sein Warschauer Premierenkonzert gab. Im Jahre 1825 kauften Chopins Eltern für ihren Sohn einen eigenen Flügel bei Buchholtz. Er stand im Salon der geräumigen Wohnung an der Hauptstraβe Krakowskie Przedmieście (Krakauer Vorstadt) und diente dem jungen Komponisten in der Zeit seiner ersten groβen Erfolge. In seinem Arbeitszimmer befand sich ein platzsparendes Giraffenklavier, ebenfalls ein Instrument von Buchholtz.

Am 17. März 1830 gab der zwanzigjährige Chopin in Warschau sein erstes groβes öffentliches Konzert vor knapp eintausend Zuhörern, in dem er sein gerade komponiertes Klavierkonzert in f-moll (zu hören am Ende dieses Beitrags) einem begeisterten Publikum auf einem Buchholtz-Flügel vorstellte. Auf den Tag genau 188 Jahre später, am 18. März 2018, spielte der junge Krzysztof Książek dasselbe Klavierkonzert auf dem nachgebauten Instrument in der Warschauer Oper.

Fragmente dieses Konzertes können Sie am Ende dieses Beitrags zum Hören abrufen.

Chopin verlieβ Warschau am 2. November 1830 für immer. Gut drei Wochen später brach in der Hauptstadt eine weitere groβe antirussische Erhebung aus, der Novemberaufstand, der fast ein Jahr lang dauern sollte. Für Chopin der sich weigerte ein Untertan des Zaren zu sein, der seinen russischen Pass verfallen lieβ und letztendlich die französische Staatsbürgerschaft annahm, war der Weg in die Heimat für immer versperrt.

Der renommierte amerikanische Klavierbauer Paul McNulty lebt in Tschechien.

Das Instrument, das Chopins Schwester in Warschau bis zu seiner Zerstörung wie eine nationale Reliquie pflegte, baute der wohl berühmteste lebende Rekonstrukteur alter Tasteninstrumente, der Amerikaner Paul McNutty in zehnjähriger Arbeit nach. McNutty lebt und arbeitet seit 1995 in Tschechien, wo es in den südböhmischen Wäldern das beste Resonanzboden-Holz der Welt geben soll. Der Preis für sein Werk ist nicht bekannt, man spricht von einem Betrag von bis zu hunderttausend Euro. Bezahlt hat ihn der polnische Mineralölkonzern Orlen.

Polnische Chopin-Klaviere. Drei zum Gucken…

Das älteste Instrument steht im Geburtshaus des Komponisten in Żelazowa (fonetisch Schelasowa) Wola bei Warschau. Es handelt sich dabei um ein Giraffenklavier.

Chopins Gönner und Freund Camille Pleyel (1788 – 1855).

Von unschätzbarem ideellen Wert ist der Pleyel-Flügel, den Chopin in seinen letzten zwei Lebensjahren in Paris benutzte, zu sehen im Warschauer Chopin-Museum, gleichzeitig Sitz der Chopin-Gesellschaft in der Okólnikstrasse. Spielen kann man ihn nicht mehr.
Chopin und der Firmeninhaber Camille Pleyel pflegten eine enge Freundschaft. Pleyel stellte dem von ihm grenzenlos bewunderten Komponisten immer schönere und perfektere Klaviere zum Probespielen zur Verfügung. Er bezahlte auch den Transport wenn Chopin auf Tournee ging.

Chopins letzter Flügel, Pleyel Nr. 14810 im Warschauer Chopin-Museum.

Chopin wiederum empfahl Pleyels Instrumente seinen Schülern und Freunden. Einmal sagte er öffentlich, dass er, wenn er nicht gut aufgelegt sei zum Komponieren, sich an ein Klavier von Erard, dem gröβten Konkurrenten Pleyels setze. In dem Instrument von Erard nämlich fände man leichter den fertigen Klang.

Spüre er jedoch einen Drang zum Komponieren, dann braucht er einen Pleyel-Flügel, denn nur auf ihm trifft er den eigenen, unverwechselbaren Klang seiner Musik. Eine bessere Werbung für Pleyel konnte es nicht geben.

Ein drittes Exemplar, nur zum Bestaunen, befindet sich im Museum der Jagiellonen Universität in Kraków. Es ist auch ein Pleyel von 1847, den Chopin bei seinen Konzerten in Schottland benutzte.

… zwei zum Spielen.

Abgesehen von dem neusten Buchholtz-Nachbau gibt es in Polen zwei Pleyel-Flügel, die Chopin zwar nie berührt hat, die jedoch genau aus seiner Zeit stammen, und für Konzerte und Aufnahmen genutzt werden.

Den einen, Jahrgang 1848, erwarb 2005 das Warschauer Nationale Chopin-Institut in England. Gewinner der Warschauer Chopin-Klavierwettbewerbe nehmen auf diesem Instrument nach und nach alle Chopin-Werke auf. Entstehen soll daraus die „Schwarze Gesamtausgabe“, abgeleitet vom eleganten Schwarz der CD-Hüllen. Bleibt nur zu hoffen, dass der betagte Klangkörper das aushält.

Ein zweiter Pleyel, Jahrgang 1860, wurde vor einigen Jahren in den Magazinen des Kreismuseums in Krosno, in Südostpolen gefunden. Trotz intensiver Nachforschungen gelang es bis dato nicht herauszufinden wie er dorthin gelangte. Schwer lädiert, wurde das Instrument mit hohem Kostenaufwand umsichtig originalgetreu wiederhergestellt. Heute wird das Instrument gerne von führenden polnischen und internationalen Pianisten genutzt. © RdP

Lesenswert auch: „Chopins Herzuntersuchung. 165 Jahre nach dem Tod des Komponisten“.

Wie klingt der Buchholtz-Nachbau

Krzysztof Książek spielte auf dem nachgebauten Chopin-Buchholtz-Klavier während des Konzertes in der Warschauer Oper am 17. März 2018 u. a.:

  1. Karol Kurpiński (1785 – 1857) Fuge und Koda in B-dur zum Thema „Noch ist Polen nicht verloren“ (polnische Nationalhymne).

https://soundcloud.com/radiodienst-polska/karol-kurpinski-1785-1857-fuge-und-koda-in-b-dur-zum-thema-noch-ist-polen-nicht-verloren-1

2. Fryderyk Chopin (1810 -1848), Klavierkonzert in f-Moll op. 21. Maestoso.

https://soundcloud.com/radiodienst-polska/maestoso-fryderyk-chopin-1810-1849-klavierkonzert-in-f-moll-op-21

3. Fryderyk Chopin (1810 -1848), Klavierkonzert in f-Moll. Larghetto.

https://soundcloud.com/radiodienst-polska/larghetto-fryderyk-chopin-1810

4. Fryderyk Chopin (1810 -1848), Klavierkonzert in f-Moll. Allegro vivace.

https://soundcloud.com/radiodienst-polska/allegro-vivace-fryderyk-chopin-1810-1849-klavierkonzert-in-f-moll-op-21




Umbau in der Tusk-Pyramide

Weltkriegsmuseum in Gdańsk. Wo der deutsche Schuh drückt.

Ein markanter, schräg stehender Turm aus Glas und rotem Beton erhebt sich über den bereits fertiggestellten unterirdischen Ausstellungssälen, die 37.000 Exponate beherbergen sollen. Die größten von ihnen – darunter zwei Panzer – wurden schon während der Bauphase mit Kränen ins Gebäude gehievt. Das Museum des Zweiten Weltkrieges in Gdańsk sollte bereits seit 2014 über den Krieg auf eine neue, „europäische“, „universelle“, „ganzheitliche“, „globale“ Weise erzählen: aus der Sicht der Zivilbevӧlkerung aus aller Welt, unter anderem auch der Polen. Doch die Bauarbeiten befinden sich inzwischen gut zwei Jahre im Verzug. Die Kosten auf dem unbedacht ausgewählten sumpfigen Baugelände explodieren, und das ursprüngliche Ausstellungskonzept wird in Frage gestellt, sehr zum Leidwesen deutscher Medien.

Muzeum IIWS projekt fot.

Muzeum IIWS budowa fot.
„Tusk-Pyramide“. Museum des Zweiten Weltkrieges in Gdańsk. Entwurf und Baustelle.

Das Vorhaben wurde 2008 durch den damaligen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk angeregt und veranlasst. Es sollte „sein“ Museum werden, „seine“ Antwort auf das Museum des Warschauer Aufstandes von 1944, dessen Urheber 2004 der damalige Oberbürgermeister von Warschau und spätere Staatspräsident Polens (2005-2010) Lech Kaczyński war.

MIIWS Muzeum PW foto.
„Kaczyński-Museum“ des Warschauer Aufstandes von 1944 in Warschau.

Tusk, 2005 fest davon überzeugt, den Wahlsieg in der Tasche zu haben, konnte Lech Kaczyński die Niederlage, die er damals bei den Präsidentschaftswahlen davontrug nie verzeihen, empfand sie als tief demütigend. Alle die Tusk damals näher kannten, berichten einmütig: der Mann war ab dann geradezu besessen von dem Gedanken politische Rache zu nehmen. Lech Kaczyński kam bei der Flugzeugkatastrophe von Smolensk im April 2010 ums Leben.

„Polentum das ist Abnormität“

Das Warschauer Museum des Aufstandes wird bis heute von Besuchern umlagert, ist zu einer wichtigen nationalen Institution geworden. Es stellt nicht nur aus, es prägt durch seine vielfältigen Aktivitäten in erheblichem Maβ das Geschichtsbewusstsein, beflügelt die Fantasie der jungen Generation. Kaum eine Klassenfahrt nach Warschau ohne einen Besuch in diesem Museum, und das ohne jeglichen Zwang.

Muzeum IIWS Tusk fot.
Ministerpräsident Donald Tusk legt am 1. September 2012 den Grundstein für „sein“ Museum.

Im Wettlauf mit seinen politischen Erzfeinden, Lech Kaczyński und seinem Bruder Jarosław, wollte Donald Tusk gleichsam auf musealem Gebiet in nichts zurückstehen, auch wenn er an einem ganz anderen Ausgangspunkt ansetzte.

MIIWS Muzeum MP Kaczyński
Lech Kaczyński (damals Oberbürgermeister von Warschau) dekoriert am 1. August 2004 Vetereanen des Warschauer Aufstandes bei der Eröffnung „seines“ Museums.

Tusk war und ist jeglicher polnischer Patriotismus tiefst zuwider. Man sah es ihm fӧrmlich an, wieviel Überwindung es ihn als Regierungschef kostete, an offiziellen Feierlichkeiten mit Nationalhymne, Fahnenhissen und Kranzniederlegungen teilnehmen zu müssen. Sein Credo hat der studierte Historiker bereits 1987 in seinem Essay „Der gebrochene Pole“ in der Zeitschrift „Znak“ dargelegt:

„Leere, nur irgendwo in der Ferne wälzen sich Husaren und Ulanen, Aufständische und Marschälle vorbei, zeichnen sich die Steppenlandschaften der Ukraine und der Helle Berg von Tschenstochau ab, historische Aufträge, polnische Aufstände, die nach Monaten in denen sie ausgebrochen sind benannt wurden (…). Was bleibt vom Polentum übrig wenn man ihm dieses ganze hehre, düstere, lächerliche Theater unerfüllter und unbegründeter Träumereien wegnimmt? Das Polentum verdummt uns, macht uns blind, führt uns ins Reich der Mythen. (…). Es ist selbst ein Mythos. Ja, das Polentum assoziiert man mit Niederlage, mit Pech, mit Gewitterstürmen. Es kann ja auch nicht anders sein. Polentum das ist Abnormität.“

„Europäertum als Normalität“

Tusk hat sich von diesen Worten nie distanziert. Gegen „Polentum als Abnormität“ hilft bekanntlich nur Europa. Stets auf der Flucht vor der Bürde des Nationalen, traf und trifft Tusk auf viele Deutsche, die sich auch auf der Flucht vor ihrer Geschichte befinden. Er ist ihr Lieblingspole. Frau Merkel war schon bei der ersten Begegnung hingerissen.

BELGIUM-FINANCE-ECONOMY-PUBLIC-DEBT-EU-GREECE-SUMMIT
Gegen „Polentum als Abnormität“ (Tusk) hilft nur die Flucht nach Europa.

Europa als Lӧsung aller Probleme? Die Polen haben daran eine Zeitlang geglaubt. Tusk war ihr Mann. Die Ernüchterung, die mit der Euro- und Emigrantenkrise kam, hat das geändert. Tusk ist sich treu geblieben und wurde von Frau Merkel mit einem EU-Spitzenjob bedacht.

Danzig, Westerplatte, Wald
„Klein Verdun“. Deutsche Truppen dringen vor auf die Westerplatte unmittelbar nach der Kapitulation der polnischen Verteidiger am 7. September 1939.

Keine Erinnerung an den tapferen Widerstand

Ursprünglich war in Gdańsk ein Museum der Verteidigung der Westerplatte 1939 geplant, gewidmet der polnischen Thermopylen-Schlacht. Sie gilt bis heute als Inbegriff des nationalen Selbstbehauptungswillens, umschrieben in den schwermütigen Strophen des Dichters Konstanty Ildefons Gałczyński:

„Als die Zeit gekommen war,
und sommers man zu sterben hatte,
schritten himmelwärts Paar um Paar
die Soldaten der Westerplatte.
Und wie schön war der Sommer in jenem Jahr.“

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Verteidigung der Westerplatte. Briefmarken der Polnischen Post von 1945…

Das Museum der Westerplatte sollte, kaum jemand erinnert sich heute noch daran, die Antwort auf Erika Steinbachs Berliner Vertriebenenzentrum sein, und die Bundesrepublik wollte sich sogar an den Baukosten beteiligen.

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… und 1989.

Donald Tusk, der strahlende Wahlsieger vom Herbst 2008, hat das ganz in seinem Sinne geändert. Als erstes wurde der geplante Bau des 2006 ins Leben gerufenen Museums der Polnischen Geschichte in Warschau auf Eis gelegt. Als zweites wich die Erinnerung an den tapferen  polnischen Widerstand in Form des Museums der Westerplatte, nun einer „europäischen Sichtweise“ des Zweiten Weltkrieges. Untergebracht in einem kolossalen, modernen Bau, der Danziger „Tusk-Pyramide“, wie manche spotteten, die das Warschauer „Kaczynski-Museum“ überragen sollte. Tusks „Europäertum als Normalität“ versus „Polentum als Abnormität“.

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Denkmal auf der Westerplatte. Ein in den Boden gerammtes Seitengewehr signalisiert Friedens- und zugleich Verteidigungsbereitschaft. Briefmarke der Polnischen Post von 1964.

Nach der Niederlage der Tusk-Partei Bürgerplattform bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen von 2015, stellt die neue Regierung dieses Konzept nun in Frage (siehe nachstehend das Interviev mit Kulturminister Prof. Piotr Gliński). Ein Sturm der Entrüstung seitens der Befürworter des Europäertums ist die Antwort.

Der Publizist Piotr Semka, einer der drei Gutachter, den die neue Regierung um Einschätzung des bisherigen Ausstellungskonzeptes bat, beschreibt sehr präzise die Bedenken im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 25. Juli 2016:

„Die Polen haben 1939-1945 an einem gerechten Krieg teilgenommen. Mutig widersetzten sie sich der deutschen und der sowjetischen Aggression. Sie haben allen Grund stolz darauf zu sein.

Derweil kann man sich nur schwerlich dem Eindruck entziehen, dass die historische Herangehensweise, die im geplanten Museum des Zweiten Weltkrieges bevorzugt wird, teilweise bundesdeutsche Vorbilder nachahmt. Es liegt auf der Hand, dass die Deutschen im Falle des Zweiten Weltkrieges ihre Militärgeschichte nicht hervorheben können. Das wiederum verleitet zu der Feststellung: lasst uns die Militärgeschichte beiseitelegen, das ist nichts Gutes, und uns der Zivilbevӧlkerung   widmen, also auch den Bomben- bzw. »Vertreibungsopfern«

Diese Methode“, so Semka weiter, „war gut erkennbar bei der öffentlichen Vorabpräsentation des Museumskonzeptes im Rahmen einer Ausstellung auf dem Langen Markt in Gdańsk 2009. Dort bündelte man die Fotos des zerstörten Warschau mit denen bombardierter deutscher Städte kurzerhand zu einer Antikriegsbotschaft. Im Ausstellungskatalog des Museums, im Abschnitt „Leben unter Bomben“, finden sich auf einem Foto Menschen, die in London in der U-Bahn  Schutz vor Bomben suchen, und auf dem Bild nebenan sieht man einen deutschen Wegweiser zum Luftschutzbunker. Bei vielen Polen stöβt eine solche Gleichsetzung auf Widerspruch.“

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Publizist Piotr Semka.

Semka weist auch auf ein weiteres Problem hin. „Die Botschaft, die das Museum vermitteln soll, lautet: »Lasst uns die Geschichte Europas erzählen und mit einem positiven Schlusseffekt versehen in Gestalt der Europäischen Union als einer Garantin des dauerhaften Friedens in Europa.«

Eine solche Ausstellung“, so Semka, „hätte durchaus Sinn in dem geplanten Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel. (…) Macht es aber einen Sinn enorme Summen polnischer Steuergelder in ein solches universelles Vorhaben zu stecken, während die Welt keine Ahnung hat von den komplizierten Vorgängen in Polen während des letzten Krieges?“

Deutsche Medien: in Polen an vorderster Front

Wie in vielen anderen innerpolnischen Angelegenheiten, so stehen auch im Feldzug  um das ursprüngliche Museums-Konzept deutsche Medien und ihre Interviewpartner geschlossen an vorderster Front.

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Historiker Bogdan Musiał.

„Es ist geradezu frappierend zu beobachten, wie groẞ in Deutschland das mediale Interesse an der Auseinandersetzung  um das Museum des Zweiten Weltkrieges in Gdańsk ist und überhaupt an den historischen Debatten in Polen. Deutsche Medien kümmern sich ansonsten herzlich wenig um die franzӧsische oder britische Geschichtspolitik, geschweige denn um die ӧsterreichische, belgische oder dänische“, schreibt der Historiker Bogdan Musial im Wochenmagazin „wSieci“ („imNetzwerk“) vom 25. Juli 2016.

Im Falle Polens jedoch, gehen die deutschen Medien von sich aus und mit den Stimmen der polnischen Kritiker auf ihrer Seite, hart ins Gericht mit den Bedenken und Änderungswünschen der im Herbst 2015 neu gewählten Entscheidungsträger. Sie treten stets wohlwissend darüber auf, wie die Polen, „als Täter“, den Zweiten Weltkrieg in ihrem Museum darzustellen haben. Beispiele sind Legion.

„Museumsstreit. Polnische Regierung schürt antideutsche Stimmung“ (Deutschlandfunk, 17. Juni 2016)

„Polen als Kollaborateure, als Täter, polnische Gewalttaten an anderen Nationen – all dies wollen die Nationalisten nicht thematisieren“.

„Danzig. Polen will Kriegsgeschichte umschreiben” (Rheinische Post, 13. Mai 2016)

„In dieses Konzept, das einer Geschichtswaschmaschine ähnelt, in der alle möglichen Flecken auf der eigenen historischen Weste möglichst entfernt werden. (…) Im Zentrum der Debatte steht dabei die Frage der „nationalen Unschuld Polens im Weltkrieg“ (…) Blutgetränkte Hemden werden (…) in Polen derzeit gewaschen. Die Regierung greift zum Fleckenentferner “.

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Polenbild vor Augen.

„Abschied von Europa“ (Süddeutsche Zeitung“, 18.Mai 2016)

„Das erinnert an Museen in Russland und Weißrussland, die der nationalen Ertüchtigung dienen sollen, indem sie Mythen in Szene setzen.“

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Deutsche Nachrichten und Berichte aus „Hitler-Polen“.

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„Strahlendes Heldentum statt europäischen Kontextes“ (FAZ, 23. Mai 2016)

„Einer in europäischen Bezügen verhafteten Schilderung des Zweiten Weltkriegs aus polnischer Perspektive, zieht man in nationaler Selbstgenügsamkeit eine Interpretation vor, die sich auf Heldentum beschränkt, dafür aber auch ohne „dunkle Flecke“ auskommt.“

„Abschied vom Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig?“ (WDR 5, Scala, 20. Mai 2016)

„Der polnische Kulturminister hat verlautbaren lassen, er wolle kein Museum des Zweiten Weltkrieges sondern lieber ein Museum der Verteidigung Polens vor den Deutschen 1939 haben. Mein Kollege Martin Sander ist aus Berlin zugeschaltet. Herr Sander, wie ernst ist denn diese Verlautbarung zu nehmen?“

„Ja, doch schon sehr ernst, Frau Dichter.“

Drückt also hier der deutsche Schuh? „Kollaborateure“, „Täter“, „polnische Gewalttaten“ „blutgetränkte Hemden“, „dunkle Flecke“ und die Lage ist „schon sehr ernst, Frau Dichter“, denn die Polen wollen tatsächlich so etwas Unglaubliches tun, wie ihrer Verteidigung vor den Deutschen 1939 gedenken… Dementsprechend sieht auch der deutsche Wunschentwurf von einem polnischen, „europäischen“ Museum des Zweiten Weltkrieges aus.

Komplizen dringend gesucht

Für Hunderttausende von Polen, die Juden halfen, die im Widerstand waren oder die „nur“ die gnadenlosen deutschen Bestimmungen umgingen („Schwarzhandel“), um nicht zu verhungern, waren Kollaboration, Denunziantentum  bedauerliche, traurige und zugleich lebensgefährliche Erscheinungen. Doch unter den schrecklichen Bedingungen der deutschen Besatzung Polens blieb sie eine Nebenerscheinung.

Als solche wird sie in Polen thematisiert, dargestellt, erforscht. Wer es nicht glaubt, solte sich zumindest einmal polnische Spielfilme ansehen, die die Besatzungszeit und Widerstand zum Thema haben. Seit dem ersten Film, dem 1946 gedrehten „Zakazane piosenki“ („Verbotene Lieder“), gibt es kaum einen, in dem nicht irgendwo die Gestalt des Denunzianten auftaucht, vor dem man sich in Acht nehmen muss, den es zu beseitigen gilt.

Nicht erst seit heute versuchen nicht gerade wenige deutsche Medienleute, Wissenschaftler, manchmal auch Politiker die Polen zu überreden, mitunter geradezu auch zu zwingen, aus der Nebenerscheinung Kollaboration den Dreh- und Angelpunkt der Darstellung  der Besatzungszeit in Polen zu machen. Die fieberhafte Suche nach Komplizen, der Versuch auf diese Weise der schrecklichen deutschen Einsamkeit zu entkommen, in Anbetracht der Ungeheuerlichkeiten die die Vorfahren angerichtet haben, ist nachvollziehbar,  doch akzeptieren kann man ihn nicht.

Zwar hat das von der neuen polnischen Regierung beanstandete Museumskonzept der Ausstellung in Gdańsk mit den o. e. Wunschvorstellungen deutscher Redakteure nicht viel zu tun, doch bezeichnend ist, was sie vor allem in diese Ausstellung hineininterpretieren.

Der Eindruck mag täuschen, doch er drängt sich auf. Oft haben sich dieselben Autoren vehement gegen die Relativierung der Geschichte ausgesprochen, als etwa Erika Steinbach ihr Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin nach dem Motto einrichten wollte; „Wir Deutsche haben vertrieben, dann haben die Polen vertrieben. So ist es eben mit den Vertreibungen.“

Schwebt vielleicht nun denselben Leuten  ein „europäisches“ Museum des Zweiten Weltkrieges vor nach dem Motto: „Wir Deutsche haben Juden umgebracht, die Polen haben Juden umgebracht. So ist es eben mit dem Judenumbringen, einem im Grunde »europäischen Projekt«“?

Jedenfalls kӧnnen  deutsche Rechte anscheinend ebenso wenig wie deutsche Linke ohne „die Polen als Täter“ auskommen.

Und so entpuppt sich „die »europäische Perspektive« als eine, in den blauen Sternebanner eingewickelte, deutsche Keule“, so einer der Internetkommentare zum Thema. „Die Deutschen rücken gerne zusammen, wenn es darum geht anderen auf ihrer Anklagebank Platz zu machen“, so ein anderer.

Was will die neue Regierung vom MZW?

Nachfolgend dokumentieren wir ein Gespräch zum dem Thema mit dem polnischen Kulturminister Prof. Piotr Gliński (Jg. 1954). Er ist von Ausbildung und Beruf Soziologe, Hochschullehrer und war zwischen 2005 und 2011 Präsident der renommierten Vereinigung Polnischer Soziologen (PTS).

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Kulturminister Piotr Gliński.

Wann wird das Museum des Zweiten Weltkrieges (weiter MZW – Anm. RdP) in Gdańsk eröffnet?

Ich hoffe zu dem Zeitpunkt, zu dem es die Leitung der Einrichtung angekündigt hat, also zur Jahreswende 2016/ 2017. Ich möchte auch gleich die Öffentlichkeit beruhigen: niemand möchte dieses Museum abschaffen.

Wird die Entlassung des Museumsdirektors, Prof. Machcewicz die Eröffnung nicht verzögern?

Es sind noch keine Entscheidungen gefallen. Zurzeit beabsichtigen wir zwei Einrichtungen zusammenzuführen: das MZW mit dem Museum der Westerplatte und des Verteidigungskrieges von 1939. Es gibt keinen Grund, weshalb zwei so themenverwandte Museen getrennt voneinander in einer Stadt wirken sollten. Es lohnt sich sie zu vereinigen, umso mehr als die Einrichtung, der Prof. Machcewicz vorsteht ursprünglich Museum der Westerplatte hieβ. Erst drei Monate nach seiner Gründung wurde es in MZW umbenannt.

Durch die Zusammenlegung von zwei Einrichtungen wird eine neue entstehen, die dann einen neuen Direktor bekommt, und Prof. Machcewicz wird abberufen. Was missfällt Ihnen so an der Ausstellung, die seine Mitarbeiter vorbereitet haben?

Ich will hier nicht als Rezensent der Ausstellung auftreten. Um das uns im Januar 2016 vorgelegte Konzept zu beurteilen, habe ich drei Sachverständige berufen. Alle drei Gutachten waren verhalten kritisch. Ich möchte aber das Problem nicht allein auf die Position und Person des Direktors beschränken. Ich sage noch einmal: obwohl wir im europäischen Vergleich zu wenige Museen haben, können wir es uns nicht leisten in einer Stadt zwei getrennte und zugleich dermaβen themenverwandte Einrichtungen zu unterhalten.

Die Gutachten fielen negativ aus, doch Prof. Machcewicz wird seinen Posten allein aus wirtschaftlichen Gründen verlieren?

Die Gutachten berühren ein viel weiträumiger abgestecktes Feld. Wir sehen die Notwendigkeit Donald Tusks Geschichtspolitik zu korrigieren. In der Debatte um das MZW wird dieser Name kaum erwähnt. Doch Donald Tusk ist Urheber dieses Museums. Der jetzige MZW-Direktor Paweł Machcewicz war sechs Jahre lang offizieller Bevollmächtigter des Ministerpräsidenten für dieses Museum und setzte die Geschichtspolitik der vorherigen Regierungsmannschaft um. Doch Regierungen wechseln und mit ihnen wechseln manchmal die Konzepte, das sollte Prof. Machcewicz eigentlich wissen.

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Tusk-Adlatus und MZW-Direktor Paweł Machcewicz (links)

Was gefällt Ihnen nicht an der Geschichtspolitik der vorherigen Regierung?

Das MZW wurde 2008 ins Leben gerufen, mitten in der weltweiten Wirtschaftskrise, als für nichts Geld im Staatshaushalt vorhanden war. Tusk und seine Leute kamen immer wieder mit der Ausrede, wegen der Krise können sie ihre Wahlversprechen nicht einlösen, und plötzlich, gründen sie, in dieser Krise, das MZW? Drei Jahre später, die Krise dauerte an, bewilligten sie 360 Mio. Zloty (ca. 85 Mio. Euro – Anm. RdP) für den Bau, und schoben im letzten Jahr weitere 90 Mio. Zloty (ca. 21 Mio. Euro – Anm. RdP) nach. Zusammen mit den laufenden Kosten ergibt das eine halbe Milliarde Zloty (ca. 118 Mio. Euro – Anm. RdP)!

Sind Sie nicht der Meinung, dass das MZW ein dringendes Vorhaben ist, höchst notwendig aus Sicht der polnischen Staatsräson?

Damals sollte eigentlich, vor allem, das Museums der Polnischen Geschichte in Warschau gebaut werden, das zudem zwei Jahre früher als das MWZ ins Leben gerufen worden war. Wieso hat die vorige Regierung an einem ganz neuen Museum gebaut, während das der Polnischen Geschichte keinen Sitz hatte und bis heute obdachlos ist? Es wurde ein neues Vorhaben in Gdańsk in Angriff genommen, während es in Warschau, so könnte man durchaus meinen, ein vorrangiges Projekt gab. Es wurde ein Museum blockiert, das eine Sichtweise der Geschichte Polens vermitteln sollte, die zur Integration unserer politischen und nationalen Gemeinschaft beitragen könnte.

Welche Korrekturen sind im MZW zu erwarten?

Es geht um die Schwerpunksetzung. Wenn wir uns schon mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen, dann sollte das, symbolisch umschrieben, eher die Sichtweise sein, die von der Westerplatte ausgeht. Eine Sichtweise in der die polnische Anstrengung, die polnische Leistung und die polnischen Opfer zur Geltung kommen, und nicht eine Sichtweise, die als universell, ganzheitlich bezeichnet wird.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Solche ganzheitlichen Museen sind ebenfalls notwendig. Mehr noch, ich finde den Entwurf des Teams von Prof. Machcewicz interessant.

Doch ich bin zugleich der Meinung, dass wir eine halbe Milliarde Zloty polnischer Steuergelder in erster Linie für andere, eindeutig wichtigere Ziele verwenden sollten. In diesem Fall für ein gutes und notwendiges Museum, das unsere Geschichte erzählt.

Warum war gerade der Zweite Weltkrieg für die Vorgängerregierung die wichtigste Herausforderung der Geschichtspolitik?

Ich habe diese Frage oft genug öffentlich gestellt. Sie war und ist an Donald Tusk gerichtet. Ich habe bisher keine Antwort bekommen. Es gab Andeutungen, dass es eine Antwort auf das Zentrum gegen Vertreibungen von Erika Steinbach sei. Doch, ich darf erinnern, es sollte ursprünglich ein Westerplatte-Museum sein. Es fällt mir zudem schwer zu glauben, dass die Erwiderung auf Frau Steinbachs Einrichtung eine verallgemeinernde, ganzheitliche Schilderung des Zweiten Weltkrieges sein kann, die zudem eine halbe Milliarde Zloty kostet.

Prof. Machcewicz fasst Ihre Vorwürfe so zusammen: das MZW setze die deutsche, nicht die polnische Geschichtspolitik um.

Ich habe einen solchen Vorwurf nie erhoben. Ich umschreibe sein Konzept als universell, verallgemeinernd. Wenn man den Zweiten Weltkrieg so darstellt, dass er furchtbar gewesen sei, dass alle für ihn die Verantwortung tragen, weil jede Seite irgendwo Dreck am Stecken habe, dann ist auch eine solche Beleuchtung beachtenswert. Doch zweifelsohne kann sie eine Relativierung der Verbrechen und eine Verharmlosung der Opfer nach sich ziehen, was den einen mehr, den anderen weniger zupass kommt.

Mir ist es lieber zu zeigen, dass man sogar unter den schrecklichsten Bedingungen sehr tapfere Entscheidungen treffen kann. Diese Entscheidungen darf und sollte man beurteilen. Dank einer solchen Herangehensweise bilden sich das Wertesystem und die Identität der nationalen Gemeinschaft heraus. Eine Gemeinschaft, die so etwas durchdacht und bewertet hat ist reifer, funktioniert besser und ist besser integriert, als eine Gemeinschaft die an all dem leidenschaftslos vorbeigeht. Deswegen sind einige Museen, Denkmäler, Kunstwerke notwendig, um unsere ganz und gar auβergewöhnlichen und spezifischen Erfahrungen in diesem Krieg zu verdeutlichen.

Es geht darum, dass in einer „universellen“, „europäischen“, „globalen“ Betrachtung diese unsere polnische Spezifik nicht untergehen darf. Es ist die Pflicht des polnischen Staates diese Besonderheit der polnischen Erfahrung der Auβenwelt zu vermitteln.

Wohin wollen Sie also die Schwerpunkte in der Geschichtspolitik verschieben?

Wir müssen eine Wahl treffen hinsichtlich der Werte. Es gibt Staaten, für die die Geschichte wichtig ist, weil sie sie noch nicht verarbeitet haben, weil sich ihre Identität immer noch formt. Es gibt aber auch solche die man als posthistorisch bezeichnen kann. Und es gibt Staaten die sich lieber posthistorisch geben, weil die Geschichte für sie eine zu schwere Bürde ist.

War die Geschichtspolitik der Vorgängerregierung posthistorisch?

In groβem Maβe, ja. Deswegen unterscheiden wir uns so sehr von unseren Vorgängern. Wir sind der Meinung, dass wir uns den Posthistorismus nicht leisten können. Für uns ist die universelle Sichtweise auf die Geschichte weniger wichtig. Wir wollen nicht, dass man die Geschichte verallgemeinert, relativiert und im Endeffekt banalisiert.

Die Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens. Sie zeigt die Entscheidungen auf, die getroffen wurden und ihre Folgen. Wir wollen darlegen, dass man das Gute vom Bösen klar unterscheiden kann, und nicht, dass es in der Geschichte nur unterschiedliche Grautöne gibt.

Für mein politisches Milieu hat die Unterscheidung zwischen Gut und Böse eine Schlüsselbedeutung. Das ist nicht immer einfach. Es gibt eine Ethik der Überzeugungen und eine Ethik der Verantwortung. Wir stellen den Heroismus der Polen, die für höhere Ideen gekämpft haben nicht auf eine Ebene mit den Fähigkeiten, derer es bedurfte um den Krieg lediglich zu überleben.

Prof. Machcewicz verteidigt sich, in dem er sagt, dass man unsere Auβergewöhnlichkeit nur zeigen kann, wenn man sie dem gegenüberstellt, wie Krieg und Widerstand in anderen Ländern ausgesehen haben.

In einem polnischen Museum des Zweiten Weltkrieges sollten wir unsere Spezifik zeigen, so wie die Briten, Israelis oder Belgier das in ihren Museen tun. Gewiss, diese Besonderheit sollte man vor dem Hintergrund der Erfahrungen anderer Völker veranschaulichen, dabei jedoch an die Proportionen denken. Daran z. B., dass der Warschauer Aufstand, der 63 Tage lang dauerte seinesgleichen sucht. Die Aufstände in Paris und Prag waren dagegen nur kurze Kriegsepisoden.

Der ausländische Besucher wird alle diese Aufstände vor Augen haben: die Zahl der Opfer, wieviel Tage sie gedauert haben, die deutschen Verbrechen in ihrem Verlauf usw. Er kann daraus seine Schlüsse ziehen.

Die Welt kennt unsere Geschichte und ihre Besonderheiten nicht. Sie weiβ nicht, dass nur im besetzten Polen auf die Hilfe für, und das Verstecken von Juden die Todesstrafe stand, und zwar für die ganze Familie, Kinder wurden dabei nicht ausgenommen. Sie weiβ nichts über die Wohlynien-Massaker, über Piaśnica/Piaschnitz, die Westerplatte u. v. m. Das wollen wir erklären und zeigen.

Ja, es sollte einen Vergleich geben, doch die polnische Erfahrung muss in einem polnischen Museum vor diesem Hintergrund hervorgehoben werden. Wenn sie mit diesem Hintergrund verschmilzt, dann geht etwas sehr wichtiges verloren in Bezug auf unsere Identität und ebenso wird die Chance vertan, anderen etwas über uns zu vermitteln.

In wieweit sollen Museen, mit deren Hilfe wir die polnische Geschichtspolitik verwirklichen wollen, uns, die Polen, ansprechen, und in wieweit sollen sie in ihrer Darstellungsweise in die europäische- und Weltgeschichte eintauchen, damit unsere Sichtweise der Dinge auch im Westen zur Geltung kommt.

Das ist, aus meiner Sicht, eine falsche Alternative. Die Ausstellungen müssen sich in gleicher Weise an Polen und an alle anderen Besucher wenden. Soweit ich es verstanden habe, fragen Sie danach, weil behauptet wird, dass eine universalistische Ausstellung für Ausländer, für z. B. Deutsche, die oft nach Gdańsk kommen, verständlicher sein wird.

Wir müssen unseren Standpunkt vertreten und uns nicht in den Posthistorismus einreihen, nur weil er in den westlichen Ländern vorherrscht. Wir dürfen aus diesem Grund nicht kapitulieren und z. B. nicht an die Konferenz von Jalta erinnern, die im Westen kaum jemand erwähnt und wo folglich kaum jemand um sie weiβ. Ohne die eigene Geschichte zu überdenken, können wir unsere Zukunft nicht bauen.

Ich unterstreiche noch einmal: ich möchte die jetzige Ausstellung weder abbauen noch vernichten. Das Team von Prof. Machcewicz hatte viele gute Ideen. Doch ich erinnere mich auch daran, dass das erste, 2008 vorgestellte Konzept zugleich äußerst ideologisch und vom polnischen Standpunkt aus gesehen sehr farblos war. Ich vertraue darauf, dass aufgrund von Nachbesserungen die Ausstellung uns hilft unsere Geschichte besser darzustellen.

Sollen wir das ganze Martyrium zeigen, wie schrecklich unsere Geschichte gewesen ist, wie wir vom bösen Westen betrogen wurden?

Ich rede nicht vom Martyrium, von der Leidensgeschichte des polnischen Volkes! Uns wird eingeredet, wir wollen nur das Leiden zeigen, Polen als Christus der Nationen, den Heldenmut usw., während wir von schwierigen Entscheidungen reden wollen, vor denen die Polen gestanden haben, vom Unterscheiden zwischen Gut und Böse, von der polnischen Spezifik. Das alles kann man in entsprechenden Proportionen verständlich machen. Wir nehmen eine Korrektur vor. Ohne das MZW aufzugeben vereinigen wir es mit dem Westerplatte-Museum, wollen die Ausstellung weiterentwickeln und verbessern. (…)

Bisher sieht es so aus, dass jede Regierungsmannschaft ihre eigene Geschichtspolitik fährt, Lehrbücher und Museen verändert. Vielleicht sollten wir gemeinsam die Prioritäten setzten?

Sie haben Recht, aber ihre Frage sollten Sie an die Vorgängerregierung und unsere politischen Konkurrenten richten. Warum gibt es bis heute in Warschau kein Museum der Polnischen Geschichte, kein Denkmal für Rittmeister Pilecki, keins für die Opfer der Smolensk-Katastrophe?

Was wollen Sie und ihre politische Umgebung tun, um gemeinsame Standards in der Geschichtspolitik zu erarbeiten?

Wir laden andere ein, sich unseren Standards anzuschlieβen. Allein anhand der Änderungen im Ausstellungskonzept des MZW sehe ich, dass diejenigen, die sich der Geschichtspolitik der Vorgängerregierung verschrieben haben, ihre Haltung ändern. Prof. Machcewicz sagt heute, dass man zu dem Ausstellungskonzept von 2008 nicht mehr zurückkehren sollte. Gut, dass er es verwirft. Die polnische Staatsräson erfordert, dass polnische Anliegen und Interessen deutlich und entschieden dargelegt werden, auch die polnische Vergangenheit.

Das alles soll jedoch geschehen, ohne den negativen Seiten der Geschichte auszuweichen. Nicht alle Polen haben sich immer vorbildlich verhalten und auch unsere Gemeinschaft war nicht immer nur heilig. Niemand kann und will das abstreiten. Dies jedoch zum Ausgangs- und Mittelpunkt der Betrachtung der polnischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg zu machen, wie es nicht erst seit heute z. B. in Deutschland immer wieder angemahnt wird, ist eine grobe Ungehörigkeit.

Das Gespräch, das wir, mit freundlicher Genehmigung, leicht gekürzt wiedergeben, erschien in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“ („Die Republik“) vom 6. August 2016.

RdP




Smolensk-Katastrophe. Zweifel, Fakten, Hintergründe. Dokumentation Teil 1

https://soundcloud.com/radiodienst-polska/smolensk-katastrophe-zwiefel-fakten-hintergrunde-dokumentation-teil-1

Auf dem Foto: Staatspräsident Lech Kaczynski und Ehefrau Maria besteigen das Flugzeug auf dem Weg zu einem Staatsbesuch im Ausland.
Die Smolensk-Katastrophe, der Absturz des Flugzeuges mit 96 Insassen an Board, darunter dem polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski, am 10. April 2010, wirft bis heute ihren düsteren Schatten auf die polnische Innenpolitik. Nach dem Staatspräsidenten- und Regierungswechsel in Polen im Jahr 2015 wurde die Aufklärung neu aufgenommen.
Worin liegt die Brisanz des Unglücks?
Wie waren seine politischen Umstände und Folgen?
Was nährt die Zweifel?
Die Dokumentation von RdP ist ein Versuch auf diese Fragen Antworten zu finden.




Smolensk-Katastrophe. Zweifel, Fakten, Hintergründe. Dokumentation Teil 2

https://soundcloud.com/radiodienst-polska/molensk-katastrophe-zwiefel-fakten-hintergrunde-dokumentation-teil-2

Auf dem Foto: eine der ersten Aufnahmen des russischen Fernsehens nach dem Flugzeunglück bei Smolensk.
Die Smolensk-Katastrophe, der Absturz des Flugzeuges mit 96 Insassen an Board, darunter dem polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski, am 10. April 2010, wirft bis heute ihren düsteren Schatten auf die polnische Innenpolitik. Nach dem Staatspräsidenten- und Regierungswechsel in Polen im Jahr 2015 wurde die Aufklärung neu aufgenommen.
Worin liegt die Brisanz des Unglücks?
Wie waren seine politischen Umstände und Folgen?
Was nährt die Zweifel?
Die Dokumentation von RdP ist ein Versuch auf diese Fragen Antworten zu finden.




Familie Ulma? Falscher Mythos. Schämt euch, ihr Polen!

Offenbar darf man nicht einfach so der polnischen Judenretter gedenken.

Am 17. März 2016 hat Staastpräsident Andrzej Duda das Museum der Polen, die während des Zweiten Weltkriegs Juden gerettet haben, in Markowa eröffnet. Es trägt den Namen der Familie Ulma und soll jene Polen würdigen, die während des Zweiten Weltkriegs, unter deutscher Besatzung  Juden zu retten versucht bzw. gerettet haben.

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Woiwodschaft Karpatenvorland.

Im Dorf Markowa (Karpatenvorland), haben deutsche Gendarmen am 24. März 1944 acht Juden aus den Familien Szall und Goldman ermordet. Mit ihnen wurde die gesamte Familie Ulma, bei der diese acht Menschen versteckt

Ulmowie 2 Markowa mapa

waren, umgebracht: Józef Ulma und seine hochschwangere Frau Wiktoria sowie die sechs Kinder der Familie, darunter auch die älteste, achtjährige Tochter Stasia.

Ausführlich  über das Schicksal der Familie Ulma hier.

Staatspräsident Duda erinnerte in seiner Rede daran, dass allein im Dorf Markowa, in dem vor dem Krieg 4.500 Polen und 120 Juden lebten, zwanzig Juden, dank ihrer polnischen Nachbarn, die deutsche Besatzung überleben konnten.

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Familie Ulma kurz vor ihrer Ermordung.

Duda sagte auch, dass „jeder, der Hass zwischen den Völkern säe, Antisemitismus verbreite, das Grab der Familie Ulma schände. Er schände alles, wofür die Ulmas als Polen ihr Leben gegeben haben: Würde, Redlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit und eine elementare Wertschätzung, die jedem Menschen gebührt.“

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Staatspräsident Andrzej Duda besichtigt das Museum in Markowa am Tag seiner Eröfnung, dem 17. März 2016.

Im Museum wurde auf einer Ausstellungsfläche von 500 Quadratmetern das Haus der Ulmas rekonstruiert. Zu sehen ist auch die von vielen Geschossen durchschlagene Haustür der Markower Familie Baranek, die ebenso wie die Familie Ulma gemeinsam mit den von ihr versteckten Juden ermordet wurde. Weitere Exponate und Schautafeln dokumentieren das dramatische Schicksal vieler polnischer Retter und derjenigen Juden, die sie vor dem Tod bewahren wollten.

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Das neue Museum in Markowa.

Bereits während der Bauphase erfreute sich das Museum eines regen Interesses. Allein 2015 kamen u. a. etwa fünftausend israelische Jugendliche um sich über das Vorhaben und das Ausstellungsthema zu informieren. Junge Israelis reisen seit knapp dreiβig Jahren im Rahmen eines Holocaust-Gedenkprogramms der israelischen Regierung nach Polen.
Im neuen Museum ist ein Tagungssaal mit Multimediaausstattung für Musemuspädagogik, Fimvorführungen und Tagungen vorgesehen. Zwei wissenschaftliche Mitarbeiter kümmern sich um die Ausstellung und das Archiv.

Chuzpe und Unsinn

Während die Errichtung eines Museums für den deutschen Oskar Schindler in Kraków im Jahre 2010 bis heute keinerlei negative Kommentare hervorrief, stieβ das Vorhaben, ein erstes Mal, 72 Jahre nach dem Krieg, sich derjenigen Polen zu erinnern und zu gedenken, die ebenfalls Juden gerettet haben, sowohl auf jüdischer als auch auf deutscher Seite sofort auf Kritik.

Ulmowie 2 Kadlcik Kaczyński fot.
Piotr Kadlčik (rechts) mit dem Oberrabiner Polens Michael Schudrich (Mitte) und Staastpräsident Lech Kaczyński am 21. Dezember 2008 in der Warschauer Synagoge am Beginn des Chanukkafestes. Im Dezember 2009 zeichnete Staastpräsident Kaczyński Kadlčik mit dem Komturskreuz des Ordens der Wiedegeburt Polens (Polonia Rastituta) aus, einer der höchsten  Auszeichnungen, die Polen zu vergeben hat.

Zu Wort meldete sich Piotr Kadlčik (Jahrgang 1962), zwischen 2001 und 2014 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Warschau und von 2003 bis 2014 zugleich Vorsitzender des Verbandes der jüdischen Gemeinden in Polen.

Kadlčik schrieb am 17. März 2016 im linken Internetportal „NaTemat“ („ZumThema“), er hoffe, dass sich in der Ausstellung in Markowa auch Platz findet für die Darstellung aller polnischen Helfer, Zuträger und Erpresser, die „wie die Deutschen dabei mitwirkten, dass die Gefahr von den Besatzern getötet zu werden, so eine hohe Wahrscheinlichkeit annehmen konnte“.

Ulmowie 2 Ziemkiewicz fot.
Publizist Rafał Ziemkiewicz.

Sehr entschlossen antwortete darauf der konservative Publizist und Kommentator Rafał A. Ziemkiewicz am 4. April 2016 im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“):

„Kadlčik … gedachte zwar in seinem Kommentar der Gerechten, denen auch seine Familie das Überleben verdankt, aber nur um … zu fordern, dass man im Museum zu Ehren dieser Gerechten, unbedingt auch an die Kollaborateure erinnern sollte.

Um sich die Chuzpe und den Unsinn dieser Worte zu vergegenwärtigen“, schreibt Ziemkiewicz, „sollte man sich vorstellen, dass jemand, vielleicht Piotr Kadlčik selbst, dem Washingtoner Holocaust-Museum vorschlägt, dort, neben der jüdischen Opfer, auch der jüdischen Kollaborateure zu gedenken. Solcher, wie sie Hannah Arend in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ ausführlich schildert.

Ulmowie 2 policja zydowska
Jüdische Polizisten im Warschauer Ghetto.

Gab es sie nicht? Es gab sie zuhauf. Soll sich doch in jeder Schoah-Gedenkstätte Platz finden für den Lodzer Ghetto-Chef Chaim Rumkowski.“ Für die verbrecherischen „Ghetto-Könige“ von Sosnowiec – Moses Meryn, von Białystok – Efraim Barsz, von Wilno – Jakub Gens, von Lwow – Józef Parmas.
Für die Warschauer Gestapo-Zuträger und tausendfache Judenmörder Abraham Gancweich, Dawid Sternfeld, Leon Skosowski und Dutzende ihresgleichen. Für den Krakauer Gestapo-Mitarbeiter und obersten jüdischen Judenjäger Józef Diamand. Für den Lubliner Judenerpresser Szama Grajer, der an der Spitze seiner Bande Hunderte eigener Landsleute zuerst ausgenommen und dann den Deutschen zur Ermordung ausgeliefert hat.

„Für die verbrecherischen Ghetto-Judenräte und Hunderte jüdischer Ghetto-Polizisten in deutschen Diensten, die ihre eigenen Landsleute erbarmungslos in die Todestransporte geprügelt haben“, schreibt Ziemkiewicz.

Und ewig rechtfertigt sich der Pole

Unmittelbar nach diesem rhetorischen Schlagabtausch in Polen meldete sich am 9. April 2016 die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zu Wort mit einem Beitrag des jüdischen Autors Joseph Croitrou. Demnach hatte auch bei der Errichtung des Museums in Markowa, wie könnte es anders sein, Jarosław Kaczyński, der anscheinend dämonenhafte Schöpfergott allen polnischen Übels, seine Finger mit im Spiel.

Croitrou unterstellt Staatspräsident Andrzej Duda, er sprach „in seiner emphatischen Eröffnungsrede von „Hunderttausenden Polen“ die Juden geholfen hätten“, was zur angeblichen Enstehung eines „falschen Mythos“ beitragen solle. In Wahrheit sprach Duda von „Tausenden“ (siehe nachfolgend den Text von Dudas Ansprache).

Auf Croitrous Text antwortete am 16. April 2016 in der „FAZ“ Dr. Łukasz Kamiński, Präsident des Instituts für Nationales Gedenken in Warschau (polnische Gauck-Behörde).

Diese Erwiderung war notwendig, doch zugleich fügt sie sich in ein Szenario ein, das viele deutsche Medien, Wissenschaftler, manchmal auch Politiker stets aufs Neue gerne beleben und auskosten. Man selbst habe ja längst alles penibel und vorbildlich aufgearbeitet, überwunden, aufgeklärt, betrauert, bedauert und entschädigt. Nun ist es an der Zeit, dass sich andere, und dabei ganz besonders die Polen, vor dem strengen, teilweise moralisch erhabenem deutschen Publikum, bitte sehr, in Sachen Holocaust rechtfertigen.

Auslöser hierfür können sein ein Film, wie die ZDF-Produktion „Unsere Mütter, unsere Väter“ oder einer jener Presseartikel, die zu diesem Thema immer wieder mal auftauchen.

Nachstehend dokumentieren wir:

den Text von Joseph Croitrou,

die Erwiderung von Dr. Łukasz Kamiński

und

die bewegende Ansprache von Staatspräsident Andrzej Duda.

War die heldenhafte Familie Ulma etwa typisch?
Von JOSEPH CROITORU

Ulmowie 2 Joseph Croitoru fot.In Polen ist in dem Dorf Markowa in der südöstlichen Woiwodschaft Karpatenvorland ein neues Museum eröffnet worden. Es hat den umständlichen Namen „Museum für die Polen, die während des Zweiten Weltkriegs Juden gerettet haben, benannt nach der Familie Ulma in Markowa“. Der Verwaltungsbezirk, den seit den Lokalwahlen von 2006 die heutige Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) mit großer Mehrheit dominiert, hatte bereits 2008 die Museumsgründung beschlossen. Ihr Wahlsieg im vergangenen Herbst ermöglichte es der PiS, das Projekt, dem sie höchste volkserzieherische Bedeutung beimisst, rasch zu verwirklichen, ganz im Sinne ihres Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski.

Die geschichtspolitische Mission seiner Partei hatte Kaczynski bereits in seiner Rede vor dem Sejm nach der Regierungserklärung im November vorgegeben. Er beklagte, sein Land sei einer Diffamierungskampagne ausgesetzt, auf die es antworten müsse: „Die Polen, die Nation, die sich als erste mit der Waffe in der Hand zum Kampf gegen Nazideutschland erhoben hat, wird heute im Grunde als Verbündeter Hitlers behandelt. Wir haben es mit einer Internalisierung der Verantwortung für den Holocaust mit besonderer Berücksichtigung der Polen zu tun. Dem müssen wir uns entschlossen entgegenstellen.“

Wahrheit oder Stilisierung?

Den polnischen Nationalkonservativen sind all jene, die sich um eine differenzierte Betrachtung der polnisch-jüdischen Beziehungen während des Holocausts bemühen – wobei die Polen häufig in einem nicht sehr positiven Licht erscheinen – ein Dorn im Auge.

Zu ihnen gehört der in Ottawa lebende polnische Historiker Jan Grabowski, dessen 2011 in Warschau erschienenes, zwei Jahre später ins Englische übersetzte Buch „Judenjagd“ (Hunt for the Jews) in Polen eine heftige Debatte über den Umgang von Polen mit Juden unter der deutschen Besatzung entfachte. Der Verfasser erhielt Beschimpfungen und sogar Morddrohungen.

Grabowski dokumentierte nicht nur zahlreiche Fälle von Denunziationen, er räumte auch mit dem Mythos auf, den die PiS mit dem Museum in Markowa etablieren will: Viele Polen hätten aus Mitmenschlichkeit und unter Lebensgefahr Tausende von Juden versteckt.

Grabowski, Mitbegründer des Warschauer „Zentrums für die Forschung der Judenvernichtung“ an der polnischen Akademie der Wissenschaften, wies nach, dass man Juden nicht immer nur aus Menschenliebe half, sondern sich dafür auch oft gut bezahlen ließ. Grabowski hält dem polnischen „Institut für Nationales Gedenken“ (IPN) vor, es versuche, immer mehr Polen ausfindig zu machen, die Juden gerettet hätten, um die polnische Opferrolle zu zementieren. Diese Sichtweise könnte sich auch bei der Gestaltung des Ulma-Museums in Markowa durchsetzen, warnte der Historiker.

„Gerechte unter den Völkern“

In seinem Buch weist er auf die Forschungen des IPN-Historikers Mateusz Szpytma hin, der in Markowa Museumsdirektor wurde. Szpytka hatte in zwei Studien, die 2004 auf Polnisch und 2009 auf Englisch erschienen, die tragischen Ereignisse im Ort zu rekonstruieren versucht.

Nachdem die meisten jüdischen Bewohner nicht nur des Dorfes, sondern auch seiner Umgebung von den deutschen Besatzern erschossen worden waren, suchten einige Überlebende auf dem Hof des polnischen Landwirts Józef Ulma in Markowa Zuflucht. Der Pole versteckte sie, was er und seine schwangere Frau wie auch die sechs Kinder am Ende mit dem Leben bezahlten: Nachdem deutsche Gestapo-Angehörige und polnische Polizisten die acht versteckten Juden am 24. März 1944 entdeckt und auf der Stelle getötet hatten, erschossen sie auch ihre polnischen Beschützer.

Grabowski kritisierte, Szpytma habe die Frage offengelassen, wer die Ulmas denunzierte, obwohl er den an der Razzia beteiligten polnischen Polizisten Wlodzimierz Les verdächtigte. Die jüdische Familie Szall, die zu den Opfern gehörte, hatte Les zuvor ihren Besitz anvertraut. Dass dieser ihn hätte zurückgegeben müssen, könnte ein Motiv für eine Denunziation gewesen sein. Der Polizist Les wurde später von polnischen Widerstandskämpfern getötet. Die Familie Ulma wurde 1995 von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt – diesen Titel erhielten bislang 6620 Polen. 2014 bekam Jan Grabowski von der Jerusalemer Gedenkstätte einen Preis für seine Studie „Judenjagd“.

1600 Polen halfen beim Verstecken

Die Eröffnung des Museums in Markowa ist für die Initiatoren nur ein erster Schritt zu einer umfassenden Dokumentation der Schicksale all jener Polen, die Juden geholfen hatten. Die Schau in dem einer Scheune nachempfundenen Museumsbau konzentriert sich derzeit noch auf die Vorfälle in der Region. Fotos aus dem Besitz der Familie Ulma haben in der Ausstellung auch deshalb einen prominenten Platz, weil Józef Ulma Hobbyfotograf war und viele der von ihm gemachten Aufnahmen erhalten sind. Eine davon, die seine jüdischen Nachbarn zeigt, ist mit Blut der jüdischen Opfer befleckt.

Spuren der Gewalt weisen auch die von Einschüssen gezeichneten Türen auf, die aus dem Haus der fünfköpfigen Familie Baranek aus Siedliska stammen: Weil sie vier Juden aufgenommen hatten, wurden die Baraneks im März 1943 hingerichtet.

An der Mauer auf dem Platz vor dem Museum erinnern Schrifttafeln solcher polnischen Opfer. Die Liste der Namen soll ergänzt werden, Schätzungen zufolge waren es rund 1600 Polen, die allein in der Vorkarpaten-Region etwa 2900 Juden versteckt hatten. Zweihundert von ihnen bezahlten das mit ihrem Leben.

Zum Museum in Markowa gehört auch ein Konferenzraum, in dem Zeitzeugen zu Wort kommen, Filme gezeigt werden, Tagungen und Jugendtreffen stattfinden sollen. Man denkt besonders auch an israelische Schüler, die auf Klassenfahrten nach Polen in den letzten Jahren auch in Markowa Station machen, wo schon seit 2004 ein kleines Ehrenmal an das Schicksal der Familie Ulma erinnert.

Ambivalente Reaktion aus Israel

In Israel erzeugt die Museumseröffnung freilich auch Skepsis. Dass der polnische Präsident Duda in seiner emphatischen Eröffnungsrede von „Hunderttausenden Polen“ sprach, die Juden geholfen hätten, dürfte in Jerusalem den Verdacht erhärten, man wolle den tragischen – und in der Holocaust-Forschung keineswegs als typisch geltenden – Fall der Familie Ulma benutzen, um das Verhalten der Polen während des Holocausts zu beschönigen.

Dass Duda stolz darauf verwiesen hatte, die Polen bildeten die größte Gruppe unter den von Yad Vashem gewürdigten Nichtjuden, schien das zu bestätigen. Irena Steinfeldt, die Leiterin der Abteilung der „Gerechten unter den Völkern“ in Yad Vashem, erklärte gegenüber der israelischen Zeitung „Haaretz“, die Zahl der hilfsbereiten Polen sei zwar im Vergleich zu anderen Ländern am höchsten. Halte man sich jedoch die drei Millionen polnisch-jüdischen Opfer vor Augen, erscheine sie freilich eher niedrig.

„Die Zahl der polnischen ,Gerechten’“, sagt Steinfeldt, „sagt nichts über den Charakter des Volkes aus, sondern nur über den von Individuen.“ Sie kritisiert vehement Versuche, die Zahl der polnischen Helfer aufzublähen, schließlich handle es sich dabei um eine Minderheit. Von dieser auf die Allgemeinheit zu schließen, was man in Polen neuerdings manchmal tue, sei nicht nur empörend, sondern mindere auch die Heldenhaftigkeit der „Gerechten unter den Völkern“.

In Yad Vashem, wo jährlich fünfzig bis siebzig neue Namen von Polen hinzukämen, sehe man sich nach wie vor in der Pflicht, all diejenigen zu würdigen, die ihr Leben riskierten, um Juden zu helfen. „Aber Verallgemeinerungen lehnen wir entschieden ab“, betont Steinfeldt. Das ändert nichts daran, dass Yad Vashem auf der polnischsprachigen Seite seiner „Internationalen Schule für Holocaust-Studien“ den Fall der Familie Ulma als ein pädagogisch besonders geeignetes Beispiel dafür anführt, Jugendliche über die Schoa in Polen aufzuklären.

Steinfeldts Kritik ist den polnischen Medien nicht entgangen. Die katholische polnische Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny“ fragte jetzt Museumsdirektor Szpytma, ob das Hochschrauben der Zahl angeblicher polnischer Judenretter politische Zwecke verfolge. Szpytma blieb eine direkte Antwort schuldig. Niemand kenne die genauen Zahlen, sagte der Direktor, deshalb betrachte er es als seine Aufgabe, sie durch weitere Forschungen zu ermitteln. Manipulationen auf rechter wie auf linker Seite kämen vor; beide Lager versuchten, die Geschichte politisch zu instrumentalisieren. Doch das dürfe man nicht den Historikern anlasten.

Quelle: F.A.Z.

Finger weg von unseren Helden!
Von ŁUKASZ KAMIŃSKI
Ulmowie 2 Łukasz Kamiński fotVergangenen Monat nahm ich an der ergreifenden Eröffnungsfeier eines Museums in Markowa, in Südostpolen, teil. Es ist den Polen gewidmet, die während der deutschen Okkupation Juden gerettet haben, und nach der Familie Ulma benannt, die zusammen mit den von ihr versteckten Juden im März 1944 von deutschen Polizisten ermordet wurde.

Über dieses Ereignis wurde in vielen Medien berichtet, Vertreter höchster staatlicher Organe nahmen daran teil. Außer dem polnischen Präsidenten ergriff das Wort auch die Botschafterin Israels, eine aufgezeichnete Botschaft eines in Markowa geretteten Juden wurde präsentiert.

Die meisten Polen hörten zum ersten Mal die Geschichte von Józef und Wiktoria Ulma und ihren Kindern Stanisław, Basia, Władzia, Franek, Antek, Marysia sowie des siebten Kindes, dessen Geburt während der Exekution begann. Das älteste war damals acht Jahre alt. Zum ersten Mal wurden auch die Namen der Geretteten genannt: Saul Goldmann und seine vier Söhne (genannt die Szalls), Golda Grünfeld und ihre Schwester Lea Didner mit ihrer kleinen Tochter.

In Dutzenden von Kommentaren wurde das Heldentum der Familie Ulma gewürdigt, man wies auf Werte wie Nächstenliebe und Opferbereitschaft hin. Man sprach über die Bedeutung der Wahrheit und darüber, dass die Geschichte des Holocausts Mahnung für die heutige sowie für zukünftige Generationen sein solle. Man erinnerte an die Tatsache, dass in der Bibel im Haus der Ulmas die Geschichte vom barmherzigen Samariter angestrichen war, und man zitierte die Worte Christi: „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“

Absurd oder rhetorisch

Der Leser des Artikels von Joseph Croitoru „War die heldenhafte Familien Ulma etwa typisch?“ konnte hingegen erfahren, dass wir es in Wirklichkeit mit einer Parteiveranstaltung der neuen polnischen Regierung zu tun hatten, die „eine historische Debatte entfacht“ habe. Entgegen den Behauptungen des Autors wurde die Fertigstellung des Museums nicht durch das Ergebnis der letzten Wahlen beschleunigt, sondern durch eine Entscheidung der Kulturministerin der vorherigen Regierung, die der Initiative finanzielle und organisatorische Unterstützung angedeihen ließ.

Ich habe die Kommentare in Presse und Internet aufmerksam verfolgt, konnte jedoch keine „Entfachung“ der seit Jahren anhaltenden Debatte über die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Krieges entdecken. Es gibt viele Fragen, die das heutige Polen spalten; aber mit Sicherheit gehört dazu nicht das Bedürfnis, an die Helden zu erinnern, die Juden gerettet haben.

Die in der Überschrift des Artikels von Croitoru enthaltene Frage kann man entweder als absurd oder als rhetorisch betrachten. Es ist offensichtlich, dass die Haltung der Ulmas, die für die Rettung von Juden ihr Leben ließen, nicht typisch war. Heroische Haltungen sind nie typisch!

Todesstrafe für Helfer

Ebenso wenig war auch die Tätigkeit Irena Sendlers typisch, die zweieinhalbtausend jüdische Kinder vor den deutschen Mördern rettete, indem sie sie hauptsächlich in polnischen Familien und katholischen Klöstern unterbrachte. Ebenfalls nicht typisch war das Schicksal des Kuriers der polnischen Untergrundregierung Jan Karski, der die Tragödie der polnischen Juden 1943 unter anderem Präsident Roosevelt darlegte, was leider keine wirkliche Reaktion auslöste.

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Irena Sendlerowa (oben während des Krieges, unten an ihren 100. Geburtstag) rettete  während der deutschen Besatzung 2500 jüdischen Kindern das Leben.

Die Haltung der Ulmas und Tausender ähnlicher Familien war nicht typisch, wie man auch die Haltung derer nicht als typisch betrachten kann, die versteckte Juden und ihnen helfende Polen erpressten und den Deutschen auslieferten. Auf diese Tat stand nach dem Recht des polnischen Untergrundstaats seit 1943 die Todesstrafe. Dieses Urteil vollstreckte der polnische Untergrund auch an dem Polizisten, der die Ulmas denunziert hatte.

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Jan Karski, der aus dem besetzten Polen in den Westen gelangte Kurier der polnischen Untergrundregierung, schilderte die Tragödie der polnischen Juden 1943 u. a. Präsident Roosevelt sowie den führenden Vertretern der amerikanischen Juden, und stieβ auf taube Ohren.

Typisch war etwas anderes

Das Museum in Markowa ist nicht ins Leben gerufen worden, um zu suggerieren, die Haltung der Ulmas sei typisch gewesen. Ganz im Gegenteil – es soll darauf hinweisen, welche Ausnahme ihr Opfer darstellte, unter anderem auch, um die Ulmas und ähnlich handelnde Menschen als Vorbild für unsere Zeitgenossen und zukünftige Generationen zu zeigen. Ich bin überzeugt davon, dass der Besuch des Museums für diejenigen, die es aufsuchen, unabhängig von ihrer Nationalität vor allem grundlegende Fragen über die Natur des Menschen und über das Wesen von Gut und Böse aufwerfen wird.

Typisch war im von den Deutschen besetzten Polen etwas anderes. Schon in den ersten Wochen wurden Massenexekutionen typisch, vor allem an den Vertretern der polnischen Eliten. Im Februar 1940 sagte Generalgouverneur Hans Frank in einem Interview mit einer deutschen Zeitung: „In Prag waren große rote Plakate angeschlagen, auf denen zu lesen war, dass heute sieben Tschechen erschossen worden sind. Da sagte ich mir: Wenn ich für je sieben erschossene Polen ein Plakat aushängen lassen wollte, dann würden die Wälder Polens nicht ausreichen, das Papier herzustellen für solche Plakate.“

„Endlösung“ auf polnischem Boden

Typisch war in den dem Dritten Reich einverleibten Gebieten die Aussiedlung der polnischen Bevölkerung, die mehr als 800.000 Personen betraf. Typisch waren Razzien auf den Straßen, von denen aus die Festgenommenen ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager kamen und im besten Fall zur Zwangsarbeit geschickt wurden. Typisch war die Zerstörung von Dörfern, bei denen die Häuser abgebrannt und die Bewohner ermordet wurden. In der Gegend von Zamość wurde nicht nur die Aussiedlung der Polen typisch, sondern auch der Raub polnischer Kinder zum Zweck der Germanisierung.

Typisch waren die Zerstörung des gesamten Bildungssystems, Raub und Vernichtung kultureller Werke, die wirtschaftliche Ausbeutung des Landes. Und typisch war schließlich auch die Bestrafung derer, die den Juden halfen, für die die Deutschen die komplette Ausrottung vorgesehen hatten, wobei sie sich als Ort für die „Endlösung“ die polnische Erde ausgesucht hatten. Nach den Anordnungen der Besatzungsmacht stand auf die Unterstützung von Juden durch Polen die Todesstrafe.

Unsere Verpflichtung

All diese Phänomene waren typisch, weil sie nach den Richtlinien Hitlers ausgeführt wurden. Noch vor dem Überfall auf Polen kündigte er den auf dem Obersalzberg versammelten Generälen an, das Ziel der Invasion sei nicht „das Erreichen einer bestimmten Linie“, sondern „die physische Vernichtung des Gegners“, und er erklärte, er habe, vorläufig erst im Osten, Totenkopfverbände rekrutiert und befohlen, ohne jedes Mitleid Männer, Frauen und Kinder polnischer Herkunft und polnischer Sprache zu töten, da nur auf diese Art und Weise der Lebensraum erobert werden könne, den die Deutschen bräuchten.

Dass die Polen Opfer der deutschen (und auch der sowjetischen) Besatzung waren, ist eine historische Tatsache. Und es sind keine besonderen Untersuchungen nötig, um „die polnische Opferrolle zu zementieren“, wie in dem erwähnten Artikel ein Historiker suggeriert. Die Leidensgeschichte der Polen schmälert nicht den Holocaust und das Leiden der Juden.

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Nicht nur auf das Verstecken, auf jede den Juden erwiesene Hilfeleistung stand im besetzten Polen die Todesstrafe. Deutsche Bekanntmachungen.

Das Institut für Nationales Gedenken (IPN) und viele andere Institutionen in Polen untersuchen die Schicksale der Polen, die Juden gerettet haben, nicht um irgendeinen ideologischen Bedarf zu decken. Wir sind der Meinung, dass dies unsere grundlegende Verpflichtung ist gegenüber den Helden, die ihr Leben riskiert und es daher verdient haben, dass ihre Namen im Gedächtnis der Nachfahren erhalten bleiben.

Ungeschehen lässt sich nichts machen

Die Polen sind stolz auf ihre Geschichte, darauf, dass sie sich als Erste Hitler entgegengestellt und bis zum letzten Kriegstag gegen die Deutschen gekämpft haben, was enorme Opfer kostete. Wir erinnern uns daran, dass wir als Einzige im besetzten Europa einen Untergrundstaat geschaffen haben. Er verfügte nicht nur über militärische Strukturen, sondern auch über eine zivile Verwaltung, der auch der Rat für die Unterstützung der Juden, die Źegota, unterstellt war.

Das heißt nicht, dass keine Diskussion über die schwierigen Aspekte dieser Zeit geführt wird, vor allem über die polnisch-jüdischen Beziehungen. Diese Diskussion wurde erst nach dem Fall des kommunistischen Systems möglich. Leider wird sie immer mehr von Radikalen dominiert, was einen echten Dialog erschwert. Die Erinnerung an die Polen, die Juden retteten, macht die Beispiele von Verrat und sogar Verbrechen nicht ungeschehen, genau wie umgekehrt das schändliche Verhalten mancher Polen das Heldentum anderer nicht ungeschehen macht.

Sie haben es verdient

Die Behauptung, man hätte mehr Juden retten können, ist ebenso richtig wie diejenige, die darauf hinweist, dass man von niemandem verlangen kann, das Leben der eigenen Familie zu riskieren. Diese Art der Diskussion trägt nicht nur wenig dazu bei, die Vergangenheit zu verstehen, sondern sie entfernt uns auch von dem, was in dieser Debatte das Wichtigste ist: die fundamentalen Fragen nach dem Verhalten der Menschen in schwerster Zeit.

Es gibt in Polen Streit darüber, wie viele Polen während des Krieges sich für die Hilfe für Juden engagiert haben. Dieser Streit rührt daher, dass während der Besatzung niemand solche Statistiken geführt hat und dieses Thema danach viele Jahre lang nicht untersucht wurde. Unabhängig von dieser Diskussion, ist jedoch eines sicher: Es waren entschieden mehr als die Mitglieder der deutschen Opposition gegen Hitler, über deren Geschichte man in vielen Museen und Gedenkstätten etwas erfahren kann.

Die polnischen Helden, die das eigene Leben aufs Spiel gesetzt haben, um ihre Nächsten zu retten, haben es verdient, dass man an sie erinnert. Statt den Sinn des ihnen gewidmeten Museums in Frage zu stellen, sollte man lieber darüber nachdenken, warum es erst so spät entstanden ist.

Łukasz Kamiński war bis Juli 2016 Präsident des Instituts für Nationales Gedenken in Warschau.
Quelle: F.A.Z.

Rede Staatsprpräsident Andrzej Dudas bei der Eröffnung des Museums in Markowa am 17. März 2016

Ulmowie 2 Andrzej Duda fot.2Es passierte in der Nacht… Sie fuhren hierher auf Umwegen aus Łańcut, hieß es in einer späteren Aussage eines jungen Fuhrmanns, eines Bauern aus einem der Dörfer des Karpatenvorlandes. Deutsche Gendarmen und dunkelblaue Polizisten. Darunter befand sich wahrscheinlich auch derjenige, der, wie man später ermitteln konnte, die Familie Ulma und die bei ihnen wohnenden Goldmans denunziert hatte.

Auf dem Weg sind sie stehen geblieben. Das Haus stand am Dorfrand, daneben befanden sich keine anderen Gebäude. Die Gendarmen und die Polizisten gingen zum Haus Ulmas. Dann hörte man Schüsse. Darauf riefen sie die Fuhrleute und befahlen ihnen, zuzuschauen. Zunächst töteten sie die Söhne von Chaim Goldman und dann ihn selbst. Später töteten sie Józef und Wiktoria Ulma. Einer der Deutschen sagte zu den Fuhrleuten: „Da, seht zu, so sterben polnische Schweine, die Juden helfen.“

Und später wussten sie nicht, was sie mit den Kindern tun sollen, den sechs Kindern von Józef und Wiktoria. Und dann sagte der Kommandant der Gendarmen: „Ihr werdet wohl im Dorfe keine Probleme haben wollen“. Und tötete sie alle, der Reihe nach. Der Mann, der das aussagte, berichtete: „ Zu hören waren Schüsse, Schreie und Wehklagen. Es war erschütternd“.

Warum beschlossen Józef Ulma und seine Frau sich so zu verhalten? Warum entschieden sie sich, unter ihr Dach die Familie Goldman aufzunehmen? Den fast achtzigjährigen Familienvater Chaim, einen Kaufmann aus dem nahe gelegenen Łańcut, seine erwachsenen Söhne, die Töchter und die Enkelin. Warum taten sie das? War es der Appell der Heeresführung des polnischen Untergrundstaates, dass angesichts der Shoah, es eine moralische Pflicht der Polen sei, unseren jüdischen Mitbürgern, Mitbürgern der Rzeczpospolita, der Republik Polen, zu helfen?

Oder war es, weil sie Chaim Goldman und die ganze Familie kannten? Denn in einer solchen lokalen Dorfgemeinschaft kannten sich doch alle. Oder lag es vielleicht am biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das von jemandem im Text jener Bibel unterstrichen wurde, die man später im Haus Ulmas gefunden hatte? Wir wissen es nicht… Keiner weiß die Antwort.

Eines ist sicher. Józef Ulma war ein einfacher Bauer aus dem Karpatenvorland, ein Landwirt. Er war aufgeklärt und intelligent. Er absolvierte vier Klassen Grundschule und dann noch eine landwirtschaftliche Fachschule. Den anderen war er ein Vorbild. Seine Leidenschaft galt der Imkerei, er züchtete Seidenraupen.

Heute würden wir sagen, er war ein lokaler Meinungsbildner. Das war er ganz sicher. Die Menschen holten sich bei ihm Rat. Er machte Fotografien und dokumentierte somit das Leben der dörflichen Gemeinschaft und das seiner Familie. Dem ist es unter anderem zu verdanken, dass dieses Museum so lebhaft und beeindruckend ist. Denn es ist voll von Aufnahmen, die Józef gemacht hatte, auch von Fotos seiner jüdischen Nachbarn und Gäste, die er bei sich aufgenommen hat und mit denen er starb.

Dies hier ist ein sehr bewegendes Museum. Ich bin zutiefst dankbar und im Namen der Republik, im Namen aller meiner Landsleute danke ich all jenen, die zur Entstehung dieser Einrichtung beigetragen haben. Ich danke allen, die dazu beigetragen haben, dass die Familie Ulma, ihre Angehörigen, und alle anderen verewigt wurden, die ihren Schwestern und Brüdern, Mitbürgern jüdischer Abstammung, geholfen haben zu überleben, in einer Zeit des Massakers an ihrem Volk, das während des Zweiten Weltkriegs von den Nazideutschen ausgelöscht werden sollte. Danke, dass dieses Museum ein Denkmal für sie alle sein kann. Danke, denn Polen und die geschichtliche Gerechtigkeit haben ein solches Mahnmal nur allzu dringend benötigt.

Ulmowie 2 drogowskaz
Zum Denkmal der Familie Ulma 1000 m.

Unsere beiden Völker, die Polen und die Juden, lebten tausend Jahre lang auf diesem Boden. Diese tausend Jahre gemeinsamer Geschichte erlebten eine furchtbare Zäsur: Den Holocaust, in dem von Deutschen besetzten Polen. Die Todeslager, ein schwarzes Blatt in der Geschichte des jüdischen Volkes.

Viele Menschen besuchen Polen, um das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau sowie andere Zeugnisse der großen Vernichtung zu besichtigen, die der ganzen Welt als Mahnung dienen sollen, was Hass und kranke Ideologien anstellen können, und wozu ein von ihnen besessener Mensch fähig ist. Aber es entstehen bei uns in den letzten Jahren zum Glück auch andere Orte, jene, die das zeigen, was gut und was schön war in der Geschichte, auch der tragischsten. Zu ihnen gehört mit Sicherheit dieses Museum, ein Museum der Brüderlichkeit, der Barmherzigkeit und der Gemeinschaft. Einer Gemeinschaft von Ort, Heimat, und oft auch des Zusammenhaltens.

Vielleicht hat Józef Ulma die Familie Goldman deshalb bei sich aufgenommen, weil ihr Sohn, genauso wie er, 1939 für die Verteidigung Polens gekämpft hatte. Vielleicht weil es tausende von polnischen Staatsbürgern jüdischer Abstammung waren, die für Polen 1918, 1919, 1920, 1939 und auch später gekämpft haben? Sie kämpften, denn Polen war unsere gemeinsame Heimat, wo sie geboren wurden, wo sie heranwuchsen und lebten.

Und es war zum Glück ein Land, in dem während der schrecklichen Tragödie des Holocausts und beim Versuch „der endgültigen Lösung der jüdischen Frage“, wie es die Führung von Hitlerdeutschland zynisch formulierte, tausende von Polen den Mut aufbrachten, um wahre Mitmenschen und Mitbürger zu sein, um barmherzig zu sein, um jener Lehre zu folgen, die sich für uns alle aus dem christlichen Glauben ergibt, der Nächstenliebe.

Zum Glück gab es auch Menschen, denen es an dieser christlichen Nächstenliebe nicht fehlte, trotz des großen Risikos, trotz des drohenden Todes. Denn im besetzten Polen drohte für Juden erwiesene Hilfe, wie nirgendwo anders in der Welt, die Todesstrafe, die auch ohne jegliche Rücksichtnahme vollstreckt wurde. So wie hier. Es waren ja nicht nur Józef und Wiktoria Ulma sowie ihre Kinder, die so ihr Leben verloren. Es gab dutzende, hunderte von solchen Familien, tausende von Menschen, die dafür, dass sie ihren jüdischen Schwestern und Brüdern, ihren Mitbürgern, geholfen haben, ihr Leben opfern mussten.

Und wenn wir heute an diese dramatische Zeit und an die tausend Jahre gemeinsamer Geschichte zurückdenken, so mögen uns zu einem Wegweiser auf der Wanderung durch diese Zeit all jene Orte werden, die wir heute in einem freien und unabhängigen Polen, dass sich seiner Geschichte bewusst ist, besichtigen können: Das Museum der Geschichte der polnischen Juden POLIN in Warschau, wo sowohl die schönen als auch die traurigen Kapitel gezeigt werden, das nazideutsche Konzentrationslager Auschwitz, aber auch das Museum in Markowa, so wichtig auf dem Weg der gemeinsamen Geschichte.

Ein Museum, das zwar ein tragisches Kapitel zeigt, aber zugleich auch das wichtigste Merkmal der Rzeczpospolita przyjaciół, der Republik der Freunde, veranschaulicht, wo man bereit war das Leben zu opfern für seinen Freund, seinen Bruder und einen Mitmenschen. Möge das, was wir heute bereits gehört haben, all dies bezeugen. Auch die Tatsache, dass der Mord an der Familie Ulma und der bei ihnen versteckten Goldmans, dieses Beispiel der deutschen Greueltaten, andere Einwohner von Markowa, die ja auch Familien hatten und die auch überleben wollten, nicht dazu gebracht hat, Juden auszuliefern, die sie bei sich aufgenommen haben. Denn trotz dieser Tragödie, konnten die Dorfbewohner bis zum Kriegsende 21 Juden bei sich verstecken.

Es ist dies ein ganz bedeutender Ort für die Republik Polen, denn hier wird es uns ganz besonders bewusst, dass wir als Polen Würde empfinden können. Unter uns lebten nämlich solche Menschen, die mehr als nur anständig waren. Sie waren wahre Helden, und als solche sind sie jenen gleichzusetzen, die unter Einsatz von Waffen für die Freiheit Polens gekämpft haben und dabei gefallen sind.

Es gibt da keinen Unterschied. Sowohl die einen wie auch die anderen opferten ihr Leben für andere und für Freiheit. Denn Freiheit bedeutet Würde. Dass sie ihre Nachbarn, Bekannte und manchmal auch zufällige Menschen bei sich versteckten, war eine Absage an Grausamkeit, Verachtung und Hass, und einen Antisemitismus, mit dem sie sich nicht abfinden konnten und mit dem sie sich bis an ihr Lebensende nicht abgefunden haben. Eine Absage an all das, was die Nazideutschen auf polnischen Boden mitgebracht gebracht hatten.

Und als Präsident der Republik Polen möchte ich es heute ganz klar und deutlich sagen: Jeder, der Hass unter Völkern verbreitet, jeder der antisemitische Parolen verkündet, der Antisemitismus verbreitet und ihn schürt, tritt mit Füssen das Grab der Familie Ulma, tritt mit Füssen die Erinnerung an sie, und auch das alles, was sie als Polen verloren haben, indem sie ihr Leben opferten. Es war dies ein Opfer für Würde, Aufrichtigkeit, für Gerechtigkeit und die einem jeden Menschen gebührende elementare Achtung.

Möge dieses Museum, neben anderen Gedenkstätten auch, für alle zu einem großen Zeugnis einer tragischen, aber guten Erinnerung werden sowie zu einer Mahnung, was Hass und Verachtung aus Menschen machen kann.

Und es ist auch gut, dass in all dem die Führung des polnischen Untergrundstaates Härte gezeigt hat. Denn derjenige, der die Ulmas und ihre Gäste, die jüdischen Nachbarn, höchstwahrscheinlich ausgeliefert hatte, lebte nicht mehr lange. Sie starben in der Nacht vom 23. auf den 24. März, und der polnische Untergrundstaat vollstreckte sein Urteil an dem Kollaborateur am 10. September desselben Jahres 1944.

Später ist es noch gelungen, einen der Mörder zu fassen, der auf mindestens drei der Kinder geschossen hatte. Für seine Tat hat er eine Gefängnisstrafe verbüßt. Allerdings wurde zunächst von einem polnischen Gericht die Todesstrafe verhängt. Das Urteil wurde dann zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe umgewandelt und schließlich zu einer 25-jährigen Haft. Der Täter starb im Gefängnis in Bytom.

Es ist gut, dass der polnische Staat ein Urteil im Mordfall fällen konnte und das somit elementare Gerechtigkeit geschehen konnte. So wie jeder Mörder elementare Gerechtigkeit erfahren muss. Dies geschieht in jedem aufrichtigen Rechtsstaat. Und es darf auch kein aufrichtiger Rechtsstaat Volkshetze, nationale Phobien sowie Fremdenhass tolerieren. Und ich glaube fest daran, dass Polen das nie tolerieren wird. Und so wie jetzt der Staat Israel und seine Gründer, belehrt durch die dramatischen Erfahrungen des Holocausts, beschlossen haben, nie einen eigenen Staatsbürger alleinzulassen, und die Sicherheit eines jeden Juden um jeden Preis zu verteidigen, so sollten auch wir, die Polen, und der polnische Staat, das gleiche tun.

Möge die Tragödie des Zweiten Weltkriegs sowohl für das jüdische als auch für das polnische Volk eine dramatische Lektion sein, aus der wir und aus der diejenigen, die nach uns kommen, entsprechende Schlüsse ziehen, und aus der wir den nachkommenden Generationen die Wahrheit darüber vermitteln müssen, was passiert ist, die Wahrheit über den Holocaust, das Heldentum, aber auch manchmal die traurige Wahrheit über das Abscheuliche im Menschen.

Denn Wahrheit baut Brüderlichkeit zwischen Völkern und erlaubt es, freundschaftliche Beziehungen zu entwickeln. Denn eine gute Zukunft kann nur auf Wahrheit aufbauen.

Quelle: Amtliche Übersetzung ins Deutsche, entnommen der offiziellen Internerseite Prezydent.pl




Lech Wałęsa. Wahrheit geht vor Legende. Dokumentation

Kommentator Janusz Tycner und Joachim Ciecierski gehen ausführlich auf neuste Enthüllungen über die Stasi-Vergangenheit Lech Wałęsas ein.

https://soundcloud.com/radiodienst-polska/21-27-februar-2016-lech-walesa-wahrheit-ist-wichtiger-als-legende