Kaczyński und die Juden

Ob für oder gegen Kaczyński, beide verfeindeten Lager der polnischen Juden fordern gleichermassen die Achtsamkeit des mächtigen Politikers ein.

Die einen preisen das heutige Polen als ein gutes Land für die Juden, die anderen warnen vor dem angeblich sprunghaft wachsenden Antisemitismus.

Dazu veröffentlichen wir ein Gespräch mit Jonny Daniels, erschienen im Wochenmagazin „wSieci“ („imNetzwerk“) vom 28.August 2017.

Jonathan Daniels, geboren 1986, lebte bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr in London, zog dann nach Israel. Er studierte den Talmud an einer Jeschiwa Hochschule, leistete Wehrdienst in der israelischen Armee und studierte anschlieβend Politologie an der Bar-Ilan-Universität in Tel Aviv. Daniels arbeitete als Assistent und Berater in verschiedenen höheren Behörden der israelischen Verwaltung. Eine Zeit lang beriet er Unternehmen, die in Israel Fuβ fassen wollten.

Mit dem polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda.

Vor einigen Jahren kam er nach Polen, ins Land seiner Vorfahren, die in dem Zweitausend-Seelen-Städtchen Dobrzyń nad Wisłą (Dobrin an der Weichsel), ungefähr sechzig Kilometer südöstlich von Toruń/Thorn lebten. Während der polnischen Teilungen gehörte Dobrzyń zu Russisch-Polen, in der Zwischenkriegszeit 1918-1939 zu Polen. Juden stellten zeitweise bis zu einem Drittel der Stadtbevölkerung. Die meisten von ihnen, darunter Daniels Vorfahren, wanderten um 1900 in die USA aus.

Mit Pater Tadeusz Rydzyk. Daniels pflegt den jüdisch-polnischen Dialog als Gast des Senders Radio Maryja und seines Fernsehablegers TV Trwam.

Daniels hat inzwischen seinen Lebensmittelpunkt nach Polen verlegt. Er gründete die Stiftung „From the Depths“ („Aus den Tiefen“) mit dem Ziel, diejenigen Polen, die Juden während der deutschen Besatzung retteten (worauf die Todesstrafe für die ganze Familie stand, siehe das Beispiel der Familie Ulma) ausfindig zu machen und zu ehren. Daniels, mit seinen exzellenten Kontakten in die höchsten Kreise der Politik in beiden Ländern, gehört inzwischen zu den wichtigsten Mittlern zwischen Polen und Israel.

War der von Ihnen organisierte Besuch jüdischer Führungspersönlichkeiten bei Jarosław Kaczyński (am 19. August 2017 – Anm. RdP) eine Reaktion auf den Brief der Vorsitzenden einiger jüdischer Gemeinden, in dem behauptet wird, in Polen hätten „antijüdische Haltungen“ an Bedeutung gewonnen?

Nein, das Gespräch war schon vorher geplant. Es traf sich jedoch gut, dass es gerade in dieser Zeit stattfand, denn so konnten wir, teilweise wenigstens, die unangenehmen Folgen des unklugen Vorgehens der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden abschwächen.

Treffen Jaroslaw Kaczyńskis mit Vertretern polnischer Juden am 19. August 2017.

Unklug?

Wie überall, gibt es zweifelsohne auch in Polen Antisemitismus, aber man sollte das rechte Augenmaβ behalten. Wir sitzen hier in einem koscheren Warschauer Restaurant. Um uns herum sind Juden mit Kipas. Niemand sieht beunruhigt aus. Die Tür zum Lokal ist weit geöffnet, das Schild über der Tür gibt eine eindeutige Auskunft darüber, was sich hier befindet. Es gibt keine Bewachung, weil sie nicht notwendig ist. So etwas ist mittlerweile in Paris und in vielen anderen westeuropäischen Städten unvorstellbar. Dort haben die Juden allen Grund Angst zu haben und sie haben Angst.

Wie steht es also um den Antisemitismus in Polen?

Er ist unvergleichbar schwächer und unvergleichbar weniger rabiat als in Westeuropa. Zudem, er nimmt nicht zu, wie es die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden behaupten.

Antisemitische Schmiererei.

Hat Polen also kein Problem mit dem Antisemitismus?

Kein Problem, das kann man natürlich nicht sagen. Auch die Regierung macht diesbezüglich Fehler, aber das bezieht sich ausschlieβlich auf die Öffentlichkeitsarbeit. Polen ist ein leichtes Ziel. In Sachen internationale Öffentlichkeitsarbeit hinkt es Israel und den amerikanischen Juden dreiβg Jahre hinterher.

Die polnische Regierung reagiert zu spät und zu schwach auf solche, eher seltenen Zwischenfälle, wie der öffentlichen Verbrennung einer Judenstrohpuppe in Wrocław (am

Staatspräsident Andrzej Duda an der Klagemauer in Jerusalem. Januar 2017.

19. November 2015, der Täter wurde zu drei Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt – Anm. RdP) oder den Überfall von Fuβballhooligans auf israelische Sportler (am 3. August 2017 in Płońsk bei Warschau, die zwei Opfer erlitten leichte Schürfwunden, die Täter wurden ermittelt und warten auf ihren Prozess – Anm, RdP).

In Zeiten von Twitter muss man sofort die 140 Zeichen mit einer eindeutigen moralischen Verurteilung veröffentlichen. Wenn es Opfer gibt, muss man sie spätestens am nächsten Tag besuchen. Es geht hier jedoch nur um Öffentlichkeitsarbeit. Wenn aber jemand der jetzigen nationalkonservativen polnischen Regierung Antisemitismus vorwirft, dann ist das eine niederträchtige Lüge.

Warum niederträchtig?

Weil die jetzige Regierung nicht nur nicht antisemitisch ist, sie gehört zu den pro-israelischsten auf unserem Planeten. Ich kann nicht über alles reden was ich weiβ, aber beide Staaten arbeiten auf vielen Gebieten auβergewöhnlich eng zusammen und begegnen sich mit groβer Achtung. Ich möchte unterstreichen: das gilt gerade für die jetzige Regierung von Recht und Gerechtigkeit.

„Die jetzige polnische Regierung gehört zu den pro-israelischsten auf unserem Planeten.“ Ministerpräsidentin Beata Szydło und Amtskollege Benjamin Netanjahu in Tel Aviv. November 2016.

Sehr bezeichnend ist eine Episode von vor einigen Jahren. Ich habe damals eine Reise von Knesset-Abgeordneten nach Polen organisiert und wollte nach den offiziellen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz noch eine halboffizielle Begegnung mit ranghohen polnischen Politikern arrangieren. Die damalige Tusk-Regierung war daran nicht sonderlich interessiert. Zu dem Treffen kamen schließlich ganz wenige Abgeordnete der regierenden Bürgerplattform, dafür aber sehr viele Sejm-Abgeordnete von Recht und Gerechtigkeit, sogar Europa-Abgeordnete dieser Partei, darunter der jetzige Staatspräsident Andrzej Duda. Das gab mir zu denken.

Das bedeutet noch lange nicht, dass man in Polen nicht mit Antisemitismus in Berührung kommt.

In der ersten Jahreshälfte 2017 haben einhundertfünfzigtausend israelische Touristen Polen besucht, meistens auβerhalb von Holocaust-Gedenkfeierlichkeiten. Es kamen auch achtundsiebzig israelische Journalisten. Polen ist dicht dran das touristische Reiseland Nummer eins der Israelis zu werden.

Weil es in Polen keine islamistischen Terroranschläge gibt?

Ja, das auch, aber kämen diese Menschen nach Polen, wenn es hier auf Schritt und Tritt eine antisemitische Stimmung gäbe? Außerdem kommen viele von ihnen ein zweites oder drittes Mal. Polen ist ein gutes Land für Juden.

Das „Tel Aviv“ in der Poznańskastrasse. Eines von zwanzig jüdischen Restaurants in Warschau.

Warum also schreiben die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden einen Brief, in dem sie das Gegenteil behaupten?

Vor allem deswegen, weil es Personen sind, die sich tief in dem innerpolnischen politischen Konflikt auf der Seite der jetzigen Opposition engagiert haben. Es genügt ihre Facebook-Profile einzusehen, um festzustellen, dass sie keine Gelegenheit auslassen ihre tiefe Ablehnung gegenüber der jetzigen Regierung kundzutun.

Handelt es sich also ihrerseits um eine Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs im Kampf gegen Recht und Gerechtigkeit?

Das was sie tun, ist nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Sie schreien „Der Wolf kommt, der Wolf kommt!“ und es gibt keinen Wolf. Wenn sie so weiter machen, und der Wolf sollte eines Tages doch auftauchen, wird niemand ihr Rufen ernstnehmen.

Wird ihr Rufen von den Juden im Westen nicht schon heute ernstgenommen?

Unser Treffen mit Jarosław Kaczyński hat die Wirkung des Briefes weitgehend reduziert. Viele einflussreiche jüdische Medien, wie zum Beispiel das amerikanische Wochenmagazin „The Forward“, haben sowohl das Gespräch, wie auch unsere entschiedene Kritik an diesem Schreiben wahrgenommen. Ein unguter Beigeschmack ist leider geblieben.

Dabei muss man berücksichtigen, dass es zwei wichtige Zentren der jüdischen Meinungsbildung gibt: Israel und die USA. In Israel überwog lange Zeit eine antipolnische Stimmung. Das hat sich geändert.

Ist es in den USA anders?

Leider ja. Bei den amerikanischen Juden war die antipolnische Stimmung immer deutlich stärker und aggressiver als in Israel. Jetzt wird dieser Unterschied noch gröβer, weil sich die Stimmung in Israel zum Besseren wendet, während sie in Amerika unverändert bleibt.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die Tatsache, dass viele amerikanische Juden mit der liberalen Linken sympathisieren und das macht sie automatisch zu Gegnern der jetzigen Regierung in Warschau.

In Israel dagegen hat die Linke sehr an politischer Bedeutung verloren. Dort ist der Brief kaum auf Resonanz gestoβen, in Amerika hingegen schon. In den USA wird er kolportiert und seine Aussagen werden verschärft durch entsprechende Kommentare der Anti-Defamation League (Antidiffamierungsliga – Anm. RdP). Sie ist immer noch eine der einflussreichsten jüdischen Organisationen, zu der jedoch immer mehr Juden wegen ihrer zunehmenden Linkslastigkeit auf Distanz gehen.

Zudem wissen die meisten amerikanischen Juden nicht, dass die Gemeinden nicht mehr die einzigen Vertreter der polnischen Juden sind. Das jüdische Leben in Polen wird immer vielfältiger.

Das alljährliche zehntägige Festival der Jüdischen Kultur in Kraków sucht seinesgleichen in der Welt.

Sie wissen wahrscheinlich auch nicht, dass die polnischen Juden heute politisch genauso gespalten sind, wie die gesamte polnische Gesellschaft, nämlich in Anhänger und Gegner der jetzigen Regierung. Der Brief der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden erweckt den Eindruck, eine solche Spaltung gäbe es nicht. Wurde er geschrieben und veröffentlicht, weil seine Verfasser der von ihnen ungeliebten Regierung zusetzen wollten?

Die Geldgeber der jüdischen Gemeinden in Polen sind fast ausschlieβlich linksliberale amerikanische Juden. Das wirkt sich eindeutig auf die politische Haltung der Vorsitzenden aus. Solche Attacken unter dem Vorwand der „Verteidigung der Juden“, wie der erwähnte Brief, sind so gesehen sehr lohnend. Man erhält leichter und auch mehr Geld, wenn die Geber überzeugt sind, dass das was sie sponsern bedroht ist.

Wie gesagt, die jetzige Warschauer Regierung ist auβerordentlich juden- und israelfreundlich, aber sie muss auf die gelegentlich vorkommenden antijüdischen Vorfälle entschiedener reagieren. Dieser Mangel diente den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden als Vorwand.

Das Verfassen des Briefes war eine politische Aktion mit dem Ziel die Aufmerksamkeit internationaler Medien zu wecken und ein Signal zu senden: „polnische Juden werden bedrängt“. Ansonsten hätten die Autoren ihren Brief nicht publik gemacht, und schon gar nicht sofort nachdem sie ihn abgeschickt hatten, ohne eine Antwort abzuwarten. Offensichtlich wollten sie der internationalen Öffentlichkeit einreden Kaczyński sei ein Antisemit, was einfach nicht wahr ist.

Staastpräsident Lech Kaczyński (1949-2010) mit dem Oberrabiner Polens Michael Schudrich (Mitte) am 21. Dezember 2008 in der Warschauer Synagoge am Beginn des Chanukkafestes.

Jarosław Kaczyński und sein ums Leben gekommener Bruder Lech hatten schon in ihrer Kindheit einige jüdische Freunde.

Ich sage es mit allem Nachdruck: wenn etwas den Antisemitismus in Polen erwecken kann, dann sind es solche Aktionen, wie der Brief der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden. Das wird deren Gewissen belasten.

Ihre Stiftung „From the Depths“ zeichnet Polen aus, die während des Krieges Juden gerettet haben. Woher diese Idee?

Bei meinen Reisen durch Polen bin ich ins Dorf Rekówka (ca. 150 Kilometer südlich von Warschau – Anm. RdP) gekommen. Nach dem Krieg war dort bisher kein Jude vor mir gewesen. In Rekówka haben deutsche Gendarmen zwei Familien, darunter sechs Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren, für das Verstecken von Juden ermordet. Ich war schockiert, weil niemand bis dahin den Nachkommen dieser Menschen auch nur ein offizielles Wort des Dankes gesagt hat.

Wie sind die Auszeichnungen Ihrer Stiftung im Vergleich zu dem Titel „Gerechter unter den Völkern“, den die Gedenkstätte Yad Vashem vergibt zu sehen?

Wir rivalisieren nicht mit Yad Vashem. Es soll einfach mehr Möglichkeiten geben solch tapfere Menschen zu würdigen.

RdP

Rede von Jarosław Kaczyński

am 18. September 2017 bei einer Gedenkveranstaltung im Warschauer Zoo. Dessen Direktor Jan Żabiński (1897 – 1974) und seine Frau Antonina (1908 – 1971) haben während der deutschen Besatzung einige Hundert Juden aus dem Warschauer Ghetto herausgeschmuggelt, sie auf dem weitgehend zerstörten Zoo-Gelände versteckt, um sie von hieraus an geheime Orte auf dem Land zu bringen. Dafür wurden sie 1965 mit dem Titel Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet. Bei der Gedenkveranstaltung, unter Beteiligung offizieller Vertreter Israels, wurden, meistens posthum, Polen geehrt, die Juden während der deutschen Besatzungszeit gerettet haben.

Kaczyński sagte unter anderem:

„Der Holocaust war ein unvergleichlich schweres Verbrechen, ein Ausdruck des Bösen in seiner radikalsten Form. Dieses absolut Böse trat in der Geschichte viele Male hervor, aber im zwanzigsten Jahrhundert zeigte es sein schrecklichstes Antlitz. Dem absolut Bösen widersetzte sich etwas, was man als das absolut Gute bezeichnen kann, ein Heldentum höchster Güte, das vor dem Tod nicht zurückwich. (…)

Der Antisemitismus von heute nimmt andere Formen an als früher. Der heutige Antisemitismus äuβert sich in der Feindschaft zum Staat Israel. Sie ist charakteristisch für die Linke und einige andere politische Kräfte in Europa. (…)

Jemand hat gesagt, Israel sei ein kleiner Staat. Nein, Israel ist nicht klein. Israel hat bewiesen, dass nicht das Territorium, sondern die Kraft des Geistes und die Entschlossenheit von der Gröβe eines Staates Zeugnis ablegen. Israel ist auf seine Weise ein groβer Staat. Diese Gröβe ist der Beweis für die Kraft des Geistes aber auch der Beweis dafür, dass es über uns eine höhere Kraft gibt, die über alles entscheidet, denn ohne sie könnte Israel nicht existieren. Das ist das Wunder unserer Zeit. Der heutige Antisemitismus richtet sich gegen Israel. (…)

Es ist sehr gut, dass es eine Stiftung gibt, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Würdigung derer, die diesen Heldenmut aufgebracht haben fortzusetzten und zu erweitern. Die Stiftung „From the Depths“ will, dass viele, die nicht die höchste Genugtuung erfahren haben, bisher nicht als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet wurden, doch noch aus der Vergessenheit geborgen und geehrt werden. (…)

Antonina und Jan Żabiński.

Diejenigen, die der Opfer des Holocaust gedenken, erinnern auch an jene, welche Menschen vor dem Holocaust retteten. Es waren die tapfersten der Tapferen. Dafür gebietet ihnen ewiger Ruhm. Ich verneige mich vor ihnen.“

Brief der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in Polen an Jarosław Kaczyński

Warszawa, den 4. August 2017

Herrn Jarosław Kaczyński Vorsitzender von Recht und Gerechtigkeit

Geehrter Herr,
mit groβer Beunruhigung nehmen wir in den letzten Monaten eine Zunahme von antisemitischen Haltungen in Polen wahr, eine Brutalisierung der Sprache sowie von Verhaltensweisen, von denen viele gegen unsere Gemeinschaft gerichtet sind.

Mit besonderer Empörung erfüllen uns die Ereignisse der letzten Tage, die die Befürchtung wecken, dass wir in einem für uns immer weniger sicheren Umfeld leben. Ein wachsender Antisemitismus in der öffentlichen Debatte, die dem Senator Marek Borowski vorgehaltene jüdischen Herkunft seiner Vorfahren durch die Journalistin des Polnischen Fernsehens Magdalena Ogórek, das Auftauchen faschistischer Fahnen und Parolen von ORN Falanga bei staatlichen Feierlichkeiten; dies alles weckt schlimmste Erinnerungen. Vor einigen Tagen verbreitete der Abgeordnete von Recht und Gerechtigkeit, Herr Bogdan Rzońca (fonetisch Schontza – Anm. RdP) über die sozialen Medien seine absurden, menschenverachtenden Gedankengänge: „(…) Ich überlege warum es, trotz des Holocaust, so viele Juden unter den Befürwortern der Abtreibungen gibt.“ Das zeigt einen vollkommenen Mangel an Sensibilität sowie ein Unverständnis dafür, was das Wesen des Holocaust war.

Dafür gibt es unsererseits keine Billigung. Polen ist unsere Heimat und wir wollen hier nicht unerwünscht sein, doch immer öfter haben wir diesen Eindruck. Der Vorfall von vor einigen Tagen, als israelische Sportler aus antisemitischen Beweggründen tätlich angegriffen wurden, zeigt, dass der Antisemitismus aus der Sphäre der Worte in die Sphäre der Taten übergeht. Wir haben Angst um unsere Sicherheit und unsere Zukunft in Polen, wir wollen keine Wiederholung des Jahres 1968.

Als Sie vor vierzehn Monaten bei den Gedenkfeierlichkeiten zum Jahrestag der Beseitigung des Ghettos von Białystok gesprochen haben empfanden wir Ihre Worte als ermutigend. Wir haben gehofft, dass Sie unsere Gemeinschaft unterstützen werden, dass wir Ihrerseits auf Verständnis sowohl für unsere Geschichte als auch für unsere jetzige Lage treffen würden.

Daher wäre für uns, Ihre starke und entschiedene Verurteilung des Antisemitismus, eine Stellungnahme zu unseren Gunsten, besonders wichtig.

Mit Hochachtung

Anna Chipczyńska, Vorsitzende der Jüdischen Glaubensgemeinde in Warschau
Lesław Piszewski, Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Glaubensgemeinden in Polen

RdP




Familie Ulma? Falscher Mythos. Schämt euch, ihr Polen!

Offenbar darf man nicht einfach so der polnischen Judenretter gedenken.

Am 17. März 2016 hat Staastpräsident Andrzej Duda das Museum der Polen, die während des Zweiten Weltkriegs Juden gerettet haben, in Markowa eröffnet. Es trägt den Namen der Familie Ulma und soll jene Polen würdigen, die während des Zweiten Weltkriegs, unter deutscher Besatzung  Juden zu retten versucht bzw. gerettet haben.

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Woiwodschaft Karpatenvorland.

Im Dorf Markowa (Karpatenvorland), haben deutsche Gendarmen am 24. März 1944 acht Juden aus den Familien Szall und Goldman ermordet. Mit ihnen wurde die gesamte Familie Ulma, bei der diese acht Menschen versteckt

Ulmowie 2 Markowa mapa

waren, umgebracht: Józef Ulma und seine hochschwangere Frau Wiktoria sowie die sechs Kinder der Familie, darunter auch die älteste, achtjährige Tochter Stasia.

Ausführlich  über das Schicksal der Familie Ulma hier.

Staatspräsident Duda erinnerte in seiner Rede daran, dass allein im Dorf Markowa, in dem vor dem Krieg 4.500 Polen und 120 Juden lebten, zwanzig Juden, dank ihrer polnischen Nachbarn, die deutsche Besatzung überleben konnten.

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Familie Ulma kurz vor ihrer Ermordung.

Duda sagte auch, dass „jeder, der Hass zwischen den Völkern säe, Antisemitismus verbreite, das Grab der Familie Ulma schände. Er schände alles, wofür die Ulmas als Polen ihr Leben gegeben haben: Würde, Redlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit und eine elementare Wertschätzung, die jedem Menschen gebührt.“

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Staatspräsident Andrzej Duda besichtigt das Museum in Markowa am Tag seiner Eröfnung, dem 17. März 2016.

Im Museum wurde auf einer Ausstellungsfläche von 500 Quadratmetern das Haus der Ulmas rekonstruiert. Zu sehen ist auch die von vielen Geschossen durchschlagene Haustür der Markower Familie Baranek, die ebenso wie die Familie Ulma gemeinsam mit den von ihr versteckten Juden ermordet wurde. Weitere Exponate und Schautafeln dokumentieren das dramatische Schicksal vieler polnischer Retter und derjenigen Juden, die sie vor dem Tod bewahren wollten.

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Das neue Museum in Markowa.

Bereits während der Bauphase erfreute sich das Museum eines regen Interesses. Allein 2015 kamen u. a. etwa fünftausend israelische Jugendliche um sich über das Vorhaben und das Ausstellungsthema zu informieren. Junge Israelis reisen seit knapp dreiβig Jahren im Rahmen eines Holocaust-Gedenkprogramms der israelischen Regierung nach Polen.
Im neuen Museum ist ein Tagungssaal mit Multimediaausstattung für Musemuspädagogik, Fimvorführungen und Tagungen vorgesehen. Zwei wissenschaftliche Mitarbeiter kümmern sich um die Ausstellung und das Archiv.

Chuzpe und Unsinn

Während die Errichtung eines Museums für den deutschen Oskar Schindler in Kraków im Jahre 2010 bis heute keinerlei negative Kommentare hervorrief, stieβ das Vorhaben, ein erstes Mal, 72 Jahre nach dem Krieg, sich derjenigen Polen zu erinnern und zu gedenken, die ebenfalls Juden gerettet haben, sowohl auf jüdischer als auch auf deutscher Seite sofort auf Kritik.

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Piotr Kadlčik (rechts) mit dem Oberrabiner Polens Michael Schudrich (Mitte) und Staastpräsident Lech Kaczyński am 21. Dezember 2008 in der Warschauer Synagoge am Beginn des Chanukkafestes. Im Dezember 2009 zeichnete Staastpräsident Kaczyński Kadlčik mit dem Komturskreuz des Ordens der Wiedegeburt Polens (Polonia Rastituta) aus, einer der höchsten  Auszeichnungen, die Polen zu vergeben hat.

Zu Wort meldete sich Piotr Kadlčik (Jahrgang 1962), zwischen 2001 und 2014 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Warschau und von 2003 bis 2014 zugleich Vorsitzender des Verbandes der jüdischen Gemeinden in Polen.

Kadlčik schrieb am 17. März 2016 im linken Internetportal „NaTemat“ („ZumThema“), er hoffe, dass sich in der Ausstellung in Markowa auch Platz findet für die Darstellung aller polnischen Helfer, Zuträger und Erpresser, die „wie die Deutschen dabei mitwirkten, dass die Gefahr von den Besatzern getötet zu werden, so eine hohe Wahrscheinlichkeit annehmen konnte“.

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Publizist Rafał Ziemkiewicz.

Sehr entschlossen antwortete darauf der konservative Publizist und Kommentator Rafał A. Ziemkiewicz am 4. April 2016 im Wochenmagazin „Do Rzeczy“ („Zur Sache“):

„Kadlčik … gedachte zwar in seinem Kommentar der Gerechten, denen auch seine Familie das Überleben verdankt, aber nur um … zu fordern, dass man im Museum zu Ehren dieser Gerechten, unbedingt auch an die Kollaborateure erinnern sollte.

Um sich die Chuzpe und den Unsinn dieser Worte zu vergegenwärtigen“, schreibt Ziemkiewicz, „sollte man sich vorstellen, dass jemand, vielleicht Piotr Kadlčik selbst, dem Washingtoner Holocaust-Museum vorschlägt, dort, neben der jüdischen Opfer, auch der jüdischen Kollaborateure zu gedenken. Solcher, wie sie Hannah Arend in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ ausführlich schildert.

Ulmowie 2 policja zydowska
Jüdische Polizisten im Warschauer Ghetto.

Gab es sie nicht? Es gab sie zuhauf. Soll sich doch in jeder Schoah-Gedenkstätte Platz finden für den Lodzer Ghetto-Chef Chaim Rumkowski.“ Für die verbrecherischen „Ghetto-Könige“ von Sosnowiec – Moses Meryn, von Białystok – Efraim Barsz, von Wilno – Jakub Gens, von Lwow – Józef Parmas.
Für die Warschauer Gestapo-Zuträger und tausendfache Judenmörder Abraham Gancweich, Dawid Sternfeld, Leon Skosowski und Dutzende ihresgleichen. Für den Krakauer Gestapo-Mitarbeiter und obersten jüdischen Judenjäger Józef Diamand. Für den Lubliner Judenerpresser Szama Grajer, der an der Spitze seiner Bande Hunderte eigener Landsleute zuerst ausgenommen und dann den Deutschen zur Ermordung ausgeliefert hat.

„Für die verbrecherischen Ghetto-Judenräte und Hunderte jüdischer Ghetto-Polizisten in deutschen Diensten, die ihre eigenen Landsleute erbarmungslos in die Todestransporte geprügelt haben“, schreibt Ziemkiewicz.

Und ewig rechtfertigt sich der Pole

Unmittelbar nach diesem rhetorischen Schlagabtausch in Polen meldete sich am 9. April 2016 die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zu Wort mit einem Beitrag des jüdischen Autors Joseph Croitrou. Demnach hatte auch bei der Errichtung des Museums in Markowa, wie könnte es anders sein, Jarosław Kaczyński, der anscheinend dämonenhafte Schöpfergott allen polnischen Übels, seine Finger mit im Spiel.

Croitrou unterstellt Staatspräsident Andrzej Duda, er sprach „in seiner emphatischen Eröffnungsrede von „Hunderttausenden Polen“ die Juden geholfen hätten“, was zur angeblichen Enstehung eines „falschen Mythos“ beitragen solle. In Wahrheit sprach Duda von „Tausenden“ (siehe nachfolgend den Text von Dudas Ansprache).

Auf Croitrous Text antwortete am 16. April 2016 in der „FAZ“ Dr. Łukasz Kamiński, Präsident des Instituts für Nationales Gedenken in Warschau (polnische Gauck-Behörde).

Diese Erwiderung war notwendig, doch zugleich fügt sie sich in ein Szenario ein, das viele deutsche Medien, Wissenschaftler, manchmal auch Politiker stets aufs Neue gerne beleben und auskosten. Man selbst habe ja längst alles penibel und vorbildlich aufgearbeitet, überwunden, aufgeklärt, betrauert, bedauert und entschädigt. Nun ist es an der Zeit, dass sich andere, und dabei ganz besonders die Polen, vor dem strengen, teilweise moralisch erhabenem deutschen Publikum, bitte sehr, in Sachen Holocaust rechtfertigen.

Auslöser hierfür können sein ein Film, wie die ZDF-Produktion „Unsere Mütter, unsere Väter“ oder einer jener Presseartikel, die zu diesem Thema immer wieder mal auftauchen.

Nachstehend dokumentieren wir:

den Text von Joseph Croitrou,

die Erwiderung von Dr. Łukasz Kamiński

und

die bewegende Ansprache von Staatspräsident Andrzej Duda.

War die heldenhafte Familie Ulma etwa typisch?
Von JOSEPH CROITORU

Ulmowie 2 Joseph Croitoru fot.In Polen ist in dem Dorf Markowa in der südöstlichen Woiwodschaft Karpatenvorland ein neues Museum eröffnet worden. Es hat den umständlichen Namen „Museum für die Polen, die während des Zweiten Weltkriegs Juden gerettet haben, benannt nach der Familie Ulma in Markowa“. Der Verwaltungsbezirk, den seit den Lokalwahlen von 2006 die heutige Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) mit großer Mehrheit dominiert, hatte bereits 2008 die Museumsgründung beschlossen. Ihr Wahlsieg im vergangenen Herbst ermöglichte es der PiS, das Projekt, dem sie höchste volkserzieherische Bedeutung beimisst, rasch zu verwirklichen, ganz im Sinne ihres Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski.

Die geschichtspolitische Mission seiner Partei hatte Kaczynski bereits in seiner Rede vor dem Sejm nach der Regierungserklärung im November vorgegeben. Er beklagte, sein Land sei einer Diffamierungskampagne ausgesetzt, auf die es antworten müsse: „Die Polen, die Nation, die sich als erste mit der Waffe in der Hand zum Kampf gegen Nazideutschland erhoben hat, wird heute im Grunde als Verbündeter Hitlers behandelt. Wir haben es mit einer Internalisierung der Verantwortung für den Holocaust mit besonderer Berücksichtigung der Polen zu tun. Dem müssen wir uns entschlossen entgegenstellen.“

Wahrheit oder Stilisierung?

Den polnischen Nationalkonservativen sind all jene, die sich um eine differenzierte Betrachtung der polnisch-jüdischen Beziehungen während des Holocausts bemühen – wobei die Polen häufig in einem nicht sehr positiven Licht erscheinen – ein Dorn im Auge.

Zu ihnen gehört der in Ottawa lebende polnische Historiker Jan Grabowski, dessen 2011 in Warschau erschienenes, zwei Jahre später ins Englische übersetzte Buch „Judenjagd“ (Hunt for the Jews) in Polen eine heftige Debatte über den Umgang von Polen mit Juden unter der deutschen Besatzung entfachte. Der Verfasser erhielt Beschimpfungen und sogar Morddrohungen.

Grabowski dokumentierte nicht nur zahlreiche Fälle von Denunziationen, er räumte auch mit dem Mythos auf, den die PiS mit dem Museum in Markowa etablieren will: Viele Polen hätten aus Mitmenschlichkeit und unter Lebensgefahr Tausende von Juden versteckt.

Grabowski, Mitbegründer des Warschauer „Zentrums für die Forschung der Judenvernichtung“ an der polnischen Akademie der Wissenschaften, wies nach, dass man Juden nicht immer nur aus Menschenliebe half, sondern sich dafür auch oft gut bezahlen ließ. Grabowski hält dem polnischen „Institut für Nationales Gedenken“ (IPN) vor, es versuche, immer mehr Polen ausfindig zu machen, die Juden gerettet hätten, um die polnische Opferrolle zu zementieren. Diese Sichtweise könnte sich auch bei der Gestaltung des Ulma-Museums in Markowa durchsetzen, warnte der Historiker.

„Gerechte unter den Völkern“

In seinem Buch weist er auf die Forschungen des IPN-Historikers Mateusz Szpytma hin, der in Markowa Museumsdirektor wurde. Szpytka hatte in zwei Studien, die 2004 auf Polnisch und 2009 auf Englisch erschienen, die tragischen Ereignisse im Ort zu rekonstruieren versucht.

Nachdem die meisten jüdischen Bewohner nicht nur des Dorfes, sondern auch seiner Umgebung von den deutschen Besatzern erschossen worden waren, suchten einige Überlebende auf dem Hof des polnischen Landwirts Józef Ulma in Markowa Zuflucht. Der Pole versteckte sie, was er und seine schwangere Frau wie auch die sechs Kinder am Ende mit dem Leben bezahlten: Nachdem deutsche Gestapo-Angehörige und polnische Polizisten die acht versteckten Juden am 24. März 1944 entdeckt und auf der Stelle getötet hatten, erschossen sie auch ihre polnischen Beschützer.

Grabowski kritisierte, Szpytma habe die Frage offengelassen, wer die Ulmas denunzierte, obwohl er den an der Razzia beteiligten polnischen Polizisten Wlodzimierz Les verdächtigte. Die jüdische Familie Szall, die zu den Opfern gehörte, hatte Les zuvor ihren Besitz anvertraut. Dass dieser ihn hätte zurückgegeben müssen, könnte ein Motiv für eine Denunziation gewesen sein. Der Polizist Les wurde später von polnischen Widerstandskämpfern getötet. Die Familie Ulma wurde 1995 von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt – diesen Titel erhielten bislang 6620 Polen. 2014 bekam Jan Grabowski von der Jerusalemer Gedenkstätte einen Preis für seine Studie „Judenjagd“.

1600 Polen halfen beim Verstecken

Die Eröffnung des Museums in Markowa ist für die Initiatoren nur ein erster Schritt zu einer umfassenden Dokumentation der Schicksale all jener Polen, die Juden geholfen hatten. Die Schau in dem einer Scheune nachempfundenen Museumsbau konzentriert sich derzeit noch auf die Vorfälle in der Region. Fotos aus dem Besitz der Familie Ulma haben in der Ausstellung auch deshalb einen prominenten Platz, weil Józef Ulma Hobbyfotograf war und viele der von ihm gemachten Aufnahmen erhalten sind. Eine davon, die seine jüdischen Nachbarn zeigt, ist mit Blut der jüdischen Opfer befleckt.

Spuren der Gewalt weisen auch die von Einschüssen gezeichneten Türen auf, die aus dem Haus der fünfköpfigen Familie Baranek aus Siedliska stammen: Weil sie vier Juden aufgenommen hatten, wurden die Baraneks im März 1943 hingerichtet.

An der Mauer auf dem Platz vor dem Museum erinnern Schrifttafeln solcher polnischen Opfer. Die Liste der Namen soll ergänzt werden, Schätzungen zufolge waren es rund 1600 Polen, die allein in der Vorkarpaten-Region etwa 2900 Juden versteckt hatten. Zweihundert von ihnen bezahlten das mit ihrem Leben.

Zum Museum in Markowa gehört auch ein Konferenzraum, in dem Zeitzeugen zu Wort kommen, Filme gezeigt werden, Tagungen und Jugendtreffen stattfinden sollen. Man denkt besonders auch an israelische Schüler, die auf Klassenfahrten nach Polen in den letzten Jahren auch in Markowa Station machen, wo schon seit 2004 ein kleines Ehrenmal an das Schicksal der Familie Ulma erinnert.

Ambivalente Reaktion aus Israel

In Israel erzeugt die Museumseröffnung freilich auch Skepsis. Dass der polnische Präsident Duda in seiner emphatischen Eröffnungsrede von „Hunderttausenden Polen“ sprach, die Juden geholfen hätten, dürfte in Jerusalem den Verdacht erhärten, man wolle den tragischen – und in der Holocaust-Forschung keineswegs als typisch geltenden – Fall der Familie Ulma benutzen, um das Verhalten der Polen während des Holocausts zu beschönigen.

Dass Duda stolz darauf verwiesen hatte, die Polen bildeten die größte Gruppe unter den von Yad Vashem gewürdigten Nichtjuden, schien das zu bestätigen. Irena Steinfeldt, die Leiterin der Abteilung der „Gerechten unter den Völkern“ in Yad Vashem, erklärte gegenüber der israelischen Zeitung „Haaretz“, die Zahl der hilfsbereiten Polen sei zwar im Vergleich zu anderen Ländern am höchsten. Halte man sich jedoch die drei Millionen polnisch-jüdischen Opfer vor Augen, erscheine sie freilich eher niedrig.

„Die Zahl der polnischen ,Gerechten’“, sagt Steinfeldt, „sagt nichts über den Charakter des Volkes aus, sondern nur über den von Individuen.“ Sie kritisiert vehement Versuche, die Zahl der polnischen Helfer aufzublähen, schließlich handle es sich dabei um eine Minderheit. Von dieser auf die Allgemeinheit zu schließen, was man in Polen neuerdings manchmal tue, sei nicht nur empörend, sondern mindere auch die Heldenhaftigkeit der „Gerechten unter den Völkern“.

In Yad Vashem, wo jährlich fünfzig bis siebzig neue Namen von Polen hinzukämen, sehe man sich nach wie vor in der Pflicht, all diejenigen zu würdigen, die ihr Leben riskierten, um Juden zu helfen. „Aber Verallgemeinerungen lehnen wir entschieden ab“, betont Steinfeldt. Das ändert nichts daran, dass Yad Vashem auf der polnischsprachigen Seite seiner „Internationalen Schule für Holocaust-Studien“ den Fall der Familie Ulma als ein pädagogisch besonders geeignetes Beispiel dafür anführt, Jugendliche über die Schoa in Polen aufzuklären.

Steinfeldts Kritik ist den polnischen Medien nicht entgangen. Die katholische polnische Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny“ fragte jetzt Museumsdirektor Szpytma, ob das Hochschrauben der Zahl angeblicher polnischer Judenretter politische Zwecke verfolge. Szpytma blieb eine direkte Antwort schuldig. Niemand kenne die genauen Zahlen, sagte der Direktor, deshalb betrachte er es als seine Aufgabe, sie durch weitere Forschungen zu ermitteln. Manipulationen auf rechter wie auf linker Seite kämen vor; beide Lager versuchten, die Geschichte politisch zu instrumentalisieren. Doch das dürfe man nicht den Historikern anlasten.

Quelle: F.A.Z.

Finger weg von unseren Helden!
Von ŁUKASZ KAMIŃSKI
Ulmowie 2 Łukasz Kamiński fotVergangenen Monat nahm ich an der ergreifenden Eröffnungsfeier eines Museums in Markowa, in Südostpolen, teil. Es ist den Polen gewidmet, die während der deutschen Okkupation Juden gerettet haben, und nach der Familie Ulma benannt, die zusammen mit den von ihr versteckten Juden im März 1944 von deutschen Polizisten ermordet wurde.

Über dieses Ereignis wurde in vielen Medien berichtet, Vertreter höchster staatlicher Organe nahmen daran teil. Außer dem polnischen Präsidenten ergriff das Wort auch die Botschafterin Israels, eine aufgezeichnete Botschaft eines in Markowa geretteten Juden wurde präsentiert.

Die meisten Polen hörten zum ersten Mal die Geschichte von Józef und Wiktoria Ulma und ihren Kindern Stanisław, Basia, Władzia, Franek, Antek, Marysia sowie des siebten Kindes, dessen Geburt während der Exekution begann. Das älteste war damals acht Jahre alt. Zum ersten Mal wurden auch die Namen der Geretteten genannt: Saul Goldmann und seine vier Söhne (genannt die Szalls), Golda Grünfeld und ihre Schwester Lea Didner mit ihrer kleinen Tochter.

In Dutzenden von Kommentaren wurde das Heldentum der Familie Ulma gewürdigt, man wies auf Werte wie Nächstenliebe und Opferbereitschaft hin. Man sprach über die Bedeutung der Wahrheit und darüber, dass die Geschichte des Holocausts Mahnung für die heutige sowie für zukünftige Generationen sein solle. Man erinnerte an die Tatsache, dass in der Bibel im Haus der Ulmas die Geschichte vom barmherzigen Samariter angestrichen war, und man zitierte die Worte Christi: „Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“

Absurd oder rhetorisch

Der Leser des Artikels von Joseph Croitoru „War die heldenhafte Familien Ulma etwa typisch?“ konnte hingegen erfahren, dass wir es in Wirklichkeit mit einer Parteiveranstaltung der neuen polnischen Regierung zu tun hatten, die „eine historische Debatte entfacht“ habe. Entgegen den Behauptungen des Autors wurde die Fertigstellung des Museums nicht durch das Ergebnis der letzten Wahlen beschleunigt, sondern durch eine Entscheidung der Kulturministerin der vorherigen Regierung, die der Initiative finanzielle und organisatorische Unterstützung angedeihen ließ.

Ich habe die Kommentare in Presse und Internet aufmerksam verfolgt, konnte jedoch keine „Entfachung“ der seit Jahren anhaltenden Debatte über die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Krieges entdecken. Es gibt viele Fragen, die das heutige Polen spalten; aber mit Sicherheit gehört dazu nicht das Bedürfnis, an die Helden zu erinnern, die Juden gerettet haben.

Die in der Überschrift des Artikels von Croitoru enthaltene Frage kann man entweder als absurd oder als rhetorisch betrachten. Es ist offensichtlich, dass die Haltung der Ulmas, die für die Rettung von Juden ihr Leben ließen, nicht typisch war. Heroische Haltungen sind nie typisch!

Todesstrafe für Helfer

Ebenso wenig war auch die Tätigkeit Irena Sendlers typisch, die zweieinhalbtausend jüdische Kinder vor den deutschen Mördern rettete, indem sie sie hauptsächlich in polnischen Familien und katholischen Klöstern unterbrachte. Ebenfalls nicht typisch war das Schicksal des Kuriers der polnischen Untergrundregierung Jan Karski, der die Tragödie der polnischen Juden 1943 unter anderem Präsident Roosevelt darlegte, was leider keine wirkliche Reaktion auslöste.

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Irena Sendlerowa (oben während des Krieges, unten an ihren 100. Geburtstag) rettete  während der deutschen Besatzung 2500 jüdischen Kindern das Leben.

Die Haltung der Ulmas und Tausender ähnlicher Familien war nicht typisch, wie man auch die Haltung derer nicht als typisch betrachten kann, die versteckte Juden und ihnen helfende Polen erpressten und den Deutschen auslieferten. Auf diese Tat stand nach dem Recht des polnischen Untergrundstaats seit 1943 die Todesstrafe. Dieses Urteil vollstreckte der polnische Untergrund auch an dem Polizisten, der die Ulmas denunziert hatte.

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Jan Karski, der aus dem besetzten Polen in den Westen gelangte Kurier der polnischen Untergrundregierung, schilderte die Tragödie der polnischen Juden 1943 u. a. Präsident Roosevelt sowie den führenden Vertretern der amerikanischen Juden, und stieβ auf taube Ohren.

Typisch war etwas anderes

Das Museum in Markowa ist nicht ins Leben gerufen worden, um zu suggerieren, die Haltung der Ulmas sei typisch gewesen. Ganz im Gegenteil – es soll darauf hinweisen, welche Ausnahme ihr Opfer darstellte, unter anderem auch, um die Ulmas und ähnlich handelnde Menschen als Vorbild für unsere Zeitgenossen und zukünftige Generationen zu zeigen. Ich bin überzeugt davon, dass der Besuch des Museums für diejenigen, die es aufsuchen, unabhängig von ihrer Nationalität vor allem grundlegende Fragen über die Natur des Menschen und über das Wesen von Gut und Böse aufwerfen wird.

Typisch war im von den Deutschen besetzten Polen etwas anderes. Schon in den ersten Wochen wurden Massenexekutionen typisch, vor allem an den Vertretern der polnischen Eliten. Im Februar 1940 sagte Generalgouverneur Hans Frank in einem Interview mit einer deutschen Zeitung: „In Prag waren große rote Plakate angeschlagen, auf denen zu lesen war, dass heute sieben Tschechen erschossen worden sind. Da sagte ich mir: Wenn ich für je sieben erschossene Polen ein Plakat aushängen lassen wollte, dann würden die Wälder Polens nicht ausreichen, das Papier herzustellen für solche Plakate.“

„Endlösung“ auf polnischem Boden

Typisch war in den dem Dritten Reich einverleibten Gebieten die Aussiedlung der polnischen Bevölkerung, die mehr als 800.000 Personen betraf. Typisch waren Razzien auf den Straßen, von denen aus die Festgenommenen ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager kamen und im besten Fall zur Zwangsarbeit geschickt wurden. Typisch war die Zerstörung von Dörfern, bei denen die Häuser abgebrannt und die Bewohner ermordet wurden. In der Gegend von Zamość wurde nicht nur die Aussiedlung der Polen typisch, sondern auch der Raub polnischer Kinder zum Zweck der Germanisierung.

Typisch waren die Zerstörung des gesamten Bildungssystems, Raub und Vernichtung kultureller Werke, die wirtschaftliche Ausbeutung des Landes. Und typisch war schließlich auch die Bestrafung derer, die den Juden halfen, für die die Deutschen die komplette Ausrottung vorgesehen hatten, wobei sie sich als Ort für die „Endlösung“ die polnische Erde ausgesucht hatten. Nach den Anordnungen der Besatzungsmacht stand auf die Unterstützung von Juden durch Polen die Todesstrafe.

Unsere Verpflichtung

All diese Phänomene waren typisch, weil sie nach den Richtlinien Hitlers ausgeführt wurden. Noch vor dem Überfall auf Polen kündigte er den auf dem Obersalzberg versammelten Generälen an, das Ziel der Invasion sei nicht „das Erreichen einer bestimmten Linie“, sondern „die physische Vernichtung des Gegners“, und er erklärte, er habe, vorläufig erst im Osten, Totenkopfverbände rekrutiert und befohlen, ohne jedes Mitleid Männer, Frauen und Kinder polnischer Herkunft und polnischer Sprache zu töten, da nur auf diese Art und Weise der Lebensraum erobert werden könne, den die Deutschen bräuchten.

Dass die Polen Opfer der deutschen (und auch der sowjetischen) Besatzung waren, ist eine historische Tatsache. Und es sind keine besonderen Untersuchungen nötig, um „die polnische Opferrolle zu zementieren“, wie in dem erwähnten Artikel ein Historiker suggeriert. Die Leidensgeschichte der Polen schmälert nicht den Holocaust und das Leiden der Juden.

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Nicht nur auf das Verstecken, auf jede den Juden erwiesene Hilfeleistung stand im besetzten Polen die Todesstrafe. Deutsche Bekanntmachungen.

Das Institut für Nationales Gedenken (IPN) und viele andere Institutionen in Polen untersuchen die Schicksale der Polen, die Juden gerettet haben, nicht um irgendeinen ideologischen Bedarf zu decken. Wir sind der Meinung, dass dies unsere grundlegende Verpflichtung ist gegenüber den Helden, die ihr Leben riskiert und es daher verdient haben, dass ihre Namen im Gedächtnis der Nachfahren erhalten bleiben.

Ungeschehen lässt sich nichts machen

Die Polen sind stolz auf ihre Geschichte, darauf, dass sie sich als Erste Hitler entgegengestellt und bis zum letzten Kriegstag gegen die Deutschen gekämpft haben, was enorme Opfer kostete. Wir erinnern uns daran, dass wir als Einzige im besetzten Europa einen Untergrundstaat geschaffen haben. Er verfügte nicht nur über militärische Strukturen, sondern auch über eine zivile Verwaltung, der auch der Rat für die Unterstützung der Juden, die Źegota, unterstellt war.

Das heißt nicht, dass keine Diskussion über die schwierigen Aspekte dieser Zeit geführt wird, vor allem über die polnisch-jüdischen Beziehungen. Diese Diskussion wurde erst nach dem Fall des kommunistischen Systems möglich. Leider wird sie immer mehr von Radikalen dominiert, was einen echten Dialog erschwert. Die Erinnerung an die Polen, die Juden retteten, macht die Beispiele von Verrat und sogar Verbrechen nicht ungeschehen, genau wie umgekehrt das schändliche Verhalten mancher Polen das Heldentum anderer nicht ungeschehen macht.

Sie haben es verdient

Die Behauptung, man hätte mehr Juden retten können, ist ebenso richtig wie diejenige, die darauf hinweist, dass man von niemandem verlangen kann, das Leben der eigenen Familie zu riskieren. Diese Art der Diskussion trägt nicht nur wenig dazu bei, die Vergangenheit zu verstehen, sondern sie entfernt uns auch von dem, was in dieser Debatte das Wichtigste ist: die fundamentalen Fragen nach dem Verhalten der Menschen in schwerster Zeit.

Es gibt in Polen Streit darüber, wie viele Polen während des Krieges sich für die Hilfe für Juden engagiert haben. Dieser Streit rührt daher, dass während der Besatzung niemand solche Statistiken geführt hat und dieses Thema danach viele Jahre lang nicht untersucht wurde. Unabhängig von dieser Diskussion, ist jedoch eines sicher: Es waren entschieden mehr als die Mitglieder der deutschen Opposition gegen Hitler, über deren Geschichte man in vielen Museen und Gedenkstätten etwas erfahren kann.

Die polnischen Helden, die das eigene Leben aufs Spiel gesetzt haben, um ihre Nächsten zu retten, haben es verdient, dass man an sie erinnert. Statt den Sinn des ihnen gewidmeten Museums in Frage zu stellen, sollte man lieber darüber nachdenken, warum es erst so spät entstanden ist.

Łukasz Kamiński war bis Juli 2016 Präsident des Instituts für Nationales Gedenken in Warschau.
Quelle: F.A.Z.

Rede Staatsprpräsident Andrzej Dudas bei der Eröffnung des Museums in Markowa am 17. März 2016

Ulmowie 2 Andrzej Duda fot.2Es passierte in der Nacht… Sie fuhren hierher auf Umwegen aus Łańcut, hieß es in einer späteren Aussage eines jungen Fuhrmanns, eines Bauern aus einem der Dörfer des Karpatenvorlandes. Deutsche Gendarmen und dunkelblaue Polizisten. Darunter befand sich wahrscheinlich auch derjenige, der, wie man später ermitteln konnte, die Familie Ulma und die bei ihnen wohnenden Goldmans denunziert hatte.

Auf dem Weg sind sie stehen geblieben. Das Haus stand am Dorfrand, daneben befanden sich keine anderen Gebäude. Die Gendarmen und die Polizisten gingen zum Haus Ulmas. Dann hörte man Schüsse. Darauf riefen sie die Fuhrleute und befahlen ihnen, zuzuschauen. Zunächst töteten sie die Söhne von Chaim Goldman und dann ihn selbst. Später töteten sie Józef und Wiktoria Ulma. Einer der Deutschen sagte zu den Fuhrleuten: „Da, seht zu, so sterben polnische Schweine, die Juden helfen.“

Und später wussten sie nicht, was sie mit den Kindern tun sollen, den sechs Kindern von Józef und Wiktoria. Und dann sagte der Kommandant der Gendarmen: „Ihr werdet wohl im Dorfe keine Probleme haben wollen“. Und tötete sie alle, der Reihe nach. Der Mann, der das aussagte, berichtete: „ Zu hören waren Schüsse, Schreie und Wehklagen. Es war erschütternd“.

Warum beschlossen Józef Ulma und seine Frau sich so zu verhalten? Warum entschieden sie sich, unter ihr Dach die Familie Goldman aufzunehmen? Den fast achtzigjährigen Familienvater Chaim, einen Kaufmann aus dem nahe gelegenen Łańcut, seine erwachsenen Söhne, die Töchter und die Enkelin. Warum taten sie das? War es der Appell der Heeresführung des polnischen Untergrundstaates, dass angesichts der Shoah, es eine moralische Pflicht der Polen sei, unseren jüdischen Mitbürgern, Mitbürgern der Rzeczpospolita, der Republik Polen, zu helfen?

Oder war es, weil sie Chaim Goldman und die ganze Familie kannten? Denn in einer solchen lokalen Dorfgemeinschaft kannten sich doch alle. Oder lag es vielleicht am biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das von jemandem im Text jener Bibel unterstrichen wurde, die man später im Haus Ulmas gefunden hatte? Wir wissen es nicht… Keiner weiß die Antwort.

Eines ist sicher. Józef Ulma war ein einfacher Bauer aus dem Karpatenvorland, ein Landwirt. Er war aufgeklärt und intelligent. Er absolvierte vier Klassen Grundschule und dann noch eine landwirtschaftliche Fachschule. Den anderen war er ein Vorbild. Seine Leidenschaft galt der Imkerei, er züchtete Seidenraupen.

Heute würden wir sagen, er war ein lokaler Meinungsbildner. Das war er ganz sicher. Die Menschen holten sich bei ihm Rat. Er machte Fotografien und dokumentierte somit das Leben der dörflichen Gemeinschaft und das seiner Familie. Dem ist es unter anderem zu verdanken, dass dieses Museum so lebhaft und beeindruckend ist. Denn es ist voll von Aufnahmen, die Józef gemacht hatte, auch von Fotos seiner jüdischen Nachbarn und Gäste, die er bei sich aufgenommen hat und mit denen er starb.

Dies hier ist ein sehr bewegendes Museum. Ich bin zutiefst dankbar und im Namen der Republik, im Namen aller meiner Landsleute danke ich all jenen, die zur Entstehung dieser Einrichtung beigetragen haben. Ich danke allen, die dazu beigetragen haben, dass die Familie Ulma, ihre Angehörigen, und alle anderen verewigt wurden, die ihren Schwestern und Brüdern, Mitbürgern jüdischer Abstammung, geholfen haben zu überleben, in einer Zeit des Massakers an ihrem Volk, das während des Zweiten Weltkriegs von den Nazideutschen ausgelöscht werden sollte. Danke, dass dieses Museum ein Denkmal für sie alle sein kann. Danke, denn Polen und die geschichtliche Gerechtigkeit haben ein solches Mahnmal nur allzu dringend benötigt.

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Zum Denkmal der Familie Ulma 1000 m.

Unsere beiden Völker, die Polen und die Juden, lebten tausend Jahre lang auf diesem Boden. Diese tausend Jahre gemeinsamer Geschichte erlebten eine furchtbare Zäsur: Den Holocaust, in dem von Deutschen besetzten Polen. Die Todeslager, ein schwarzes Blatt in der Geschichte des jüdischen Volkes.

Viele Menschen besuchen Polen, um das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau sowie andere Zeugnisse der großen Vernichtung zu besichtigen, die der ganzen Welt als Mahnung dienen sollen, was Hass und kranke Ideologien anstellen können, und wozu ein von ihnen besessener Mensch fähig ist. Aber es entstehen bei uns in den letzten Jahren zum Glück auch andere Orte, jene, die das zeigen, was gut und was schön war in der Geschichte, auch der tragischsten. Zu ihnen gehört mit Sicherheit dieses Museum, ein Museum der Brüderlichkeit, der Barmherzigkeit und der Gemeinschaft. Einer Gemeinschaft von Ort, Heimat, und oft auch des Zusammenhaltens.

Vielleicht hat Józef Ulma die Familie Goldman deshalb bei sich aufgenommen, weil ihr Sohn, genauso wie er, 1939 für die Verteidigung Polens gekämpft hatte. Vielleicht weil es tausende von polnischen Staatsbürgern jüdischer Abstammung waren, die für Polen 1918, 1919, 1920, 1939 und auch später gekämpft haben? Sie kämpften, denn Polen war unsere gemeinsame Heimat, wo sie geboren wurden, wo sie heranwuchsen und lebten.

Und es war zum Glück ein Land, in dem während der schrecklichen Tragödie des Holocausts und beim Versuch „der endgültigen Lösung der jüdischen Frage“, wie es die Führung von Hitlerdeutschland zynisch formulierte, tausende von Polen den Mut aufbrachten, um wahre Mitmenschen und Mitbürger zu sein, um barmherzig zu sein, um jener Lehre zu folgen, die sich für uns alle aus dem christlichen Glauben ergibt, der Nächstenliebe.

Zum Glück gab es auch Menschen, denen es an dieser christlichen Nächstenliebe nicht fehlte, trotz des großen Risikos, trotz des drohenden Todes. Denn im besetzten Polen drohte für Juden erwiesene Hilfe, wie nirgendwo anders in der Welt, die Todesstrafe, die auch ohne jegliche Rücksichtnahme vollstreckt wurde. So wie hier. Es waren ja nicht nur Józef und Wiktoria Ulma sowie ihre Kinder, die so ihr Leben verloren. Es gab dutzende, hunderte von solchen Familien, tausende von Menschen, die dafür, dass sie ihren jüdischen Schwestern und Brüdern, ihren Mitbürgern, geholfen haben, ihr Leben opfern mussten.

Und wenn wir heute an diese dramatische Zeit und an die tausend Jahre gemeinsamer Geschichte zurückdenken, so mögen uns zu einem Wegweiser auf der Wanderung durch diese Zeit all jene Orte werden, die wir heute in einem freien und unabhängigen Polen, dass sich seiner Geschichte bewusst ist, besichtigen können: Das Museum der Geschichte der polnischen Juden POLIN in Warschau, wo sowohl die schönen als auch die traurigen Kapitel gezeigt werden, das nazideutsche Konzentrationslager Auschwitz, aber auch das Museum in Markowa, so wichtig auf dem Weg der gemeinsamen Geschichte.

Ein Museum, das zwar ein tragisches Kapitel zeigt, aber zugleich auch das wichtigste Merkmal der Rzeczpospolita przyjaciół, der Republik der Freunde, veranschaulicht, wo man bereit war das Leben zu opfern für seinen Freund, seinen Bruder und einen Mitmenschen. Möge das, was wir heute bereits gehört haben, all dies bezeugen. Auch die Tatsache, dass der Mord an der Familie Ulma und der bei ihnen versteckten Goldmans, dieses Beispiel der deutschen Greueltaten, andere Einwohner von Markowa, die ja auch Familien hatten und die auch überleben wollten, nicht dazu gebracht hat, Juden auszuliefern, die sie bei sich aufgenommen haben. Denn trotz dieser Tragödie, konnten die Dorfbewohner bis zum Kriegsende 21 Juden bei sich verstecken.

Es ist dies ein ganz bedeutender Ort für die Republik Polen, denn hier wird es uns ganz besonders bewusst, dass wir als Polen Würde empfinden können. Unter uns lebten nämlich solche Menschen, die mehr als nur anständig waren. Sie waren wahre Helden, und als solche sind sie jenen gleichzusetzen, die unter Einsatz von Waffen für die Freiheit Polens gekämpft haben und dabei gefallen sind.

Es gibt da keinen Unterschied. Sowohl die einen wie auch die anderen opferten ihr Leben für andere und für Freiheit. Denn Freiheit bedeutet Würde. Dass sie ihre Nachbarn, Bekannte und manchmal auch zufällige Menschen bei sich versteckten, war eine Absage an Grausamkeit, Verachtung und Hass, und einen Antisemitismus, mit dem sie sich nicht abfinden konnten und mit dem sie sich bis an ihr Lebensende nicht abgefunden haben. Eine Absage an all das, was die Nazideutschen auf polnischen Boden mitgebracht gebracht hatten.

Und als Präsident der Republik Polen möchte ich es heute ganz klar und deutlich sagen: Jeder, der Hass unter Völkern verbreitet, jeder der antisemitische Parolen verkündet, der Antisemitismus verbreitet und ihn schürt, tritt mit Füssen das Grab der Familie Ulma, tritt mit Füssen die Erinnerung an sie, und auch das alles, was sie als Polen verloren haben, indem sie ihr Leben opferten. Es war dies ein Opfer für Würde, Aufrichtigkeit, für Gerechtigkeit und die einem jeden Menschen gebührende elementare Achtung.

Möge dieses Museum, neben anderen Gedenkstätten auch, für alle zu einem großen Zeugnis einer tragischen, aber guten Erinnerung werden sowie zu einer Mahnung, was Hass und Verachtung aus Menschen machen kann.

Und es ist auch gut, dass in all dem die Führung des polnischen Untergrundstaates Härte gezeigt hat. Denn derjenige, der die Ulmas und ihre Gäste, die jüdischen Nachbarn, höchstwahrscheinlich ausgeliefert hatte, lebte nicht mehr lange. Sie starben in der Nacht vom 23. auf den 24. März, und der polnische Untergrundstaat vollstreckte sein Urteil an dem Kollaborateur am 10. September desselben Jahres 1944.

Später ist es noch gelungen, einen der Mörder zu fassen, der auf mindestens drei der Kinder geschossen hatte. Für seine Tat hat er eine Gefängnisstrafe verbüßt. Allerdings wurde zunächst von einem polnischen Gericht die Todesstrafe verhängt. Das Urteil wurde dann zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe umgewandelt und schließlich zu einer 25-jährigen Haft. Der Täter starb im Gefängnis in Bytom.

Es ist gut, dass der polnische Staat ein Urteil im Mordfall fällen konnte und das somit elementare Gerechtigkeit geschehen konnte. So wie jeder Mörder elementare Gerechtigkeit erfahren muss. Dies geschieht in jedem aufrichtigen Rechtsstaat. Und es darf auch kein aufrichtiger Rechtsstaat Volkshetze, nationale Phobien sowie Fremdenhass tolerieren. Und ich glaube fest daran, dass Polen das nie tolerieren wird. Und so wie jetzt der Staat Israel und seine Gründer, belehrt durch die dramatischen Erfahrungen des Holocausts, beschlossen haben, nie einen eigenen Staatsbürger alleinzulassen, und die Sicherheit eines jeden Juden um jeden Preis zu verteidigen, so sollten auch wir, die Polen, und der polnische Staat, das gleiche tun.

Möge die Tragödie des Zweiten Weltkriegs sowohl für das jüdische als auch für das polnische Volk eine dramatische Lektion sein, aus der wir und aus der diejenigen, die nach uns kommen, entsprechende Schlüsse ziehen, und aus der wir den nachkommenden Generationen die Wahrheit darüber vermitteln müssen, was passiert ist, die Wahrheit über den Holocaust, das Heldentum, aber auch manchmal die traurige Wahrheit über das Abscheuliche im Menschen.

Denn Wahrheit baut Brüderlichkeit zwischen Völkern und erlaubt es, freundschaftliche Beziehungen zu entwickeln. Denn eine gute Zukunft kann nur auf Wahrheit aufbauen.

Quelle: Amtliche Übersetzung ins Deutsche, entnommen der offiziellen Internerseite Prezydent.pl




Das Wichtigste aus Polen 5. Juni – 11. Juni 2016

Kommentator Jakub Kukla und Janusz Tycner diskutieren über die wichtigsten Ereignisse der Woche.
Viel Lärm aber kein ganzheitliches Programm für Polen. Die „totale Opposition“ manövriert sich in eine politische Sackgasse.
Erschwingliche Wohnungen für kleine Leute. Regierung stellt ihr groβes Programm des sozialen Wohnungsbaus vor.
Nato-Manöver Anaconda-16: Polen soll nicht wie die Ukraine sich selbst überlassen werden.
„Polnische Todeslager“, „polnische Vernichtungslager“, „in Polen vergast“ – eine internationale Anwaltskanzlei soll der polnischen Regierung helfen gegen diffamierende Umschreibungen des Holocaust in ausländischen Medien vorzugehen.

 




DAS WICHTIGSTE AUS POLEN 13. MÄRZ – 19. MÄRZ 2016

Kommentator Janusz Tycner und Joachim Ciecierski gehen auf die wichtigsten Ereignisse der Woche ein: 71 Jahre nach dem Krieg Museum der Polen die Juden im Zweiten Weltkrieg gerettet haben eröffnet. Zusammenarbeit der Visegrad-Staaten Eckpfeiler der polnischen Außenpolitik unter der neuen Regierung. Trotz Protesten und Kritik sitzt die neue Regierung, laut Umfragen, politisch fest im Sattel. Fünfjähriger Verkaufsstopp für staatliches Agrarland.

http://auslandsdienst.pl/3/24/Artykul/30854,Die-halbe-Wahrheit-ist-nicht-die-Wahrheit




Furor Polonicus

Am 24. April 2015 starb Władysław Bartoszewski.

Niemand ist so vortrefflich, dass kein Makel an ihm wäre. Władysław Bartoszewski wird in allen Nachrufen in Deutschland als ein Mann der Versöhnung und Verständigung dargestellt. Doch Bartoszewski war auch ein Mann des unerbittlichen politischen Kampfes, um ein hartes, oft sehr verletzendes Wort nicht verlegen. Er trat ein in die Geschichte als Widerstandskämpfer gegen die nazideutsche und als Oppositioneller gegen die kommunistische Tyrannei, dessen Verdienste nicht genug gewürdigt werden können. Mit ihm ist zugleich ein Parteipolitiker gestorben, der sich in den letzten Jahren seines Lebens voller Zorn und Verbissenheit mitten ins Gewirr der politischen Konfrontation in Polen stürzte. Er konnte hart austeilen, schrie aber Zeter und Mordio wenn man es ihm mit gleicher Münze zurückzahlte. Schade, dass sehr viele seiner Landsleute ihn vor allem so in Erinnerung behalten werden.

Die Enttäuschung über das einstige Idol spiegelt sich in dem Nachruf von Piotr Zaremba wider, eines sehr nachdenklichen, umsichtigen, konservativen Beobachters der polnischen politischen Szene, geschrieben für das Internetportal „wPolityce.pl“ (“inderPolitik.pl“).

„Was für eine Biografie!“

„Zum ersten Mal habe ich ihn als Gymnasialschüler 1981, während der ersten Solidarność, nicht lange vor der Verhängung des Kriegsrechts, bei einem Vortrag über die polnische Geschichte erlebt, gehalten in einem Warschauer Studentenheim. Es war eine durch und durch oppositionelle Veranstaltung. Der schnell sprechende Herr erwies sich als ein faszinierender Cicerone durch eine Welt, die mit der offiziellen Propaganda nichts zu tun hatte.

Menschen mit konservativen Überzeugungen, polnische Patrioten, die sich den besten Traditionen unserer Geschichte verpflichtet fühlen, sind heute verblüfft, wenn man sie daran erinnert, dass Bartoszewski damals einer von ihnen war. Ein halbes Jahr in Auschwitz, dann in der Heimatarmee, im Warschauer Aufstand, in Mikołajczyks Bauernpartei nach 1945, sechs Jahre in kommunistischen Kerkern, fünf Monate Internierung nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981… Bartoszewski pflegte damals ausschließlich Umgang mit grundanständigen Menschen, die, wie er, viel Schlimmes im kommunistischen Polen hatten durchleiden müssen. Er zeichnete sich durch Zivilcourage aus. Was für eine wunderbare Biografie, und was ist aus ihr geworden!“, schreibt Zaremba.

Der symbolische Professor

Władysław Bartoszewski wurde 1922 in Warschau geboren. Der Vater war Bankdirektor. Das Abitur machte er im Juni 1939, am 1. September marschierten die Deutschen in Polen ein. Es war ihm nicht vergönnt jemals ein Hochschulstudium abzuschlieβen. Bartoszewski studierte während der deutschen Besatzung, ab 1941, Polonistik an der Warschauer Untergrunduniversität, es folgten zwei weitere Anläufe nach dem Krieg: ab 1948 und ab 1958. Der Ausbruch des Warschauer Aufstandes, die Verhaftung nach dem Krieg und zuletzt berufliche und familiäre Verpflichtungen machten jedoch einen Abschluss, geschweige denn das Schreiben einer Doktorarbeit und einer Habilitationsschrift, unmöglich.

Der Professorentitel, mit dem er meistens angesprochen und angeschrieben wurde, war ein symbolischer. Bartoszewski genoss es, vermied konsequent den Sachverhalt richtigzustellen und konnte sehr ungehalten werden, wenn andere es taten.

Dennoch, der beredte, vielbelesene, lebenserfahrene und hochintelligente „nur Abiturient“ war ein gefragter Dozent und Referent in Sachen Politik und neue Geschichte an der Katholischen Universität Lublin, an deutschen Universitäten wie München, Eichstätt und Augsburg. Zwölf Hochschulen in Polen, Deutschland, Israel und den USA haben ihm die Ehrendoktorwürde verliehen. Einige der in den 60er und 70er Jahren erschienenen Forschungen des begabten Autodidakten über das Grauen der deutschen Besatzung in Warschau würden ohnehin den Anforderungen, die an eine Doktorarbeit gestellt werden, mehr als genügen.

Keine Angst vor deutschen Offizieren

Der knapp volljährige Władek folgte dem Rat des Vaters und besorgte sich eine Anstellung beim Polnischen Roten Kreuz, einer der wenigen polnischen Institutionen, die die Deutschen nicht verboten hatten. Doch die Hoffnung, ein Ausweis des PRK würde ihn schützen, trog. Am 19. September 1940 wurde Bartoszewski während einer groβangelegten Razzia in seiner Wohnung in Warschau verhaftet. Mit einem Transport von gut eintausend Warschauer Männern landete er drei Tage später im Konzentrationslager Auschwitz, das damals, in seiner Anfangsphase, für Polen bestimmt war. Der zweite Abschnitt, Birkenau, in dem vor allem Juden, aber auch Zigeuner, Polen und Russen vergast wurden, war noch nicht gebaut.

Zweihundert Tage lang dauerte seine Haft, bis ihn das Rote Kreuz im April 1941 herausholen konnte. Es war ein sehr seltener Glücksfall, aber damals noch möglich.

Kaum wieder zu sich gekommen, engagierte sich Bartoszewski in den Strukturen des Polnischen Untergrundstaates, die der polnischen Exilregierung in London unterstanden. Geleitet von einem konspirativen „Beauftragten der Regierung für die Heimat“, stets auf der Hut vor der Gestapo, überwachten und beeinflussten sie, so gut sie konnten, im Verborgenen alle Lebensbereiche des besetzten Staates. Die konspirative Heimatarmee (AK) war keine „Partisanenbewegung“ sondern ein Teil der Staatsstruktur, eine Armee im Untergrund, die einer zivilen Kontrolle unterstand.

Bartoszewski wurde nach dem Krieg nicht müde, das Wissen und die Erinnerung an dieses damals im besetzten Europa einmalige Gefüge zu pflegen. Die Feststellung „Polen hatte keine Widerstandsbewegung, sondern einen Staat im Untergrund“, war ihm extrem wichtig. Die Kommunisten, die im Nachhinein der legalen Exilregierung jede Legitimation absprechen wollten, hassten ihn dafür.

Er engagierte sich im Propagandawesen des Untergrunds und war zugleich, ab September 1942, im Untergrund-„Innendepartement“ stellvertretender Leiter des Judenreferates und Mitglied des konspirativen, ehrenamtlichen Rates für Judenhilfe (Deckname „Zegota“), in dem sich viele gutwillige Menschen engagierten. Falsche Papiere wurden besorgt, jüdische Kleinkinder in Klöstern untergebracht, Netzwerke der Rettung organisiert, Informationen über den Massenmord an den Juden gesammelt und nach London weitergeleitet, wo die polnische Exilregierung die Alliierten für das Problem zu interessieren versuchte. Auf die Hilfe für Juden stand im besetzten Polen, anders als etwa im okkupierten Frankreich, Holland oder Dänemark, die sofortige Todesstrafe für die Retter und diejenigen, die gerettet werden sollten.

Deswegen rieben sich viele an der Weichsel die Augen, als sie plötzlich in einem Interview für „Die Welt“ im Februar 2011 Bartoszewskis Worte lasen: „Wenn jemand Angst hatte, dann nicht vor den Deutschen. Wenn ein Offizier mich auf der Straße sah und nicht den Befehl hatte, mich festzunehmen, musste ich nichts fürchten. Aber der polnische Nachbar, der bemerkte, dass ich mehr Brot kaufte als üblich, vor dem musste ich Angst haben“.

Schweigen in Israel

Die Organisation zur Rettung von Juden galt als einzigartig im gesamten deutsch-besetzten Europa. 1965 zeichnete die Jerusalemer Holocaust- Gedenkstätte Yad Vashem Bartoszewski mit der Medaille „Gerechter unter den Völkern“ aus. 1991 erhielt er zum Dank die Ehrenbürgerschaft Israels, wo er viele Freunde und Bewunderer hatte.

Umso mehr war man in Polen bestürzt, als Bartoszewski im Juni 2002, als polnischer Auβenminister, eine vielbeachtete Rede im israelischen Parlament hielt, ihm aber seitens etlicher Abgeordneter, mit Knesset-Vizepräsident Reuven Rivlin an der Spitze, blanker Hass entgegenschlug. Der kuriose Kernsatz in der Erwiderung Rivlins lautete: „Allein die Tatsache, dass ein Land sich unter fremder Besatzung im Zweiten Weltkrieg befand, befreit dieses Land nicht von der Verantwortung für alles, was auf seinem Territorium passierte.“

Stumm saβ Bartoszewski, ansonsten ein ungezügelter Polterer und ein Vulkan der Rhetorik, da und hörte sich an, dass die Polen dieselbe Schuld am Holocaust trifft wie die Deutschen. Wer war mehr berufen als er, würdig und besonnen auf solche Verleumdungen zu reagieren, wenigstens den Saal zu verlassen? Rivlin, 1939 in Palästina geboren, ist seit Juli 2014 israelischer Staatspräsident.

Lob für Deutschland

Beachtlich sind auch Bartoszewskis Leistungen auf dem Gebiet der Verständigung mit Deutschland, zu dem er bereits in den 80er Jahren enge Kontakte knüpfte. Als 1995 Bundeskanzler Kohl Polens damaligen Staatspräsidenten Lech Wałęsa nicht zum 50. Jahrestag des Kriegsendes nach Berlin einladen wollte, und die FAZ auf der ersten Seite höhnte: „Polen will fünfte Groβmacht sein“, sprach Bartoszewski wenige Tage vor dem 8. Mai vor dem Bundestag in Bonn. Das unwürdige Einladungsspektakel erwähnte er mit keinem Wort. Doch seine große Versöhnungsrede ging in die Geschichte ein.

Er wurde in Deutschland hofiert, bewundert, mit Auszeichnungen, Ehrentiteln und Stipendien geradezu überhäuft. Er nahm sie gerne an. Allein die Bosch-Stiftung unterstützte sein Buch über die deutsch-polnische Verständigung mit 132.000 D-Mark, heiβt es.

Doch musste er ausgerechnet auch noch die Stresemann-Medaille in Mainz im November 1996 entgegennehmen? Viele in Polen konnten ihr Befremden darüber nicht verbergen. Ohne auch nur ein kritisches Wort in seiner Dankesrede zu sagen, nahm Bartoszewski eine Auszeichnung an, die an einen Politiker erinnert, der als deutscher Auβenminister zwischen 1923 und 1929 den jungen polnischen Staat bekämpfte wo er nur konnte, der aus seiner tiefen Abneigung gegen Polen und seiner de facto auf die Beseitigung Polens abzielenden Revisionspolitik nie ein Hehl gemacht hat. Der Zollkrieg gegen Polen und Locarno sind in diesem Fall nicht die einzigen, aber die wichtigsten Stichworte.

„Im Sommer 2000“, erinnerte sich dieser Tage der Journalist Jedrzej Bielecki in der Zeitung „Rzeczpospolita“ („Die Republik“) vom 24. April, „habe ich erlebt, wie er als polnischer Auβenminister an den EU-Beitrittsverhandlungen teilnahm. Der EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen zählte mit monotoner Stimme alle damaligen polnischen Unzulänglichkeiten auf: Probleme mit der Bakterienzahl in der Milch, zu viel Staatsunterstützung für die Stahlwerke… Irgendwann unterbrach Bartoszewski Verheugen lautstark: »Ich habe Auschwitz ausgehalten, ich werde auch die Verhandlungen mit der EU aushalten!« Damit war das Aufzählen beendet.“, schreibt Bielecki.

Drei Tage später konnte man in derselben Zeitung ein Verheugen-Interview lesen, und in ihm die Feststellung: „Er hat nicht versucht die historische Schuld Deutschlands dazu zu benutzen, um auf mich Druck auszuüben“.

Tadel für Polen

Bartoszewski polterte oft. Nicht wenige in Polen machte das verlegen, sie fanden es unpassend. Manchmal war das ein Poltern auf wahrlich sehr dünnem Eis. Nicht gerade beliebt macht sich ein Auβenminister, der von Deutschland in den höchsten Tönen schwärmt („ein vorbildlicher europäischer Rechtsstaat, ein Land der Toleranz, von dem wir nur lernen können“), in der israelischen Knesset den Kopf in den Sand steckt, angesichts geradezu ungeheuerlicher Anschuldigungen , und im eigenen Parlament wutentbrannt der Opposition, die nach den EU-Beitrittsbedingungen fragt, entgegenschmettert: „Polen (im Polnischen ist Polska weiblich – Anm. RdP) ist eine hässliche Braut ohne Aussteuer, die nicht wählerisch sein kann.“ Bitter waren die Kommentare: „An so einer Braut kann sich ja jeder vergreifen“, schrieb der Publizist Rafal Ziemkiewicz.

Kurz nach Kriegsende ging Bartoszewski als Journalist zur „Gazeta Ludowa“ („Volkszeitung“). Es war das Presseorgan der einzigen noch zugelassenen Oppositionspartei, der Polnischen Bauernpartei unter der Leitung des aus London zurückgelehrten Exilpolitikers Stanisław Mikolajczyk. Die PB war damals eine groβe Volkspartei, die die Kommunisten Schritt für Schritt mit brutalsten Methoden vernichteten. Bartoszewski trat in die PB ein. Dafür wurde er im November 1946 verhaftet und erst im April 1948 entlassen. Die zweite Verhaftung erfolgte im Dezember 1949. Er kam erst im August 1954 wieder frei.

Menschen wie Bartoszewski konnten im kommunistischen Polen nur am Rande der Gesellschaft leben und arbeiten. Für einen Mann, der gerne im Mittelpunkt stand, war das kein angenehmer Zustand. Drei Jahrzehnte lang fristete er dieses Randdasein. Damals entstanden seine wertvollsten Bücher und Artikel, damals hielt er seine interessantesten Vorlesungen. Er und seinesgleichen wurden zum Symbol dafür, dass man auch in dem wie ein Krebsgeschwür alle Gewebe der Gesellschaft durchdringenden Kommunismus, der zumeist auf die niedrigsten Instinkte baute: Anpassung, Lüge, Denunziantentum, dennoch in Würde und mit Anstand leben konnte. Bartoszewski wurde bis 1989 ständig bespitzelt, abgehört, Provokationen ausgesetzt, das geht eindeutig aus den Akten der polnischen Stasi hervor.

Putins Klugheit

Und wieder fragt man sich, was einen Menschenrechtler und Demokraten, wie Bartoszewski bewog im März 2014, auf dem Höhepunkt der Krim-Krise, in der „Thüringer Allgemeinen“ ein Hohelied auf Wladimir Putin anzustimmen: „In einem Fernsehinterview habe ich gesagt, dass ich die Intelligenz von Herrn Putin schätze (…) Ich glaube an Putin, vielleicht mehr als viele andere. Ich schätze seine Klugheit und seine Berechenbarkeit. Berechenbarkeit gehört zum europäischen Denken.“

Verheugen erinnert sich in dem schon zitierten Interview: „Einmal sagte er mir: so viele Jahre lang hat man mir nicht erlaubt zu reden. Jetzt muss ich das nachholen, reden soviel ich nur kann“. Es war für ihn nicht immer von Vorteil.

Der Brückenbauer nach Auβen verwandelte sich im eigenen Land zunehmend in einen rhetorischen Rammbock, grob und ausfallend, grenzenlos von sich selbst überzeugt, bei Retourkutschen aber stets in seiner verdienst- und leidensvollen Biografie Schutz suchend.

Die Selbstblamage einer Koryphäe schmerzt

Piotr Zaremba erinnert in seinem Nachruf: „Noch 2006 hatten wir es mit einem Mann zu tun, der allgemein hohes Ansehen genoss. Die von ihm kurze Zeit später gnadenlos verunglimpften Brüder Kaczyński, die damals regierten, hatten ihn zum Chef des wissenschaftlichen Beirates des angesehenen Polnischen Instituts für Internationale Beziehungen gemacht. Von ihnen nahm er den hochdotierten Posten des Chefs des Aufsichtsrates der staatlichen Fluggesellschaft LOT an. In der linken „Gazeta Wyborcza“ („Wahlzeitung“) pries er den Dialog mit Deutschland, in der konservativen Presse lobte er die von der „Gazeta Wyborcza“ aufs Schärfste bekämpfte Aussonderung von ehemahligen Stasi-Spitzeln aus dem Staatsdienst und den von ihr ebenso verachteten traditionellen Patriotismus“.

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Bartoszewski-Gedenkbriefmarke der Polnischen Post von 2015 mit Bartoszewski-Spruch „Es lohnt sich anständig zu sein“, der ihn leider vor Selbstblamage nicht bewahrt hat.

Die radikale Wende, die sich in seinem Verhalten 2007 vollzog sucht nach Erklärungen. Plötzlich erlebte Polen einen alten Mann, der sich bedingungslos auf eine Seite der politischen Auseinandersetzung stellte, und ab dann bis zuletzt auf Parteitagen von Tusks Bürgerplattform seine politischen Gegner vor johlendem Publikum aufs Übelste beschimpfte. Sie waren für ihn „Vieh“ („bydło“), „Frustrierte“, „Perverslinge“, „Spinnner“, „Trotteldiplomaten“ „vor Hass aufgebläht“, „Nerztierzüchter“ (Anspielung auf Jarosław Kaczyńskis Katze), „Fälle für den Psychiater“…

Sogar die Kommentatorin der ansonsten Kaczyński-feindlichen „Gazeta Wyborcza“ bemerkte im Oktober 2007, dass solche Worte „Bartoszewski nicht gut zu Gesichte stünden.“

Der Kommentator der „Rzeczpospolita“ schrieb damals: „Die Worte Batroszewskis haben mir weh getan, weil die Selbstblamage einer Koryphäe schmerzt. Beleidigungen sind keine Argumente. Er lieβ seinem Unmut und seiner Wut freien Lauf. Damit beschädigte er sich selbst und das Land, dem er so lange gut gedient hatte“.

Władysław Bartoszewski starb im Alter von 93 Jahren in Warschau.

© RdP




Das Schicksal der Familie Ulma

Am Jahrestag des Ghettoaufstandes in Warschau, wird auch der Polen gedacht, die Juden vor dem Holocaust retteten.

Vor dem Krieg war Józef Ulma ein angesehener und allseits beliebter Bauer in seinem Dorf Markowa bei Łańcut, im heutigen Südostpolen. Als Erster gründete er eine Gärtnerei für Obstsetzlinge. Er brachte den Leuten vor Ort die neusten Methoden der Apfelbaumveredelung bei, züchtete Seidenspinnerraupen und Bienen, bekam Auszeichnungen auf regionalen Landwirtschaftsausstellungen. Seine Leidenschaft galt ebenfalls der Fotografie. Ob Hochzeit, Taufe, eine Beerdigung oder nur für ein Passfoto, Józef Ulma war immer zur Stelle, wenn es darum ging Bilder zu machen. Und das zum Selbstkostenpreis. Mit seiner Frau Wiktoria hatte er sechs Kinder. Im Frühjahr 1944 erwartete sie ihr Siebentes.

Das letzte Foto der Familie Ulma.
Das letzte Foto der Familie Ulma.

Während der deutschen Besatzung versteckten die Ulmas, seit Mitte 1942, in ihrem bescheidenen Haus acht Juden. Als sie sie aufnahmen, wussten sie was sie riskierten. Vor ihren Augen hatten deutsche Gendarmen kurz zuvor die meisten der 120 Juden aus Markowa ermordet. Das Haus der Ulmas stand abseits, doch es gelang nicht ihr Geheimnis zu bewahren.

Das Haus der Ulmas in Markowa.
Das Haus der Ulmas in Markowa, Schauplatz des Verbrechens.

Der Denunziant, Włodzimerz Leś, war ein Ukrainer, der bei der polnischen Polizei in Łańcut diente. Leś war vor dem Krieg mit der jüdischen Familie Schall befreundet. Er gewährte ihnen sogar, gegen Bezahlung, eine Zeitlang Unterschlupf bei sich zu Hause. Als die Deutschen jedoch begannen diejenigen, die Juden versteckten, bei Entdeckung an Ort und Stelle gemeinsam mit ihren Schützlingen zu ermorden, jagte Leś die Schalls fort, jedoch nicht ohne ihr ganzes Vermögen zu behalten. Die Schalls fanden Unterschlupf bei den Ulmas, klopften aber einige Male nachts bei Leś an und forderten ihren Besitz zurück. Das wurde ihnen, der Familie Goldmann, die ebenfalls von den Ulmas versteckt wurde, und den Helfern selbst, zum Verhängnis.

Am 23. März 1944 bekamen vier polnische Fuhrleute die Anweisung mit ihren Pferdewagen um Mitternacht vor der Gendarmeriewache in Łańcut zu sein. Die Aktion leitete der Gendarmeriekommandant von Łańcut, der deutsche Hauptmann Eilert Dieken persönlich. Bei Tagesanbruch des 24. März 1944 rückte der Trupp im Haus der Ulmas an. Die Fuhrleute wurden angewiesen, mit ihren Wagen in einiger Entfernung zu warten.

Bald darauf fielen die ersten Schüsse. Zuerst wurden die beiden Brüder Goldmann und ihre Schwester Golda ermordet. Danach riefen die Gendarmen die Fuhrleute heran, sie sollten bei dem Massaker zusehen. Auf diese Weise sollten weitere Polen vom Verstecken von Juden abgeschreckt werden. Als nächster fand einer der Brüder Schall den Tod, dann dessen Frau Lea mit der kleinen Tochter sowie zwei weitere Angehörige der Familie Schall. Anschlieβend kamen der 44-jährige Józef Ulma und seine zwölf Jahre jüngere, hochschwangere Frau Wiktoria an die Reihe, am Ende ihre schreienden und wimmernden Kinder: Stanisława (Stasia), Barbara (Basia), Włodzimierz (Władek), Franciszek (Franek), Antoni (Antos) und Maria (Marysia).

Nun herrschte Stille. Sechzehn Leichen lagen im und vor dem Haus. Die Gendarmen riefen den Dorfschulzen von Markowa, Teofil Kielar herbei, damit er für das Verscharren der Toten sorge, und widmeten sich selbst dem Plündern. Im Licht der Taschenlampen wurden die Opfer durchsucht. Dieken und sein Stellvertreter Joseph Kokott teilten sich die gefundenen Schmuckstücke. Eine der jüdischen Frauen trug eine Schachtel mit Juwelen bei sich. Die übrigen Gendarmen plünderten das Haus. Truhen, Betten, Geschirr, Vorräte türmten sich auf den Fuhrwerken.

Derweil mussten die zwischenzeitlich herbeigerufenen Dorfbewohner eine tiefe Grube ausheben. Als einer von ihnen einen der Gendarmen bat, die Polen und die Juden separat beerdigen zu dürfen, schoss der Gendarm auf ihn, verfehlte jedoch den Mann, der Schütze war schon zu betrunken. Letztendlich willigten die Gendarmen doch noch ein und es wurden zwei Gruben ausgehoben.

Derweil ging Dieken zur Wache der polnischen Polizei des Dorfes und drohte den Kommandanten zu erschieβen, wenn er weiterhin das Verstecken von Juden auf seinem Gebiet toleriere. Die Aktion endete unweit des Tatortes mit einem Besäufnis der Täter, denen der Dorfschulze drei Liter Wodka bringen musste.

Fünf Tage nach dem Mord gruben Nachbarn nachts die Leichen der Ulmas aus und bestatteten sie auf dem Dorffriedhof. Die ermordeten Juden hat man 1947 auf dem Friedhof für Kriegsopfer im benachbarten Ort Jagiele beigesetzt.

Im Jahr 1995 wurden Józef und Wiktoria Ulma posthum mit dem israelischen Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ geehrt, vergeben an Menschen, die ihr Leben einsetzten, um Juden vor der Ermordung zu retten. Von den 24.811 Personen, die ihn bis Ende 2013 zugesprochen bekamen, kommen die meisten (6.454) aus Polen.

Das Denkmal in Markowa.
Das Denkmal in Markowa.

Am 24. März 2004, dem 60. Jahrestag des Geschehens, wurde in Markowa ein kleines Denkmal zu Ehren der Familie Ulma und ihrer Schützlinge enthüllt. Ein Museum das an diejenigen Polen erinnert, die Juden während des Zweiten Weltkrieges retteten, soll den Namen der Familie Ulma tragen. Seine Einweihung wird im März 2016 in Markowa stattfinden.

Das Museum der polen die Juden gerettet haben in Markowa. Entwurf.
Das Museum der Polen die Juden gerettet haben in Markowa. Entwurf.

Museum in Markowa. Satnd der Arbeiten Anfang 2015.
Museum in Markowa. Stand der Arbeiten Anfang 2015.

Den Denunzianten Włodzimierz Leś hat ein Standgericht der polnischen Heimatarmee für sein Verbrechen im Namen der Republik Polen zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde auf offener Straße in Łańcut im September 1944 vollstreckt. Den Gendarmen Joseph Kokott verurteilte ein polnisches Gericht 1958, nach der Überstellung aus der Tschechoslowakei, zum Tode. Die Strafe wurde auf dem Gnadenwege in Lebenslänglich umgewandelt. Kokott starb 1980 in einem polnischen Gefängnis. Hauptmann Eilert Dieken versah nach dem Krieg den Dienst als Kriminalkommissar in Esens. Gegen ihn wurde wegen seiner Verbrechen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, doch ohne Folgen. Dieken starb ohne jemals gerichtlich belangt zu werden.

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Famile Ulma? Falscher Mythos. Schämt euch, ihr Polen!

„Die halbe Wahrheit ist nicht die Wahrheit“

und

„Defiance – jüdischer Widerstand, polnische Debatte“

@ RdP