Der Freiherr hatte es schwer. Das Fiasko des deutschen Warschau-Botschafters

Von Loringhoven war der falsche Mann am falschen Ort.

Nach nur achtzehn Monaten musste der deutsche Botschafter in Warschau seinen Posten räumen. Die Abberufung markierte für Arndt Burchard Ludwig Freiherr Freytag von Loringhoven zweifelsohne einen Tiefpunkt in seiner bisher glanzvollen diplomatischen Karriere. Als gäbe es nicht schon genug Probleme in den polnisch-deutschen Beziehungen, wurde auch noch der deutsche Botschafter von Loringhoven zu einem polnisch-deutschen Problem.

Und so müssen dieser Betrachtung unbedingt zwei Fragen vorangestellt werden: Musste das alles wirklich sein? Mussten sich die Verantwortlichen in Berlin darauf versteifen, ausgerechnet den Freiherrn nach Warschau zu entsenden?

Nach sechs Jahren Amtszeit an der Spitze der deutschen Botschaft in Warschau wurde Ende Juni 2020 der ebenso liebenswürdige wie betuliche Rolf Nikel nach Deutschland abberufen. Zum Abschied bekam er noch mit auf den Heimweg von Staatspräsident Andrzej Duda einen polnischen Orden verliehen.

Deutsche Botschaft in Warschau.

Die Neugier darauf, wer Nikel nachfolgen werde, wich bei den offiziellen Warschauer Stellen bald einem wachsenden Unbehagen. Hie und da war sogar von Bestürzung und Empörung die Rede. Die Bekanntgabe der Kandidatur von Loringhovens warf sofort Fragen auf.

Hätte Berlin es gewagt, jemanden mit seiner Familiengeschichte Israel zuzumuten? Gab es in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern wirklich niemanden, der keine Verbindung zu Hitlers Krieg hat? Hätte Berlin nicht eine Person benennen können, die Polen und die Polen gut kennt, sich für den Dialog einsetzt? Handelte es sich hier um eine eingefädelte Provokation mit dem Ziel, die ungeliebte Warschauer Regierung und den für seine Abneigung gegenüber Deutschland bekannten Jarosław Kaczyński in eine missliche Lage zu bringen?

Das Problem mit dem Baron

Einiges sprach in den Augen der Warschauer Offiziellen für Letzteres. „Einerseits haben sie tatsächlich einen ihrer besten Leute geschickt, und das sollte zeigen, dass sie Polen ernst nehmen“, konnte man damals, im Hochsommer 2020, in Warschau off the record aus manchem berufenen Munde hören.

Tatsächlich ist von Loringhovens Lebenslauf beeindruckend. Geboren 1956, studierte er Geschichte, Philosophie und Chemie in Deutschland und in Oxford. Im Herbst 2019 beendete er seine Tätigkeit als Beigeordneter Generalsekretär der NATO, wo er für den gesamten Nachrichtendienst des Bündnisses zuständig war. Drei Jahrzehnte lang war er in der deutschen Diplomatie tätig, zweimal in Moskau (u.a. als Leiter der politischen Abteilung) sowie in Paris und Prag, wo er als Botschafter fungierte. Zwischendurch war er von 2007 bis 2010 stellvertretender Chef des deutschen Spionagedienstes BND.

Am Ende seiner Kurzmission in Warschau behauptete von Loringhoven in einem Interview: „Zuvor war ich als Diplomat in drei weiteren Nachbarländern Deutschlands tätig: Frankreich, Belgien und der Tschechischen Republik. Aber nirgendwo habe ich eine ähnliche Allgegenwärtigkeit der Geschichte erlebt.“

Angenommen, was eher unwahrscheinlich klingt, er war sich dieser nicht zu übersehenden polnischen Spezifik nicht bewusst, so war sie denjenigen, die von Loringhoven nach Warschau schickten, auf jeden Fall wohlbekannt. Dennoch machten sie ihn zum Botschafter in Warschau und taten anschließend beleidigt, überrascht und ahnungslos, als die braune Familiengeschichte den Baron (so wird der Titel Freiherr in Polen übersetzt) sofort nach seiner Ernennung einholte. Hier beginnt das „Andererseits“.

Sein Vater, Bernd Freytag von Loringhoven trat 1933 in die Reichswehr ein. Im September 1939 war er Stabsoffizier bei der 1. Panzerdivision, die am Überfall auf Polen teilnahm. Sie beteiligte sich unter anderem am Angriff auf Częstochowa/Tschenstochau. Einheiten der 1. PD ermordeten polnische Zivilisten u. a. in den Dörfern Stobiecko Miejskie, Krzyżanów, Siomki und Cekanów. Anschließend nahmen sie an der Erstürmung Warschaus teil. Für seine Leistungen im „Polen-Feldzug“ bekam Bernd von Loringhoven das Eiserne Kreuz zweiter Klasse verliehen. Ein Jahr später das Kreuz Erster Klasse (für den Überfall auf Frankreich) und 1942 das Deutsche Kreuz in Gold (u. a. für die Schlacht um Stalingrad).

Als Adjutant des Generalstabschefs des Heeres Heinz Guderian und anschließend Hans Krebs, war Major von Loringhoven ab Februar 1945 an den täglichen Lagebesprechungen bei Hitler anwesend. Am Tag vor dem Selbstmord des „Führers“ floh er mit dessen Einverständnis aus dem „Führerbunker“. Deswegen wurde er am Ende seines Lebens immer wieder gebeten, von seinen Erlebnissen in Hitlers Betonbau zu berichten, und war an der Vorbereitung des Films „Der Untergang“ beteiligt.

Der neue Botschafter, sein Vater Bernd, der „Führer“. Bebilderung eines der Berichte über den neuen deutschen Botschafter in den polnischen Medien im Sommer 2020.

Natürlich, so seine Behauptung, wusste er nichts vom deutschen Völkermord. Und glaubt man dem Sohn, so hat der Vater „niemals den Nationalsozialismus unterstützt und war zugleich davon überzeugt, dass es seine Pflicht war, für sein Land zu kämpfen“. Später hat der Vater „natürlich“ den Nationalsozialismus verurteilt. All das tat der neue Botschafter im September 2020 in seinem ersten Presseinterview in Polen, kund. Es war kein guter Einstieg.

Es sollte kein Zurück geben

Man mag es akzeptieren oder ablehnen, aber die Verwurzelung des polnischen Denkens in der Geschichte ist nun einmal eine Tatsache und eine wichtige polnische Eigenart. Es würde sich besonders für die deutsche Diplomatie ziemen, das zu respektieren. Wäre die Ernennung von Loringhovens ausgerechnet nach Warschau, und nicht nach Stockholm oder Antananarivo auf Madagaskar, wo kein Hahn nach seinem Vater krähen würde, nur ein Versehen gewesen, man hätte es noch rechtzeitig sang- und klanglos korrigieren können.

In der diplomatischen Praxis wird es so gehandhabt, dass die Kandidatur des neuen Botschafters dem Empfängerstaat diskret mitgeteilt wird. In 99 Prozent der Fälle weltweit gibt es nach kurzer Zeit ein Okay des Gastgeberlandes und die Kandidatur wird publik gemacht.

Wenn das Land, das den Botschafter aufnehmen soll, innerhalb von drei Monaten nicht antwortet, sollte das Entsendeland die Kandidatur überdenken und der Anwärter von sich aus zurücktreten. Dann muss das Gastland nichts erklären. Schweigen ist eine Verneinung. Alle haben das Gesicht gewahrt.

Berlin muss die Ernennung von Loringhovens so wichtig gewesen sein, dass es sich an diese Regel nicht hielt. Vorgänger Nikel hatte seine Koffer in Warschau noch nicht fertiggepackt, da wurde bereits am 29. Mai 2020 der Name des Nachfolgers von Loringhoven öffentlich gemacht. Nicht direkt vom deutschen Auswärtigen Amt, sondern mittels eines kontrollierten Lecks im Internetportal Onet.pl, das dem deutsch-schweizerischen Konzern Ringier Axel Springer gehört.

Geringschätziger ging es kaum: Warschau sollte Berlins Willen aus den Medien erfahren und offensichtlich vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Im ersten Wirrwarr machte zudem die Tatarenmeldung die Runde, der Sohn eines Hitler-Adjutanten soll die Bundesrepublik in Polen vertreten.

Warschau behält die Nerven

Im offiziellen, nationalkonservativen Warschau, das Deutschland ohnehin nicht traut, fühlte man sich in dieser Einstellung voll und ganz bestätigt. Doch was tun?

Die Kandidatur ablehnen konnte man nicht. Die Meinungs- und Interessenunterschiede zwischen Polen und Deutschland sind zwar groß, aber Deutschland ist kein Feindstaat. Und abgesehen von Situationen, die an einen Krieg grenzen, ist es nicht üblich, einem designierten Botschafter öffentlich das Agrément zu verweigern. Tut man das, muss man mit erheblichen Verwerfungen rechnen: Medienkrawall, Einschränkung der offiziellen Kontakte, Megafondiplomatie bestehend aus einem lautstarken Austausch von Vorwürfen, Dementis und Bissigkeiten.

Anders als vielleicht in Berlin gehofft, ließ man sich in Warschau in diese Spirale nicht hineinziehen. Die Antwort auf die deutsche Überrumpelung war, dass man während der gewöhnlicherweise vorgesehenen Frist von maximal drei Monaten die deutsche Seite in der Ungewissheit darüber ließ, ob man von Loringhoven akzeptieren wird oder nicht. Der Kandidat harrte derweil der Dinge in der Botschaft, zutiefst frustriert, wie es hieß, denn ohne das Agrément konnte er nicht seines Amtes walten.

Die ungewöhnliche Verzögerung im Agrément-Verfahren sollte zum Ausdruck bringen, welche Unruhe und Verwerfungen die Ernennung von Loringhovens und die Art, wie sie Warschau unterbreitet wurde, verursacht hatte. Der Botschafter-Anwärter seinerseits gab sich Mühe, Einsicht an den Tag zu legen. Er absolvierte einen ausgedehnten Rundgang durch das Museum des Warschauer Aufstandes und fuhr nach Berlin, um dem dortigen polnischen Pilecki-Institut einen Besuch abzustatten.

Das ersehnte Agrément erhielt von Loringhoven am 31. August 2020. Der 1. September, der Tag des deutschen Überfalls auf Polen vor 81 Jahren, war sein erster offizieller Arbeitstag in Warschau.

Der blockierte Botschafter

Erst hingehalten, dann hingenommen befand sich der Freiherr bei seinem Amtsantritt in einer lähmenden Defensive, die er im Grunde nie verlassen hat.

Die Familiengeschichte ließ sich nicht ausblenden. Immer wieder darauf angesprochen, stand er, was man menschlich gut verstehen kann, zu seinem Vater. Doch mit seinen bereits erwähnten Beteuerungen, dass Wehrmacht-Major von Loringhoven, obwohl er in Hitlers engster Umgebung verkehrte, „niemals den Nationalsozialismus unterstützt hat“, brachte er das polnische Publikum oft in Verlegenheit, manchmal in Rage.

Um zu zeigen, dass er es mit dem Nationalsozialismus genauso hält wie der Vater, widmete sich der Botschafter geradezu hyperaktiv dem Gedenken der Opfer. Glaubt man seinem Twitteraccount, besuchte er im Durchschnitt alle zehn Tage irgendwo in Polen eine Gedenkstätte, ein dem Kriegsgeschehen gewidmetes Museum, legte Kränze und Blumengebinde vor Gedenktafeln und Denkmälern nieder, nahm teil an Feierstunden, hielt Ansprachen und sprach mit Veteranen.

Diese ausgesprochen löbliche Tätigkeit, mit der er vor allem sein familiäres Handicap zu kompensieren suchte, stand im Widerspruch zu seinen ausgesprochen geringen Erfolgen, sich im politischen Warschau als deutscher Botschafter Geltung zu verschaffen.

Die regierenden Nationalkonservativen beschränkten die Kontakte mit ihm auf das protokollarisch korrekte Minimum. Die Art, wie er Warschau aufgedrängt worden war, wirkte nach. Doch noch schwerer wog, dass der Freiherr einen Bundeskanzler in Warschau vertrat, der seinen Drang, ständig mit Putin zu telefonieren, nicht bändigen konnte. Eine Regierung, die der kämpfenden Ukraine große Versprechungen machte, sie aber meistens nicht hielt. Einen friedens-, klima-, öko- und genderbegeisterten Verbündeten, der Polen gegen Putin nicht zur Hilfe kommen würde, mangels Willen und mangels einer funktionierenden Armee. Da gab es mit dem Botschafter nicht viel zu besprechen.

Des Botschafters Stolz. Deutsche Diplomaten auf der Warschauer Schwulenparade 2021.

Frustriert wandte sich von Loringhoven der polnischen „totalen“, wie sie sich selbst nennt, Opposition zu und wurde zunehmend deren Sprachrohr. Dort standen ihm alle Türen offen, dort fand er Trost, Zuspruch und Gehör. Die Politiker, die seit fast acht Jahren erfolglos gegen die Nationalkonservativen ankämpfen, und der ihretwegen ebenso erfolglose deutsche Botschafter verstanden sich auf Anhieb.

Stolz präsentierte der Freiherr auf Twitter Mitarbeiter der Botschaft, die im Mai 2021 in der Warschauer Schwulenparade mitmarschierten, vereint mit allen anderen Teilnehmern unter der gemeinsamen Losung und zudem dem wichtigsten Schlachtruf der totalen Opposition „PiS ficken!“.

Neben Zuspruch Kritik. Einer der vielen kritischen Kommentare auf Twitter: „Wenn der deutsche Botschafter nicht versteht, dass es unangemessen ist, dass deutsche Diplomaten an der Förderung einer Revolution der Sitten in einem benachbarten, kulturell anders gearteten Land teilnehmen, dann ist er entweder ungeeignet für sein Amt oder die Absichten Deutschlands gegenüber Polen sind offen feindlich.“

„Jetzt ist die Opposition komplett!“, lautete der Untertitel in einem Tweet, in dem ein Gruppenbild zu sehen ist mit führenden Politikern der totalen Opposition sowie dem deutschen Botschafter von Loringhoven. Gemacht wurde es, als Tausende von Warschauern Ende März 2022 vor dem Königsschloss auf die Rede des US-Präsidenten Joe Biden warteten.

Wenn der deutsche Botschafter (im Kreis) dabei ist, ist die totale Opposition komplett.

Auch bei seinen Huldigungen für die letzten noch lebenden Veteranen des antideutschen Widerstandes blieb der Freiherr seinen politischen Vorlieben treu. Nicht zufällig war seine wichtigste Ansprechpartnerin in diesem Kreis die hochbetagte Kämpferin im Warschauer Aufstand, Frau Wanda Traczyk-Stawska. Die Dame hat, wie sie sagt, den Deutschen und Deutschland längst vergeben. Niemals vergeben will sie dagegen Jarosław Kaczyński und meidet deswegen keine Gelegenheit, zornige Tiraden an die Adresse des Politikers und seiner Partei öffentlich von sich zu geben.

Nicht mehr zu gebrauchen

Die politischen Kommentare, die er öffentlich von sich gab, waren ein Abbild dessen, was in den Medien der Opposition zu lesen und zu hören war. Kaczyński sei im Grunde ein Verbündeter von Putin. Die Vorbehalte der Nationalkonservativen gegen Deutschland seien völlig unbegründet und dienten nur der Stimmungsmache. Deutsche Investoren, die sich normalerweise um Arbeitslager in China nicht scheren und bis zuletzt in Putins Russland, trotz aller Menschenrechtsverletzungen munter agierten, seien „äußerst besorgt“, so der Freiherr, wegen des Berufungsmodus von Richtern in Polen und erwägten gar, Polen zu verlassen. Man sah, der einst angeblich brillante Analytiker ist inzwischen in die Jahre gekommen und hatte, tief verbittert, nichts außer den sattsam bekannten Anti-PiS-Agit-Prop-Gemeinplätzen zu vermelden.

Menschlich lädiert, beruflich frustriert, vom polnischen Regierungslager isoliert, war der einst mit aller Gewalt der Diplomatie von Berlin forcierte Arndt Burchard Ludwig Freiherr Freytag von Loringhoven als Botschafter in Warschau nicht mehr zu gebrauchen. Wäre dem nicht so, hätte ihm die Berliner Ampel-Regierung die Anstandsfrist von drei Jahren auf seinem dortigen Posten in Warschau gegönnt, auch wenn er zum Nachlass von Angela Merkel gehörte.

Berlin hat mit viel Druck auf Warschau im Sommer 2020 seinen Willen durchgesetzt und einen Sieg errungen. Es sollte ein Pyrrhussieg werden.

RdP




9.08.2022. Wie der gute Wolfgang Schäuble Polen zu zähmen gedenkt

Im Prinzip lag Wolfgang Schäuble richtig und doch lag er falsch, als er vor Kurzem in einem „Welt am Sonntag“-Interview sagte: „Polen muss endlich als gleichberechtigter und gleich wichtiger Mitgliedsstaat wie Frankreich und Deutschland in die Führungsrolle der europäischen Integration aufgenommen werden. Polen sollte so schnell wie möglich so behandelt werden, das hat es immer verdient. Diese Chance dürfen wir uns nicht entgehen lassen.“

Wolfgang Schäuble ist kein mächtiger Innen- bzw. Finanzminister und kein Bundestagspräsident mehr, er ist heute ein MdB und ein Oppositionspolitiker, dessen Ruhestand kurz bevorsteht. Doch er genießt Ansehen, weil sich seine persönlichen Überzeugungen, Maßstäbe, Wertvorstellungen und seine Charakterstärke stets in seinem Verhalten ausdrücken. Integre Persönlichkeiten, wie Schäuble, die oft gegen den Strom andenken und Debatten mit gesundem Menschenverstand bereichern, sind rar geworden in der europäischen Politik. Deswegen hört man auch heute noch mit Interesse hin, was er zu sagen hat.

Das Interview ist am 23. Juli 2022 erschienen, aber dieses Mal verhallten Schäubles Worte ohne Echo. Die Ansicht, dass die politische Architektur Europas von den drei großen Ländern in dessen Mitte: Deutschland, Frankreich und Polen getragen werden sollte, ist zwar nicht neu, aber inzwischen fast völlig in Vergessenheit geraten. Das 1991 gegründete, fruchtlose Weimarer Dreieck, ein loses Gesprächs- und Konsultationsforum der drei Staaten zur Stärkung der europäischen Integration, wurde auf dieser Idee aufgebaut.

Doch angenommen, das Angebot käme von offizieller Seite aus Paris und Berlin, und das heutige Polen würde dieses Angebot ernst nehmen? Das müsste bedeuten, dass Polen die europäische Politik mitgestaltet und dass seine Vorstellungen in dieser europäischen Politik einen angemessenen Platz finden würden, so wie die französischen und die deutschen. Als Frankreich mit seinen vielen AKWs die Kernenergie als nachhaltig eingestuft haben wollte, wurde Paris dieser Wunsch erfüllt. Ebenso im Bereich des Urheberrechts haben die Franzosen von der EU das bekommen, was sie wollten.

Die polnischen Anschauungen sind sattsam bekannt: härtester Widerstand gegen den russischen Neoimperialismus, eine auf christlichen Werten basierende EU, eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen EU-Institutionen und den Mitgliedsstaaten, eine Einschränkung der Zuständigkeiten von EU-Institutionen, Gleichheit der Mitgliedsstaaten vor dem Gesetz, ein Verbot der Einmischung der Europäischen Kommission in Bereiche, die in den Verträgen eindeutig und allein den Nationalstaaten vorbehalten sind, wie Justiz, Familie oder Kultur. Eine Neubewertung der Energiepolitik, eine kritische Überarbeitung des Green Deal, Beibehaltung der fossilen Energieerzeugung.

So sollte eine echte Beteiligung Polens an der Führung der EU aussehen. Warschau würde ein solches Angebot sicher nicht ablehnen. Es will Einfluss auf die europäische Politik nehmen, Europa mitgestalten.

Nur ist leider zu befürchten, dass Wolfgang Schäuble etwas anderes im Sinn hatte. Er schlug genau das vor, was im Weimarer Dreieck geschah. Ja, tretet bei, aber ihr müsst tun und sagen, was wir wollen. Unser Auf-die-Schulter-Klopfen ist euch gewiss, aber Sonderwünsche sind unerwünscht.

Wie damals, als Polen vorgeschlagen hatte, sich am Bau eines neuen europäischen Panzers zu beteiligen. Es wurde abgelehnt. Oder als es gefordert hat, Nord Stream 1 und dann Nord Stream 2 aufzugeben. Es wurde nicht beachtet. Oder als es mahnte, dass der fast sofortige Verzicht auf Kohle und Atomstrom zugunsten von Wind, Sonne und russischem Erdgas gefährlich sei. Man hat es überhört.

Das Problem liegt also nicht bei Polen. Schäubles Angebot, so ist zu befürchten, bedeutet keine echte Partnerschaft. Es ist der Versuch, ein Land, das sich gegen die Verwandlung der EU in einen föderalen Staat sperrt, auf eine andere Art zu zähmen als normalerweise üblich: mit Abmahnungen, Drohungen und Geldentzug.

Oder glaubt jemand im Ernst, dass man in Berlin, Paris oder Brüssel bereit wäre, sich aufrichtig auf eine von Polen gewünschte Diskussion über eine EU, die auch christliche Werte respektiert, einzulassen? Schwer vorstellbar in einer Zeit, in der sich das Europäische Parlament und die EU-Kommission bemühen, die Tötung ungeborener Kinder als ein „Menschenrecht“ auszulegen, die immer weiter um sich greifende und enthemmte Euthanasiepraxis in Holland und Belgien stillschweigend als richtungsweisend befürworten, ebenso wie die Begleitung beim Selbstmord. Die Zivilisation des Todes kommt in die EU-Fahne gehüllt daher.

Diskutieren über ein Europa der Vaterländer? Wie soll das geschehen, wenn der aktuelle deutsche Koaltionsvertrag die Verwandlung der EU in einen europäischen Bundesstaat zwingend vorschreibt?

Sich ernsthaft aussprechen über freiwillige und nicht erzwungene Solidarität? In einer Zeit, in der die EU-Kommission, sobald Deutschland, durch eigenes Verschulden („Wir schaffen das“ 2015 und Putins Gasstop 2022), in Bedrängnis gerät, sofort zu Zwangsmaßnahmen bei der Migrantenverteilung und beim Gassparen greift, ohne auch nur nachzufragen,?

Die Polen haben ein Beispiel für echte Solidarität mit Millionen von tatsächlichen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine gegeben. Niemand musste sie dazu zwingen. Das Land hat auch gezeigt, dass es bereit ist, seine Sicherheit zu riskieren, indem es der Ukraine uneingeschränkt mit eigenen Waffenlieferungen hilft und sein Territorium für den Waffentransit aus der ganzen Welt zur Verfügung stellt.

Es wäre gut, wenn eine solche Haltung, ein solches Politikverständnis, zu einem Grundsatz der europäischen Politik würde. Zweifellos wäre die EU dann in einem besseren Zustand.

RdP




1.08.2022. Führungsmacht Deutschland sollte sich schonen

Jahrzehntelang haben sich Frankreich und Deutschland als die natürlichen Führer der europäischen Integration betrachtet. Um diese Stellung zu behaupten, haben sie sich oft einer Politik bedient, die die Mitsprache und Mitwirkung der Vereinigten Staaten in europäischen Belangen in Frage stellte, und es wurden enge wirtschaftliche Allianzen mit Russland und China geschmiedet.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist der Glaubwürdigkeitsverlust der beiden Staaten zu einem wichtigen Bestandteil der europäischen Politik geworden. Sie haben, unbekümmert um die russsische Gefahr, nach 2008, also seit dem russischen Angriff auf Georgien, die EU-Sicherheits- und Energiepolitik geprägt. Die Folgen sind, wie wir es gerade erleben, katastrophal: für Europa und für die beiden Staaten selbst.

Wie wird das heute in Berlin wahrgenommen? Von echter Demut ist kaum eine Spur erkennbar. Man übt sich in Selbstmitleid, behauptet stets das Beste gewollt zu haben, gibt sich bemitleidenswert ahnungslos und hintergangen und flüchtet sich in liebgewonnene, aufgewärmte Wunschträume, will das Ruder nicht aus der Hand geben.

So Bundeskanzler Olaf Scholz in seinem kürzlich erschienenen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Nach der bewährten deutschen „kohl-merkelschen“ Methode: Einsicht vortäuschen, im Kern hart bleiben, aussitzen und möglichst weitermachen wie bisher, tut Scholz so, als wäre nichts gewesen.

Er will die EU „festigen, effizienter machen“. Doch die Gedanken an eine strategische Souveränität der EU, an Sicherheitsgarantien aus Paris und Berlin oder der Vorschlag, die Einstimmigkeit in der europäischen Sicherheitspolitik durch Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen und so das französisch-deutsche Entscheidungsmonopol zu stählen, klingen heute aus dem Munde eines deutschen Politikers wie ein schlechter Scherz. Niemand in Polen und in ganz Mittel- und Osteuropa sollte sich davon täuschen lassen.

Ohne Glaubwürdigkeit gibt es keine echte Führung. Und es dauert Jahre, bis die verlorene Glaubwürdigkeit wiederhergestellt ist.

Deutschland steht diesbezüglich heute ein langer Weg bevor. Mindestens drei Dinge sind dafür notwendig: Erstens eine ehrliche Analyse der eigenen Fehler, allen voran des Nord Stream-Projektes. Zweitens der Wiederaufbau der eigenen militärischen Fähigkeiten. Eine schlagfertige Bundeswehr muss ein fester Bestandteil der Verteidigung der Ostflanke der NATO sein und den Verdacht ausräumen, im Ernstfall den Russen lieber eine gemeinsame Therapie in „Konfliktmanagement und Deeskalation“ anzubieten. Drittens, eine echte Wende in der Energieabhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Russland. Ohne diese Voraussetzungen kann man nicht von der Glaubwürdigkeit der deutschen Politik in Europa sprechen.

Ein vierter Punkt kommt inzwischen hinzu. Die Schwankungen der deutschen Politik im Ukraine-Krieg zwischen bombastischen Versprechungen („Zeitenwende“) und einer Wirklichkeit, die von mehr als schleppenden Waffenlieferungen, geplatzten „Ringtauschen“, Scholz-Putin Telefonaten und mit aller Konsequenz durchgesetzten Sanktionsaufweichungen zu Gunsten Russlands (Beispiel: Transit nach Kaliningrad) geprägt wird, untergraben diese Glaubwürdigkeit noch weiter.

Und leider kann man mit jedem weiteren, raren, Medienauftritt von Altkanzlerin Angela Merkel sehen, wie die Chancen deutscher Politiker, die Fehler in den Beziehungen zu Russland ehrlich aufzuarbeiten, schwinden.

Wir in Polen können das nur zur Kenntnis nehmen und versuchen daraus unsere Schlüsse zu ziehen. Der wichtigste ist: Es ist an der Zeit, das paternalistische Modell der EU, die französisch-deutsche Bevormundung, auch „Führung“ genannt, die, europäisch verpackt, vor allem der Pflege eigener Interessen dient, abzulegen. Sein Fortbestehen wäre fatal.

Der Niedergang dieser Art von Führung, den wir gerade erleben, wird unweigerlich zu einem neuen Kräftemessen zwischen den Mitgliedstaaten der EU führen. Eine demokratischere EU der Nationalstaaten sollte das Resultat sein.

RdP




Im Ernstfall. Deutschland will zusehen wenn Polen wird untergehen

Polnische Analyse für den Fall eines russischen Angriffs. 

Ob Besetzung der Krim, das russische Vorgehen im Donbas oder Lukaschenkos von Moskau abgesegnete „Migranten-Offensive“ auf die polnische Ostgrenze. Ein Angriff auf Polen und die baltischen Staaten kann nicht mehr als ganz und gar undenkbar betrachtet werden. Bei allen diesbezüglichen Denkspielen sollte man in Polen einen Aspekt unbedingt beherzigen: kannst Du zählen, zähle nicht auf Deutschland.

In der russischen Enklave Kaliningrad und in den russischen Gebieten, die unmittelbar an Lettland und Estland grenzen, befinden sich heute die gröβten Truppenansammlungen innerhalb Europas. Die militärische Schwäche der Nato in dieser Region und eine enorme bewaffnete Überlegenheit Russlands, laden Moskau regelrecht zu einem Vorstoβ ein.

Die russische Übermacht äuβert sich vor allem in der Fähigkeit, aus dem Stand, zeitlich und räumlich begrenzte, unvermutete Blitzangriffe vornehmen zu können. Ein solcher Überfall auf Nato-Gebiet würde wahrscheinlich nicht unbeantwortet bleiben. Der Kreml kann jedoch dabei davon ausgehen, dass eine Erwiderung der Nato so viel Zeit in Anspruch nehmen wird, dass Westeuropa, allen voran Deutschland, vor vollendete Tatsachen gestellt, die russischen Eroberungen hinnimmt und den „Triumph der Vernunft“ verkündet.

So könnte der Ernstfall aussehen

Durchaus vorstellbar wäre, dass die Russen innerhalb von 72 Stunden zwei oder gleich alle drei baltische Staaten überrollen, und dann der Nato mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen würde, sollte das Bündnis den Versuch wagen die besetzten Gebiete zurückzuerobern.

Die Nato-Ostflanke.

Bei einem Überraschungsangriff würden sich die Russen zudem größte Mühe geben, die symbolischen Nato-Truppenkontingente im Baltikum (insgesamt ca. 2.500 Soldaten an drei Standorten) friedlich und ohne Opfer außer Gefecht zu setzen. Die entwaffneten Mannschaften würden umgehend wieder im Westen landen. Solch eine „Geste des guten Willens“ würde ihre mildernde Wirkung ganz bestimmt nicht verfehlen.

Friedensbewegte Massenproteste in Westeuropa, vor allem in Deutschland, lautstarke Appelle „vernünftiger“ Politiker und Medien „mit Russland zu reden“ und „Russland zu verstehen“ könnten derweil das Schicksal des wieder einmal von Russland besetzten Baltikums schnell besiegeln.

Seine geographische Lage dürfte es Polen kaum erlauben, den drei baltischen Staaten zur Hilfe zu kommen. Wie eine geballte Faust schwebt die russische Enklave Kaliningrad über dem Land, und im Osten erstreckt sich das mit Russland militärisch eng verwobene Weiβrussland. Polen hätte groβe Mühe das eigene Territorium zu verteidigen.

Warschau liegt nur knapp 300 Kilometer von den Ausgangsstellungen des potentiellen Angreifers entfernt und wäre schnell Ziel eines starken russischen Zangenangriffs von Norden (Kaliningrad) und Osten (Weiβrussland), der die polnischen Streitkräfte im Raum der sog. Suwalki-Lücke umgehend von der polnisch-litauischen Grenze abschneiden würde.

Teile Polens, vielleicht sogar mit Warschau, würden den Russen in die Hände fallen. Von Moskau mit einem atomaren Angriff erpresst, könnte der Westen, auch das Biden-Amerika, ebenfalls im Falle Polens schnell „Ruhe geben“ und sich mit der durch die russische Aggression geschaffenen Tatsachen „realistisch“ abfinden.

Ob Moskau dieses düstere Szenario umsetzten könnte, würde vor allem von Deutschland abhängen. Ohne das Engagement des Schlüsselstaates der Nato in Mitteleuropa mit seinen ausgebauten US-Militäreinrichtungen, wäre ein Zurhilfekommen nicht denkbar. Aber hat Deutschland, etwas salopp ausgedrückt, Lust und Kraft, diese Aufgabe wahrzunehmen? Aus heutiger Sicht weder noch.

Deutsche würden östliche Nato-Partner bei Angriff alleinlassen

Meinungsumfragen lassen keinen Zweifel daran. Mehr als jeder zweite Deutsche ist dagegen, östlichen Bündnismitgliedern wie Estland, Polen oder Lettland militärisch beizustehen, wenn sie von Russland angegriffen werden. So die Antwort von 53 Prozent der Befragten bei einer entsprechenden Umfrage des renommierten Washingtoner Pew Research Center im Mai 2017.

Deutscher Antiamerikanismus.

In keinem europäischen Land, das für die Befragung untersucht wurde, ist die Ablehnung der sogenannten Beistandspflicht nach Artikel 5 – der das Herz der Nato bildet – so groß. Zum Vergleich: In den Niederlanden (23 Prozent), Polen (26 Prozent), in Kanada und den Vereinigten Staaten (beide 31 Prozent) sind die Gegner der Beistandspflicht klar in der Minderheit. In Frankreich und Großbritannien liegt die Ablehnungsrate bei jeweils 43 Prozent und in Spanien bei 46 Prozent.

In Deutschland sind vor allem Frauen dagegen, den östlichen Verbündeten im Falle eines russischen Angriffs zu helfen (62 Prozent). In Ostdeutschland unterstützen nur 29 Prozent der Befragten die Beistandspflicht, im Westen sind es immerhin 43 Prozent. Insgesamt sind nur vier von zehn Deutschen dafür, ein anderes Nato-Mitglied im Falle eines russischen Angriffs zu verteidigen.

Deutsche Zustimmung für Russland.

Spätere, wenn auch weniger repräsentative Umfragen, belegen diese Einstellung, die sich eher noch  verfestigt. Aber auch nur ein Blick in die deutschen Medien und in die Leserkommentare genügt, um sich das enorme Ausmaß der gesellschaftlichen Zustimmung für Russland und die gleichzeitige Ablehnung der Nato, der militärischen US-Präsenz in Deutschland und der Bundeswehr zu vergegenwärtigen. Diese weit verbreitete Haltung bleibt nicht ohne Einfluss auf den fortschreitenden Verfall der Bundeswehr.

Auch die deutsche Politik hält wenig von der Beistandspflicht

Daniel Kochis gilt als ein renommierter Analyst der konservativen Denkfabrik Heritage Foundation. In seinem auf dem Fachportal RealClear Defence veröffentlichten Artikel fordert er die neue deutsche Ampel-Regierung auf, Versprechen einzuhalten, die Berlin der Nato seinerzeit gegeben hat.

Es geht vor allem darum, die deutschen Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen. Leider muss man davon ausgehen, dass solche Appelle in Berlin weiterhin auf taube Ohren stoßen werden. Äußerungen der noch amtierenden CDU-Verteidigungsministerin und Erklärungen derjenigen, die Deutschland die nächsten vier Jahre lang regieren sollen, lassen keine andere Deutung zu.

Die neue Regierung dürfte in dieser Hinsicht noch unnachgiebiger sein. Das zeigt ein kürzlich veröffentlichtes zwölfseitiges Papier der angehenden Regierungskoalition, in dem Sicherheitsfragen nur in den letzten zehn Absätzen äußerst kurzsilbig behandelt werden.

Die Verhandlungsführer der Ampel-Koalitionsparteien betonen in dem Dokument, dass „die Nato das Fundament der Sicherheit ist“ und schreiben im nächsten Satz über den Willen, die Ausrüstung der deutschen Streitkräfte zu modernisieren. Daraus lässt sich schließen, dass Berlin immerhin neue Flugzeuge kaufen will, damit Deutschland weiterhin am Programm der nuklearen Teilhabe teilnehmen kann, aber nicht viel mehr.

Kochis erinnert daran, dass die Nato bereits 2006 die Notwendigkeit erörterte, die Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent zu erhöhen, wovon mindestens 20 Prozent für „große“ Projekte zur Modernisierung der Ausrüstung aufgewendet werden sollten. Entsprechende Vereinbarungen wurden beim Nato-Gipfeltreffen in Newport/Wales, im September 2014 getroffen. Die Nato-Staaten wollten damals diese Verpflichtungen bis 2024 umsetzen.

Die Linke-Plakat.

Im Falle Deutschlands jedoch ist dies völlig abwegig. Berlin erklärte nämlich  schon vor der Pandemie, im Jahr 2019, als Deutschland, wohlgemerkt, noch einen Haushaltsüberschuss hatte, dass es das Zwei-Prozent-Ziel erst im Jahr 2031 erreichen könne. Das wäre ein Vierteljahrhundert nachdem es zum ersten Mal von den Verbündeten angepeilt wurde.

Gewiss, auch Berlin hat seine Militärausgaben erhöht. Heute gibt Deutschland 25 Milliarden Dollar mehr für die Verteidigung aus als 2015, aber das sind immer noch lediglich 1,53 Prozent des deutschen BIP.

Der zitierte Analyst der Heritage Foundation schreibt, dass selbst die Perspektive 2031, wenn Deutschland nach den jüngsten Erklärungen seinen Verpflichtungen endlich nachkommen will, ernsthaft gefährdet ist.

Erstens, weil die neue Regierungskoalition die Sozialausgaben deutlich erhöhen möchte, was sie höchstwahrscheinlich veranlassen wird, Einsparungen im Militärhaushalt vorzunehmen. Zweitens wächst in Berlin die Überzeugung, dass mit der Machtübernahme durch die Biden-Administration, die von Trump stark betonte „Zwei-Prozent-Frage“ nicht mehr so wichtig ist und man sie getrost zu den Akten legen kann.

Zwei-Prozent-Fetisch. Karikatur von Harm Bengen.

Sollten sich diese Vorhersagen bestätigen, so Kochis, „würde ein solches Signal in Moskau als Schwäche und in Osteuropa als Unbekümmertheit ausgelegt werden. In den USA würde es die Überzeugung festigen, dass die niedrigen europäischen Verteidigungsausgaben ein guter Grund für die USA sein sollten, Europa zu verlassen.“ Eine bessere Einladung an Moskau, wie die aus Berlin, militärisch im Baltikum und in Polen tätig zu werden, könnte es nicht geben.

Viel Geld für eine schlechte Bundeswehr

An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Wie ist der tatsächliche Zustand der deutschen Streitkräfte? Man könnte denken, dass ein Land wie Deutschland, das im Jahr 2020 58,9 Milliarden Dollar für die Verteidigung ausgegeben hat (berechnet nach der NATO-Methode und somit ohne Ausgaben für militärische Renten) über erhebliche Verteidigungsfähigkeiten verfügen muss. Polen gibt, nach derselben Berechnungsmethode, 7,8 Milliarden Dollar für seine Armee aus.

Auf dem Papier ist die Stärke der deutschen Landstreitkräfte, nach Angaben der britischen Denkfabrik IISS, die jedes Jahr den „Military Balance“-Bericht veröffentlicht, in dem der Zustand der Armeen aller Länder der Welt beschrieben wird, nicht viel größer als die Polens.

Die Deutschen haben 62.150 Soldaten und Offiziere, die Polen 58.500. In der deutschen Luftwaffe dienen 16.600, in der polnischen 14.300 Mann. Deutschland besitzt eine viel größere Kriegsmarine, während Polen über deutlich stärkere Spezialkräfte verfügt.

Wenn sich die „Auf-dem-Papier-Bestände“ der deutschen Streitkräfte nicht wesentlich von den polnischen unterscheiden, dann sind sie vielleicht in Bezug auf Ausrüstung, Ausbildung und Einsatzbereitschaft überlegen? Zur Beantwortung dieser Frage sei auf den soeben von der Heritage Foundation veröffentlichten Bericht „Index of Military Strength“ verwiesen, der unter anderem eine Analyse der Fähigkeiten der wichtigsten amerikanischen Verbündeten in der Welt enthält. Auch dem militärischen Potenzial Deutschlands wurde in dieser Studie einige Aufmerksamkeit geschenkt.

Nach Meinung der amerikanischen Fachleute „sind die deutschen Streitkräfte nach wie vor unterfinanziert und schlecht ausgerüstet“. Die Autoren der Studie zitieren einen anonymen deutschen Diplomaten, der von der „Financial Times“ mit den Worten zitiert wird, dass „Deutschland seinen Verteidigungshaushalt auf 3,0 bis 3,5 Prozent des BIP verdoppeln sollte, da es sonst Gefahr läuft, völlig taub, blind und wehrlos zu sein“.

Die deutschen Streitkräfte, die nicht nur in Litauen oder im Kosovo präsent sind, sondern auch Expeditionsaufgaben übernehmen, befinden sich, nach Meinung der amerikanischen Fachleute, immer noch auf einem niedrigen Niveau der Gefechtsbereitschaft, die heute bei 74 Prozent liegt.

Nach Ansicht der Experten der Heritage Foundation, sind die Anwesenheit der Bundeswehr bis vor kurzem in Afghanistan sowie weiterhin in Mali, aber auch z.B. die Teilnahme an der Überwachung des Luftraums der baltischen Staaten, nur möglich, weil deutsche Einsatzkräfte für die Durchführung dieser Missionen ihrer Ausrüstung in der Heimat „beraubt“ werden. Das wirkt sich nachteilig auf ihre Wirksamkeit und Ausbildung für die Heimatverteidigung aus.

Gängige Bundeswehr-Berichterstattung in Deutschland.

Das Ausmaß der Probleme wurde auch im Bundestagsbericht von 2021 noch einmal deutlich, in dem u.a. festgestellt wurde, dass nur 13 Leopard-2 Panzer einsatzbereit waren, statt der für die Ausbildung erforderlichen 35.

Auch die Personalprobleme sind nicht gelöst. Die Unzulänglichkeiten betreffen im Übrigen nicht nur die Bodentruppen, denn: „Fast die Hälfte der Piloten der Luftwaffe erfüllten die Anforderungen der NATO-Ausbildung nicht, da aufgrund des Mangels an verfügbaren Flugzeugen die Kriterien hinsichtlich der Flugstunden nicht erfüllt werden können.“

Auch fehlen Piloten, denn von den 220 Stellen für Kampfflugzeugpiloten sind nur 106 besetzt; bei den Hubschraubern ist das Verhältnis ähnlich: von 84 benötigten Piloten sind 44 im Dienst. Bei der deutschen Marine sieht es nicht besser aus, nicht nur wegen des Personalmangels, sondern auch, weil Einheiten aus dem Dienst genommen werden.

Wie im März 2021 bekannt wurde, verwenden mehr als 100 deutsche Schiffe, darunter auch U-Boote, russische Navigationssysteme, die nicht den NATO-Standards entsprechen. Es besteht die Möglichkeit, dass sie „gehackt“ werden, was den größten Teil der deutschen Marine die Einsatzfähigkeit kosten könnte.

Deutschland möchte seine Streitkräfte, vor allem die Reservekomponente, vergrößern. Nach Ansicht von Experten der Heritage Foundation werden diese Pläne, obwohl sie als sinnvoll erachtet werden sollten, nur schwer umsetzbar sein. Im Jahr 2020 ist die Zahl der Freiwilligen, die sich zur Teilnahme an der Ausbildung bereit erklärt haben, um 19 Prozent gesunken, und es gibt immer noch 20.200 offene Stellen bei der Bundeswehr. Das Durchschnittsalter der Soldaten ist seit 2012 um drei Jahre gestiegen und liegt heute bei 33,4 Jahren.

Im März 2021 hat der Bundestag die Beteiligung Deutschlands an einem gemeinsamen europäischen Drohnenbauprogramm (an dem auch Frankreich, Italien und Spanien beteiligt sind) gebilligt. Die Bundeswehr darf aber weiterhin keine Kampfdrohnen besitzen und Soldaten, die Beobachtungsdrohnen bedienen ist es nicht erlaubt den Einsatz von Drohnen als „taktische Waffen“ zu üben. Angesichts der stürmischen Entwicklung der Kampfdrohneneinsätze auf den modernen Schlachtfeldern sind die deutschen Streitkräfte auch in diesem Bereich ins Hintertreffen geraten.

Wenn die Russen bis 2031 warten, werden die Deutschen innerhalb von drei Monaten antreten

Im September veröffentlichte ebenfalls die schwedische militärische Denkfabrik FOI einen Sonderbericht über die Fähigkeiten der Bundeswehr. Ihre Erkenntnisse decken sich größtenteils mit dem, was die amerikanischen Fachleute geschrieben haben.

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Deutschen, nach Ansicht der Autoren der schwedischen Studie, im Kriegsfall in der Lage wären, innerhalb einer Woche vom Beginn der Kampfhandlungen an, nur 3 bis 4 mechanisierte Bataillone aufzubieten, und dies nur an ihren festen Standorten. Hinzu kämen 2, vielleicht 3 leicht bewaffnete Bataillone der Infanterie, die auf dem Luftweg ins Kampfgebiet gebracht werden könnten.

Auf die Antwort auf die von der Bild-Zeitung gestellte Frage ist man auch in Polen gespannt.

Das ist, angesichts der jährlichen Verteidigungsausgaben von knapp 59 Milliarden Dollar, kein beeindruckendes Potenzial, und schon gar nicht eines, das Moskau erschrecken und die russische Elite dazu bringen würde, auf mögliche aggressive Schritte zu verzichten. Das Ziel des deutschen Verteidigungsministeriums ist es, und das erst im Jahr 2031, innerhalb von drei Monaten nach Kriegsbeginn drei volle Divisionen an Bodentruppen „in die Schlacht zu werfen“.

Aus polnischer Sicht ist die Botschaft klar. Selbst wenn Berlin seine Pläne weiterverfolgt und endlich die 2014 eingegangenen Verpflichtungen 2031 erfüllt, könnte der deutsche „Entsatz“ erst drei Monate nach Kriegsbeginn an der Ostflanke eintreffen.

Natürlich nur wenn diese „ehrgeizigen“ Absichten nicht von der neuen Koalition blockiert werden, und wenn in Berlin die Entscheidung fallen würde gegen den russischen Aggressor zu kämpfen, was aus heutiger Sicht wenig wahrscheinlich erscheint.

Der Bericht erschien im Internetportal „wPolityce.pl“ („inderPolitik.pl“) am 5. November 2021

RdP




Reparationen für Polen. Ein Deutscher spricht Klartext

Deutschland hat sich fast umsonst von der Vernichtung Polens freigekauft.

„Polen sollte eine europäische Initiative zur Wiedergutmachung starten. Die deutsche Heuchelei muss aufgedeckt werden“, sagt Dr. Karl Heinz Roth, Jahrgang 1942, deutscher Historiker und Arzt, Experte der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (SfS) in Bremen, Autor des Buches „Verdrängt, aufgeschoben, abgelehnt. Die deutschen Reparationsschulden gegenüber Polen und Europa“.

Nachfolgend ein Gespräch mit ihm.

Einerseits sagen die Deutschen, dass sie ein tiefes Schuldgefühl für die Verbrechen des Dritten Reiches empfinden, dass sie ihre Vergangenheit aufgearbeitet haben und nichts leugnen. Andererseits lehnen sie nicht nur die Möglichkeit ab, Reparationen an Polen zu zahlen, sondern sogar die Diskussion darüber. Für sie ist der Fall abgeschlossen. Wenn Schuld vorliegt, sollte es eine Wiedergutmachung geben oder nicht?

Karl Heinz Roth.

Auf jeden Fall. Dass dies nicht der Fall ist, liegt am Zynismus der deutschen Machtpolitik. Dieser Zynismus führt dazu, dass die berechtigten Forderungen der Entschädigungsberechtigten als Betteln um Almosen dargestellt werden. Opfern wird das Recht verweigert, das einzufordern, was ihnen zusteht. Dadurch entsteht eine Art Missverhältnis: Ein mächtiger Schuldner entscheidet, wie er die Forderungen derjenigen behandelt, denen er Unrecht getan hat.  Das ist verwerflich und nicht annehmbar.  Deutschland behandelt Polen wie eine schwache, lästige Peripherie.

Sie kommen, zumeist zu bedeutenden historischen Jahrestagen, leisten Abbitte. 

Ja, denn dieses Schuldgefühl wird durch eine sehr wirkungsvolle, gut funktionierende Erinnerungskultur bedient. Aber es gibt keine Bereitschaft, die materielle Seite dieser Erinnerungskultur anzunehmen. Die Opfer und ihre Nachkommen, denen so viel Unrecht widerfahren ist, mussten irgendwie weiterleben. Sie müssen weiterleben. Indem ihnen das Recht auf materielle Entschädigung verweigert wird, wird ihnen erneut Schaden zugefügt. Sie werden auf die Rolle von Bettlern reduziert. Solange auf deutscher Seite keine Bereitschaft besteht, mit Polen unvoreingenommen über Reparationen zu sprechen, ist das ganze Gerede von Schuld nichts weiter als Heuchelei.

Warschau 1946.

Westdeutschland leistete in den 1950er und 1960er Jahren Reparationszahlungen an Israel und den Jüdischen Weltkongress, weil es nach dem Krieg in die internationale Gemeinschaft zurückkehren wollte, und Israel blockierte diese Bemühungen mit Erfolg. Man könnte also sagen, dass die Juden, wenn es um Deutschland ging, eine wirksame Methode gefunden hatten. Was kann Polen tun?

Polen verfügt nicht über ein solches Druckmittel, was unter anderem auf die Ereignisse der letzten Jahrzehnte zurückzuführen ist. Die Regierung in Warschau hat jedoch die Möglichkeit, auf verschiedenen Ebenen Druck auf Deutschland auszuüben.

Die erste Möglichkeit besteht darin, das Thema zu internationalisieren, damit Polen nicht allein handeln muss. Ein möglicher Ort für ein völkerrechtliches Vorgehen wäre, meines Erachtens, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), wo ein Schiedsverfahren angestrebt werden könnte, und auch der Internationale Gerichtshof. Das Thema sollte ebenfalls vor das Europäische Parlament gebracht werden und die Europäische Kommission sollte aktiviert werden. Kurzum, Polen sollte eine europäische Initiative zur Wiedergutmachung starten.

Zugleich sollten wir eine internationale Konferenz zu diesem Thema veranstalten. Damit dies gelingt, ist die Veröffentlichung des Berichts der Parlamentarischen Gruppe des Sejms für Wiedergutmachung über die Kriegsverluste Polens unabdingbar.

Im Fall von Griechenland hat sich die Situation dadurch völlig verändert. Die griechische Regierung hat der deutschen Regierung eine offizielle Note zu diesem Thema übermittelt. Heute fordern die deutschen Grünen, dass Berlin auf die Forderungen Griechenlands mit Respekt reagiert und sie berücksichtigt, anstatt sie einfach beiseite zu schieben.

Warschau im September 1945.

Die Grünen werden wahrscheinlich die neue Regierung in Deutschland mitbegründen. Wenn Polen seine Verluste bewertet und offiziell Reparationen fordert, kann die deutsche Seite dies nicht einfach ignorieren, wie sie es bisher getan hat. Sie wird diese Doppelmoral nicht länger aufrechterhalten können. Diese deutsche Haltung muss entlarvt werden. Zeigen Sie allen diese Heuchelei.

Die Deutschen behaupten jedoch, dass die kommunistische Regierung 1953 auf Reparationen verzichtet und dass das 2+4-Abkommen vom September 1990 die Frage endgültig abgeschlossen habe.

Das ist Unsinn. Für Reparationen gibt es keine Verjährungsfrist. Die Erklärung von 1953, in der die Volksrepublik Polen auf ihre Ansprüche gegenüber Deutschland verzichtete, ist aus völkerrechtlicher Sicht ungültig. Polen war damals kein souveräner Staat und hat diesen Schritt nicht freiwillig, sondern auf Druck der Sowjets, im Interesse ihrer damaligen Deutschlandpolitik getan. Es ging darum den Abschluss eines Friedensvertrags zu erleichtern und die deutsche Vereinigung unter sowjetischen Vorzeichen zu unterstützen, die letztendlich nicht zustande kam. Dieses Dokument ist daher nicht rechtskräftig.

Der 2+4-Vertrag, das Abkommen Deutschlands mit den vier Mächten, ist de facto ein Friedensvertrag, wird aber nicht als solcher bezeichnet, weil Deutschland nicht wollte, dass Reparationen in den Vertrag aufgenommen werden. Bis zur Unterzeichnung dieses Vertrages lehnte die deutsche Regierung jedes Gespräch über Reparationen ab, da sie behauptete, dies könne nur in einem Friedensvertrag besprochen werden.

Warschau im Oktober 1945.

Deshalb ist diese Frage noch immer nicht geklärt, und die Länder, die dieses Dokument nicht unterzeichnet haben, wie z. B. Polen, sind nicht daran gebunden. Deutschland hat Millionen von Menschen ermordet, deren Lebensgrundlagen zerstört und ihre Kultur geplündert. Es hat sich relativ billig aus der Misere herausgekauft. Das ist inakzeptabel.

Sehen Sie sich an, was mit den Reparationen für den deutschen Völkermord während der Kolonialzeit in Namibia geschehen ist. Ich kenne einen Historiker, der als Berater an den Verhandlungen teilgenommen hat. Er hielt mich über den Verlauf der Gespräche auf dem Laufenden. Dort war es dasselbe: Man versuchte, das Wort „Reparationen“ nicht zu verwenden, sondern sprach von freiwilliger Entwicklungshilfe für Namibia. Ein weiteres Almosen anstelle von Reparationen.

Ich habe mehrfach an Debatten über deutsche Kolonialverbrechen teilgenommen. Jedes Mal warnten mich fortschrittliche Kollegen davor, die Frage der Reparationen an Namibia zu richten, weil dann andere ehemalige Kolonien wie Kamerun oder Togo auf den Plan treten würden. Dies war auch 1975 der Fall, als Deutschland Polen ein Darlehen von 1 Milliarde Mark gewährte, das als „humanitäre Hilfe“ dargestellt wurde.

Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, sagte in einem Interview, dass die Deutschen Polen nicht mehr mit dem Krieg in Verbindung brächten und nicht sagen könnten, welche Nation am meisten unter dem Krieg gelitten habe. Und die rituellen Gesten, die anlässlich verschiedener Jahrestage gemacht werden, sind leer geworden. Wie wirkt sich dies auf die Reparationsdebatte aus?

Warschau im Juli 1945.

Es handelt sich in der Tat um ein bestimmtes Phänomen, das vor allem bei der jüngeren Generation der Deutschen zu beobachten ist. Bis heute ist es nicht gelungen, bei den Deutschen ein Bewusstsein für die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen zu schaffen, die sich aus der deutschen Besatzungspolitik in Europa ergeben. Jedes Mal, wenn ich versuchte, die Frage der Reparationen für Polen mit Politikern der Grünen zu diskutieren, wollten sie nicht darüber sprechen. Junge Menschen. Dies ist ein großes Problem, dem wir uns stellen müssen. Wir müssen nach Möglichkeiten suchen, diese Blockade zu durchbrechen.

Ich war daran beteiligt, all diese griechisch-deutschen Initiativen auf den Weg zu bringen, die wahrscheinlich zu einem Kompromiss über Reparationen für Athen führen werden. Im Jahr 2013 schrieb ich über diese Reparationsschulden Deutschlands gegenüber Griechenland. Dadurch wurde mir klar, dass meine Sichtweise zu eng war, und ich habe sie erweitert. In den Jahren 2015 und 2016 fanden große Konferenzen mit deutschen und griechischen Historikern statt, die der Debatte neuen Schwung verliehen.

Ich denke, dass auch im Falle Polens solche zweiseitigen Initiativen notwendig und wirksam wären. Es muss Druck auf die deutsche Regierung ausgeübt werden, insbesondere von deutscher Seite. Die griechische Lobby in Deutschland spielte dabei eine wichtige Rolle. Auf polnischer Seite gibt es keine solche Lobby, und die Abneigung in Deutschland gegen Polen ist enorm und wächst.

Der Bundestag hat sich vorerst darauf geeinigt, in Berlin ein Denkmal für die polnischen Opfer des Krieges zu errichten, verbunden mit einem Begegnungszentrum. Ist das ein Trostpreis?

Warschau im Oktober 1945.

Dieses Denkmal ist ein weiteres Zugeständnis an die Erinnerungskultur. Ein kleiner Apfel, um uns vor der Ernte, d.h. vor den Reparationen zu schützen. Ein kleiner Schritt, um die Reparationsdebatte in Polen zu neutralisieren. Eine solche Gedenkstätte kostet wenig. Da sind wir also wieder beim deutschen Zynismus. Polen sollte sich mit einem Museum und einem Denkmal begnügen. Es bleibt die Frage, wann all diese Tricks aufhören werden.

Deutschland versteht sich heute als modernes, fortschrittliches, weltoffenes und tolerantes Land. Ein Land, auf das dieser düstere Abschnitt der Geschichte nicht mehr passt. Vielleicht ist das der Grund für die Zurückhaltung bei der Diskussion über Reparationen? Die Stiftungen deutscher Unternehmen, die früher von der Zwangsarbeit profitiert haben, wollen nicht mehr Geld für die Entschädigung der Opfer spenden, sondern Workshops für junge Menschen über Demokratie und die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Faschismus organisieren.

Genau das ist der Fall, und ich habe es am eigenen Leib erfahren. Ich habe einmal in Köln einen Vortrag in einer Gedenkstätte gehalten. Der Vortrag wurde aufgezeichnet und von der Henkel-Stiftung übernommen. Er löste eine heftige interne Diskussion aus. Oder besser gesagt: einen Streit. „Hier muss man nach vorne schauen, in die Zukunft, während er sich mit der Vergangenheit beschäftigt.“

Deshalb muss der Druck auf Deutschland global sein, die USA und die jüdische Diaspora sollten Druck auf Deutschland ausüben. Ich habe mir das Abkommen zwischen Israel und Westdeutschland aus dem Jahr 1952 genau angesehen, und es ist ein klassisches Reparationsabkommen. Es finanzierte den Aufbau des Staates Israel. Die deutsche Bürokratie wird sich sicherlich dem Druck der Amerikaner und der jüdischen Lobby in den USA beugen. Bald wird mein Buch in Übersee erscheinen, und ich erwarte eine Diskussion, die auch die jüdische Welt mit einbeziehen wird.

Warschau im Februar 1946.

Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber die jüdische Welt zieht es vor, über die angebliche Mitschuld Polens am Holocaust zu debattieren und Forderungen an den polnischen Staat zu stellen.

Ich weiß, und auch hier ist eher eine offensive als eine defensive Haltung gefragt. Polen darf in diesem Kampf nicht alleinstehen, sonst verliert es seine Glaubwürdigkeit.

In der deutschen Debatte um die Reparationen wird immer wieder das Argument vorgebracht, dass Deutschland die von Polen geforderte Summe von fast 1 Billion Euro nicht aufbringen kann, dass andere Länder hinter Polen in die Schlange anstellen und die Zahlungen kein Ende nehmen werden.

Das deutsche Wirtschaftspotenzial ist so groß, dass das Land die Reparationen problemlos tragen kann. Deutschland hat über zwanzig Jahre hinweg 1,2 Billionen Euro für die Eingliederung der ehemaligen DDR ausgegeben. Das war überhaupt kein Problem. Die strukturellen Defizite der neuen Bundesländer, die sich sonst negativ auf das Wirtschaftswachstum des wiedervereinigten Deutschlands ausgewirkt hätten, wurden so beseitigt.

Warschau im Herbst 1945.

Die Zahlungen an die europäischen Länder, die am meisten unter der deutschen Besatzung gelitten haben, insbesondere an die sogenannten „kleinen Alliierten“, sollten daher kein Problem darstellen. Sie würden keine Krise in Deutschland auslösen.

Natürlich muss die Wiedergutmachung nicht ausschließlich finanzieller Art sein. Man kann sich Unterstützung für die von Deutschland zerstörten Städte vorstellen, Technologietransfer, Kapitalbeteiligung. Viele Opfer des Dritten Reiches leben heute in Armut. Der deutsche Staat sollte ihnen Renten zahlen.

Aber wir werden nur darüber reden können, wenn es uns gelingt, im Rahmen einer größeren europäischen oder internationalen Initiative Druck auf Berlin auszuüben. Polen braucht in diesem Kampf Verbündete. Andernfalls wird nichts geschehen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die derzeitige polnische Regierung, nach Ansicht der liberalen Elite, einschließlich der in Washington, die falsche ist. Die Polen fordern Reparationen, weil sie die Deutschen nicht mögen oder weil sie eine antideutsche Stimmung auslösen wollen, um in der Innenpolitik Land gut zu machen. Wie kann das überwunden werden?

Das ist es, was mir die Masse der deutschen und anderen Historiker vorwirft. Dass ich die polnischen Rechtspopulisten und ihre bösen Absichten unterstütze. Wenn man keine anderen Argumente hat, greift man zum politischen Knüppel. Und ich bin ein alter Linker. Das ist natürlich nur ein Vorwand, um den gerechten Forderungen Polens nicht nachgeben zu müssen. Ziemlich erbärmlich, um genau zu sein.

Warschau im Herbst 1945.

Gibt es ein Land, das Reparationen von Deutschland fordert und jetzt eine Chance, diese zu erhalten, wenn auch nur teilweise?

Griechenland. Die so genannte Zwangsanleihe, die Griechenland während des Krieges dem Dritten Reich gewähren musste, wird wahrscheinlich zurückgezahlt werden. Ich hoffe, das wird vom neuen Bundestag verabschiedet, weil die griechische Lobby bei den Grünen stark vertreten ist. Wahrscheinlich werden die Grünen versuchen, das auch in den Koalitionsvertrag zu bringen.

Das könnte die Frage der polnischen Ansprüche positiv beeinflussen, allerdings nur, wenn der Bericht über die polnischen Kriegsverluste veröffentlicht wird. Das Fenster ist schmal und kann sich ebenso schnell wieder schließen, wie es sich öffnet. Diese Gelegenheit darf nicht verpasst werden.

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 18.Oktober 2021.

Lesen Sie dazu auch:

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen“ Teil 1. Beweggründe, Argumente, Pläne.

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen“ Teil 2. Akten, Aufstellungen, Analysen. Was hat Polen in der Hand.

„Deutsche Reparationen an Polen. Wie viel und wofür?

RdP




Der unbequeme Polenadvokat

Am 2. Mai 2020 starb Stefan Hambura.

Sein Markenzeichen war die nach oben offene Maulwurfbrille mit dem seltsam geschwungenen Designergestell. Stefan Hambura war Anwalt mit einem gewissen Hang zur Selbstdarstellung und ein Störenfried. Er wurde nicht müde durch sein Poltern die institutionellen Tretmühlen der polnisch-deutschen Verständigung aus dem Takt zu bringen. Er riss das Pflaster ab, mit dem sie die wunden Stellen im polnisch-deutschen Verhältnis zu kaschieren versuchten.

Kein Wunder, dass sich in beiden Ländern die Trauer nach seinem plötzlichen Tod stellenweise sehr in Grenzen hielt. Vor allem dort, wo man in Ministerien, Botschaften, Konsulaten, Austauscheinrichtungen, an wissenschaftlichen Instituten für die polnisch-deutschen Beziehungen verantwortlich zeichnet und meistens nur seine Ruhe haben möchte. Dort galt Hambura als ein lästiger Quälgeist. Er störte die Routine. Regelmäßig brachte er die Versöhnungs-Bürokraten in Erklärungsnöte, zwang sie zum Tätigwerden in Bereichen, die sie geflissentlich übersahen, in denen man sich keine Meriten erwerben, dafür aber sehr schnell die Finger verbrennen konnte.

Dazu verkörperte Hambura geradezu mustergültig ein Paradoxon, das immer wieder mal vorkommt und stets für Verwirrung sorgt. Ein Deutscher aus Polen wurde zu einem polnischen Patrioten in Deutschland. Seine Gegner schimpften ihn gar einen polnischen Nationalisten.

Der Deutsche in Polen

Als Stefan Hambura 1961 in Gleiwitz auf die Welt kam, hieß die Stadt schon seit sechzehn Jahren, seit 1945, Gliwice. Vor dem Zweiten Weltkrieg lag sie auf der deutschen Seite, direkt an der Grenze, die Oberschlesien in einen deutschen und in einen polnischen Teil spaltete. Hier täuschten die Nazis am Abend des 31. August 1939 den „polnischen Bandenüberfall auf den Sender Gleiwitz“ vor, der ihnen den Vorwand zum Einmarsch in Polen liefern sollte.

In der viertgrößten Stadt Oberschlesiens wohnten in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts, trotz der Flucht vor der Roten Armee und trotz aller Aussiedlungen unmittelbar nach dem Krieg, immer noch nicht wenige Deutsche, nun mit polnischer Staatsangehörigkeit. Die Familie des Buchhalters Hambura gehörte dazu.

Unter den Nachbarn der Hamburas gab es immer mehr zugezogene Polen aus anderen Landesteilen, mit ihren eigenen Kriegserlebnissen. Auf Deutsche und Deutschland war man in Gliwice, wie anderswo, nicht gut zu sprechen, und die kommunistischen Behörden trugen dazu wesentlich bei.

Stefan Hambura in ganz jungen Jahren.

Deutsch als Fremdsprache wurde damals in diesen Gegenden an den Schulen grundsätzlich nicht unterrichtet. Stefan und sein Bruder sprachen den polnisch-oberschlesischen Dialekt, die „godka“, in dem nicht wenige Germanismen vorkommen. Aber wenn die Eltern wollten, dass die Kinder nicht verstehen sollten worüber sie redeten, dann sprachen sie Deutsch. Einige Male setzte der Vater dazu an, den Söhnen Deutsch mit Hilfe eines Fremdsprachenlehrbuchs beizubringen. Spätestens aber nach zwanzig Lektionen schlief die Sache in der Alltagsroutine wieder ein, so die Erinnerung des Anwalts Hambura an seine Kindheit.

Jedes Mal wenn beide Söhne in eine Kinder-Sommerfreizeit fuhren, beschworen sie die Eltern: „Auch wenn euch die Erzieherinnen Bonbons geben und gut zureden, sagt lieber nicht, dass wir nach Deutschland wollen“. Doch das war ohnehin bekannt. Seit Mitte der Sechzigerjahre reichten die Hamburas einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik nach dem anderen ein, „zwecks Familienzusammenführung“.

Europa war damals gespalten, der Eiserne Vorhang sehr dicht. Im kommunistischen Polen galt zu dieser Zeit schon die offizielle Auslegung, dass es, bis auf wenige Ausnahmen, keine Deutschen mehr im Land gäbe. Sie seien 1945 vor den Sowjets geflohen oder zwischen 1945 und 1949, gemäß dem Potsdamer Abkommen, zwangsweise ausgesiedelt worden. Überdies gab es die Spätaussiedlerwelle zwischen 1955 und 1959, als im Zuge des politischen Tauwetters nach dem Ende des Stalinismus noch einmal knapp 300.000 Deutsche das Land verlassen durften.

Der Rest, konzentriert vor allem im Oppelner- und im oberschlesischen Raum, das waren, nach offizieller Lesart, „Autochthone“ (= Alteingesessene). Es galt, sie in die polnische Nation, durch Kindergarten, Schule, Militär, Arbeitsplatz, „nach Jahrhunderten der Germanisierung“, wieder einzugliedern. Bei der jungen Generation zeigte dieses Vorhaben im Laufe der Zeit durchaus Erfolge.

Gliwice um 1970.

Die Kinder und Jugendlichen sprachen ja fließend polnisch und die Welt ihrer polnischen Altersgenossen war, oft zum Leidwesen der Eltern und Großeltern, ganz und gar die Ihre. Die sprachliche und bewusstseinsmäßige Anpassung der Kinder an die polnische Umgebung war eine Tatsache, der sich Vater Hambura mit seinem Deutsch-Heimunterricht mit wenig Erfolg zu widersetzen versuchte. Das verstärkte bei den Älteren generell die Neigung zur Umsiedlung, ehe ihnen die Jüngsten womöglich ganz und gar ins Polnische entglitten.

Der Traum vom goldenen Westen

Eins jedoch machte die Eingliederung in Polen schwierig, oft gar unmöglich. Es galt sich in die Welt des Kommunismus einzufügen, in der es weder Wohlstand noch Freiheit gab. Beides verhieß aber das Wirtschaftswunderland Bundesrepublik, in dem auf jeden, der seine deutsche Herkunft nachweisen konnte, der deutsche Pass und die üppigen Segnungen des Wohlfahrtsstaates warteten.

Folglich war der Drang, dorthin zu gelangen, enorm, doch das kommunistische Polen wollte dieses zehntausendfache Misstrauensvotum seiner „Autochthonen“ aus Prestige- und aus wirtschaftlichen Gründen nicht hinnehmen. Schließlich waren es oft teuer ausgebildete Ingenieure, Techniker, Facharbeiter, Mediziner, die weggehen wollten. Stefan Hambura zum Beispiel machte eine Lehre zum Fernmeldetechniker.

Wer also einen Ausreiseantrag stellte, musste auf Entlassung, den Verlust beruflicher Aufstiegsmöglichkeiten, auf Verwaltungsschikanen gefasst sein. Manche schreckte das ab. Viele nahmen es hin und stellten immer wieder neue Ausreiseanträge.

Antikommunistisch und fest im katholischen Glauben verankert, die Hamburas waren in dieser Hinsicht keine Ausnahme unter ihresgleichen. Stefan war Messdiener und beim Religionsunterricht eifrig dabei. Seitdem die Kommunisten 1961 die Katechese endgültig aus den Schulen verbannt hatten, durfte sie nur nachmittags in den Kirchen stattfinden.

Eltern, die ihre Kinder dort hinschickten, legten in den Augen der Kommunisten ein eindeutiges politisches Zeugnis ab. Auch das blieb oft nicht ohne Folgen, in einem totalitären Staat, der alles nach seinem Gutdünken zuteilen oder verweigern konnte: eine Wohnung, einen Reisepass, einen Kindergarten- oder einen Studienplatz, eine Kur oder ein Telefon zu Hause, auf das man normalerweise bis zu zwanzig Jahre lang wartete, aber mancher „Verdiente“ bekam es eben schneller.

Angekommen

Stefan Hambura hob im Familienarchiv sorgfältig sein Tagebuch des Religionsschülers auf, in dem Pfarrer Kazimierz Mol die Anwesenheit in jeder Unterrichtstunde mit Unterschrift und Stempel bestätigte. Die letzte Bestätigung fiel auf den 5. Dezember 1978. Am 12. Dezember sollte das Thema lauten „Der Herr ist nahe“. Da aber waren die Hamburas schon im niedersächsischen Friedland angekommen, dem Erstaufnahmelager für Spätaussiedler.

Nach gut zehn Jahren des Antragstellens in Gliwice durften sie endlich raus. Ihr Weg führte sie weiter ins NRW-Aussiedlerlager Unna-Massen. Dort galt es einige Monate lang abzuwarten, bis alle Formalitäten erledigt, eine Wohnung, die Schule für die Söhne, ein Job für den Vater gefunden waren. Für die beiden jungen Hamburas und ihresgleichen war in Unna-Massen ausgiebiger Deutsch-Unterricht angesagt. In den Pausen aber, so Stefans Erinnerung an diese Zeit, wurde nur Polnisch oder Russisch gesprochen.

Er war fleißig, ehrgeizig, wissbegierig und die technische Mittelschule, in die Stefan Hambura in Polen gegangen war, kann auch nicht schlecht gewesen sein, wenn er problemlos am Gymnasium in Duisburg, wo sich die Familie niederließ, aufgenommen wurde, das Abitur bestand und das Jurastudium an der Bonner Universität bewältigte. Dazwischen lag noch ein Jahr Pflicht-Wehrdienst bei der Bundeswehr.

In all diesen Jahren lernte der Deutsche aus Polen am eigenen Leibe die Geringschätzung kennen, die den Polen in Deutschland oftmals entgegengebracht wird. Man hielt ihn für einen von ihnen. Dort, wohin die politische Korrektheit nicht vordringt: auf dem Schul- und auf dem Kasernenhof, in der Soldatenstube, beim Kommilitonen-Gelage, bei den Aushilfsjobs, mit denen er sich das Studium mitfinanzierte, sparte man ihm, dem vermeintlichen Polen gegenüber, nicht mit Sticheleien, Spott, Hohn, Herabsetzung.

Am Beginn seiner Verteidiger-Laufbahn versuchte Hambura, der sein tägliches Brot mit Zivil- und Wirtschaftsfällen verdiente, sich ebenfalls als Anwalt von Vertriebenen und Spätaussiedlern zu etablieren. Im Jahr 2003 vertrat er eine Deutsche aus Dortmund, die ihr Wohnhaus in Gliwice zurückbekommen und verkaufen wollte. Weder dieses noch einige weitere, ähnliche Mandate, die er übernahm, waren von Erfolg gekrönt.

Außerdem hatten die Flüchtlinge und Spätaussiedler noch in den Neunzigerjahren sowie um die Jahrtausendwende genügend, weit mächtigere Fürsprecher: den politisch einflussreichen Bund der Vertriebenen (BdV), die Landsmannschaften, Vertriebenen-Politiker, wie Herbert Czaja, Herbert Hupka, Erika Steinbach, Hartmut Koschyk oder solche, die ihnen politisch den Rücken stärkten, wie Alfred Dregger, jahrelang Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion und der prominenteste Vertreter der nationalkonservativen CDU-„Stahlhelm-Fraktion“. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl legte lange Zeit, wenn nicht Sympathien, so auf jeden Fall Respekt vor den Vertriebenen an den Tag. Die zwei bis drei Prozent Stimmen, die bei ihnen noch Anfang der Zweitausenderjahre zu holen waren, konnten wahlentscheidend sein.

Fachmann für hoffnungslose „Polen-Fälle“

Teilweise ganz ohne eigenes Zutun öffnete sich derweil vor dem Anwalt Hambura eine „Marktlücke“, die seine deutschen Kollegen ohne polnischen Hintergrund nicht abzudecken vermochten. Dazu bedurfte es nicht nur bester Polnischkenntnisse, sondern einer besonderen Feinfühligkeit, die auf Anhieb Vertrauen erzeugt.

Anwälte gab und gibt es in der Bundesrepublik mehr als genug, aber in dieser besonderen Kategorie agierte Stefan Hambura am Anfang weitgehend allein auf weiter Flur. Inzwischen gibt es in Hamburg, Berlin, Köln Sozietäten mit polnischsprachigen Anwälten, die sich solcher Fälle annehmen.

Die Polen, die bei ihm landeten, waren oft einfache, schwer arbeitende Leute, die nicht viel Deutsch sprachen, unversehens in die Mühlen der deutschen Bürokratie gerieten und oft weder ein noch aus wussten. Hambura wurde so zum bekanntesten Fachmann für vertrackte und hoffnungslose „Polen-Fälle“.

In jener Zeit war er schon einige Jahre verheiratet mit Grażyna, einer Polin die er in Bonn in der Kirche kennengelernt hatte. Sie arbeitete als Kirchenjuristin im Erzbistum Köln und gab ihre Stelle auf, als die Familie in die neue-alte Hauptstadt Berlin zog, wo sich der Anwalt mehr Chancen auf beruflichen Erfolg ausmalte. Sie hat die polnische, er hatte die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie sprach mit den beiden Kindern, die zwei Staatsangehörigkeiten haben, nur Polnisch, er nur Deutsch. „Damit in ihren Köpfen Ordnung herrsche“, so Hambura in einem Zeitungsgespräch.

Zu ihm kamen vor allem polnische Elternteile, die sich nach Scheidungen von deutschen Partnern benachteiligt fühlten, weil deutsche Behörden grundsätzlich nur deutschen Müttern bzw. Vätern das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder übertragen. Noch schwieriger und dramatischer waren und sind die Wegnahmen polnischer Kinder durch Jugendämter in der Bundesrepublik. Diesen Behörden hängt der Ruf an, durch ihre oft rabiaten Praktiken, die Elternrechte auszuhebeln.

Lesen Sie dazu: „Deutsche Jugendämter, polnisches Leid“

Hungern und kämpfen für die polnische Minderheit

Eine zweite wichtige polnisch-deutsche Angelegenheit, der sich Hambura restlos verschrieben hatte, war, dabei zu helfen, dass die Polen in Deutschland den Status einer nationalen Minderheit zurückbekommen. Umso mehr, als die Deutschen in Polen diesen Status innehaben.

Der Erste (und letzte) Kongress der Polen in Deutschland am 6. März 1938 im Berliner Theater des Volkes mit ca. 5.000 Delegierten.

Die Polen waren als nationale Minderheit in Deutschland bis zum 7. September 1939 anerkannt. Unmittelbar nach dem Überfall auf Polen hatte Hitler, per Führererlass, diese Anerkennung widerrufen und den Bund der Polen in Deutschland verboten. Am 3. Juni 1940 beschlagnahmte das Dritte Reich alle Immobilien, Bank- und sonstige Vermögen der polnischen Minderheitsorganisationen.

Briefmarke von 1972 anlässlich des 50. Entstehungsjubiläums des Bundes der Polen in Deutschland, mit dem Emblem der Organisation. Es zeigt den Verlauf der Weichsel als Zeichen für das polnische Volk und die Lage der Stadt Kraków als Zeichen für die polnische Kultur.

Etwa 2.000 ihrer Funktionäre und prominenten Mitglieder, allesamt deutsche Staatsbürger, wurden verfolgt, jeder zweite von ihnen überlebte die KZ-Haft nicht. Eine kollektive Rehabilitierung und Entschädigung per Gesetz, wie im Falle der Homosexuellen oder der Wehrmacht-Deserteure, fand nicht statt. Die bedauernde Erwähnung in der Entschließung des Bundestages vom 10. Juni 2011 musste ausreichen.

Bis heute weigert sich die Bundesrepublik beharrlich, Hitlers Beschluss rückgängig zu machen. Eine der Begründungen lautet, die Polen in Deutschland bewohnen kein zusammenhängendes Gebiet. Das tun die Sinti und Roma auch nicht, dennoch hat Deutschland ihnen 1998 den Minderheitenstatus zuerkannt, der auch den Dänen, den Friesen und den Sorben in Deutschland zusteht. Außerdem, so die offizielle deutsche Haltung, bestehe das Hauptproblem darin, dass fast alle Polen oder deren Vorfahren durch Migration in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gelangt seien. Nicht viel anders verhält es sich mit den Sinti und Roma.

Briefmarke von 1982 anlässlich des 60. Entstehungsjubiläums des Bundes der Polen in Deutschland. Links: Stanisław Sierakowski, erster Vorsitzender des Bundes (1922-1933). Ermordet von den Nazis im Oktober 1939 mit seiner Frau, Tochter und deren Ehemann. Rechts: Pfarrer Bolesław Domański, Vositzender des Bundes in den Jahren 1933-1939. Starb im April 1939 eines natürlichen Todes.

Der Minderheitenstatus verpflichtet die Bundes- und Landesverwaltungen die Pflege der Kultur und der Sprache der anerkannten Minderheiten fortlaufend zu finanzieren. Das geht aus internationalen Verträgen hervor. Da die Polen als Minderheit nicht mehr anerkannt werden, sind ihre Einrichtungen auf gelegentliche, nach freiem Ermessen gewährte, bescheidene und zeitbeschränkte Projektfinanzierungen aus verschiedenen Töpfen angewiesen. So kann man keine stabilen Strukturen aufbauen.

Postkarte von 2017 anlässlich des 95. Entstehungsjubiläums des Bundes der Polen in Deutschland mit dem Konterfei Pfarrer Bolesław Domańskis.

Anders die Deutschen in Polen, wo der Staat und die Kommunen allein das Schulwesen der deutschen Minderheit pro Jahr mit umgerechnet 14 Millionen Euro finanzieren. Dazu kommen noch einige weitere Millionen für die Kulturförderung.

Bei einer Veranstaltung der polnischen Minderheit in Berlin in Juni 2011.

Hambura wollte es genau wissen. Er forderte Akteneinsicht bei den deutschen Behörden. Ging in Archive, rekonstruierte das Geschehen um das Verbot der polnischen Minderheit von 1939 und die Enteignungen von 1940. Er brachte Fakten ans Tageslicht und ins öffentliche Bewusstsein.

Das war um 2008. Danach wurde knapp zehn Jahre lang verhandelt, getagt, polnischerseits gefordert, deutscherseits mal viel versprochen, mal abgewiegelt. Hambura war oft mit von der Partie, sah frustriert zu.

Stefan Hambura während seines Hungerstreiks in Warschau im Mai 2017.

Am Ende tat er das, worin er ein Meister war. Er hängte die Sache an die ganz große Glocke. Zuerst schrieb er im Februar 2017 einen offenen Brief an Angela Merkel: „Seit dem Jahr 2009 gibt es kaum Fortschritte in den Fragen der Polnischen Minderheit in Deutschland. Ich möchte Sie, sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, daher bitten, die Angelegenheit der Polnischen Minderheit in Deutschland zur „Chefsache“ zu erklären und diese schnellstmöglich zu lösen.“ Im Mai in Warschau und im Oktober 2017 in Berlin trat er dann in mehrtägige Hungerstreiks.

„Da muss man was machen“

Es hieß, Hambura trete zu theatralisch auf, wenn er etwas durchsetzen wolle. Nicht wenige störten sich, wie sie sagten, an seiner großtuerischen Art. Er wurde bezichtigt sich in Szene zu setzen aus rein geschäftlichen Überlegungen, gehöre doch das Klappern zum Handwerk.

Wer ihn näher kannte, der kannte auch seinen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und seinen fast schon reflexartigen Hang überall dort helfen zu wollen, wo er die elementare Fairness verletzt sah. „Da muss man was machen“, den Satz hat er oft wiederholt.

Mit seinem Mandanten Adam Kowalewski im Warschauer Gerichtsgebäude im September 2018. Kowalewskis Vater wurde in Auschwitz pseudomedizinischen Experimenten unterzogen.

Viele seiner Mandate übte er umsonst aus. Zum Beispiel die von Kindern polnischer KZ-Häftlinge, die auf Entschädigung für psychische Leiden und materielle Nachteile klagten, die ihnen die Verfolgung und der Tod der Mutter oder des Vaters zugefügt hatten. Deutsche Gerichte haben alle diese Klagen abgewiesen. In seiner Bonner Zeit vermittelte Hambura schwer kranke polnische Kinder zu Operationen in deutschen Fachkliniken, sammelte Geld dafür und steuerte eigenes bei.

Hamburas Tatendrang schien unerschöpflich zu sein. Er war ein Hansdampf in den holprigsten, verwinkeltesten polnisch-deutschen Gassen. Jugendämter. Polnische Minderheit in Polen. Deutsche Reparationen für Polen. Die „Polnische Treuhand“ als Antwort auf die „Preußische Treuhand“, die von Polen Entschädigungen für das nach 1945 zurückgelassene deutsche Eigentum forderte. In Berlin, die Errichtung eines Dokumentationszentrums für polnisches Leid im Zweiten Weltkrieg als Antwort auf den Bau des von Erika Steinbach forcierten Zentrums „Flucht und Vertreibung“.

Stefan Hambura vor der Deutschen Botschaft in Warschau am 1. Oktober 2018.

Stefan Hambura stand bei all diesen Initiativen an vorderster Front. Oft mit einem Megafon in der Hand, wie am 1. Oktober 2018 vor der deutschen Botschaft in Warschau, als viele Dutzend geladener Gäste, die Einladungen in der Hand, nach und nach durch das Eingangstor gelassen wurden, um am Empfang des Botschafters zum Tag der Deutschen Einheit teilzunehmen. Transparente und großformatige Fotos des zerstörten Warschau, wenige Meter vom Botschafts-Zaun entfernt, beeinträchtigten die Idylle des lauen Herbstabends an den kalten Buffets, genauso wie Hamburas Megafon-Ansprache über Deutschlands materielle und moralische Schuld gegenüber Polen.

Zwischen den Mühlsteinen der Politik

Kein Wunder, dass maßgebliche Personen und Institutionen in Deutschland, die sich mit Polen beschäftigen, Hambura mit hartnäckiger Nichtbeachtung straften. Nach ihm gefragt, sagte der Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt der Zeitung „Rzeczpospolita“, er glaube, Hamburas Tätigkeit sei nicht wichtig genug, um sie zu kommentieren.

Folglich war Hambura auch für sämtliche deutsche Medien in all den langen Jahren weitgehend ein Niemand. Als ihm, 2013, der „Spiegel“ ausnahmsweise einen Artikel widmete, hieß es, in Deutschland gelte Hambura als „so etwas wie der juristische Sachwalter der polnischen Nationalkonservativen. Geführt wird dieses Lager von Jarosław Kaczyński.“

Diese Beobachtung drängte sich durchaus auf, nur wäre es der Redlichkeit halber angebracht gewesen hinzuzufügen, wie und warum Hambura geradezu in diese Rolle hineingedrängt wurde. Alle anderen wichtigen politischen Kräfte in Polen wollten sich nämlich auf keinen Fall mit Deutschland anlegen.

Angela Merkel und Donald Tusk.

Am wenigsten die Bürgerplattform des damaligen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk. Er war und ist der politische Ziehsohn Angela Merkels, dem die Kanzlerin 2014 seinen Traum EU-Ratspräsident zu werden, als Gegenleistung für seine unverbrüchliche Deutschland-Treue, erfüllt hat.

Zwischen 2008, als die Tusk-Partei Bürgerplattform die vorgezogenen Parlamentswahlen gewann und Jarosław Kaczynski als Regierungschef abservierte, und Herbst 2015, als die Kaczyński-Partei Recht und Gerechtigkeit wieder an die Macht kam, war Hambura auch für das offizielle Polen ein Nobody. Polnische Botschaften und Konsulate in Deutschland, die der Anwalt um Amtshilfe für seine polnischen Mandanten bat, durften sich nicht mit ihm einlassen.

Genauso wie ihre deutschen Kontrahenten sahen die Tusk-Leute ebenso wenig eine Veranlassung all die heiklen Themen, die Hambura aufgriff auch nur zu berühren. Nichts und niemand sollte den angeblich blauen Himmel der polnisch-deutschen Versöhnung trüben.

Deutschen Politikern und Beamten gegenüber saß damals eine besondere Spezies polnischer Offizieller. Oft waren es einstige polnische Teilnehmer an gemeinsamen, gut dotierten Forschungs- und Austauschprojekten. Ehemalige, wohl entlohnte polnische Gastprofessoren an deutschen Universitäten. Vormalige polnische Praktikanten in deutschen Behörden, wie dem Bundestag, dem Auswärtigen Amt usw. Sie alle verdankten Deutschland einiges und hofften oft auf mehr.

Angetrieben durch deutsche Fördergelder drehte sich seit 1990 munter das Karussell der von Deutschland für die Polen konzipierten und bezahlten Konferenzen, Projekte, Austausche und Studienreisen. So schuf sich Deutschland seine Dialogpartner. Leute wie Hambura, die Sand ins Getriebe streuten, gehörten isoliert.

Blauäugig, wie er am Anfang war, suchte Hambura die Nähe dieser Leute. Er sah in ihnen die Sachwalter polnischer Interessen, so wie er es verstand. Die Lektion, die sie ihm erteilten war für ihn sehr bitter. „Anwalt Hambura, die stumme Glocke“, höhnte 2010 die „Gazeta Wyborcza“.

„Ein Jemand, wie der Anwalt Hambura, der aus welchen Gründen auch immer, sich als Deutscher erklärt hat, sollte nicht den Super-Polen spielen. Vielleicht sollte man in seiner Lage ein Europäer sein, der sich um Versöhnung bemüht, anstatt Gereiztheit zu schüren. Ich bin nicht der Meinung, dass ein deutscher Anwalt, wie Herr Hambura, ein Mitgestalter der polnischen Außenpolitik sein sollte, umso weniger, paradoxerweise, der einer Partei wie Recht und Gerechtigkeit“, so die 2010 geäußerte Meinung von Dr. Kazimierz Wóycicki, einst Direktor der polnischen Kulturinstitute in Düsseldorf und Leipzig und seinerzeit einer der Sprachführer der Deutschland-Politik Donald Tusks.

Bei einer Veranstaltung der nationalkonservativen „Gazeta Polska“ im Sommer 2019.

Hambura hat diese Verschmähungen bis in seine letzten Tage nicht verarbeitet.

Die Einzigen, die ihn ernst nahmen und zu schätzen wussten waren die Nationalkonservativen, also ließ er sich ein mit ihnen. Bei ihnen saß er in den Tagungspräsidien, hielt gut besuchte Vorträge, spürte Dankbarkeit und Zustimmung. In ihren Medien erklärte er den Polen Deutschland.

Diese Kontakte gingen auf Hamburas, mit der Zeit sehr eng gewordene, Bekanntschaft mit dem späteren Professor Mariusz Muszyński zurück. Sie entstand Ende der Neunzigerjahre, als Muszyński die Rechtsabteilung an der polnischen Botschaft in Berlin leitete. Hambura schrieb damals ab und an Gutachten für die Botschaft.

Professor Mariusz Muszyński.

Muszyński, der aus seiner nationalkonservativen Gesinnung kein Hehl machte, erlebte einen kurzfristigen politischen Höhenflug zwischen 2005 und 2007, zur Zeit der ersten Regierung von Recht und Gerechtigkeit unter Ministerpräsident Jarosław Kaczyński. Muszyński wurde Berater der damaligen Außenministerin Anna Fotyga und Bevollmächtigter der polnischen Regierung für die, in jenen zwei Jahren eher angespannten, polnisch-deutschen Beziehungen.

Zwar wurde Muszyński Ende 2008, sofort nach der Machtübernahme der Regierung Donald Tusk, abgesetzt. Er blieb jedoch als Deutschland-Kenner der Mann, der die Deutschland-Sicht der in die Oppositions-Bänke verwiesenen Nationalkonservativen prägte. Er ist heute Richter am Verfassungsgericht.

Hambura übernahm Muszyńskis Agenda und Sichtweise der wunden polnisch-deutschen Punkte. Einige Male rief er Organisationen ins Leben, um seine Anliegen besser durchzusetzen. Da waren der Verband der durch Jugendämter geschädigten polnischen Eltern, eine Partei der Polen mit dem Namen Europäische Initiative in Deutschland, der Weltkongress der Auslandspolen. Die beiden ersten gingen bald ein. Den Weltkongress gibt es noch, aber seinem großen Namen ist er bis jetzt eher nicht gerecht geworden. Hambura fand keine Partner, denen er diese Strukturen anvertrauen konnte, von einer Dauerfinanzierung ganz zu schweigen.

Das Smolensk-Engagement

In Polen wurde er 2007 bekannt, als Anwalt von Anna Walentynowicz. Die Kranführerin von der Danziger Lenin-Werft ist neben Lech Wałęsa die wohl bekannteste Symbolfigur der Solidarność-Bewegung. Der Regisseur Volker Schlöndorff verarbeitete ihre Lebensgeschichte im Spielfilm „Strajk – Die Heldin von Danzig“, und zwar so, dass Walentynowicz ihren guten Ruf gründlich ruiniert sah, sollte der Film als ihr Portrait in die Kinos gelangen.

Oben: Anna Walentynowicz während des Streiks in der Danziger Lenin-Werft im August 1980. Im Hintergrund Lech Wałęsa. Unten: Katharina Thalbach im Film „Stajk – die Heldin von Danzig“.

Dank Hamburas Vermittlung kam es zu einem Vergleich. Der Filmproduzent ließ verlautbaren, dass die Titelgestalt eine fiktive Person sei, für deren Darstellung man einige wenige Fragmente aus Walentynowiczs Vita herangezogen habe. Außerdem spendete die Produktionsfirma, wie von der zunehmend extrem kurzsichtigen Walentynowicz gefordert, 50.000 Euro für die Augenklinik der Medizinischen Akademie in Gdańsk.

Drei Jahre später, am 10. April 2010 kam Anna Walentynowicz bei der Flugzeug-Katastrophe von Smolensk ums Leben. Mit ihr fanden weitere 95 Menschen den Tod, darunter Polens Staatspräsident Lech Kaczyński, der Zwillingsbruder von Jarosław, und seine Ehefrau.

Man kannte sich bereits, und so bat Walentynowiczs Sohn Janusz Hambura erneut um juristischen Beistand.

Die Russen hatten die Leichen und Leichenteile der Verunglückten nach dem Absturz in Müllsäcke und dann in Stahlbehälter gepackt, diese verlötet und in Särge gelegt. Sie durften in Warschau nicht mehr geöffnet werden. Mit der Zeit kamen bei vielen Familien immer mehr Zweifel auf, ob in den Gräbern, die sie pflegen, tatsächlich ihre Angehörigen liegen.

Oben: Stefan Hambura bei der Graböffnung von Anna Walentynowicz im Juni 2013. Unten: Beim anschließenden Pressegespräch in Begleitung von Walentynowiczs Sohn Janusz (links) und Enkelsohn Piotr.

Die Tusk-Regierung, die die Untersuchung der Katastrophe und das Flugzeugwrack den Russen überlassen hatte, wollte die Exhumierungen nicht zulassen. Hambura setzte sie für Janusz Walentynowicz und die Angehörigen des ehemaligen Dissidenten Stefan Melak, der ebenfalls mit an Bord war, durch.

Nach der Graböffnung stellte sich heraus, dass statt Walentynowicz ein anderes Opfer der Katastrophe unter ihrem Namen bestattet worden war. Es bedurfte weiterer Exhumierungen um ihren Körper zu finden. Knapp zweieinhalb Jahre nach ihrem Tod, im September 2012, fand Anna Walentynowicz endlich ihre letzte Ruhe. Ihr Leichnam, so das Autopsie-Protokoll, wurde in Moskau, wohin die Toten aus Smolensk zuerst gebracht wurden, „geschändet“. In anderen Gräbern fand man „überschüssige“ Gliedmaßen, Köpfe.

Die Smolensk-Katastrophe beschäftigte Hambura erneut zwischen 2016 und 2019. Ein knappes Dutzend Familien der Smolensk-Opfer hatte vor dem Kreisgericht Warschau Privatklage gegen fünf Beamte aus der Umgebung von Donald Tusk erhoben, die seinerzeit mit der Vorbereitung des tragischen Fluges beschäftigt waren. Hambura vertrat dort abermals die Familien Walentynowicz und Melak, wieder einmal umsonst.

Im Warschauer Gerichtssaal am 24. April 2018. Anwalt Hambura (links im Bild) versus Donald Tusk (im Zeugenstand).

Als Vertreter der Kläger nahm er im Gerichtssaal, gemeinsam mit anderen Anwälten, u. a. den ehemaligen Ministerpräsidenten und damaligen EU-Ratsvorsitzenden Donald Tusk sowie den ehemaligen Außenminister Radosław Sikorski bei deren Befragung ins Kreuzfeuer. Sie zahlten es ihm mit gehässigen Kommentaren auf Twitter heim. Das Gericht verurteilte zwei der angeklagten Beamten zu zehn, beziehungsweise sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung. Sie waren die einzigen, die für diese Tragödie zur Verantwortung gezogen wurden.

Das Ende der Quirligkeit

Während dieses Prozesses erlangte der Berliner Anwalt in Polen eine Bekanntheit, die ihm in Deutschland niemals zuteil wurde. Daneben fand er noch Zeit um Vorlesungen an der Schule des deutschen Rechts der Juristischen Fakultät der Universität Warschau zu halten. Mit Prof. Mariusz Muszyński schrieb Hambura seit dem Jahr 2000 gemeinsam Bücher mit Kommentaren zu den EU-Verträgen. Seine Berliner Anwaltskanzlei ließ er dabei keinesfalls verwaisen.

Seine Quirligkeit versetzte Beobachter und Bekannte stets aufs Neue in Erstaunen. Freunde rieten ihm, sich zusätzlich als Zugschaffner ausbilden zu lassen. Er könnte sich so ein Zubrot verdienen. Der Berlin-Warszawa-Express, mit dem er unentwegt zwischen den beiden Hauptstädten pendelte, galt als sein zweites Zuhause.

Der tödliche Herzinfarkt, der ihn Ende April 2020 in Warschau ereilte, war der Preis für ein intensiv gelebtes, prallgefülltes Leben.

Bestattet wurde Stefan Hambura dort, wo er, der deutsche Anwalt aus Berlin, inzwischen auf jeden Fall hingehört: auf dem Powązki-Friedhof in Warschau, wo diejenigen ruhen, die sich Polen verschrieben haben.

© RdP




Am Gute-Deutsche-Pranger stehen die Polen als Hitlers Handlanger

Gerichtsprozesse stellen historische Wahrheit wieder her.

„Polnische Vernichtungslager“, „polnische Todeslager“, die polnische Heimatarmee (AK) im Untergrund als ein Haufen bitterböser Judenhasser. Deutsche Medien, die einen versehentlich, andere absichtlich, waren lange Zeit nicht zimperlich wenn es darum ging das deutsche Wüten im besetzten Polen zu relativieren. Bis Opfer und Betroffene vor Gericht gingen.

Einen interessanten Bericht hierzu veröffentlichte das Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 20. Oktober 2019.

Er wollte ein Exempel statuieren. Zbigniew Osewski, Enkelsohn eines Häftlings des Vernichtungslagers Stutthof, verklagte den deutschen Springer-Konzern, weil die Tageszeitung „Die Welt“ schrieb, Majdanek sei ein ehemaliges polnisches Konzentrationslager.

Neun Jahre lang dauerten die Verfahren gegen Springer vor polnischen Gerichten. Am Ende hat der Verlag den Prozess gewonnen, aber allein schon seine im Folgenden noch zu beschreibende Haltung lässt hoffen, dass sich das Blatt zum Besseren wendet.

Zbigniew Osewski.

Seit vielen Jahren mehrten sich in den deutschen und internationalen Medien Berichte, Kommentare, Reportagen, in denen zu lesen war, Nazis hätten Juden in polnische Vernichtungs- oder Todeslager deportiert. Die Nationalität der Täter (Nazis) wurde dabei zumeist nicht erwähnt, die Lager aber waren ausdrücklich „polnisch“.

Auch wenn es im Nachhinein entschuldigend hieβ, diese Beschreibung beziehe sich ja nur auf die Geografie, denn die Lager befanden sich nun mal auf besetztem polnischem Gebiet, war die Zusammenstellung „polnische Todeslager“, „polish death camps“ geradezu fatal.

Zudem: je öfter sie verwendet wurde, umso gröβer war die Gefahr, sie werde wörtlich genommen und würde sich in den Köpfen von Millionen von Menschen einnisten. Von „polnischen Todeslagern“ sprach schlieβlich öffentlich, im Mai 2012, bei einer Ansprache im Weiβen Haus, kein Geringerer als US-Präsident Obama.

Obama entschuldigte sich. Polnische Botschaften auf der ganzen Welt bekamen die Anweisung bei Redaktionen und Verlagen zu intervenieren und auf einer Änderung der unseligen Formulierung von den „polnischen Todeslagern“ zu bestehen. Im Jahr 2018 geschah dies knapp eintausend Mal.

Ein Teilsieg

Am 24. November 2007 erschien in der Tageszeitung „Die Welt“ ein Bericht mit dem Titel „Asaf wird ermordet – und reist um die Welt”. Der israelische Jugendliche starb bei einem Bombenattentat. Sein Vater veröffentlichte Asafs Bild im Internet und bat Menschen in aller Welt es auf ihre Reisen mitzunehmen.

Das Ergebnis war eine Flut von Fotos von Leuten, die sich an unzähligen Orten der Welt mit dem Konterfei Asafs ablichten lieβen. So auch, wie „Die Welt“ in dem Bericht schrieb, im „ehemaligen polnischen Konzentrationslager Majdanek“

Zbigniew Osewski forderte in seiner Klage, dass der Springer-Verlag sich bei ihm und bei allen Polen mit einer Anzeige in den Zeitungen „Gazeta Wyborcza“ und „Rzeczpospolita“ entschuldigt. Des Weiteren sollte der Verlag versichern, dass eine solche Situation sich nicht wiederholen werde, ebenfalls solle er eine Million Zloty (ca. 240.000 Euro) an ein Erziehungsheim in Świnoujście/Swinemünde zahlen.

Der „Welt“-Chefredakteur Thomas Schmid entschuldigte sich zwei Tage später für die Formulierung. Das Blatt veröffentlichte Schmids Bedauern sowohl in der Druck- wie auch in der Internetausgabe, in der die Entschuldigung auch auf Polnisch erschien. Der Beitrag wurde geändert und mit einer diesbezüglichen Information versehen.

Osewskis Klage wurde vor dem Kreisgericht Warschau verhandelt und abgewiesen. Die Richterin Eliza Kurkowska hielt zwar in der Urteilsbegründung fest, die Formulierung müsse die Empörung eines jeden, der die Geschichte kennt hervorrufen, insbesondere der Polen. Die Formulierung in Bezug auf Majdanek beträfe jedoch nicht persönlich den Kläger.

Das Appellationsgericht bestätigte in 2. Instanz das Urteil, auch wenn die Richterin Ewa Kaniok feststellte, dass ein Teil der Argumente des Klägers als durchaus legitim zu betrachten seien. Im Februar 2017 erklärte das Oberste Gericht Osewskis anschließende Kassationsklage für unzulässig.

(Durch die Kassationsklage soll erreicht werden, dass ein bereits entschiedener Fall zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen wird. Dies ist möglich, wenn Verfahrensfehler nachgewiesen werden. Das Kassationsgericht trifft keine Entscheidungen zu Sachfragen des betreffenden Prozesses. – Anm. RdP).

Das Medienecho jedoch, das die Verfahren hervorriefen, machte die Öffentlichkeit auf das polnische Anliegen aufmerksam und stieβ auf viel Verständnis. So gesehen haben Osewski und sein Anliegen durchaus einen Teilsieg errungen.

Spiel auf Zeit

Osewski wurde vorgehalten, er selbst sei kein Opfer des Krieges.
Karol Tendera war Auschwitz-Häftling und als solcher verklagte er 2013 das ZDF, da es in der Ankündigung eines Beitrags auf seiner Internetseite Auschwitz und Majdanek als „polnische Vernichtungslager“ bezeichnete.

Osewskis Klage wurde insgesamt neun Jahre lang verhandelt. Ehemalige KZ-Häftlinge wie Tendera haben naturgegeben nicht mehr so viel Zeit. Daher nutzen verklagte Medien oft den kompletten Instanzenweg aus, in der Hoffnung, das Problem werde sich mit dem Tod des Klägers von alleine lösen.

Das ZDF ging sogar so weit, dass es das letztinstanzliche Urteil des polnischen Appellationsgerichts in Kraków, das Tendera recht gab, vor deutschen Gerichten, zuerst in Mainz und in zweiter Instanz in Koblenz, einklagte. Eigentlich ist so etwas innerhalb der EU nicht möglich, aber beide deutsche Gerichte nahmen sich der Sache an und bestätigten das polnische Urteil. Das ZDF habe sich bei Karol Tendera zu entschuldigen.

Doch das ZDF gab nicht auf, ging vor den Bundesgerichtshof und bekam dort recht. Ein allgemein gehaltenes Bedauern reiche aus, Karol Tendera verdiene keine Entschuldigung, lautete das Urteil der höchsten deutschen Richter.

Karol Tendera.

Karol Tenedera, geboren 1921, wurde von den Deutschen im März 1940 in Kraków mit allen anderen Schülern der dortigen Schlosser-Berufsschule während des Unterrichts verhaftet und zur Zwangsarbeit nach Hannover, in die Max Mueller Rüstungswerke, verschleppt. Nach zwei Jahren gelang Tendera die Flucht, doch im Januar 1943 geriet er in Kraków in eine Gestapo-Razzia.

Nach schweren Misshandlungen im Krakauer Gestapo-Gefängnis in der Montelupichstrasse, in deren Folge er auf einem Ohr taub wurde, lieferte man ihn bereits Anfang Februar 1943 ins KZ Auschwitz ein. Tendera bekam die Häftlingsnummer 100430 und diente eine Zeit lang dem berüchtigten KZ-Arzt Josef Mengele bei seinen verbrecherischen Experimenten als Versuchskaninchen. Er überlebte sie als einer der wenigen aus seiner „Versuchsgruppe“.

Er überlebte auch den etwa fünfhundert Kilometer langen Todesmarsch aus dem Lager Auschwitz, dem sich im Januar 1945 die Rote Armee näherte, in das KZ Leitmeritz unweit von Prag, wo ihn die Sowjets im Mai 1945 befreiten.

Nach dem Krieg arbeitete sich Tendera im Baugewerbe hoch und leitete zuletzt ein groβes Bauunternehmen. Er arbeitete jahrzehntelang eng mit der Gedenkstätte Auschwitz zusammen und schrieb das Buch „Polen und Juden in Auschwitz“.

Mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs war die Sache nicht ausgestanden, denn das ZDF wollte auch in Polen einen Persilschein erlangen und reichte eine Kassationsklage beim Obersten Gericht in Warschau ein.

Karol Tendera wartete seit 2013 auf das endgültige Ende seiner Auseinandersetzung mit dem unnachgiebigen deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ZDF und seiner mächtigen Rechtsmaschinerie. Sehr spät merkte die deutsche Politik, dass ein eventueller juristischer Endsieg des Senders über den betagten und leidgeprüften Auschwitz-Häftling einer schweren moralischen Niederlage gleichkäme.

Erst auf Druck aus Berlin hin, so heiβt es inoffiziell, zog das ZDF seine Kassationsklage beim polnischen Obersten Gericht am 20. September 2019 zurück. Das zweitinstanzliche Urteil des Krakauer Appellationsgerichts wurde somit rechtskräftig. Die Nachricht, dass sich das ZDF bei ihm, widerwillig zwar, aber dennoch, entschuldigen werde, erreichte Karol Tendera auf dem Sterbebett. Er verschied am 1. Oktober 2019.

Widerliche Polen + das Leid der Täter = „Unsere Mütter, unsere Väter“

Einen Erfolg im Gerichtssaal erlebte hingegen im Dezember 2018 der 95-jährige Hauptmann der Heimatarmee Zbigniew Radłowski. Das Krakauer Kreisgericht gab ihm in erster Instanz recht. Das ZDF solle sich im Fernsehen und im Internet für den auf Polen bezogenen Inhalt der Filmproduktion „Unsere Mütter, unsere Väter“ entschuldigen und zugleich eine Klarstellung veröffentlichen.

Zbigniew Radłowski.

Voll von pathetischem Selbstmitleid versucht der 2013 im ZDF gesendete Dreiteiler zu erklären, wie aus guten Deutschen böse Deutsche wurden, die plötzlich keine Skrupel mehr kannten, und zeigt zugleich, dass die Täter es beileibe nicht leicht hatten. Es ist ein Film über die deutsche Schuld, doch er dient als Mittel der Entschuldigung. Denn es ist ja der Krieg, der „macht“ und „entmenscht“.

Und so lautet seine Botschaft: brecht nicht leichtfertig den Stab über die Täter, denn ihre Schuld luden sie sich unter besonderen Umständen auf. Umstände werden gemacht. Vom Krieg. Der böse Krieg war’s.

Doch der Krieg macht nicht, er wird gemacht, von Menschen. Und es waren nicht alle Menschen, die sich „entmenschten“, sondern nur ein Teil von ihnen. Der Holocaust und der Vernichtungskrieg der Deutschen in Osteuropa waren geplante und vorab festgelegte Kriegsziele. In diesem Rahmen fand die massenweise, routinierte „Entmenschung“ statt. Da rutschte nicht irgendwann jemandem mitten im Kriegsgetümmel die Hand aus. Die „Entmenschung“ war Methode.

Die pauschale Botschaft des Films lautet „Nie wieder Krieg“ aber sie klärt nichts auf, sie verschleiert sogar. Denn diese Moral ist die einfachste Art, darüber hinwegzusehen, dass es auch im Krieg mitunter eine Seite geben kann, die völlig zu Recht Krieg führt oder besser gesagt: führen muss, um zu überleben.

Im Film sind die Polen im Grunde weit schlimmer als die Deutschen, die ihr Land überfallen und durch die Verlegung der industriellen Massentötung nach Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Majdanek, Stutthof usw. in ein Schlachthaus verwandelt haben. Die Heimatarmee (Armia Krajowa), die der Exilregierung in London unterstehende polnische Armee im Untergrund, ist in dem Film nur von einem Instinkt beseelt: einem dumpfen, alles durchdringenden Judenhass.

Die Deutschen Hauptfiguren im Film morden zwar, aber leiden darunter, haben Zweifel, gehen an ihren eigenen Untaten zugrunde. Die Polen sind reine Judenhass-Maschinen. Angewidert lassen die Partisanen einen mit zum Tode geweihten Juden vollgepferchten Güterzug, den sie erobert haben, ungeöffnet im freien Feld stehen. Sollen die Juden verrecken, sie „sind ja schlimmer als Kommunisten“.

Die primitiven Zivilisten, die den AK-Soldaten Proviant geben wollen, stellen vorher sicher, dass es in der Abteilung keine Juden gibt.

Der einzige Gerechte unter den Partisanen ist der deutsche Jude Viktor. Er konnte aus einem KZ-Transport fliehen und sich einer Gruppe von ihnen anschlieβen, aber nur weil er seine jüdische Herkunft verschwieg. Jetzt öffnet er die Waggons, wird als Jude enttarnt und aus der Gruppe verjagt.

Viktor kann von groβem Glück reden, dass ihn der polnische Partisanen-Kommandeur, ein pathologischer Judenhasser wie man ihm wohl ansonsten nur bei den SS-Totenkopf-Verbänden begegnete, nicht auf der Stelle erschießt.

Der ZDF-Film wurde in unzählige Länder verkauft und diese zutiefst diffamierenden Bilder gehen seitdem um den Globus. Hat Deutschland seine Vergangenheit inzwischen so sehr bewältigt, dass es meint selbst seine früheren Opfer derart arrogant verunglimpfen zu können?

Der betagte AK-Hauptmann Zbigniew Radłowski empfand diese Darstellung als so unerträglich, dass er vor Gericht ging. Doch kann man gegen einen Spielfilm vorgehen, dessen Handlung fiktiv ist, auch wenn sie in einem wahren geschichtlichen Rahmen stattfindet?

Entscheidend für das Krakauer Gericht war das Gutachten eines Sachverständigen, des Filmwissenschaftlers Kamil Grzesik (fonetisch Gschesick). „Die Filmemacher wollten beim Zuschauer, der zumeist diese Zeit nicht miterlebt hat, den Eindruck erwecken, dass der Film eine wahre Geschichte vor dem Hintergrund authentischer historischer Ereignisse erzähle, und der Zuschauer erliegt diesem Eindruck.“ Das Gericht folgte dem Sachverständigen, der zudem darauf hinwies, dass Ausschnitte aus authentischen Wochenschauberichten in die Handlung eingeflochten wurden.

„Das Gericht wendet keinesfalls Zensur an und verbietet nicht die Diskussion über eine eventuelle antisemitische Haltung einzelner AK-Soldaten. Es geht jedoch um das Ausmaβ, die Einseitigkeit und die Reichweite der Darstellung, die als zutiefst ehrenrührig und als ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Klägers, eines unbescholtenen Soldaten der Heimatarmee, gewertet werden können.“

Es bringt etwas

Obwohl die Verfahren jahrelang dauern erweisen sie sich als wirksam. Mittlerweile sind deutsche Medien in den allermeisten Fällen bereit eine Richtigstellung zu veröffentlichen und ihr Bedauern zu äuβern. Schwieriger gestaltet es sich in Frankreich und den USA, wo die Sensibilisierung für dieses Thema geringer ist.

RdP




Deutsche Reparationen an Polen. Wie viel und wofür?

Die erste vollständige polnische Verlustbilanz ist fertig.

Das polnische Regierungslager wird nicht müde, die Kriegsreparationsfrage zu beleben. Nun liegen die polnischen Forderungen auf dem Tisch. Welches Denken und Handeln verbirgt sich dahinter?

Arkadiusz Mularczyk

Arkadiusz Mularczyk wurde 1971 in Racibórz/Ratibor geboren. Er ist von Beruf Rechtsanwalt, seit 2005 Sejm-Abgeordneter der Partei Recht und Gerechtigkeit. Seit September 2017 bekleidet er den Vorsitz eines fünfzehnköpfigen Gremiums, der Parlamentarischen Arbeitsgruppe zur Schätzung der Polen von Deutschland zustehenden Reparationen. Das Interview mit Arkadiusz Mularczyk erschien im Wochenmagazin „wSieci“ („imNetzwerk“) am 19. Mai 2019.

Frage: Die laufende Legislaturperiode des polnischen Parlaments geht im Oktober 2019 zu Ende. Sie leiten im Sejm ein Expertengremium, das sich mit dem Thema deutsche Reparationen beschäftigt. Wie weit sind Sie? Wird Polen seine Zerstörung während des  Zweiten Weltkrieges in Rechnung stellen?

Arkadiusz Mularczyk: Daran arbeiten wir seit September 2017. Damals entstand, auf Anregung von Jarosław Kaczyński, die „Parlamentarische Gruppe zur Bezifferung der Höhe der Polen zustehenden deutschen Reparationen für Schäden, die dem Land während des Zweiten Weltkrieges zugefügt wurden“. Der vollständige Name unseres Gremiums klingt zugegebenermaßen etwas umständlich, er umschreibt aber genau seine Aufgaben.

Es ging darum, einen Bericht über die Kriegsverluste zu erstellen und dadurch unser Wissen darüber zu vertiefen. Nach eineinhalb Jahren

Sechzig Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Polnische Briefmarke von 2005.

kann ich reinen Gewissens sagen, dass wir diese Aufgabe erfüllt haben.

Wann werden wir den Bericht lesen können?

Der Bericht ist fertig. Mitgewirkt an ihm haben sehr angesehene Wissenschaftler. Entstanden ist ein umfangreiches Papier, das die Berechnungen polnischer Kriegsverluste ausführlich darstellt,  oft  geht es um unterschiedliche Bereiche, die keine Berührungspunkte aufweisen.

Am Anfang steht ein historischer Abriss, den eine Historikergruppe vom Institut des Nationalen Gedenkens (entspricht in etwa der deutschen Gauck-Behörde – Anm. RdP) unter Leitung von Prof. Włodzimierz Suleja erstellt hat. Dann folgt ein Rechtsgutachten. Dr. habil. Robert Jastrzębski (fonetisch Jastschembski) und Dr. Przemysław Sobolewski vom Juristischen Dienst des Sejm beschreiben die Rechtsgrundlagen unserer Reparationsansprüche an Deutschland. Es geht weiter mit einem Kapitel, das die Geschichte der Reparationsfrage seit Kriegsende in den polnisch-deutschen Beziehungen behandelt. Dann folgt die Aufstellung der Schäden und ihrer Kosten. Entstanden ist ein vielschichtiger Bericht, ein guter Ausgangspunkt für unsere weiteren Bemühungen um Reparationen und weitere Forschungen.

Siebzig Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Polnischer Briefmarkenblock von 2015.

Wann wird der Bericht veröffentlicht?

Zuerst bekommen ihn die wichtigsten Personen im Staat: der Staatspräsident, der Premierminister, auch der Vorsitzende der Regierungspartei Jarosław Kaczyński. Sie werden entscheiden, wie weiter verfahren wird. Ich bin mir sicher, sie werden ihn nicht lange der Allgemeinheit vorenthalten. Keine schlechte Idee wäre es, den Bericht am 1. September 2019, zum achtzigsten Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, zu veröffentlichen.

Gedenkstätte Auschwitz. Polnische Briefmarke von 1967.

Auf wie hoch beziffern Sie die gesamten polnischen Verluste?

Der Bericht des Büros für Kriegsentschädigungen von 1947 schätzte die polnischen Verluste auf 48 Milliarden US-Dollar. Heute entspricht das einer Summe von mehr als 850 Milliarden US-Dollar. Ich möchte jetzt den Betrag, auf den wir gekommen sind, nicht nennen. Zuerst sollen ihn die erwähnten Führungspersonen erfahren. Ich kann jedoch sagen, dass unsere Schätzungen diesen Betrag deutlich übersteigen.

Dreiβig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Polnische Briefmarke von 1975.

Ist das mehr als eine Billion US-Dollar?

Sie sind nahe dran.

Was verbirgt sich hinter dieser Summe?

Vor allem Schäden, die durch Bevölkerungsverluste entstanden sind . Zwei Wissenschaftler von der Universität Łódź (Lodsch – Anm. RdP), Prof. Jan Sztaudynger und Dr. habil. Paweł Baranowski, untersuchten den Verlust an Bruttoinlandsprodukt (BIP) durch die  verlorenen Gehälter der Getöteten.

Wir haben einen präzisen Ausgangspunkt genommen: Wie war die durchschnittliche Lebenserwartung im Vorkriegspolen, wie lang die durchschnittliche Lebensarbeitszeit und wie hoch waren damals die durchschnittlichen Löhne und Gehälter. Hinzugerechnet haben wir die Verluste, die aufgrund der kriegsbedingten Invalidität entstanden sind. Weiter hinzu kamen die Verluste, die Polen erlitten hat, weil gut zwei Millionen seiner Bürger Zwangsarbeiter waren. Dann die 200.000 geraubten und germanisierten polnischen Kinder, von denen nach dem Krieg gerade mal 30.000 wiedergefunden wurden.

Das alles hatte einen Einfluss auf die Produktivität unserer Gesellschaft sowie das BIP.  Zuvor mussten natürlich die Bevölkerungsverluste berechnet werden.

Polnische Briefmarke von 2018. Auschwitz-Birkenau ca. 1,1 Millionen Opfer.

Wer hat das gemacht?

Prof. Konrad Wnęk (fonetisch Wnenck) von der Jagiellonen Universität in Kraków. Aus seinen Berechnungen geht hervor, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg 5,2 Millionen polnische Bürger ermordet haben.

Bisher war immer von sechs Millionen die Rede.

Diese Zahl kursiert seit kurz nach Kriegsende. Damals, im kommunistischen Polen, hat man aus politischen Gründen die Opfer sowjetischer Verbrechen den Deutschen angerechnet. Die von Prof. Wnęk ermittelte Zahl von 5,2 Millionen, das sind polnische Staatsbürger, die Deutsche ermordet haben. Von ihnen waren 150.000 Soldaten, der Rest Zivilisten.

Gedenkstätte Vernichtungslager Auschwitz.-Monowitz. Ungefähr 25.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Die Zahl von 5,2 Millionen Menschen umfasst nicht die ukrainischen Wolhynien-Morde an etwa 100.000 Polen von 1943-1944, obwohl sie ebenfalls den Deutschen zugerechnet werden könnten. Schlieβlich passierte dieser Völkermord in Gebieten, die das Dritte Reich als Besatzungsmacht verwaltete.

Darunter befinden sich auch nicht, die polnischen Opfer sowjetischer Massendeportationen zwischen 1939 und 1941 im sowjetisch besetzten Ostpolen, die irgendwo in Sibirien, Kasachstan usw. ermordet wurden oder diejenigen, die aufgrund der schrecklichen Lebensbedingungen gestorben sind. Ebenso wenig das für die etwa 22.000 in Katyn, Charkiw, Twer, Kiew und Minsk von den Sowjets ermordeten polnischen Offiziere und polnischen Opfer anderer sowjetischer Verbrechen.

Vernichtungslager Majdanek. Polnische Briefmarke von 1946.

Wie groβ waren die polnischen Bevölkerungsverluste im Zweiten Weltkrieg insgesamt?

Bei Ausbruch des Krieges zählte Polen 35,3 Millionen Einwohner. Im Jahr 1946 waren es nur noch 23,9 Millionen. Die Einwohnerzahl hatte sich also um 11,4 Millionen verringert, von denen ein Teil in Ostpolen verblieben war. Dieses Gebiet wurde von der Sowjetunion am 17. September 1939 besetzt und 1944-1945 endgültig von ihr annektiert. Heute ist es Teil von Litauen, Weiβrussland und der Ukraine.

Verstehen wir das richtig? Es geht um die Gesamtbevölkerung Polens, ohne Berücksichtigung der nationalen Herkunft.

Gedenkstätte Vernichtungslager Majdanek. Ungefähr 80.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1962.

Selbstverständlich. Ob Polen, Juden, Weiβrussen, Ukrainer, Armenier, sie alle waren polnische Staatsbürger. Während des Zweiten Weltkrieges verloren in Polen jeden Tag durchschnittlich etwa dreitausend dieser Menschen das Leben.

Gedenkstätte Vernichtungslager Majdanek. Polnische Briefmarke von 1968.

Bezogen auf die Bevölkerungsverluste haben sie sich auf den dadurch hervorgerufenen  Verlust an Bruttoinlandsprodukt konzentriert. Gibt es in ihren Berechnungen keinen festen Wiedergutmachungsbetrag für genommenes Leben?

Nein. Es gibt auch keinen Betrag für den Verlust nachfolgender Generationen, der Kinder und Enkelkinder der Ermordeten. Unser Ausgangspunkt war, möglichst präzise, wissenschaftliche Kriterien anzuwenden, auch wenn diese uns in Anbetracht der menschlichen Tragödien schrecklich technisch vorkommen müssen.

Gedenkstätte Vernichtungslager Treblinka. Ungefähr 800.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1964.

Die Verluste an entgangenem Einkommen der Ermordeten und Verwundeten machen etwa Dreiviertel der Gesamtsumme der polnischen Forderungen aus. Das ist eine andere Gewichtung als in dem Bericht des Büros für Kriegsentschädigungen von 1947, in dem diese Verluste nur 25 Prozent der Forderungen ausgemacht haben.

Woher kommt dieser Unterschied?

Heute können wir viel genauer messen, wie sich der Tod eines Einzelnen auf die Minderung des BIP ausgewirkt hat. Es gibt da inzwischen eine ziemlich präzise, leicht nachprüfbare wissenschaftliche Methode.

Haben sie Fachleute aus dem Versicherungswesen hinzugezogen?

Das wurde erwogen, aber letztendlich haben wir uns für die Berechnung entgangener Einkommen entschieden. Den objektiven Wert eines Menschenlebens kann man kaum anhand von, zum Beispiel, einer hypothetischen Versicherungspolice ermitteln, weil Versicherungspolicen in unterschiedlicher Höhe abgeschlossen werden, abhängig vom Vermögen, dem sozialen Status, dem Gesundheitszustand, dem Alter des Versicherten usw.

Soll das heiβen, dass sie selbständig eine neue Vorgehensweise entwickelt haben?

Das war eine Pionierarbeit, die auf der Analyse einer riesigen Zahl statistischer Angaben beruhte: der Lebenserwartung, der durchschnittlichen Einkommen, der damals erwarteten Wachstumsdynamik der polnischen Wirtschaft und der Einkommen. In unseren Annahmen, das möchte ich ganz stark unterstreichen, waren wir sehr zurückhaltend.

Zum Beispiel wuchs Polens Wirtschaft in den letzten Vorkriegsjahren um bis zu zehn Prozent pro Jahr. Vorher jedoch war das Wachstum deutlich niedriger. Wir haben den Mittelwert für 1919-1938 genommen, obwohl man davon ausgehen kann, dass die gute Konjunktur noch eine Zeitlang angehalten hätte. Auch haben wir zu diesem Thema Gegengutachten angefordert.

Gedenkstätte Vernichtungslager Chełmno/Kulmhof bei Łodź/Lodsch. Ungefähr 200.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1965.

Und die materiellen Verluste? Das zerstörte Warschau, Dutzende andere Städte schwer beschädigt, Hunderte niedergebrannte Dörfer.

Damit beschäftigte sich die gröβte Fachgruppe unter der Leitung von Prof. Mieczysław Prystupa von der Warschauer Technischen Hochschule. Ihr fiel die wohl schwierigste Aufgabe zu. Sie musste die Zerstörungen von und an Wohngebäuden, gewerblich genutzten Bauten, Architekturdenkmälern, Kirchen, ingenieurtechnischen Bauten schätzen. Hinzu kamen die Verluste im Energieversorgungswesen, in der Industrie und im Handwerk.

Wiederaufbau Warschaus. Polnische Briefmarke von 1950.

Ein weiterer Gegenstand waren vernichtete Agrarflächen, kriegsbedingtes Nichtbewirtschaften von Agrarland, Ernteeinbuβen, die Enteignung und Beschlagnahmung von Höfen und lebendem Inventar. Die erzwungene regelmäβige, unentgeltliche Ablieferung von Getreide, Fleisch und Milchkontingenten durch polnische Bauern. Aus dem Generalgouvernement wurden allein 1942 und 1943 auf diese Weise 663.000 Tonnen Getreide, 27.500 Tonnen Zucker usw. ins Reich geschafft. In dieser Kategorie haben wir auch die massenweisen Raubrodungen von polnischen Wäldern erfasst.

Berechnet wurden ebenso entfallene Einkommen (Mieten, Pachten) aus zerstörten Gebäuden. Wir haben auch versucht, die Verluste an Vermögen der polnischen Armee, der Eisenbahn, Post, der staatlichen Verwaltung, der Forstverwaltung, des Flugwesens usw. zu ermitteln. Es sind riesige Summen und dennoch machen sie am Ende weniger als zwanzig Prozent aller polnischen Verluste aus.

Gedenkstätte Gefängnis und Durchgangslager Łódź/Lodsch-Radogoszcz/Radegast. Ungefähr 3.500 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Weniger als zwanzig Prozent?

Wir haben alle Wertermittlungen sowohl aus dem Bericht von 1947 als auch aus anderen Quellen zusammengetragen. Auch wir waren erstaunt, dass die materiellen Verluste weniger als zwanzig Prozent der polnischen Kriegsschäden ausmachen, aber das ergibt sich aus objektiven Berechnungen. Einen viel höheren Wert hat das verlorengegangene menschliche Kapital.

Beinhaltet die Berechnung von weniger als zwanzig Prozent der materiellen Verluste zum Beispiel auch das Königsschloss in Warschau?

Selbstverständlich. Die Verluste von Kulturgütern sind in einem separaten Kapitel aufgeführt. Wir unterstreichen darin, dass die Deutschen mit aller Rücksichtslosigkeit planmäβig die Vernichtung des gesamten polnischen Kulturwesens durchgeführt haben. Sie zerstörten alles: das Bildungswesen, Museen, Archive, Bibliotheken, Kulturdenkmäler, Theater, das Musikwesen, die bildenden Künste.

Es genügt nur zu erwähnen, dass die deutschen Brand- und Sprengkommandos, nach der Kapitulation des Warschauer Aufstandes Anfang Oktober 1944, das menschenleere Warschau  bis Anfang Januar 1945 planmäβig ausraubten und zerstörten. Noch am 14. Januar 1945 hatten sie die Zeit gefunden die Warschauer Stadtbibliothek mit Flammenwerfern in Brand zu stecken. Das Königsschloss, das Nationalmuseum und fast alle anderen Kulturdenkmäler Warschaus waren bereits vernichtet. Zwei Tage später marschierten die Russen ein.

Alles in allem handelte es sich um eine systematische Aktion der Kulturvernichtung, die gegen alle Bestimmungen des Völkerrechts verstieβ. Diese Verluste zu schätzen war nicht einfach.

Welche Methode haben sie gewählt?

Wir gingen davon aus, dass Meisterwerke eigentlich unschätzbar sind. Alles andere lässt sich beziffern, und das haben wir getan.

„Westverschiebung“ Polens 1945.

Polen wurde 1945 nach Westen „verschoben“. Welche Gebiete werden eigentlich in ihrem Bericht berücksichtigt?

Ausschließlich das heutige polnische Kernland, also weder die an die Sowjets verlorenen polnischen Ostgebiete noch die ehemaligen deutschen Ostprovinzen, die heute zu Polen gehören.

Menschliche Verluste, materielle Verluste, Kulturgüter. Was noch haben sie in ihrem Bericht erfasst?

Die Verluste im Banken- und Versicherungswesen, welche Prof. Mirosław Kłusek von der Universität Łódź berechnet hat. Wir hatten vor dem Krieg in Polen einige gut aufgestellte Banken, ein entwickeltes Versicherungswesen und ein weitverzweigtes Sparkassennetz. Alle ihre Bestände wurden geraubt: Einlagen, Reserven, Obligationen, Gold, Devisen, sie gelangten in den deutschen Wirtschaftskreislauf.

Gedenkstätte Gefängnis und Durchgangslager in der Rotunde von Zamość. Ungefähr 10.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1968.

Und kreisen dort bis heute.

Ein Teil davon ganz sicher. Diese Verluste wurden im Bericht von 1947 nicht erwähnt. Wir haben das nachgeholt. In unserem Bericht beschreiben wir auch den Mechanismus der wirtschaftlichen Ausbeutung Polens unter deutscher Besatzung. Er bestand darin, dass die gesamten Besatzungs- und Ausbeutungskosten durch Steuern, Kontingente, Zwangsarbeit, Raub usw. auf die polnische Bevölkerung abgewälzt wurden.

Wir haben zudem eine ganze Reihe von neuen Unterlagen ans Licht gebracht. Hier sind weitere Untersuchungen notwendig.

Wer soll sie durchführen?

Der polnische Staat sollte dazu eine Forschungseinrichtung ins Leben rufen, z. B. ein Büro für Kriegsentschädigungen, das sich der Sache systematisch und professionell annimmt. Jedes Mal, wenn wir eine neue Tür geöffnet haben, sahen wir dahinter einige weitere.

Man könnte viele interessante Forschungsmethoden anwenden, Vergleiche anstellen. Man kann, das haben wir in unserem Bericht getan, z. B. Polen und Spanien nebeneinander stellen. Beide Länder hatten 1938 eine vergleichbare Bevölkerungszahl, eine vergleichbare territoriale Gröβe und befanden sich auf demselben Niveau der Wirtschaftsentwicklung. Spanien war weder vom Zweiten Weltkrieg noch vom Kommunismus unmittelbar betroffen. Die spanische Wirtschaft belegt heute den zwölften Platz auf der Weltrangliste, die polnische den dreiundzwanzigsten. Wir entwickeln uns schnell, aber unser Nachholbedarf ist immer noch enorm. Das ist auch eine Folge des Zweiten Weltkrieges.

Gedenkstätte Vernichtungslager Stutthof. Ungefähr 65.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Haben sie in ihrem Bericht anhand konkreter Beispiele das Ausmaβ der Verwüstungen verdeutlicht?

Ja, er enthält einige Fallstudien. Da ist zum einen Warschau, dessen Verluste Ingenieur Józef Menes dargestellt hat. Seine Arbeit ist nicht zu unterschätzen.

Wir haben auch den Fall Wieluń dargestellt (Am frühen Morgen des 1. September 1939 hat die deutsche Luftwaffe die militärisch unbedeutende Kleinstadt gröβtenteils zerstört. 1.200 Menschen kamen ums Leben – Anm. RdP).

Auβerdem erwähnen wir die südostpolnische Kleinstadt Nowy Wiśnicz, wo deutsche Besatzer die Karmeliterkirche dem Erdboden gleichgemacht haben. Im benachbarten Nowy Sącz (Neu Sandez) haben deutsche Truppen das gesamte prächtige Schloss der polnischen Könige in die Luft gesprengt.

Wir erwähnen auch die Gegend um die Stadt Zamość, hinter Lublin, in Ostpolen, von wo etwa 110.000 Polen vertrieben wurden, um deutschen Kolonisten aus Bessarabien, Bosnien, Serbien Platz zu machen. Allein dort haben die Besatzer an die dreiβigtausend Kinder ihren Eltern entrissen und zur Germanisierung nach Deutschland gebracht. Etwa ein Sechstel der von dort vertriebenen Polen gelangte nach Auschwitz. Die meisten überlebten nicht. Wir verdeutlichen diese Tragödie am Beispiel des Dorfes Sochy.

Nehmen sie in dem Bericht Stellung zu dem polnischen Verzicht auf deutsche Reparationen vom 19. August 1953, auf den sich Deutschland immer wieder beruft?

Wir führen sehr ernst zu nehmende Argumente an, die belegen, dass dieser von den Sowjets erzwungene Verzicht nicht bindend sein kann. Sowohl der Inhalt des Sitzungsprotokolls des Ministerrates, der eiligst an einem Sonntagabend einberufen wurde, als auch die
offizielle Verlautbarung, die am 23. August 1953 in den Medien erschien, berufen sich in einem fort auf die Sowjetunion: „Die Regierung der UdSSR schlägt vor“, „Die Regierung der UdSSR beabsichtigt“, „Die Regierung der Volksrepublik Polen schlieβt sich voll und ganz der Meinung der Regierung der UdSSR an“ usw., usf. Das damalige Polen mit seinem kolonialen Status musste das tun, was die Kolonialmacht Sowjetunion wollte.

Bolesław Bierut. Sowjetischer Statthalter in Polen. Polnische Briefmarke von 1952.

Zudem ist die Art, wie der Beschluss des Ministerrates zustande kam, geradezu kurios. Unterschrieben hat ihn nur Bolesław Bierut, Stalins Statthalter in Polen, ein NKWD-Agent, der damals an der Spitze der Regierung stand. Der Beschluss wurde weder im Gesetzblatt der Volksrepublik Polen noch im Amtsblatt der Regierung veröffentlicht und auch nicht in der UNO registriert.

Der deutsche Historiker Karl Heinz Roth, der unsere Position für richtig hält, hat uns darauf hingewiesen, dass ein polnischer Verzicht auf deutsche Reparationen eines Vertrages mit den vier Siegermächten bedurft hätte. Sie haben Polen im Juli-August 1945 deutsche Reparationen während ihrer Konferenz in Potsdam  zuerkannt.

Die deutsche Seite behauptet, sie habe Polen längst entschädigt.

In dieser Hinsicht hat die Bundesrepublik jahrzehntelang sehr erfolgreich eine Hinhalte- und Ausweichpolitik betrieben. Lange Jahre hieβ es in Bonn, man könne nichts tun, weil es keine diplomatischen Beziehungen mit Polen gebe. Zudem haben westdeutsche Gerichte Entschädigungsklagen von Polen bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts stets abgewiesen, mit dem Hinweis, dass der künftige Friedensvertrag alle Entschädigungsfragen regeln werde.

Nach der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages im Dezember 1970, in dem die Bundesrepublik die Oder-Neiβe-Grenze anerkannt hatte, und nach der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen 1973 hieβ es, die Entschädigungsforderungen seien verjährt.

Gedenkstätte Konzentrationslager Łambinowice/Lamsdorf. Ungefähr 45.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Dann folgte der Zwei-plus-Vier-Vertrag vom September 1990, der faktisch einen Friedensvertrag mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzt hat?

Er wurde von der Bundesrepublik Deutschland und der DDR mit den USA, Russland, Frankreich und Groβbritannien abgeschlossen. Die deutsche Bundesregierung beeilte sich im Nachhinein zu erklären, sie habe „diesen Vertrag in dem Verständnis abgeschlossen, dass damit auch die Reparationsfrage endgültig erledigt“ sei.

Nur, Polen war an diesem Vertrag nicht beteiligt. Der Verzicht Polens auf, genau genommen, Kriegsreparationen aus der DDR, wurde 1953 von den Sowjets erzwungen und ist damit nicht bindend.

Was besonders empört: Nur die Polen wurden so behandelt.
Kurz nach Kriegsende hat Westdeutschland, in Folge des Pariser Reparationsabkommens von 1946 (an sechzehn Staaten), des Luxemburger Abkommens von 1952 (an Israel) und des Londoner Schuldenabkommens von 1953 (an siebzig Staaten), Reparationen gezahlt. Polen war nicht dabei. Darüber hinaus gab es auch zahlreiche bilaterale Abkommen der Bundesrepublik mit weiteren betroffenen Staaten.

Seit Kriegsende hat die Bundesrepublik den Opfern des Dritten Reiches insgesamt 75,5 Milliarden Euro gezahlt, wovon Polen nicht ganze zwei Prozent (1,41 Milliarden Euro) bekam. Das meiste bekam Israel, und zwar 35 Milliarden Euro.

Und polnische Gerichte?

Dort hieβ es, der deutsche Staat sei durch die staatliche Immunität geschützt. Diese verbiete es Bürgern anderer Staaten ihn vor ausländischen Gerichten zu verklagen. Tatsächlich gibt es ein solches Prinzip, aber es gilt nicht uneingeschränkt.

Welche Ausnahmen gibt es?

Das italienische Verfassungsgericht hat zum Beispiel in einem Urteil seinen Bürgern das Recht zugestanden, den deutschen Staat vor italienischen Gerichten wegen Kriegsverbrechen zu verklagen. Solche Verfahren gab und gibt es in Italien.

Gedenkstätte Kriegsgefangenenlager Żagań/Sagan. Polnische Briefmarke von 1967.

Kann Polen diesen Weg beschreiten?

Ja. Am 26. Oktober 2017 habe ich einen Antrag beim polnischen Verfassungsgericht (VG) gestellt, unterschrieben von einhundert Sejm-Abgeordneten der Partei Recht und Gerechtigkeit. Demnach soll die Anwendung der Staatsimmunität zum Schutz anderer Staaten verfassungswidrig sein, wenn polnische Bürger oder Behörden andere Staaten auf Entschädigung wegen Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die auf polnischem Staatsgebiet verübt wurden, verklagen. Ein solches VG-Urteil würde polnischen Bürgern den Gerichtsweg in Polen für deutsche Kriegsentschädigungen öffnen.

Wird Deutschland die Entschädigungsurteile polnischer Gerichte respektieren und umsetzen?

Auf Anhieb eher nicht, aber solche Urteile schaffen nach und nach eine Wirklichkeit, gegen die man sich in der heutigen Welt auf Dauer nicht so ohne Weiteres blind und taub stellen kann.

Der Bericht ist fertig. Wird sich ihre parlamentarische Gruppe jetzt auflösen?

Nein. Es gibt weiterhin viel zu tun und so lange es, wie bereits gesagt, keine ständige Forschungseinrichtung gibt, die das Thema weiterverfolgt, müssen wir weitermachen.

Sowohl in Polen als auch in Deutschland erheben sich viele Stimmen, dass ihre Reparationsinitiative die polnisch-deutschen Beziehungen belasten wird.

Als 1962 de Gaulle und Adenauer in der Kathedrale von Reims die französisch-deutsche Aussöhnung gefeiert und ein halbes Jahr später den Élysée-Vertrag unterschrieben haben, zahlte die Bundesrepublik an Frankreich Reparationen für den Ersten und für den Zweiten Weltkrieg. Niemand kam damals auf die Idee, sie als eine Belastung für Aussöhnung und Zusammenarbeit zu bezeichnen.

Die deutsche Politik behauptet immer wieder, sie möchte das Verhältnis zu Polen genauso gestalten wie die Beziehungen zu Frankreich. Ich denke, dem steht in diesem Fall nichts im Wege.

Wird der Bericht Deutschland offiziell vorgelegt?

Ich hoffe, die deutsche Seite wird ihn als eine gut gemeinte Einladung zum Dialog auffassen. Wir sind offen für Gespräche,  fachliche Diskussionen, für Anmerkungen und Vorschläge.

Lesenswert auch:

Deutsche Reparationen. Polnische Positionen. Teil 1.  Beweggründe, Argumente, Pläne.

Deutsche Reparationen. Polnische Positionen. Teil 2. Akten, Aufstellungen, Analysen. Was hat Polen in der Hand.

© RdP




Polen fragen, die AfD antwortet

Reden statt beschimpfen.

Es gibt aus polnischer Sicht viele wichtige Fragen, die man der AfD stellen muss. Wie sie ihre Rolle in der deutschen Politik sieht. Nach ihrer Deutung der Geschichte und ihrem Umgang mit der deutschen Traditionspflege, nach der Oder-Neiβe-Grenze, EU, Russland, nach der US-Militärpräsenz in Europa…

Die AfD ist mittlerweile ein fester und prägender Bestandteil der deutschen Politik. Man kann nicht ausschlieβen, dass sie eines nicht fernen Tages für das Erste in einigen Bundesländern mitregieren wird. In Polen hat sie keinen Ansprechpartner. Auch die polnische nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit meidet Kontakte zur AfD, obwohl es hier und da gemeinsame politische Positionen gibt.

Die AfD hat viele Gesichter, sie spricht mit vielen Zungen. Welche sind maβgebend? Wer sich mit der AfD abgibt kann zudem leicht für die bedauerlichen rhetorischen Exzesse mancher ihrer Funktionäre haftbar gemacht werden.

Journalisten des Wochenmagazins „Sieci“ („Netzwerk“) haben all die für Polen bedeutenden Fragen dem Berliner AfD-Chef Georg Pazderski gestellt. Inwieweit seine Antworten für die gesamte AfD repräsentativ sind, bleibt offen. Der polnisch-deutsche Dialog jedenfalls ist um eine neue Facette reicher geworden. Das Interview erschien in der „Sieci“-Ausgabe vom 20. Januar 2019.

Georg Pazderski.

Frage: Die deutsche Politik ist ein durch und durch festgefügtes System mit einer starken Schieflage zur linken Seite. Wie konnte sich die AfD unter solchen Umständen durchsetzen?

Pazderski: Immer wenn irgendeine Gruppierung auch nur ein wenig rechts von der CDU auftauchte, erhoben sich sofort Stimmen: passt auf, das sind Nazis, ihr wisst doch um unsere Geschichte. Das wirkte. Bei der AfD hat es zum ersten Mal nicht funktioniert.

Wir sind im Bundestag vertreten, in sechzehn Landtagen, im Europaparlament. Bei den Europawahlen im Mai 2019 können wir bis zu zwanzig Mandate holen. Wenn wir an Unterstützung und Bedeutung gewinnen, büβen andere sie ein.

Es ist eine politische Kraft entstanden, die anderen auf die Finger schaut, die den Finger in die Wunde legt. Mit so etwas hatten die etablierten Parteien seit dreiβig Jahren nicht zu tun. Auch daher rührt die Abneigung gegen uns.

AfD-Programm. Polnische Übersetzung.

Was war der wichtigste Grund des AfD-Wahlerfolgs 2015? Die Migrationskrise?

Nein, das war das seit vielen Jahren andauernde Abdriften der CDU nach links, besonders zur Zeit Angela Merkels. Die Christdemokraten haben sozialdemokratische, grüne und teilweise noch linkere Positionen bezogen. Auf der rechten Seite entstand ein Vakuum, in das die AfD vorgedrungen ist.

Interessanterweise hat unser Erfolg die CDU nicht zu einer Kurskorrektur veranlasst. Sie glauben immer noch, mehr Stimmen zu gewinnen, wenn sie nach links gehen, anstatt nach rechts. Für uns ist das eine gute Nachricht, denn so wächst unser Potenzial. Das ist eine Chance, die wir mit Ideen, Konzepten und Vorschlägen unterfüttern müssen. Wir müssen als eine Gruppierung wahrgenommen werden, die Verantwortung übernehmen und Probleme lösen kann.

Die AfD jedoch wird weiterhin bezichtigt, extrem rechts zu stehen und mit Neonazis zu sympathisieren. Auch in Polen sind solche Stimmen zu vernehmen.

Das Trommelfeuer dauert an. Die Zeitungen sind voll mit solchen Bezichtigungen, die von den Konkurrenzparteien geschürt werden. Gewiss, manchmal sagt jemand von unseren Mitgliedern etwas, weshalb man sich nur an den Kopf fassen kann. Es sind aber Einzelfälle.

Elena Roon, die AfD-Kreisvorsitzende in Nürnberg verschickte in einer internen Chat-Gruppe ein Hitler-Bild mit der Anmerkung „Vermisst seit 1945 – Adolf bitte melde Dich! -Deutschland braucht Dich!“

Zum Beispiel. Wir hatten auch Fälle von Holocaustleugnung, es wurde demonstrativ die blaue Kornblume getragen, die den illegalen österreichischen Nazis als Erkennungszeichen diente.
Wir reagieren, bemühen uns solche Leute los zu werden, was nicht immer einfach ist. Dabei steht die AfD unter einer peniblen Beobachtung der gesamten Öffentlichkeit. Ein Eintrag in den sozialen Medien reicht aus, um einen landesweiten Sturm der Entrüstung zu entfesseln.

Pro-polnische AfD-Stellungnahme.

Werden sie von den deutschen Geheimdiensten beobachtet?

Nicht als Ganzes, aber einzelne Personen können observiert werden.

Wenn sie einem Dauerbeschuss der Medien und der Politik unterliegen, wie verständigen sie sich dann mit ihren Wählern?

Wir arbeiten hart daran. Ich zum Beispiel unterhalte sehr korrekte Kontakte zu Journalisten. Es gibt natürlich auch die sozialen Medien, die immer noch verhältnismäβig frei sind.

In der Bevölkerung wächst zudem die Kritik an den traditionellen Medien. Ich kenne Leute, die auf deutsche Zeitungen verzichten und dazu übergehen die „Neue Zürcher Zeitung“ zu abonnieren. Sie finden, das schweizerische Blatt beschreibt die deutsche Wirklichkeit viel objektiver als zum Beispiel die FAZ.

Es werden Stimmen laut, wir bewegen uns in Richtung einer „DDR 2.0“. Dorthin führen die eingeengten Horizonte, die politische Korrektheit, Versuche die sozialen Medien zu überwachen.

Pro-polnische AfD-Stellungnahme.

Wie ist die soziale Zusammensetzung der AfD? Wer sind ihre Mitglieder und Sympathisanten?

Das sind ganz normale Leute, die noch vor nicht langer Zeit CDU, SPD oder die Liberalen gewählt haben. Etwa zehn Prozent der Deutschen sind unsere Stammwähler, halten uns die Treue. Eine Gruppe von sechs bis zwanzig Prozent schwankt in ihrer Zustimmung für die AfD. Wir haben eine gröβere Unterstützung in der arbeitenden Bevölkerung als die SPD. Ebenfalls eine wichtige AfD-Wählergruppe sind die klassischen Liberalkonservativen.

Haben die Arbeiter das Gefühl, die SPD habe sie verraten?

Ja. Menschen aus unteren Sozialschichten betrachten uns als ihre Stimme im Parlament. Wer trägt die Kosten der Masseneinwanderung? Nicht diejenigen, die zehntausend Euro im Monat verdienen. Den Preis bezahlen Geringverdiener, die um die raren Niedriglohnjobs, bezahlbare Wohnungen, die Ausbildung ihrer Kinder konkurrieren müssen. Sie sehen, dass es nicht gut zugeht in Deutschland und finden, dass nur die AfD das ändern kann, dass sien die Wahrheit sagt, nicht versucht Sand in die Augen zu streuen.

AfD-Positionen. Keine EU-Einmischung in Polen und kein deutsches Kindergeld in EU-Deutschland für Arbeitende aus  EU-Polen.

Wie erklären Sie, dass die AfD in der ehemaligen DDR viel mehr Unterstützung erfährt als im Westen des Landes. Ein Teil eurer Kritiker ist der Meinung, die AfD zieht Wähler an, die „autoritäre Sehnsüchte“ hegen.

Im Westen sind die Bindungen der Wähler an die traditionellen Parteien viel stärker. Dort wird oft seit Generationen dieselbe Partei gewählt. Das ist vererbte Zustimmung. Ältere Menschen bleiben der SPD oder der CDU treu.

Im Osten finden die Leute, dass wenn eine Partei versagt hat, dann sollte man etwas Neues ausprobieren. Im Osten Deutschlands ist die Demokratie wahrhaftiger, voller. Dort ist das Meinungsspektrum viel breiter und die Menschen haben weniger Angst ihre Meinung zu sagen.

AfD-Positionen. Von Polen beschämt. Polen haben Sachsen eine Mercedes-Motorenfabrik nach Jawor/Jauer weggeschnappt (oben). Polen elektrifizieren die Bahnstrecke Dresden-Wrocław viel schneller auf ihrer Seite der Grenze als die DB auf der Ihrigen.

Ist Ostdeutschland weniger eingeschüchtert von der politischen Korrektheit als der Westteil des Landes?

Auf jeden Fall. Die Ostdeutschen finden, dass sie 1989 und 1990 für eine wahre Demokratie gekämpft haben, für das Recht uneingeschränkt wählen zu können. Auch deswegen verzeichnen wir in den östlichen Bundesländern eine Unterstützung zwischen zwanzig und vierundzwanzig Prozent, und ich kann ihnen versichern, es ist noch lange nicht das Ende der Fahnenstange.

Auch im westlichen Teil, vor allem im dortigen Süden haben wir viel Rückhalt. Das schwierigste Terrain für uns sind Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen. In Berlin gestaltet sich die Zustimmung für die AfD recht unterschiedlich. Die Hauptstadt ist nun mal ein gesamtdeutscher Mikrokosmos. Im Osten der Stadt bekommen wir jede vierte Wählerstimme, in manchen Stadteilen dort bis zu dreiβig Prozent.

Man kann eine hohe Unterstützung haben und dennoch nie an die Macht kommen.

Wir müssen uns in Geduld üben. Als die Grünen in die deutsche Politik vordrangen, hat man sie noch 1980 als eine „Terroristenpartei“ bezeichnet, wegen ihrer Verbindungen zur Roten Armeefraktion. Sie waren vollends isoliert. Einige Jahre später zogen sie in die Landesregierungen ein. Joschka Fischer wurde Minister in Hessen und 1998 Auβenminister.

Ähnlich hat man ziemlich lange die PDS wegen ihrer totalitären Wurzeln behandelt. Heute arbeiten die Postkommunisten vielerorts mir der SPD zusammen.

So kann es auch der AfD ergehen. Die erste Chance könnte sich im Herbst 2019 nach den Wahlen in Sachsen und Thüringen ergeben. Wir können dort zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Prozent der Stimmen bekommen und die stärkste oder zweitstärkste Partei werden. Die CDU wird sich entscheiden müssen, ob sie mit uns zusammenarbeiten oder sich an einer Vierparteien-Koalition beteiligen will. So eine Koalition zu bilden kann sehr schwer sein. Wir müssen nicht gleich in die Regierung eintreten, dass kann auch eine vereinbarte Tolerierung sein.

Mit der Zeit werden uns die anderen Parteien wie Partner behandeln, aber man muss abwarten. Viele hoffen noch darauf, uns auszuschalten, zu vernichten, mit allen Mitteln.

AfD-Positionen. Wieder Kontrollen an der Grenze zu Polen einführen.

In Bremen wurde der AfD-Politiker Frank Magnitz auf offener Straβe schwer verletzt. Ein politisch motivierter Beweggrund liegt nahe. Hat dieses Ereignis ein Umdenken im leitenden politischen und medialen Lager verursacht?

In Deutschland haben fünfundsiebzig Prozent aller Journalisten eine klar definierte linke Gesinnung. Das deutsche Journalistenmilieu als Ganzes ist demnach keineswegs objektiv. Die Journalisten sind mental, weltanschaulich eng verwoben mit der Regierung und mit linken Parteien. Viele von ihnen glauben allen Ernstes daran einer guten Sache zu dienen, edelmütig zu sein. Das ist manchmal schon ein Missionieren aus der Überzeugung heraus, am modernen deutschen Wesen wird die Welt genesen. So seien angeblich die Lehren aus unserer Geschichte. Dahinter verbirgt sich ein riesiges Schuldgefühl. So gesehen, ist die Änderung der Einstellung zu einer rechten Partei, wie der AfD, nicht einfach.

Der Zwischenfall mit Frank Magnitz kann auch ein Versuch sein die AfD einzuschüchtern. Fürchten Sie nicht um ihre Gesundheit und ihr Leben?

Ich habe keine Angst, aber ich schaue mich schon genau um beim Ein- und Aussteigen aus dem Auto. Ich bin einundvierzig Jahre lang Berufssoldat gewesen, bin gewohnt mit Gefahren umzugehen. Solche Vorfälle wie der in Bremen bewirken, dass wir in der AfD vorsichtiger geworden sind, möglichen Provokationen aus dem Weg gehen, denn alles ist möglich.

Vor eineinhalb Jahren wurde mein Berliner Haus mit Farbbeuteln beworfen, die Fassade und die Fenster beschädigt. Bei meinem Auto haben sie die Scheiben eingeschlagen, die Reifen zerschnitten. Der Schaden betrug zwölftausend Euro.

Nicht erst seit heute wird dem deutschen Staat vorgeworfen, er toleriere die Aktivitäten linker Rollkommandos.

Die deutsche Regierung ist blind auf dem linken Auge. Linke Gewalt, auch Kriminalität werden hingenommen. In Hamburg, beim G20-Gipfel, veranstaltete die radikale Linke einen kleinen Bürgerkrieg und nichts passierte. Die Presse, die sich pausenlos über noch so kleine Neonaziaktivitäten aufregt, reagiert nicht auf die steigende Gewaltbereitschaft der anderen Seite. Die Botschaft ist klar: solange Du gegen die Rechte kämpfst, bist du sicher.

Wie beurteilen Sie die deutsche Vergangenheit, vor allem die im 20. Jahrhundert?

Die Jahre 1933-1945 waren eine dunkle Zeit. Mir ist immer noch nicht ganz klar, wie ein Volk mit so einer Kultur so tief fallen konnte. Der einzige Trost ist, dass wir es geschafft haben uns unserer Vergangenheit zu stellen. Wir reden darüber, wir ziehen keinen Schlussstrich, und so muss es sein, damit sich das Geschehene niemals wiederholt.

Ergeben sich aus der Vergangenheit besondere Pflichten für den deutschen Staat und für das deutsche Volk?

Ja, wir haben besondere Pflichten, aber im heutigen Deutschland lebt die dritte und vierte Nachkriegsgeneration. Diese Menschen trifft keine Schuld an den Verbrechen, aber sie müssen darüber Bescheid wissen und dürfen nicht vergessen was passiert ist.

Trägt die Schuld an den Verbrechen das deutsche Volk oder tragen sie, in ihrer nationalen Zugehörigkeit nicht näher definierte, Nazis?

Wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht, trägt das deutsche Volk die Verantwortung für die Verbrechen. Natürlich gibt es auch einen historischen Hintergrund, den Ersten Weltkrieg und seine Folgen. Alle Völker haben damals Fehler begangen, nicht nur die Deutschen, auch die Amerikaner, Franzosen, Briten. Diese Ereignisse, gepaart mit der wirtschaftlichen Situation, haben die Nazis an die Macht gebracht.

In seiner bekannten Hitler-Biografie schreibt Joachim Fest, dass, wenn Hitler 1937 gestorben wäre, man ihn als einen der herausragendsten deutschen Politiker einstufen würde. Hitler aber hat überlebt und es ist Schreckliches passiert. Die Deutschen trifft die Schuld dafür.

AfD-Positionen. Polen als Vorbild in der Migrationsfrage.

In Polen erweckte groβes Aufsehen, was AfD-Chef Alexander Gauland gesagt hat: „Wenn Franzosen und Briten stolz auf ihren Kaiser oder den Kriegspremier Winston Churchill sind, haben wir das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“. Das klingt schon sehr revisionistisch.

Ich weiβ nicht, ob das die Absicht von Alexander Gauland war. Auf jeden Fall kann man stolz sein auf einige Leistungen deutscher Soldaten, rein militärisch betrachtet. Beispiel, die Ardennen-Offensive Ende 1944 oder das was die Gespensterdivision unter Erwin Rommel geleistet hat. Man kann die Überraschungseffekte, die sie erzielt hat, ihre Schnelligkeit und Geschicklichkeit bewundern.

Das Studieren gewesener Schlachten und Militäroperationen ist ein Bestandteil der soldatischen Ausbildung und nichts Verwerfliches. Es gibt soldatische Leistungen, die geradezu heroisch waren, wie die eines deutschen Panzerkommandeurs der einhundertvierzig russische Panzer vernichtet hat. Von ihm kann man sagen, dass er der beste Panzersoldat war.

Diese Taten sind nur ein Teil eines Ganzen, das verbrecherisch war.

Ja, das geschah im Namen einer verbrecherischen Regierung. Wir wissen, dass die Deutschen beinahe die gesamte polnische Intelligenz ermordet haben. Doch die einfachen Soldaten im Feld wussten das nicht. Es kam vor, dass sie ritterlich gekämpft und gelungene Militäroperationen durchgeführt haben.

Das was Sie sagen nährt jedoch die Befürchtung, dass es nicht dabei bleibt. Sie beschränken sich auf die Bewunderung für einige Einheiten. Andere, auch die nächsten Generationen, können da weitergehen, sich für das perfekte In-Szene-Setzten der Nürnberger Parteitage begeistern, den Schwung mit dem Leni Riefenstahl ihre Filme gedreht hat oder noch Schlimmeres.

Nein, das kann man nicht vergleichen. Glauben Sie nicht, dass, vergleichbar, polnische Soldaten die Geschichte der militärischen Leistungen der polnischen Armee kennen sollten? Handwerklich betrachtet, sollte man gewesene Militäroperationen erforschen. Historisch gesehen, befehligte sie eine verbrecherische Regierung. Das unterliegt keinem Zweifel.

Will die AfD die deutsche historische Identität verändern, die in der Nachkriegszeit entstanden ist, die viele Tabus und Schuldgefühle enthält?

Die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 brachte Europa und der Welt Tod und Unglück. Das muss auf uns lasten. Andererseits gehören zur deutschen Geschichte auch Karl der Groβe, Martin Luther, die Aufklärung, Bach. Wir können nicht sagen Deutschland das ist nur der Nationalsozialismus oder das sind nur die schönen Seiten. Die Geschichte ist ein Ganzes und so muss man sie sehen.

Unmittelbar nach dem Krieg hat man über die Jahre 1939-1945 nicht gesprochen. In meiner Schule begann der Geschichtsunterricht mit dem antiken Griechenland, endete 1933 und wir sprangen über zum Jahr 1946. Dazwischen klaffte ein schwarzes Loch.

Zudem war meine Situation besonders. Für die Gleichaltrigen war ich der „Polacke“. Die erste Nachkriegszeit war sehr spezifisch.

Wie ist die Haltung Ihrer Partei zu den deutschen Nachkriegsgrenzen?

Die Grenzen sind so wie sie sein sollen. Ich bewundere bis heute Willy Brandt dafür, dass er sich dazu durchgerungen hat die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Ich habe übrigens für ihn gestimmt, weil ich der Meinung war, dass wir uns mit unseren östlichen Nachbarn verständigen müssen. Es gibt heute keine Grenzfrage.

Die AfD hat viel Zulauf bekommen infolge der Migrationskrise von 2015. Warum hat sich Angela Merkel damals für die Grenzöffnung entschieden?

Das wissen wir nicht. Wir haben die Einberufung eines Untersuchungsausschusses beantragt, der diese Angelegenheit ausleuchten sollte. Merkels Entscheidung nämlich war ein Bruch des deutschen- und des Völkerrechts.

Zudem hat niemand die Deutschen nach ihrer Meinung gefragt. Eine ganze Menge Probleme sind deswegen bei uns in Deutschland und in Europa entstanden. Heute haben wir zwei Millionen Migranten mehr im Land. Nach Informationen der „Welt“ kostet jeder Migrant den deutschen Staat 3.500 Euro monatlich, also 42.000 Euro pro Jahr. Das ergibt 84 Milliarden Euro jährlich!

Dafür haben sie Tausende gut ausgebildete Ärzte und Ingenieure.
[lacht] Ein wichtiger Bestandteil dieser Unternehmung war das Betrügen der Öffentlichkeit. Es geht nicht nur um die Kosten.
Heute sehen wir, dass sich die Migranten nicht integrieren wollen. Wenn sie so viele sind, brauchen sie nicht Deutsch zu sprechen. Arabisch genügt. Das wiederum bedeutet, dass sie dauerhaft von unserem Sozialsystem leben werden.

Hinzu kommt ein Zuwachs an Kriminalität, vor allem an Vergewaltigungen und Messerstechereien. Laut Statistik wird einer von neun Migranten kriminell. In der übrigen Bevölkerung beträgt das Verhältnis eins zu fünfundsechzig.

Die Befürworter der Migration werden sagen, dass man sich mehr Mühe geben, mehr Geld investieren, noch offener sein muss.

Mehr geht kaum mehr. Eins aber möchte ich klarstellen. Man muss Kriegsflüchtlingen helfen, aber möglichst heimatnah, in den Nachbarländern. Für das Geld, das wir für einen Migranten in Deutschland ausgeben, können wir vor Ort wirksam einhundertdreiβig Menschen helfen.

Asylanten, die wirklich vor Verfolgung fliehen, sollen bleiben dürfen. Doch 95 Prozent der Migranten kommen aus wirtschaftlichen Gründen. Sie sollten wir nicht reinlassen. Sicher, sie suchen ein besseres Leben und handeln sehr rational. Wir in ihrer Lage würden wahrscheinlich dasselbe tun. Die Migrationskrise ist nicht ihre Schuld. Schuld sind Politiker.

Wie lautet die politische Antwort der AfD auf die Migrationskrise? Es geht ja auch um den dramatischen Geburtenrückgang in Europa, das Altern der Gesellschaft, den Arbeitskräftemangel.

Wer hat gesagt, dass wir in Deutschland unbedingt 82 Millionen Einwohner haben müssen? Vielleicht reichen 75 oder 70 Millionen aus? Die nächste technologische Revolution ist im Anmarsch, viele Arbeitsplätze werden entfallen.

Heute geht es vor allem darum, dass wir keine offenen Grenzen mehr haben, dass Deutschland die Kontrolle über sie wiedergewinnt. Jeder der kein Bleiberecht hat bei uns sollte abgeschoben werden. Heute werden selbst illegale Migranten nicht belangt. In Berlin erlauben die Behörden jedem zu bleiben, der hierher kommt.

Sind sie für die Abschaffung der Schengen-Zone?

Ja, weil die EU nicht fähig ist die Auβengrenzen zu kontrollieren.

Und wie halten sie es mit der EU?

Wir wollen sie reformieren in Richtung mehr Subsidiarität. Die Nationalstaaten sollen mehr zu sagen haben. Die EU soll sich nur damit beschäftigen, was sie besser als die Nationalstaaten lösen kann, zum Beispiel den gemeinsamen Markt hüten.
Heute reiβt die EU immer mehr Zuständigkeiten an sich. Wozu eigentlich? Sollte eine Reform nicht möglich sein, dann muss Deutschland aus der EU austreten.

Der Dexit wäre das Ende der EU.

Zuerst müssen wir versuchen zu reformieren, und es ist uns klar, dass das mindestens einige Jahre lang dauern wird. Auf keinen Fall jedoch, werden wir einen europäischen Überstaat hinnehmen. Das Europäische Parlament wird niemals eine volldemokratische Legitimation haben.

Aus polnischer Sicht wird die EU vollends von Deutschland bestimmt und arbeitet für Deutschland.

Die Deutschen wiederum sind überzeugt, dass vor allem sie die EU finanzieren. Nicht einmal unsere EU-Exporte werden fair abgewickelt. In Wirklichkeit verkaufen wir auf Kredit, weil wir den Staaten des Südens Geld leihen. Zudem haben wir im Rahmen der Euro-Zone keinen Einfluss mehr darauf.

Bei dieser Gelegenheit kann ich euch raten, lasst die Finger von der gemeinsamen Währung. Der Euro hat Griechenland, Spanien, Portugal, Italien schreckliche Schäden zugefügt.

Was halten Sie von der Einmischung der EU in die polnische Justizreform?

Das ist eine innerpolnische Angelegenheit. Das Bild Polens und Ungarns in den deutschen Medien ist sehr negativ. Deutsche Politiker und Medien können nicht ertragen, dass es in einem benachbarten Land eine konservative Regierung gibt, die vieles anders sieht als sie.

Dasselbe gilt für Donald Trump. Ich habe einige Jahre lang in den Vereinigten Staaten gelebt, habe dort viele Freunde und ich weiβ, wie sehr sie mit dem jetzigen Präsidenten zufrieden sind. Sie sagen, er sei der erste Politiker seit Jahren, der seine Wahlversprechen einhält.

Ist die AfD eine prorussische Partei?

Ganz sicher hat Ostdeutschland starke mentale und wirtschaftliche Bindungen zu Russland. Viele deutsche Unternehmen leiden unter den Sanktionen gegen Russland. Wir brauchen Frieden in Europa. Es muss eine europäische Ordnung entstehen, die die Interessen Russlands, der USA und der ostmitteleuropäischen Staaten berücksichtigt, die den Osten mit anderen Augen sieht als Deutschland.

Was soll man aber mit einem Russland anfangen, das reihum seine Nachbarn angreift? Georgien, die Krim, Ostukraine. Jetzt will es Weiβrussland schlucken. Wie oft und wie lange kann man das mit Appellen abtun, die zum Dialog aufrufen?

Die territoriale Ganzheit aller europäischen Staaten unterliegt keiner Diskussion. Man darf Russland nicht erlauben, seine Grenzen Richtung Westen zu verschieben. Die Nato sagt das eindeutig und zeigt wo die rote Linie verläuft. Mit Russland kann man nur von Gleich zu Gleich reden. Das ist die Sprache die sie verstehen und respektieren. Eine Politik der Zugeständnisse, der Besänftigung und Beschwichtigung ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt.

Sind sie für die Anwesenheit amerikanischer Truppen in Europa?

Selbstverständlich. Die USA sind das Schlüsselelement der Nato, eines Bündnisses, das uns seit so vielen Jahrzehnten den Frieden garantiert. Wer das infrage stellt versteht die Amerikaner nicht. Natürlich wollen sie Geschäfte machen, Geld verdienen. Es ist aber auch ein Volk, das sich in Selbstlosigkeit übt und für die Verteidigung der Freiheit sehr viel übrig hat.

Welche Politik wird die Regierungspartei AfD gegenüber Polen und den anderen Staaten der Region verfolgen?

Ich und die anderen Führungspersonen der AfD hoffen, dass es gelingt nähere Kontakte zwischen den konservativen Parteien Europas aufzubauen. Wir wollen uns austauschen und zusammenarbeiten mit Recht und Gerechtigkeit. In vielen Bereichen haben wir fast gleichlautende Meinungen. Da muss man ansetzen.

Wie wichtig ist für die AfD die Auβeinandersetzung mit der Ideologie der sogenannten offenen Gesellschaft?

Sehr wichtig. Wir sind die einzige Partei in Deutschland, die sich dieser Herausforderung stellt. Die Gender-Ideologie, die sehr frühe Sexualisierung der Kinder, die politische Korrektheit, das alles lotst Europa in die falsche Richtung. Oft handelt es sich dabei auch um puren Unsinn. Wie kann man behaupten, dass man das Geschlecht beliebig wechseln kann? Ist doch absurd.

Angela Merkel sagt, der Islam sei ein Teil Deutschlands geworden.

Nein. Europa ist auf drei Hügeln gebaut. Auf Golgota, das ist das Christentum. Auf der Akropolis, das ist das antike Griechenland und auf dem Kapitol, das ist das antike Rom. Europa das ist die jüdisch-christliche Zivilisation. Was hat der Islam damit zu tun? Bis ins 17. Jahrhundert unternahm der Islam alles um Europa zu erobern. Das hätte ihm sogar gelingen können, wäre da nicht der polnische König Johannes III. Sobieski gewesen.

Sie sind polnischer Abstammung. Ihr Vater war Pole, wurde während des Krieges als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt und blieb dort nach dem Krieg. Ist das wichtig für sie?

Die Hälfte meines Blutes ist polnisch und deswegen weckt Polen in mir warme Gefühle. Meine Groβeltern waren Polen und ich weiβ, dass sie mich sehr geliebt haben. Sie schickten mir Pakete mit Konserven, Halva und Kinderbüchern, die mir mein Vater übersetzte. Das war nicht einfach, weil es nicht leicht ist das Kindergedicht „Die Lokomotive“ von Julian Tuwim ins Deutsche zu übertragen.

Sie waren ein ranghoher Berufssoldat. Warum sind sie in die Politik gegangen?

Nach der Rückkehr von Auslandseinsätzen, bei denen ich viele Jahre verbracht habe, musste ich feststellen, dass mein Land in die falsche Richtung abdriftet. Später ist mir klar geworden, dass man das nicht ändern kann, indem man nur wählen geht. Man muss etwas tun.

Deutschland hat mir die Chance geboten viele meiner Träume zu verwirklichen. Jetzt, wo ich vier Enkelkinder habe, befürchte ich, dass sie nicht die Möglichkeiten haben werden, die ich hatte. Deswegen habe ich mich der entstehenden AfD angeschlossen. Wir haben viel erreicht. Auch in der Opposition beeinflussen wir die Wirklichkeit.

RdP




Deutsche Jugendämter, polnisches Leid

Rabiate Kindeswegnahmen, Sprechverbote, Sorgerechtsentzug. Ein Bericht und eine Expertenmeinung.

Die Vorgehensweise der deutschen Jugendämter sorgt in Polen seit Jahren für helle Aufregung und ruft oft aufs Neue die bösesten Erinnerungen an die preuβische und gar nationalsozialistische Germanisierungspolitik hervor. Der Vorwurf der Germanisierung wird immer wieder erhoben.

Die uneinsichtige Haltung deutscher Behörden, die trotz zahlreicher Verurteilungen der Bundesrepublik durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, trotz sehr kritischer Anhörungen im Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments, trotz vieler Proteste aus dem Ausland weiterhin keinen Anlass sehen, die Vorgehensweise der Jugendämter zu ändern, stöβt in Polen auf Unverständnis.

Deutsche Jugendämter machen seit Jahren von sich reden

Wie sehr emotional die polnische Sichtweise der Dinge ist, verdeutlicht eine Reportage, die Polens gröβtes Wochenmagazin, das katholische „Gość Niedzielny“ („Sonntagsgast“) am 10. Juni 2018 veröffentlicht hat. Wir bringen sie in einer geringfügig gekürzten, deutschen Fassung.

„Wenn ich mich mit seinen Schuhen in der Hand meinem Alanek nähere, fängt er an sich mit dem Rücken gegen die Wand zu stoβen. Er will nicht nach drauβen“, erzählt Beata Bladzikowska. Zweimal in der Woche besucht sie unter Aufsicht einer deutschen Erzieherin ihren kleinen Sohn, den ihr das Jugendamt weggenommen hat.

Die Wohnung von Wojciech Pomorski ist seit fünfzehn Jahren unverändert geblieben. Seit dem Tag als seine Töchterchen verschwanden. An der Tür hängen ihre Zeichnungen, auf den Betten liegen Teddybären, so als wäre die Zeit stehengeblieben.

Wir haben in Hamburg zwei polnische Elternteile ausfindig gemacht, denen das Jugendamt ihre Kinder weggenommen hat. Ungeachtet aller Bemühungen um die Rückkehr, werden die Töchter und der Sohn unserer Gesprächspartner weiterhin der Germanisierung unterzogen.

Die deutschen Jugendämter machen seit Jahren von sich reden. Es heiβt, sie missbrauchen ihre Befugnisse, vor allem im Umgang mit den in Deutschland lebenden Ausländern. Die Ämter nehmen ihnen die Kinder weg. Sie erschweren den Kontakt mit ihnen. Sie erlauben den Eltern nicht, sich bei Besuchsterminen mit den Kindern in ihrer Muttersprache zu unterhalten.

Anwältin Patricia Jurewicz-Behrens

Begründet wird das mit der vermeintlichen Gefährdung des Kindes. Ob es tatsächlich eine Gefährdung gab, das zeigt sich erst im Nachhinein. Bis dahin bleiben die Kinder bei deutschen Pflegefamilien, verlieren den Kontakt zu den Eltern und zu der Sprache, die sie bisher zuhause gesprochen haben.
„In fünfzig bis sechzig Prozent der Fälle, die ich kenne, kehren die Kinder zu ihren Eltern zurück“, berichtet Anwältin Patricia Jurewicz-Behrens, die in einer Hamburger Sozietät arbeitet. Damit bestätigt sie die hohe Zahl der offensichtlich ungerechtfertigten Inobhutnahmen durch das Jugendamt.

In Hamburg gibt es zehn Sozietäten mit polnischsprachigen Anwälten, die sich solcher Fälle annehmen. Patricia Jurewicz-Behrens hat so viel zu tun, dass sie die meisten Eltern, die zu ihr kommen an ihre Kollegen verweisen muss.

Ohne Anwalt geht es nicht, denn es sind Familiengerichte, die über die Rückkehr der Kinder zu ihren Eltern entscheiden. „Die Jugendämter wollen, dass sich die Eltern wegen ihrer angeblichen Schuld so lange wie möglich rechtfertigen müssen, und in dieser Zeit schreitet die Germanisierung der Kinder voran“, sagt Wojciech Pomorski.

In der Nacht den Eltern weggenommen

Die Jugendämter haben uneingeschränkte Möglichkeiten sich in das Familienleben einzumischen, um, wie es in ihren Broschüren heiβt, Kinder zu schützen. Oft werden sie aus der Familie genommen, weil Mutter, Vater oder ein Nachbar dem Amt gemeldet haben, dass etwas Beunruhigendes passiert sei. Das kann z.B. eine mehrtägige Abwesenheit des Kindes in der Schule sein, sein schlechtes Benehmen oder gar seine länger anhaltende schlechte Stimmung, die den Schluss nahelegen, dass das Kind Probleme habe.

„Das Jugendamt darf die Kinder aus den Familien nehmen, wenn es von der Bedrohung seines leiblichen oder seelischen Wohles erfährt“, sagt Frau Jurewicz-Behrens. „Oft passiert es, dass Kinder von einem Elternteil misshandelt werden und blaue Flecke haben. In Notfällen übernimmt das Amt die Fürsorge ohne Gerichtsbeschluss.“

„Über den Eltern steht in Deutschland das Jugendamt“, behauptet Wojciech Pomorski, der am 18. Februar 2007 den „Polnischen Verband Eltern gegen Diskriminierung der Kinder in Deutschland e.V.“ gegründet hat (www.dyskryminacja.de). Der Verband hilft Eltern und Kindern, die vom Jugendamt und der deutschen oder österreichischen Justiz geschädigt wurden.

Wojciech Pomorski mit seinen Töchtern Iwona-Polonia und Justyna

Die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens widmete Pomorski dem Kampf um das Recht, seine Kinder in ihrer eigenen Kultur und Sprache erziehen zu dürfen. „Kinder werden aufgrund des § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuches entzogen, ohne dass die Schuld der Eltern bewiesen und die Maβnahme schriftlich begründet worden wäre. Das ist eine Satanszahl und dementsprechend teuflisch sind die Methoden. Das Prozedere verläuft oft dramatisch und übersteigt alle Vorstellungen. Es kommt vor, dass die Mitarbeiter der Jugendamtes und Polizisten mitten in der Nacht das Kind abholen. Nicht selten reiβen sie den Müttern Babys aus den Armen, durchsuchen die Wohnung“, so Pomorski.

Es kommt vor, dass Mitarbeiter der Jugendamtes und Polizisten mitten in der Nacht das Kind abholen. Nicht selten reiβen sie den Müttern Babys aus den Armen, durchsuchen die Wohnung

„Die Jugendämter nehmen auch deutschen Eltern ihre Kinder weg. Die Deutschen wissen jedoch, dass eine Meldung an diese Behörde oft mit dem Entzug des Kindes endet und sind daher viel zurückhaltender, wenn es darum geht Hilfe für ein deutsches Kind dort anzufordern. Anders ist es, wenn es um ausländische Familien geht“, sagt Anwältin Jurewicz-Behrens.

Danach gefragt, ob es sich bei der Herausnahme des Kindes aus der Familie um ein von vorneherein geplantes Vorgehen handele oder ob dies eher aus der jeweiligen Situation heraus geschähe, tippt die Anwältin eindeutig auf das Letztere. Das Jugendamt schreitet ein, wenn es benachrichtigt wird. Sie weist darauf hin, dass, wenn die Kinder erst einmal von der Familie getrennt wurden, der Kontakt der Eltern mit ihnen erschwert ist.

„Am Anfang dürfen die Eltern sie einmal in der Woche besuchen oder noch seltener. Wenn die Kinder in einer Ersatzfamilie untergebracht sind, ist das sogar nur einmal im Monat möglich. Oft wird den Eltern verboten, sich mit ihnen auf Polnisch zu unterhalten, damit das, was gesagt wird kontrolliert werden kann. Es gibt ausschließlich deutsche Pflegefamilien“, berichtet die Anwältin.

Sechzehn Stunden lang unter Aufsicht

Beata Bladzikowska ist alleinerziehende Mutter von drei Söhnen. Den vierten hat ihr das Jugendamt weggenommen. Ihre Vorgesetzten und diejenigen, die sie im Altersheim betreut sind voll des Lobes für sie.

Beata Bladzikowska

„Junge Ehefrauen sollten lieber nicht nach Deutschland kommen, denn es kann passieren, dass sie ohne Kinder nach Hause zurückkehren müssen“, sagt Bladzikowska.

Am 21. Dezember 2014 hat ihr das Jugendamt den jüngsten Sohn weggenommen, den damals siebenmonatigen Alan. „Ich habe mich schlafen gelegt. Mitten in der Nacht hat es an der Tür geklingelt. Unbekannte in Polizeibegleitung kamen in die Wohnung. Sie begannen mit der Durchsuchung, als ob ich jemanden umgebracht hätte. Sie öffneten den Kühlschrank, die Mikrowelle, gingen auf den Balkon. Mein Sohn Aleks hielt den Kleinen auf dem Arm und sie sagten, dass sie ihn mitnehmen. Ohne irgendwelche Papiere, ohne irgendeinen Schuldspruch“, berichtet Bladzikowska.

Jetzt sieht sie ihren jüngsten Sohn einmal pro Woche und darf nur Deutsch mit ihm sprechen. Nachts weint sie oft und weiβ nicht warum sie ausgerechnet für den jüngsten von ihren vier Söhnen eine Bedrohung sein soll.

Wojciech Pomorski wurden durch das Jugendamt vor fünfzehn Jahren zwei kleine Töchter abgenommen, die dreieinhalbjährige Iwona-Polonia und die sechsjährige Justyna, der Kontakt zu den beiden Mädchen wurde ihm unmöglich gemacht. Bis heute hat er noch das Bild im Kopf, als die damals sechzehnjährige Tanja, eine Kollegin aus dem Pflegelehrgang, sie war ihm ins Auge gefallen, ihn in gebrochenem Polnisch fragte: „Bleibst Du für länger hier?“

Er ist geblieben, weil er sich verliebte, und sie haben geheiratet. „Von Anfang an haben ihre Eltern alles unternommen, um unsere Ehe zu torpedieren und meine Frau gegen mich aufzubringen.“

Als er am 9. Juli 2003 nach Hause kam, mit zwei Katzen- und Hundefigürchen für die Töchter, war die Wohnung leer. Seine Frau hatte ihn mit den Töchtern verlassen und die Kinder dem Vater entzogen. Mit Hilfe des Jugendamtes hatte die Mutter die gemeinsamen Töchter nach Wien gebracht, da der Vater sie angeblich entführen wollte. Als er beim ersten Besuchstermin protestierte, weil man ihm verboten hatte mit den Töchtern Polnisch zu sprechen, wurde jeglicher Kontakt unterbunden.

Insgesamt sah er sie in den fünfzehn Jahren dreimal: zwei Jahre nach der Trennung, dann ein Jahr später und anschlieβend nach fünf Jahren. Insgesamt sechzehn Stunden lang unter Aufsicht der Jugendamtsmitarbeiter. Pro Stunde des Zusammenseins mit den Töchtern musste er in Österreich achtzig Euro bezahlen (in Deutschland existiert eine solche Gebühr nicht).

Jugendamt-Protestplakat. Oft wird polnischen Eltern verboten, sich mit ihren Kindern auf Polnisch zu unterhalten, damit das, was gesagt wird kontrolliert werden kann. Es gibt ausschließlich deutsche Pflegefamilien

„Der fehlende Kontakt mit mir führte zur gänzlichen »Entpolonisierung« meiner Töchter, zur Vertreibung der polnischen Kultur aus ihrem Leben, des polnischen Teils ihrer Familie und zum völligen Verschwinden der Bindung zu mir, obwohl auch ich das Sorgerecht habe“, erzählt Pomorski.

Anwältin Jurewicz-Behrens sagt, dass man nicht behaupten kann, die Polen werden absichtlich diskriminiert wenn es um den Entzug der leiblichen Kinder geht. Die Deutschen befolgen in solchen Fällen meistens die Anweisungen des Jugendamtes sehr genau und die Mütter sind bereit vorläufig in ein Mütterheim zu ziehen, damit ihre Kinder nicht in eine Ersatzfamilie gegeben werden.

„Weil sie schlecht oder kaum Deutsch sprechen, sind viele Polen nicht fähig sich mit dem Jugendamt korrekt zu verständigen und sind hilflos. Viele Mütter wollen nicht ins Mütterheim gehen, sondern stellen die Forderung, dass man ihnen ihr Kind sofort zurückgibt“, so Jurewicz-Behrens.

Beata Bladzikowska wollte mit Alan ins Mütterheim, aber sie wurde abgewiesen. Es hieβ, sie sei zu alt.

Ein Prozent

Bladzikowska kam 1998 nach Hamburg mit ihrem, heute bereits, ehemaligen Ehemann, den sie, wie sie sagt, geliebt hat. Nacheinander kamen Maks (im Dezember 2018 wird er zwanzig), Nicolas und Aleks auf die Welt. „Wir haben uns 2012 scheiden lassen, weil mein Mann mich und die Kinder miβhandelt hat. Damals half mir das Jugendamt. Ich bin mit den Söhnen im Frauenhaus untergekommen. Später habe ich selbst eine Wohnung gefunden.“

Wir treffen sie in dieser Wohnung. Die Fuβböden, die Fenster strahlen vor Sauberkeit, das Kinderzimmer sieht wie ein Lunapark aus.

„Nach einiger Zeit habe ich dann Alans Vater kennengelernt. Ein Jahr später wurde ich schwanger, obwohl ich es in meinem Alter eigentlich nicht mehr erwartet hatte. Ich habe das Kind ausgetragen. Ein Kind ist doch ein Geschenk. Nach der Geburt ist Alans Vater nach Polen zurückgekehrt. Er hat es hier nicht mehr ausgehalten, sprach kein Deutsch.

Ich bat das Jugendamt mir zu helfen eine Arbeit zu finden, aber sie haben abgelehnt. Vier Treppenaufgänge weiter wohnte eine vorwitzige deutsche Nachbarin. Ihre Kinder haben uns oft besucht. Sie hat dem Jugendamt zugetragen, dass ich angeblich viel trinke. Als ich sie im Nachhinein darauf angesprochen habe, sagte sie: »Ich kann die Pflegemutter für Alan sein. Du musst nur mit mir zum Jugendamt gehen und darum bitten.« Ich habe ihr darauf geantwortet: »Alan hat eine Mutter und ein Zuhause wohin er zurückkehren wird.«

Ich habe beim Jugendamt anfragt, wie stehen die Chancen, dass er zurückkommt. Sie sagten: ein Prozent. Ich habe darum gebeten, dass sie mir Blut abnehmen, die Haare oder die Leber untersuchen lassen sollen, wenn sie meinen, dass ich Alkoholikerin sei, aber sie haben es nicht gemacht“, berichtet Beata Bladzikowska.

Jetzt darf sie den Sohn zweimal in der Woche sehen. Seit drei Jahren muss sie mit ihm Deutsch sprechen, sodass Alan nach und nach die polnische Sprache verlernt.

„Wenn ich ihm sage, dass ich ihn liebe, dass ich Sehnsucht nach ihm habe, dass er nach Hause zurückkehren wird, unterbricht die deutsche Betreuerin den Besuchstermin“

„Deutsche nehmen Polen Kinder weg“. Jugendamt-Berichterstattung. Titelseite „Gazeta Polska Codziennie“ („Polnische Zeitung Täglich“) vom 19. August 2016

Beata weiβ, dass der Sohn bei einer fünfköpfigen deutschen Pflegefamilie wohnt. Er trägt immer noch eine Windel, obwohl er im Juni 2018 vier Jahre alt geworden ist. Er hat schmutzige Ohren und Fingernägel, wurde ohne ihr Einverständnis operiert.

Sie kämpft vor Gericht um ihren Sohn. Vor unserer Verabredung ging sie zum Jugendamt, um die Akte einzusehen. Erschrocken musste sie feststellen, dass der Sohn die deutsche Staatsangehörigkeit hat. „Warum? Vater und Mutter haben doch die polnische Staatangehörigkeit, und Alan hatte sie als unser Kind auch. So steht es in seiner Geburtsurkunde.“ Sie bekam keine Antwort.

Unterbrochene Vaterschaft

Es vergeht kein Tag ohne dass Wojciech Pomorski an seine Töchter denkt. Bis heute geht er zu den Orten, wo sie gespielt, mit Kreide auf den Asphalt gemalt haben.

„Jetzt ist die Kreide schon abgewaschen/ normaler schwarzer Asphalt für jedermann in Hamburg/ nur für den Vater nicht,/ der hier neun Jahre später vorbeifährt/ und sich die Tränen abwischt … Man hat uns vor sieben Jahren einander gestohlen“, hat er in seinem Gedicht „Asphalt“ geschrieben.

Normalerweise schreibt er eher keine Gedichte, stattdessen Eingaben an das Gericht. Er hat Abschlüsse in Germanistik und Politikwissenschaften, also kennt er sich aus. Sein Prozess um die Rückgabe der Töchter begann im Juni 2005.

„Das Verfahren wurde unterbrochen, weil das Jugendamt Hamburg Bergedorf, das mir das Sprechen auf Polnisch mit meinen Töchtern verboten hat, mir die Akteneinsicht verweigerte“, erläutert Pomorski.

„Bis zu jenem Tag schwirrten die Töchter in der ganzen Wohnung umher und plötzlich war Ruhe. Nach fünf Wochen bin ich auf den Balkon gegangen und musste mich ganz fest zusammenreiβen, um nicht herunterzuspringen.

Später habe ich gehört, dass, nachdem ihm sein Kind weggenommen wurde, sich der 38-jährige Andrzej Luc aus Suwałki im Jugendamt in Berlin das Leben mit einem Kopfschuss nahm. Eine Mutter ist mit dem Schild „Jugendamt“ vom Balkon gesprungen. Sachverständige haben festgestellt, dass sie psychische Störungen hatte. Ja, was denn? Sollten sie ihre Kinder mit einem Lächeln auf den Lippen an fremde Leute abgeben? Wäre da nicht der Herrgott, hätte auch ich es nicht ausgehalten“, berichtet Pomorski.

Pomorski forderte, mit seinen Töchtern bei den Besuchsterminen Polnisch sprechen zu dürfen. Er berief sich auf ihre polnische Staatsangehörigkeit und auf die Bestimmungen des deutsch-polnischen Vertrages über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 (Art. 20, Abschnitt 1 bis 3 und Art. 21, Abschnitt 1 und 2), die unter anderem besagen, dass die Deutschen in Polen und die Polen in Deutschland „sich privat und in der Öffentlichkeit ihrer Muttersprache frei bedienen dürfen.“

„Ich war der Erste, der »nein« gesagt hat“, sagt Pomorski. Vom Jugendamt bekam er leider eine Absage: „Aus pädagogisch-fachlicher Sicht ist anzumerken, dass es im Interesse der Kinder nicht nachvollziehbar ist, dass die Zeit des begleiteten Umganges in polnischer Sprache erfolgen soll. Für die Kinder kann die Förderung der deutschen Sprache nur vorteilhaft sein, da diese in diesem Land aufwachsen und hier die Schule besuchen.“

Jugendamt-Protestplakat. „Jahrzehnte Erfahrung im Klauen polnischer Kinder. Die Zeit vergeht, die deutschen Ziele bleiben unverändert“

Für Wojciech Pomorski war klar, dass eine solche Entscheidung grünes Licht bedeutet für diskriminierende Praktiken im Familienleben der Angehörigen einer Minderheit. Deswegen ging er in Hamburg vor ein Verwaltungsgericht, um Einsicht in interne Akten des Jugendamtes zu bekommen. Es gab eine Zeit, wo er gleichzeitig achtzehn Prozesse führte, für die er gut sechzigtausend Euro an Anwaltshonoraren zahlte.

Er gewann den Prozess nach drei Jahren, als die angeblich verloren gegangenen internen Akten wieder auffindbar waren. „Vor deutschen und österreichischen Gerichten bin ich mehrere Male durch alle Instanzen gegangen“, sagt Pomorski.

Gila Schindler

Er erfuhr Genugtuung als Gila Schindler, Vertreterin der deutschen Regierung,  ihn am 7. Juni 2007 in Brüssel bei der Anhörung des Petitionsausschusses im Europäischen Parlament zu den Praktiken der deutschen Jugendämter für die Diskriminierung , die seiner Familie widerfahren war um Entschuldigung bat. Bei etwa dreihundert weiteren Eltern, die zusammen mit seiner Petition ebenfalls ihre eigenen Petitionen eingereicht hatten, hat sich niemand entschuldigt.

„Herrn Pomorski ist Unrecht widerfahren, denn die Haltung des Jugendamtes war weder richtig noch rechtens. Es tut mir leid, dass das passiert ist“, sagte Gila Schindler. „Jugendämter haben kaum Befugnisse, die ihnen Eingriffe in Elternrechte gestatten“, fügte sie hinzu.

Einen aufschlussreichen und zugleich bedrückenden Bericht zu dieser Anhörung finden Sie hier – Anm. RdP

Ausführliche Informationen zum Thema gibt es hier – Anm. RdP

Viele Medien waren damals im Europäischen Parlament vor Ort und haben über die zweistündige Anhörung berichtet. Wojciech Pomorski schilderte damals ausführlich die Germanisierung seiner Kinder. An seiner Situation und der Vorgehensweise der Jugendämter hat sich seitdem nichts geändert

(…)

Das polnische Auβenministerium räumt ein, dass es von Wojciech Pomorskis „Polnischen Verband Eltern gegen Diskriminierung der Kinder in Deutschland e.V.“ einen Teil der Hinweise auf Unregelmäßigkeiten in der Vorgehensweise der Jugendämter bekommt. „Stets leiten wir in solchen Fällen Schritte ein. Wir nehmen Verbindungen auf zu den Eltern, zu den polnischen Konsulaten, zu deutschen Behörden. Wir fordern Stellungnahmen ein bezüglich der vermeintlichen Verletzungen der Rechte polnischer Staatsbürger. Wir sind behilflich bei den Eingaben und arbeiten mit Anwälten in bereits laufenden Verfahren zusammen.“

Ein Erfolg des Auβenministeriums war unlängst die Rückkehr von drei Kindern zu ihrer polnischen Mutter. Die Bemühungen dauerten über ein Jahr lang. Die Söhne waren ihr in Deutschland weggenommen worden. Zudem hatte man die Zwillinge woanders untergebracht als ihren Bruder. Die Mutter durfte bei Besuchsterminen mit den Kindern nicht Polnisch sprechen.

Wojciech Pomorskis „Polnischer Verband Eltern gegen Diskriminierung der Kinder in Deutschland e.V.“ Menschliche Tragödien sind tägliches Brot

„Fünfzehn Jahre lang habe ich wie in einem Amokzustand gekämpft“, berichtet Wojciech Pomorski. „Die Arbeit meines Verbandes hat keinem Amt gepasst. Es liegt ja auf der Hand: wenn ich und der Verband aktiv sein müssen, dann heiβt es, dass auch andere Eltern mit dem Problem nicht fertig geworden sind. Dank uns, sind knapp eintausend durch Jugendämter aus ihren Familien genommene Kinder nach Polen zurückgekehrt“, sagt Pomorski.

Ein kleines goldenes Herz von Swarovski

Wojciech Pomorski hat inzwischen seine Verbitterung verarbeitet und daraus bedachtes Handeln gemacht, überzeugt davon, dass Niederlagen stärken können. Ähnlich verfährt Beata Bladzikowska. Sie behält die Nerven, wenn ihr Sohn zum Abschied weint. „Polen sind meistens sehr gefasst, innerlich stark. Würde ich jetzt aufbegehren, man würde mir die Besuchstermine streichen.“

„Ich will nicht als Verlierer in die Heimat zurückkehren“, sagt Wojciech Pomorski. „Ich muss zeigen, wie die Wahrheit aussieht. Wovor soll ich denn Angst haben, wenn man mir bereits das Schlimmste angetan hat: meine Kinder wurden mir weggenommen. In diesem pseudoliberalen Land haben Schwule, haben Transsexuelle, haben Menschen mit Pathologien ihre Rechte, und gleichzeitig darf man sich mit dem eigenen Kind nicht in seiner Muttersprache unterhalten. Versuchen wir mal in Polen den bei uns lebenden Deutschen zu verbieten Deutsch zu sprechen. Die Protestwelle wäre riesig“, daran hegt Pomorski keinen Zweifel.

Um zu zeigen woher er stammt, trägt er einen kleinen polnischen Adler um den Hals. Menschliche Tragödien sind sein tägliches Brot. Manchmal bekommt er einige Anrufe pro Tag mit der Bitte zu helfen. Er steht den verzweifelten Eltern Tag und Nacht zur Verfügung, die, wie er zuvor selbst, durch diese Hölle gehen.

„Kinder werden aus ihren Familien genommen, wegen der Annahme, die Eltern seien Alkoholiker, drogenabhängig, psychisch krank, gewalttätig“, zählt Pomorski auf. Manche Mütter oder Väter schämen sich den Grund anzugeben. Er hat gelernt nachsichtig zu sein, weil er meistens sowieso nicht erfahren wird, was sich in den vier Wänden der Leute abgespielt hat, die bei ihm Hilfe suchen. Er sieht und unterstützt die riesige Entschlossenheit der Eltern, die bereit sind alles zu tun, damit die Kinder zu ihnen zurückkehren.

„Tatsache ist, dass die Deutschen aussterben. Die Herausnahme der Kinder aus polnischen Familien liefert ihnen hervorragenden »Nachwuchs«“, davon ist Pomorski überzeugt.

Sein Stellvertreter im Verein ist Klaus-Uwe Kirchhoff, ein Deutscher, der zwölf Jahre lang im Jugendamt gearbeitet hat und aus ethischen Gründen gegangen ist. Er kennt sich bestens aus.

Klaus-Uwe Kirchhoff

„Die Inobhutnahme der Kinder ist für das Jugendamt ein einträgliches Geschäft. Die Lebenshaltungskosten eines Kindes steigen dadurch um das Dreiβigfache. Die Eltern bekommen 190 Euro Kindergeld pro Monat. Das Jugendamt bekommt diese Summe pro Tag. Das sind etwa sechstausend Euro monatlich. Für ein behindertes Kind sind es gar fünfundzwanzigtausend Euro im Monat“, erläutert Kirchhoff.

Es erschreckt ihn, wenn er in vielen deutschen Gerichtsakten zu Minderjährigen die Frage nach der „Erziehungsfähigkeit“ der Eltern liest. „Sie erinnert“, seiner Meinung nach, „beunruhigend daran, dass es weiterhin eine Selektion gibt. Das Bundesverfassungsgericht verlangt nicht, dass Eltern ihre “Erziehungsfähigkeit“ unter Beweis stellen müssen. Dennoch ist davon bei Verhandlungen vor Familiengerichten immer wieder die Rede, und das betrifft überwiegend Ausländer, darunter auch polnische Eltern“, berichtet Kirchhoff.

Wojciech Pomorski traf 2017 seine ältere Tochter in Wien. Sie fand ihn vor drei Jahren auf Facebook. „Vor mir saβ mein Töchterchen, dem Unrecht angetan wurde, mein polnisches Mädchen, und ich musste mit ihr Deutsch sprechen.“

Sie hat ihn sehr kühl behandelt und vom Gesicht des Vaters flossen die Tränen auf den Blumenstrauβ, den er ihr mitgebracht hatte. Am nächsten Tag bat sie ihn um ein weiteres Treffen. Sie lief ihm schon von Weitem entgegen mit ausgestreckten Armen, umarmte ihn, so wie er sich das erträumt hatte.

Er kaufte ihr ein goldenes Herzchen von Swarovski, damit sie nicht vergisst, dass er sie immer lieben wird. Er überredete sie in den Stephansdom zu gehen. Sie kniete nicht nieder, wie er, aber er hat dem Herrn auch in ihrem Namen gedankt“, beendet seinen Bericht das Wochenblatt „Gość Niedzielny“.

Kinderschutz oder Kinderraub?

Am 25. November 2018 erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) ein Interview mit Rechtsanwalt Jerzy Kwaśniewski (Jahrgang 1984), dem Vorsitzenden des konservativen Rechtshilfevereins Ordo Iuris. Der Verein gewährt u. a. immer wieder Polen Rechtsbeistand, denen deutsche und norwegische Behörden das Sorgerecht entziehen.

Jerzy Kwaśniewski

Frage: Der Fall Silje Garmo hat der polnischen Öffentlichkeit zum ersten Mal ganz konkret die Tätigkeit der norwegischen staatlichen Agentur für das Wohlergehen von Kindern, Barnevernet, vor Augen geführt. Groß ist bereits seit langem die Empörung über die deutschen Jugendämter. Die Rechtshilfeorganisation Ordo Iuris („Rechtsordnung“), der Sie vorstehen hat gegen die Willkür beider Behörden oft interveniert.

Ordo-Iuris-Emblem

Jerzy Kwaśniewski: Es gibt in Europa zwei Modelle zum Schutz des Kindeswohls. Das eine entstand in Skandinavien, und seine extremste Ausprägung erleben wir in Norwegen mit dem Barnevernet. Es wurde voll und ganz von Deutschland übernommen. Seine Einflüsse sind auch in den Niederlanden, Belgien, Österreich und Wales zu beobachten.

Die staatlichen Behörden dieser Länder nehmen sich das Recht, den Eltern vorzugeben wie sie ihre Kinder zu erziehen haben. Dementsprechend behält sich der Staat vor zu beurteilen, ob das Wohl des Kindes gewahrt wird und um das zu gewährleisten, notfalls die Elternrechte von Amtswegen auβer Kraft zu setzten. Hier wird der Begriff „elterliche Gewalt“ durch „elterliche Verantwortung“ ersetzt, verstanden als die Verantwortung der Eltern gegenüber dem Staat, einzig und allein nach dessen Vorschriften und Vorstellungen für den Nachwuchs zu sorgen.

Und das zweite Modell?

Das gilt in Polen, Italien, Spanien und einigen weiteren Ländern. Hier steht die Familie im Vordergrund. Der Staat unterstützt die Familie nur dort, wo sie wirklich versagt. Es gibt eine klare Grenze zwischen der Familiensphäre und der Sphäre der öffentlichen Verwaltung. In diesen Ländern ist es nicht möglich ohne Gerichtsbeschluss, beziehungsweise Gerichtsurteil, das Sorgerecht zu entziehen.

Kann man sagen, dass in Norwegen und Deutschland Beamte, die von Beamten kontrolliert werden, das Sorgerecht entziehen und man anschlieβend dagegen kaum noch etwas ausrichten kann?

Vor Gericht kann man in diesen Ländern, im Falle der Inobhutnahme eines Kindes durch die Jugendfürsorge, erst in einer späten Phase gehen. Dadurch entstehen solche Situationen, wie sie in Verfahren gegen Norwegen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) widergespiegelt werden. Die Kinder, um die es da geht, sind oft schon so lange fern von der eigenen Familie, dass das Gericht die staatliche Inobhutnahme, die dazu geführt hat zwar im Nachhinein für nicht rechtens befindet, aber ihre Rückkehr zu den leiblichen Eltern als ein Zufügen von Leid bewertet, da diese Kinder sich inzwischen in der Pflegefamilie eingelebt haben.

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat kürzlich eine Entschlieβung zum norwegischen Barnevernet gefasst. Ausgangspunkt war das dramatische Schicksal der rumänischen Familie Bodnariu.

Valeriu Ghiletchi

Der moldauische Europaratsabgeordnete Valeriu Ghiletchi verfasste einen Bericht über das norwegische Barnevernet-System. Der Einwandererfamilie Bodnariu hatte Barnevernet fünf Kinder weggenommen, darunter eins, das noch gestillt wurde. Erst eine heftige Protestwelle in der ganzen Welt zwang die norwegischen Behörden dazu einzuräumen, dass die Inobhutnahme der Kinder durch den Staat nicht rechtens war und die Kinder in ihre Familie zurückzuführen sind. Die Bodnarius sind unmittelbar danach aus Norwegen geflüchtet.

Familie Bodnariu

Die breite Öffentlichkeit konnte aus diesem Bericht ebenfalls ersehen, dass nicht nur Ausländer sondern die Norweger selbst dieser Willkür ausgesetzt sind. In den letzten Jahren hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zehn Verfahren gegen Norwegen in Sachen Barnevernet geführt.

Der Abgeordnete Valeriu Ghiletchi hat in seinem Bericht ebenfalls dargelegt, wie das System aussehen und funktionieren sollte, um tatsächlich dem Kindeswohl zu dienen.

Wie lauten die wichtigsten Feststellungen des Berichts?

Zum einen steht über allem die leibliche Verbindung zwischen dem Kind und seinen Eltern. Die Behörden können ab jetzt nicht mehr behaupten, dass die biologische Bindung, die Verwandtschaft für das Kindeswohl ohne Bedeutung seien.

Es gab nämlich sehr viele Fälle in Norwegen, in denen die Behörden behaupteten, dass für das Kind das „optimale Entwicklungsmilieu“ am wichtigsten sei. Das heiβt, wir, die Behörden, können den leiblichen Eltern das Kind wegnehmen, weil wir festgestellt haben, dass das Kind in einem anderen Milieu, vielleicht einer reicheren, einer „mehr norwegischen“ Umgebung bessere Lebensbedingungen haben wird.

Barnevernet. Tschechisches Protestplakat

So zum Beispiel teilte Barnevernet 2016 einem norwegischen Vater und der tschechischen Mutter eines neunmonatigen Mädchens mit einem genetisch bedingten Nierenleiden mit, dass sie die Möglichkeit hätten, das Kind von sich aus für eine Pflegefamilie freizugeben. Andernfalls hätten sie mit einem Verfahren seitens Barnevernet zu rechnen. Aus dem Krankenhaus, wo sich das Mädchen in Behandlung befand, seien Hinweise darauf eingegangen, dass es zu seinen Eltern eine ungenügende Bindung entwickelt habe. Kurz darauf nahm Barnevernet den Eltern tatsächlich das Kind weg und vertraute es einer Pflegefamilie an.

Zum zweiten stellt der Bericht fest, dass das Sorgerecht dazu da sei, das Kind in die Familie wieder einzugliedern. Das Sorgerecht sei nicht dazu da darauf hinzuarbeiten, dass die emotionale Bindung an die Eltern erlischt, damit man das Kind für die Adoption freigeben oder dauerhaft in der Pflegefamilie belassen kann. Es gehe darum alles daran zu setzen, um die Krisensituation in der Familie zu bewältigen und die emotionale Bindung an die Eltern zu erhalten.

Für Norweger und Deutsche ist das neu. Bei ihnen war die Kindesentnahme meistens mit der Zerstörung der ursprünglichen Familie verbunden. In Norwegen durften Eltern ihre weggenommen Kinder viermal im Jahr eine Stunde lang sehen. Oft war nicht mal das gestattet. Die biologischen Eltern sollten möglichst schnell in Vergessenheit geraten.

Worin besteht die Macht von Barnevernet und der Jugendämter? Die öffentliche Meinung scheint in ihrem Fall keine Bedeutung zu haben.

Die Norweger sagen, dass die spezifische skandinavische Mentalität das Kritisieren von Behörden verbiete. Die Loyalität dem „Volksheim“ Staat gegenüber sei wichtiger. Dass Barnevernet jetzt am Pranger der dortigen Öffentlichkeit steht, verdanken sie den Migranten. In dem etwa Fünfmillionen-Land leben inzwischen eine halbe Million Ausländer, davon zweihunderttausend Polen. Die Migranten haben die Einheimischen auf das Böse im System Barnevernet aufmerksam gemacht.

Anti-Barnevernet-Demonstration

Dieses System ist ein halbprivates Vorhaben. Die Pflegefamilien funktionieren wie Unternehmen, die allein schon für die Bereitschaft Kinder aufzunehmen umgerechnet etwa sechzigtausend Euro im Jahr bekommen. Doppelst so viel erhalten sie für die Aufnahme von zwei Kindern, wobei der Staat alle Lebenshaltungskosten der Kinder übernimmt.
In Norwegen, das sagen viele Beobachter, sei durch die relativ häufigen Sorgerechtsentzüge eine regelrechte Pflegeeltern-Industrie entstanden, die Teil eines Barnevernet-Filzes geworden sei.

Es scheint ein gutes Geschäft zu sein.

Tausende Norweger leben fast oder ausschlieβlich davon. Überwacht wird das Ganze von privaten Firmen. Bei denen zählt nur noch der Gewinn. Sie tun alles, um das Barnevernet-System so zu lassen wie es ist. Je mehr Kinder ihren Eltern weggenommen werden, umso besser.

Silje Garmo mit Tochter Eira

Silje Garmo hat Barnevernet bereits während der Schwangerschaft angekündigt das Neugeborene wegzunehmen. Es hieβ, sie sei medikamentensüchtig, pflege einen „chaotischen Lebenswandel“. Keine der Blutuntersuchungen, denen sie sich unterziehen musste ergab eine Medikamentenabhängigkeit. Dennoch musste sie ihre erste Tochter abgeben. Silje Garmo ist aus Norwegen geflohen und hat in Polen, zusammen mit ihrer einige Monate alten zweiten Tochter Eira, Asyl beantragt.

Die Ausländerbehörde hat ihrem Antrag stattgegeben, doch das Auβenministerium als übergeordnete Behörde lehnte den Antrag ab. Die Begründung war nicht akzeptabel. Es hieβ, die Zusammenarbeit mit norwegischen Staatsfirmen- und Behörden beim Bau der Baltic-Pipe-Erdölleitung von Norwegen über Dänemark nach Polen könnte darunter leiden. Ordo Iuris hat dagegen Berufung eingelegt. Leider wird auch dieser Einspruch, aufgrund der Spezifik des Verwaltungsrechtsverfahrens, zuerst vom Auβenministerium geprüft und erst dann kann er, falls erforderlich, vor Gericht gehen.

Ergänzung RdP:  Am 12. Dezember 2018 hat der polnische Außenminister den Einspruch positiv beschieden. Silje Garmo und ihrer Tochter wurde in Polen Asyl gewährt.

RdP




Karl-Marx-Show oder die deutsche Verniedlichung des Bösen

Polen reibt sich die Augen.

Die wichtigsten deutschen Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag des Marxismus-Begründers in 2018 sind inzwischen vorbei. Polens Medien haben sie mit Aufmerksamkeit beobachtet. Die Bilanz: Karl Marx, der Begründer einer totalitären und verbrecherischen Ideologie, einst von Kommunisten vergöttert, heute als Souvenir von Kleinkapitalisten vermarktet und verramscht, ist in Deutschland vollends rehabilitiert.

Nach der lang anhaltenden Hochkonjunktur in der DDR, verlor Marx in Anbetracht der deutschen Wiedervereinigung erst einmal mächtig an Ansehen. Schlieβlich wurden seine Ideen in der DDR jahrzehntelang nimmermüde umgesetzt, bis zum bitteren Ende. Doch schon beim ZDF-Ranking „Unsere Besten“ kam Marx 2003 hinter Adenauer und Luther immerhin auf den dritten Platz.

Marx-Kult. DDR-Briefmarken von 1953 zum 70. Todestag von Karl Marx.

Im Herbst 2016 feierte Deutschland bereits, weil einhundertfünfzig Jahre zuvor Marx begonnen hatte „Das Kapital“ zu Papier zu bringen. Danach ging es beinahe nahtlos weiter, mit ausgedehnt üppigen Festwochen zum 200. Marx-Geburtstag am 5. Mai 2018.

Marx-Kult. DDR-Briefmarken von 1953 zum 70. Tosdestag von Karl Marx.

Aus diesem Anlass fuhr Piotr Semka, Kommentator und ein sehr wacher Beobachter des Geschehens in Deutschland, in die Geburtsstadt von Karl Marx – nach Trier und staunte nicht schlecht. Seine Eindrücke beschrieb er im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“) vom 24. Juni 2018.

Marx-Kult. Briefmarken der Polnischen Post von 1953 zum 70. Todestag von Karl Marx. Mehr zum Thema Marx hatte die Polnische Post im Kommunismus nicht zu sagen. Lieber huldigte sie Lenin.

So tut die ehrwürdige Stadt schön

„In die älteste Stadt Deutschlands, von den Römern gegründet, pilgerten einst Abertausende zur Reliquie des Heiligen Rocks von Jesu Christi. Heute pilgern dorthin Schaulustige, Bewunderer und Anbeter von Karl Marx. Im Straβenbild sind die verschiedensten Marx-Motive nicht zu übersehen. Es gibt sogar Fuβgänger-Ampeln mit Marx-Gesicht. Auf diese Weise tut die ehrwürdige Stadt an der Mosel den Achtundsechzigern und den chinesischen Touristen schön.“

Made in China. Neue Sitzgelegenheit in Trier.

Natürlich entging auch das neue Marx-Denkmal nicht der Aufmerksamkeit des Journalisten.

„Die Statue des »deutschen Propheten«, samt Sockel, misst 5,40 Meter, wiegt zwei Tonnen und ist ein Geschenk der Volksrepublik China. Sie wurde am 5. Mai, an Marx‘ 200. Geburtstag, enthüllt. Alle Bedenken, auch die Aufforderung die Enthüllung von der Freilassung Liu Xias, der Witwe des Friedennobelpreisträgers Liu Xiaobo abhängig zu machen, schob der Trierer SPD-Bürgermeister Wolfram Leibe schroff beiseite. Das Denkmal wurde wie selbstverständlich am wohl prominentesten Ort der Stadt, in unmittelbarer Nähe der Porta Nigra aufgestellt.

Marx-Kult. DDR-Briefmarken von 1968.

Triers Souvenirläden platzen geradezu aus den Nähten vor Marx-Devotionalien: Sein Porträt ziert Kaffeebecher, Pfefferminzdosen, Postkarten, Schokolade, Quietscheenten, Magnete und Mauspads. Im Angebot sind Büsten aus Keramik, als Kapital-Sparbüchsen geeignet und ein roter „Karl-Marx-Wein“, für den es sogar einen biografischen Anknüpfungspunkt gibt. Hatte doch Vater Heinrich Marx zusammen mit dem Arzt Julius Bernkastel um 1830 einige Weinbergflächen unweit von Trier erworben.

Marx monumental 1. Denkmal in Chemnitz, ehem. Karl-Marx-Stadt. DDR-Briefmarke von 1971.

Als die Chinesen vor drei Jahren Trier mit dem Denkmal beschenkten, zeigten sich die Stadtväter zuerst noch verdutzt. Mit der Zeit jedoch setzte sich die Meinung durch, dass der runde Marx-Geburtstag eine einmalige Chance biete, ein Mega-Event zugunsten der Tourismusförderung zu veranstalten. Moralische Bedenken gerieten schnell in Vergessenheit.“

Marx und Massenmord. Der Baum und die Früchte

Semka schreibt weiter: „Die in Rheinland-Pfalz seit 27 Jahren regierende SPD war sofort dabei, als die Idee aufkam Marx mit einer groβen Landesausstellung zu huldigen. Der SPD-Mann und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lieβ sich nicht zweimal bitten, die Schirmherrschaft über die Marx-Ehrungen zu übernehmen und lud zudem zu einem Symposium über die unvergängliche Aktualität des Marxismus in seinen Berliner Amtssitz Schloss Bellevue ein. Die Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD, die das Marx-Museum in seinem Trierer Geburtshaus betreibt, steuerte, wie es heiβt, enorme Summen für die Festivitäten bei“, so der „Do Rzeczy“-Autor.

Marx monumental 2. DDR-Briefmarke von 1973.

Mit dem Auftritt von Kommissionschef Jean-Claude Juncker beim Marx-Festakt in Trier wurden die Feierlichkeiten auf die höchste europäische Ebene gehievt. Juncker wiederholte das Dogma, wonach man Marx für die Verbrechen des Kommunismus nicht haftbar machen dürfe. „Das ist so, als wollte man behaupten, der Baum habe mit seinen Früchten nichts zu tun“, kommentierte bitter Polens gröβtes Wochenmagazin, das katholische „Gość Niedzielny“ („Sonntagsgast“) vom 20. Mai 2018.

Trier am 5. Mai 2018. Jean-Claude Juncker predigt Marx und der gekreuzigte Heiland in seiner unendlichen Barmherzigkeit lässt auch das über sich ergehen.

Als „noch unverständlicher“ bezeichnete das Blatt die „Absolution“, die Kardinal Reinhard Marx dem gleichnamigen Jubilar in einem FAZ-Interview erteilte. „In direkte Verbindung zur Lehre des späteren politischen Marxismus-Leninismus oder sogar zu den Straf- und Arbeitslagern im Sowjetreich kann man Karl Marx nicht bringen. Das wäre einfach nicht richtig und deshalb auch nicht gerecht.“

Der Baum und seine Früchte. Massenmörder Stalin unterm Marx-Portrait in seinem Arbeitszimmer im Moskauer Kreml 1932.

Doch es war Marx, der die Massenmorde an den wahren und vermeintlichen Gegnern der Französischen Revolution mit Begeisterung billigte. Marx war es auch, der den Begriff der „Diktatur des Proletariats“ prägte, die nach dem Sieg der Revolution errichtet werden müsse.

Denn „so lange das siegreiche Proletariat noch gezwungen ist die Ausbeuter zu bekämpfen, muss es einen eigenen Unterdrückungsapparat haben. Es wird die Zeit der Diktatur des Proletariats sein, in der die nackte Gewalt vom Proletariat zur Beseitigung der Klassen und zur Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft angewandt wird“, so oder ähnlich lautete die Kurzfassung der marxistischen Theorie der „Diktatur des Proletariats“, die in jedem Marxismus-Lehrbuch nachzulesen war, schreibt „Gość Niedzielny“.

Vom Klassenfeind geehrt. Westdeutsche Marx-Briefmarke zum 150. Geburtstag  1968.

„Das Proletariat“ verkörperten die Büttel der kommunistischen Geheimpolizei, „Ausbeuter“ war jeder der diesem „Proletariat‘ nicht passte. Das war der ideologische Freibrief, den Karl Marx ausgestellt hat für die späteren Mordorgien des Kommunismus in Russland, Ostmitteleuropa, Asien und woanders, denen schätzungsweise hundert Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Die Beseitigung des Kapitalismus, die Marx predigte, mündete im realen Sozialismus und der entpuppte sich als ein brutales Unterdrückungsregime, das den Arbeitern die Freiheit raubte und das Elend der Mangelwirtschaft brachte, wo es keine Meinungsfreiheit, keine Freiheit von Forschung und Lehre, keine Reisefreiheit, keine Religionsfreiheit gab.

Wie zum Hohn wurde der Festakt zu Ehren des Autors der These „die Religion sei Opium für das Volk“ in der Trierer Konstantinbasilika veranstaltet, heute eine evangelische Kirche. Dieser einprägsame Satz bildete die theoretische, marxistische Grundlage für die späteren grauenhaften Glaubensverfolgungen von Albanien, über Russland und die Mongolei bis hin in die entferntesten Winkel Koreas und Chinas.

Doch auch das katholische Bistum Trier hat es sich nicht nehmen lassen dabei zu sein. Das örtliche Diözesanmuseum organisierte als „Kooperationspartner“ eine Ausstellung mit dem Titel „LebensWert Arbeit“. Es ist ein Fotozyklus über die schweren Arbeitsbedingungen der Menschen auf der ganzen Welt.

Gelebt, geschrieben, die Welt erobert. DDR-Briefmarken zum 100. Todestag von Karl Marx 1983.

„Vor diesem Hintergrund“, so der „Do Rzeczy“-Autor  Semka„ machten die wenigen Gegendemonstranten von Opferverbänden des Kommunismus und der AfD den Eindruck, sie seien Menschen von einem anderen Planeten. In den Medien wurde von ihrem Protest berichtet als sei es eine skurrile Lappalie.“

Von Nero zu Marx

Der Reporter besichtigte auch die Marx-Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Trier.

„Nach dem Tyrannen Nero im Jahr 2016 widmete sich das Museum mit viel Engagement Karl Marx, dem geistigen Begründer der kommunistischen Tyrannei. Dreizehn geräumige Säle umfasst die dortige Ausstellung „Karl Marx 1818 – 1883. Leben. Werk. Zeit.“. Es geht vor allem um sein Werk und die Zeit, in der Marx gelebt hat. Über Marx selbst erfährt man, abgesehen von der Aufzählung seiner Lebensstationen, eher wenig.

Die Autoren gaben sich groβe Mühe vor allem den raubgierigen und gnadenlos ausbeuterischen Frühkapitalismus zu veranschaulichen. Ausgebeutete schlesische Weber, Kinderarbeit in den Fabriken, vom Elend gezeichnete Witwen der Bergleute, fehlende Sozialversicherungen, auf die Straβe geworfene Opfer von Arbeitsunfällen. All das hat den jungen Marx zurecht empört.

Der 100. Todestag von Karl Marx noch einmal gefeiert. DDR-Briefmarke von 1983.

Doch kein Wort fällt in der Ausstellung darüber, zu welch falschen Schlüssen Marx durch diese Beobachtungen gelangte. Er predigte, dass der Untergang des Kapitalismus eine historische Gesetzmäβigkeit sei. Der Kapitalismus werde an seinen Widersprüchen zugrunde gehen, und je länger es ihn gibt, umso gröβer werde die Verelendung der Arbeiterschaft sein. Marx glaubte den Todeskampf des Kapitalismus zu sehen, doch in Wirklichkeit sah er nur seine Geburtswehen.

Statt im Massenelend zu versinken, erfreuen sich die Menschen in den Hochburgen des Kapitalismus heute eines Massenwohlstandes, ausgebauter sozialer Leistungen, einer seit Marx-Zeiten um mehrere Jahrzehnte gestiegenen Lebenserwartung. Die Wandlungs- und Widerstandsfähigkeit des Kapitalismus hat die meisten Marx-Theorien widerlegt“, schreibt Semka in „Do Rzeczy“.

Marx hielt nichts von schrittweisen Verbesserungen. Er wollte die Revolution, die „Diktatur der Proletariats“ und er verherrlichte die Gewalt. Sein Denken war im Keim totalitär. Die Unternehmer, die „Kapitalisten“ entmenschlichte er als „Blutsauger“ und „Parasiten“. Von dort bis zur Vernichtung durch Massenmorde war kein weiter Weg. Der Klassenhass, den Marx predigte und den seine Nachfolger auf die Spitze trieben, machte es möglich.

Im Doppelpack mit Engels 1. DDR-Briefmarke von 1970.

„Keine Erwähnung fand der berühmte Marx-Aufsatz „Die Judenfrage“, in dem er hart mit dem unter Juden angeblich weitverbreiteten Kult des Profits und des Geldes ins Gericht ging“, schreibt der „Do Rzeczy“-Reporter.

Das Böse wird zum Guten, die Lüge zur Wahrheit

Nachdenklich habe ihn der Teil der Ausstellung gestimmt, so Piotr Semka in „Do Rzeczy“, gewidmet Karl Marx, dem Redakteur der „Neuen Rheinischen Post“, der sich mit der preuβischen Zensur abplagen musste. „Wie wahr sind die dort angebrachten empörten Marx-Zitate über das Wesen des Mundtodmachens der Presse. Doch das galt nur für den Kapitalismus. Nach dem Sieg der Revolution war die Zensur ein nützliches Mittel des Klassenkampfes“.

Es ist ein typisches Beispiel „für Marx‘ krude und verworrene Philosophie, genannt marxistische Dialektik“, schrieb am 30. April 2018 in ihrem Bericht zu den deutschen Marx-Feierlichkeiten die linksradikale „Gazeta Wyborcza“ („Wahlzeitung“).

„Von Marx erfunden und von seinen geistigen Nachfolgern vervollkommnet, machte die marxistische Dialektik das Böse zum Guten, die Lüge zur Wahrheit, die Willkür zur „historischen Notwendigkeit“. Die gröβten Verbrechen und Niederträchtigkeiten waren gut und nötig, wenn sie der angeblichen Beseitigung der Klassen und zur Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft dienten.

Die Zensur war vorgeblich für die Meinungsfreiheit unabdingbar.
Nomenklatura-Apparatschiks waren „die Elite“ der Arbeiterklasse.

Im Doppelpack mit Friedrich Engels 2. DDR-Briefmarke von 1975.

Eine „klassenbewusste“ Minderheit bekam schon von Marx das Recht verliehen Gewalt anzuwenden, jedwede Mitsprache zu beseitigen, wenn sie zu der Überzeugung gelangte, sie vertrete „den Geist der Zeit“ und sei der Vollstrecker „der historischen Zwangsläufigkeit“, die die Menschheit in die lichte Zukunft des Kommunismus führe.

Armut, Versorgungsmängel, primitive Lebensbedingungen wurden mittels der Dialektik ausgeblendet, dafür war ständig von den „Errungenschaften des Sozialismus“ die Rede usw. usf.“, schreibt  die „Gazeta Wyborcza“.

Marxismus-Kritiker unerwünscht

„Ein Saal im Rheinischen Landesmuseum in Trier“, berichtet Semka in „Do Rzeczy“ „ist der Notwendigkeit gewidmet, dass sich Arbeiter organisieren sowie dem »Kommunistischen Manifest«, der Schrift, aus der die Leitparole des Kommunismus stammt: »Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!« All das wird veranschaulicht in kindisch wirkenden Filmchen vom bösen Kapitalisten im Zylinder und Arbeitern, die sich zusammenrotten, um ihn zu verjagen.“

Im Doppelpack mit Lenin. DDR-Briefmarke von 1966.

„Dann folgen Säle“, so Semka weiter, „gewidmet den wichtigsten Thesen, die Marx aufgestellt hat: über den Mehrwert, die entfremdete Arbeit, die ursprüngliche Akkumulation. Es gibt keine Kommentare, die die Richtigkeit dieser marxistischen Dogmen beurteilen würden, so als wären es Offenbarungen. An keiner Stelle wagten es die Autoren der Ausstellung Marxismus-Kritiker zu Wort kommen zu lassen. Die Lehre von Marx wird salbungsvoll dargelegt, als würde der „Raubtier-Kapitalismus“ unverändert bis heute andauern.

Marx is my personal Jesus

Zum Schluss werden die Besucher gebeten zu schreiben wer Marx für sie sei. Ich lese: »Er war kein Marxist«, »Marx liegt heute richtiger als je zuvor«, »Ein Visionär«, »Ein Kämpfer für die Gerechtigkeit«, »Ein Realist«, und am Ende »My personal Jesus«. Die Ausstellungsmacher können zufrieden sein.

Im Dreierpack mit Engels und Lenin. DDR-Briefmarke von 1986.

Nebenan wirft ein Overheadprojektor Fotos von Persönlichkeiten an die Wand, die sich vom Marxismus haben inspirieren lassen. Die Autoren der Ausstellung haben weit ausgeholt. Da sind Lenin, Sartre, Nasser, Willy Brandt, Pol Pot, Pablo Neruda, Bertolt Brecht, Trotzki, Mao Zedong, Golda Meir und, man staune, ausgerechnet Lech Wałęsa, der Arbeiterführer mit der Muttergottes am Revers. Der Solidarność-Held ein Marxist? Im Trierer Landesmuseum reicht die Marxgläubigkeit sehr, sehr weit.“

Der Autor wurde auch im Museumsladen fündig. „Ich blättere in einem Comicheft über Karl Marx. Am Ende spricht ein kleiner Junge mit dem »Geist des Kommunismus«, einem in ein rotes Laken gehüllten Geschöpf:

Der Junge: Was wollte Marx?

Der Geist: Alles sollte dem ganzen Volk gehören. Es sollte keinen Unterschied mehr geben zwischen Armen und Reichen. Jeder arbeitet nach seinen Möglichkeiten und bekommt was er braucht.

Der Junge: Das klingt fantastisch. Warum ist es nicht gelungen?

Der Geist: Eine Gruppe eroberte die ganze Macht und verkündete, ihr Ziel sei es eine gerechte Welt zu errichten. Doch das zog gigantische Opfer nach sich. Das private Eigentum wurde den Menschen abgenommen und der Gemeinschaft übergeben. Etwas Eigenes zu besitzen galt als schlecht. Alle Versuche eine Gesellschaft aufzubauen, bei der man sich auf Marx berief scheiterten.

Der Junge: Eigentlich schade.

Im Viererpack mit Engels, Lenin und Stalin. DDR-Briefmarke von 1953.

Der Geist: Doch die Hoffnung und Bereitschaft für eine gerechte Welt zu arbeiten sind die schönsten Ziele der Menschheit.

Die Denkweise aus dem Comic spiegelt die wichtigste Botschaft der Ausstellung und der gesamten deutschen Marx-Feierlichkeiten wieder. Sie lautet: die Umsetzung der Ideen von Marx ist nicht gelungen, aber die Lehren des Meisters sind weiterhin nützliche Werkzeuge bei der Erforschung der modernen Welt und des Kapitalismus“, schreibt Semka.

Intellektuelle Täuschung

„Es steht auβer Frage, dass Marx eine Gestalt ist, die man nicht ausblenden kann. Doch eine Darstellung des Marxismus ohne eine Analyse der ihm eigenen bösartigen Eigenschaften, die später Furchtbares angerichtet haben, gleicht einer intellektuellen Täuschung.

Karl Marx zum 200. Geburtstag gesamtdeutsch postalisch geehrt mit Briefmarke…

Knapp dreiβig Jahre nach dem Ende der DDR gibt es in den östlichen Bundesländern immer noch 550 Straβen, Plätze und Alleen, die nach Marx benannt sind. Hinzu kommen einige Dutzend Marx Statuen und Büsten, mal mit, mal ohne Engels. Die linke Popkultur verbreitet mit Erfolg die Wahrnehmung, Marx sei im Grunde ein harmloser, sympathischer, bärtiger Vordenker-Opa gewesen“, so Semka.

… und Sonderstempel.

„Nicht zufällig“, schreibt der Autor, „hat man es in der Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Trier und in der deutschen Marx-Debatte zumeist tunlichst vermieden den Menschen Marx kritisch zu beäugen. Einen „Propheten“, der seine Theorien geschaffen hat ohne ein einziges Mal in einer Fabrik gewesen zu sein.

Den Ideologen des haβerfüllten Klassenkampfes, der dazu aufrief die Reichen zu enteignen, und selbst den Wohlstand genoss, dank üppiger Zuwendungen des Fabrikantensohnes Engels. Den Denker, der sich theoretisch der Befreiung und Gleichstellung der unteren Sozialschichten verschrieb, zugleich jedoch sein Dienstmädchen verführte, schwängerte und mit dem Kind sitzen lieβ. Seinen unehelichen Sohn wollte er nicht und hat ihn nie kennengelernt.

Auch Österreich, die Heimat des „Austromarxismus“ hat sich im Marx-Jahr 2018 postalisch nicht lumpen lassen.

Auch die berechtigte Kritik der Seriosität seiner ökonomischen, wissenschaftlichen Untersuchungen und Berechnungen wurde weder in Trier noch woanders im deutschen Marx-Jahr ernsthaft zur Sprache gebracht. Bei Marx heiβt es zum Beispiel, je arbeitsaufwändiger die Fertigungstechnologie, umso gröβer der „Kapitalistenprofit“. Diese Behauptung wurde noch zu seinen Lebzeiten widerlegt.

Das Argument und alle Beweise dafür, dass der technische Fortschritt das Los der Arbeiter verbessere, ließ er an sich abperlen. Sie passten nicht in sein Schema.

Der vielverschmähte Hollywood-Schauspieler, US-Präsident und überzeugte Antikommunist Ronald Reagan meinte dazu: „»Nicht Marx hat Kinder und Frauen aus den Kohleschächten Englands befreit. Es waren der Dampfmotor und die moderne Technik.«
Solche Behauptungen waren im deutschen Marx-Jubeljahr 2018 nicht zitierfähig“, beschlieβt der Autor seinen Bericht.

RdP




Auf dem Rückzug. Deutsch als Fremdsprache in Polen. Zum hören

Magdalena Rysula, Germanistin, Deutschlehrerin und Dolmetscherin aus Zakopane berichtet im Gespräch mit Janusz Tycner über ihre Arbeit und ihre Einschätzung der Lage des Deutsch als Fremdsprache in Polen. ♦ Wie wird Deutsch an polnischen Schulen unterrichtet. ♦ Womit haben die Polen beim Deutschlernen die gröβten Probleme. ♦ Glanz und Elend der polnischen Universitätsgermanistik. ♦ Deutschförderung aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in Polen heute und einst.