29.05.2023. Deutschlands Geld und die Versöhnung

In öffentlichen Debatten über Reparationen, die Deutschland Polen für Kriegsschäden schuldet, wird jenseits der Oder oft das folgende Argument angeführt: Da eine Versöhnung zwischen unseren Nationen stattgefunden hat, ist es nicht angebracht, Ansprüche aus der Vergangenheit zu stellen. Manchmal wird in diesem Zusammenhang sogar der berühmte Brief der polnischen  an die deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1965 mit den denkwürdigen Worten „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ zitiert. Als  hätte der Episkopat im Namen des polnischen Staates auf Reparationen verzichtet.

Dies ist eine klassische Verwechslung zweier Perspektiven: der moralischen und der rechtlich-politischen, wo symbolische Gesten finanzielle Verpflichtungen angeblich aufheben. Interessanterweise misst die deutsche Politik dieselbe Angelegenheit mit zweierlei Maß, abhängig davon, ob es sich um west- oder osteuropäische Staaten handelt, von Israel ganz zu schweigen.

Es gab einige bedeutende Versöhnungsgesten deutscher und französischer Staatsoberhäupter und Regierungschefs. Erinnern wir an Konrad Adenauers und General de Gaulles Teilnahme an der Versöhnungsmesse in der Kathedrale von Reims im Juli 1962 und an die Umarmung der beiden anlässlich der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages im Januar 1963. Viele haben bis heute vor Augen, wie Helmut Kohl und François Mitterrand im September 1984 Hand in Hand auf dem Schlachtfeld von Verdun stehen.

Von Geld war anlässlich dieser symbolträchtigen Zeremonien nie die Rede. Ob Reims oder Verdun, wie selbstverständlich zahlte die Bundesrepublik Reparationen aus dem Ersten Weltkrieg an Frankreich weiter. Die letzte Tranche von 70 Millionen Euro hat die Bundesbank im Jahr 2010 nach Paris überwiesen.

Dass Berlin auch ein anderes Maß anwenden kann, das haben die Tschechen schmerzlich erfahren müssen. Es lohnt sich, daran zu erinnern, denn es kann eine wichtige Lehre für andere sein.

Nach der Samtenen Revolution und dem Sturz des Kommunismus wurde Václav Havel Präsident der Tschechoslowakei und war entschlossen, eine Aussöhnung mit Deutschland herbeizuführen. Das lag zum einen an seiner Überzeugung, dass der Weg in den Westen über Deutschland führte, und zum anderen an der zutiefst moralischen Perspektive, die er der politischen Realität zugrunde legte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er bei seinem ersten Auslandsbesuch am 2. Januar 1990 in Bonn bei einem Treffen mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Prinzip der kollektiven Verantwortung und die Gewalt verurteilte, die die Sudetendeutschen während der 1945 durchgeführten Vertreibung aus der Tschechoslowakei auf der Grundlage der Beneš-Dekrete erfahren hatten.

Václav Havel verstand seine Worte als eine großzügige Geste des guten Willens, die den Weg zur Versöhnung öffnete. Er wollte durch einen symbolischen Akt, der seiner Meinung nach die historische Gerechtigkeit widerspiegelt, die Hand zur Aussöhnung reichen. Die Deutschen hingegen sahen darin ein Zeichen der Schwäche und einen Beweis für die Legitimität der von ihren Landsleuten erhobenen Ansprüche. Sie zogen politische Konsequenzen aus dem moralischen Akt und begannen, unter Berufung auf Havels Worte, die Rückgabe ihres in der Tschechoslowakei verbliebenen Eigentums zu fordern.

Dabei ignorierten sie völlig die Gründe, warum die Deutschen nach dem Krieg aus dem tschechischen Sudetenland vertrieben wurden. Sie hatten in der Zwischenkriegszeit eine fünfte Kolonne gebildet, die auf Hitlers Befehl zur Liquidierung des tschechoslowakischen Staates wesentlich beitrug. Prag wollte nicht, dass sich eine ähnliche Situation in Zukunft wiederholen würde.

Die deutschen Ansprüche an die Tschechische Republik wurden in den Folgejahren zu einem Zankapfel zwischen den beiden Staaten. Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher weigerten sich entschieden, den deutsch-tschechischen Nachbarschaftsvertrag zu unterzeichnen, solange dieser eine Bestimmung über die rechtliche Absicherung des Eigentums der Tschechen im ehemaligen Sudetenland nach der Wende enthielt. Die Verhandlungen zogen sich aufgrund der unnachgiebigen Haltung Berlins in die Länge, aber Prag war hartnäckiger und setzte sich schließlich durch. Das Dokument wurde erst 1996 unterzeichnet, während ein ähnlicher Vertrag zwischen Polen und Deutschland bereits 1991 unterschrieben und ratifiziert wurde.

Die Haltung der Deutschen war die größte Enttäuschung Havels in seiner Außenpolitik. Berlin hatte die moralische Geste eines Idealisten und Romantikers auf das Feld der kalten und rücksichtslosen Realpolitik überführt.

Jetzt erleben wir ein ähnliches Verhalten in der Frage der Kriegsreparationen, die Polen geschuldet werden: Der erwähnte Brief der Bischöfe oder die Umarmung zwischen Kohl und Mazowiecki im niederschlesischen Krzyżowa/Kreisau im November 1989 werden auf die finanzielle Dimension reduziert, als ob symbolische Gesten die fälligen Reparationen aufheben würden. Frankreich hatte es da besser.

RdP




Reparationen für Polen. Ein Deutscher spricht Klartext

Deutschland hat sich fast umsonst von der Vernichtung Polens freigekauft.

„Polen sollte eine europäische Initiative zur Wiedergutmachung starten. Die deutsche Heuchelei muss aufgedeckt werden“, sagt Dr. Karl Heinz Roth, Jahrgang 1942, deutscher Historiker und Arzt, Experte der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (SfS) in Bremen, Autor des Buches „Verdrängt, aufgeschoben, abgelehnt. Die deutschen Reparationsschulden gegenüber Polen und Europa“.

Nachfolgend ein Gespräch mit ihm.

Einerseits sagen die Deutschen, dass sie ein tiefes Schuldgefühl für die Verbrechen des Dritten Reiches empfinden, dass sie ihre Vergangenheit aufgearbeitet haben und nichts leugnen. Andererseits lehnen sie nicht nur die Möglichkeit ab, Reparationen an Polen zu zahlen, sondern sogar die Diskussion darüber. Für sie ist der Fall abgeschlossen. Wenn Schuld vorliegt, sollte es eine Wiedergutmachung geben oder nicht?

Karl Heinz Roth.

Auf jeden Fall. Dass dies nicht der Fall ist, liegt am Zynismus der deutschen Machtpolitik. Dieser Zynismus führt dazu, dass die berechtigten Forderungen der Entschädigungsberechtigten als Betteln um Almosen dargestellt werden. Opfern wird das Recht verweigert, das einzufordern, was ihnen zusteht. Dadurch entsteht eine Art Missverhältnis: Ein mächtiger Schuldner entscheidet, wie er die Forderungen derjenigen behandelt, denen er Unrecht getan hat.  Das ist verwerflich und nicht annehmbar.  Deutschland behandelt Polen wie eine schwache, lästige Peripherie.

Sie kommen, zumeist zu bedeutenden historischen Jahrestagen, leisten Abbitte. 

Ja, denn dieses Schuldgefühl wird durch eine sehr wirkungsvolle, gut funktionierende Erinnerungskultur bedient. Aber es gibt keine Bereitschaft, die materielle Seite dieser Erinnerungskultur anzunehmen. Die Opfer und ihre Nachkommen, denen so viel Unrecht widerfahren ist, mussten irgendwie weiterleben. Sie müssen weiterleben. Indem ihnen das Recht auf materielle Entschädigung verweigert wird, wird ihnen erneut Schaden zugefügt. Sie werden auf die Rolle von Bettlern reduziert. Solange auf deutscher Seite keine Bereitschaft besteht, mit Polen unvoreingenommen über Reparationen zu sprechen, ist das ganze Gerede von Schuld nichts weiter als Heuchelei.

Warschau 1946.

Westdeutschland leistete in den 1950er und 1960er Jahren Reparationszahlungen an Israel und den Jüdischen Weltkongress, weil es nach dem Krieg in die internationale Gemeinschaft zurückkehren wollte, und Israel blockierte diese Bemühungen mit Erfolg. Man könnte also sagen, dass die Juden, wenn es um Deutschland ging, eine wirksame Methode gefunden hatten. Was kann Polen tun?

Polen verfügt nicht über ein solches Druckmittel, was unter anderem auf die Ereignisse der letzten Jahrzehnte zurückzuführen ist. Die Regierung in Warschau hat jedoch die Möglichkeit, auf verschiedenen Ebenen Druck auf Deutschland auszuüben.

Die erste Möglichkeit besteht darin, das Thema zu internationalisieren, damit Polen nicht allein handeln muss. Ein möglicher Ort für ein völkerrechtliches Vorgehen wäre, meines Erachtens, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), wo ein Schiedsverfahren angestrebt werden könnte, und auch der Internationale Gerichtshof. Das Thema sollte ebenfalls vor das Europäische Parlament gebracht werden und die Europäische Kommission sollte aktiviert werden. Kurzum, Polen sollte eine europäische Initiative zur Wiedergutmachung starten.

Zugleich sollten wir eine internationale Konferenz zu diesem Thema veranstalten. Damit dies gelingt, ist die Veröffentlichung des Berichts der Parlamentarischen Gruppe des Sejms für Wiedergutmachung über die Kriegsverluste Polens unabdingbar.

Im Fall von Griechenland hat sich die Situation dadurch völlig verändert. Die griechische Regierung hat der deutschen Regierung eine offizielle Note zu diesem Thema übermittelt. Heute fordern die deutschen Grünen, dass Berlin auf die Forderungen Griechenlands mit Respekt reagiert und sie berücksichtigt, anstatt sie einfach beiseite zu schieben.

Warschau im September 1945.

Die Grünen werden wahrscheinlich die neue Regierung in Deutschland mitbegründen. Wenn Polen seine Verluste bewertet und offiziell Reparationen fordert, kann die deutsche Seite dies nicht einfach ignorieren, wie sie es bisher getan hat. Sie wird diese Doppelmoral nicht länger aufrechterhalten können. Diese deutsche Haltung muss entlarvt werden. Zeigen Sie allen diese Heuchelei.

Die Deutschen behaupten jedoch, dass die kommunistische Regierung 1953 auf Reparationen verzichtet und dass das 2+4-Abkommen vom September 1990 die Frage endgültig abgeschlossen habe.

Das ist Unsinn. Für Reparationen gibt es keine Verjährungsfrist. Die Erklärung von 1953, in der die Volksrepublik Polen auf ihre Ansprüche gegenüber Deutschland verzichtete, ist aus völkerrechtlicher Sicht ungültig. Polen war damals kein souveräner Staat und hat diesen Schritt nicht freiwillig, sondern auf Druck der Sowjets, im Interesse ihrer damaligen Deutschlandpolitik getan. Es ging darum den Abschluss eines Friedensvertrags zu erleichtern und die deutsche Vereinigung unter sowjetischen Vorzeichen zu unterstützen, die letztendlich nicht zustande kam. Dieses Dokument ist daher nicht rechtskräftig.

Der 2+4-Vertrag, das Abkommen Deutschlands mit den vier Mächten, ist de facto ein Friedensvertrag, wird aber nicht als solcher bezeichnet, weil Deutschland nicht wollte, dass Reparationen in den Vertrag aufgenommen werden. Bis zur Unterzeichnung dieses Vertrages lehnte die deutsche Regierung jedes Gespräch über Reparationen ab, da sie behauptete, dies könne nur in einem Friedensvertrag besprochen werden.

Warschau im Oktober 1945.

Deshalb ist diese Frage noch immer nicht geklärt, und die Länder, die dieses Dokument nicht unterzeichnet haben, wie z. B. Polen, sind nicht daran gebunden. Deutschland hat Millionen von Menschen ermordet, deren Lebensgrundlagen zerstört und ihre Kultur geplündert. Es hat sich relativ billig aus der Misere herausgekauft. Das ist inakzeptabel.

Sehen Sie sich an, was mit den Reparationen für den deutschen Völkermord während der Kolonialzeit in Namibia geschehen ist. Ich kenne einen Historiker, der als Berater an den Verhandlungen teilgenommen hat. Er hielt mich über den Verlauf der Gespräche auf dem Laufenden. Dort war es dasselbe: Man versuchte, das Wort „Reparationen“ nicht zu verwenden, sondern sprach von freiwilliger Entwicklungshilfe für Namibia. Ein weiteres Almosen anstelle von Reparationen.

Ich habe mehrfach an Debatten über deutsche Kolonialverbrechen teilgenommen. Jedes Mal warnten mich fortschrittliche Kollegen davor, die Frage der Reparationen an Namibia zu richten, weil dann andere ehemalige Kolonien wie Kamerun oder Togo auf den Plan treten würden. Dies war auch 1975 der Fall, als Deutschland Polen ein Darlehen von 1 Milliarde Mark gewährte, das als „humanitäre Hilfe“ dargestellt wurde.

Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, sagte in einem Interview, dass die Deutschen Polen nicht mehr mit dem Krieg in Verbindung brächten und nicht sagen könnten, welche Nation am meisten unter dem Krieg gelitten habe. Und die rituellen Gesten, die anlässlich verschiedener Jahrestage gemacht werden, sind leer geworden. Wie wirkt sich dies auf die Reparationsdebatte aus?

Warschau im Juli 1945.

Es handelt sich in der Tat um ein bestimmtes Phänomen, das vor allem bei der jüngeren Generation der Deutschen zu beobachten ist. Bis heute ist es nicht gelungen, bei den Deutschen ein Bewusstsein für die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen zu schaffen, die sich aus der deutschen Besatzungspolitik in Europa ergeben. Jedes Mal, wenn ich versuchte, die Frage der Reparationen für Polen mit Politikern der Grünen zu diskutieren, wollten sie nicht darüber sprechen. Junge Menschen. Dies ist ein großes Problem, dem wir uns stellen müssen. Wir müssen nach Möglichkeiten suchen, diese Blockade zu durchbrechen.

Ich war daran beteiligt, all diese griechisch-deutschen Initiativen auf den Weg zu bringen, die wahrscheinlich zu einem Kompromiss über Reparationen für Athen führen werden. Im Jahr 2013 schrieb ich über diese Reparationsschulden Deutschlands gegenüber Griechenland. Dadurch wurde mir klar, dass meine Sichtweise zu eng war, und ich habe sie erweitert. In den Jahren 2015 und 2016 fanden große Konferenzen mit deutschen und griechischen Historikern statt, die der Debatte neuen Schwung verliehen.

Ich denke, dass auch im Falle Polens solche zweiseitigen Initiativen notwendig und wirksam wären. Es muss Druck auf die deutsche Regierung ausgeübt werden, insbesondere von deutscher Seite. Die griechische Lobby in Deutschland spielte dabei eine wichtige Rolle. Auf polnischer Seite gibt es keine solche Lobby, und die Abneigung in Deutschland gegen Polen ist enorm und wächst.

Der Bundestag hat sich vorerst darauf geeinigt, in Berlin ein Denkmal für die polnischen Opfer des Krieges zu errichten, verbunden mit einem Begegnungszentrum. Ist das ein Trostpreis?

Warschau im Oktober 1945.

Dieses Denkmal ist ein weiteres Zugeständnis an die Erinnerungskultur. Ein kleiner Apfel, um uns vor der Ernte, d.h. vor den Reparationen zu schützen. Ein kleiner Schritt, um die Reparationsdebatte in Polen zu neutralisieren. Eine solche Gedenkstätte kostet wenig. Da sind wir also wieder beim deutschen Zynismus. Polen sollte sich mit einem Museum und einem Denkmal begnügen. Es bleibt die Frage, wann all diese Tricks aufhören werden.

Deutschland versteht sich heute als modernes, fortschrittliches, weltoffenes und tolerantes Land. Ein Land, auf das dieser düstere Abschnitt der Geschichte nicht mehr passt. Vielleicht ist das der Grund für die Zurückhaltung bei der Diskussion über Reparationen? Die Stiftungen deutscher Unternehmen, die früher von der Zwangsarbeit profitiert haben, wollen nicht mehr Geld für die Entschädigung der Opfer spenden, sondern Workshops für junge Menschen über Demokratie und die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Faschismus organisieren.

Genau das ist der Fall, und ich habe es am eigenen Leib erfahren. Ich habe einmal in Köln einen Vortrag in einer Gedenkstätte gehalten. Der Vortrag wurde aufgezeichnet und von der Henkel-Stiftung übernommen. Er löste eine heftige interne Diskussion aus. Oder besser gesagt: einen Streit. „Hier muss man nach vorne schauen, in die Zukunft, während er sich mit der Vergangenheit beschäftigt.“

Deshalb muss der Druck auf Deutschland global sein, die USA und die jüdische Diaspora sollten Druck auf Deutschland ausüben. Ich habe mir das Abkommen zwischen Israel und Westdeutschland aus dem Jahr 1952 genau angesehen, und es ist ein klassisches Reparationsabkommen. Es finanzierte den Aufbau des Staates Israel. Die deutsche Bürokratie wird sich sicherlich dem Druck der Amerikaner und der jüdischen Lobby in den USA beugen. Bald wird mein Buch in Übersee erscheinen, und ich erwarte eine Diskussion, die auch die jüdische Welt mit einbeziehen wird.

Warschau im Februar 1946.

Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber die jüdische Welt zieht es vor, über die angebliche Mitschuld Polens am Holocaust zu debattieren und Forderungen an den polnischen Staat zu stellen.

Ich weiß, und auch hier ist eher eine offensive als eine defensive Haltung gefragt. Polen darf in diesem Kampf nicht alleinstehen, sonst verliert es seine Glaubwürdigkeit.

In der deutschen Debatte um die Reparationen wird immer wieder das Argument vorgebracht, dass Deutschland die von Polen geforderte Summe von fast 1 Billion Euro nicht aufbringen kann, dass andere Länder hinter Polen in die Schlange anstellen und die Zahlungen kein Ende nehmen werden.

Das deutsche Wirtschaftspotenzial ist so groß, dass das Land die Reparationen problemlos tragen kann. Deutschland hat über zwanzig Jahre hinweg 1,2 Billionen Euro für die Eingliederung der ehemaligen DDR ausgegeben. Das war überhaupt kein Problem. Die strukturellen Defizite der neuen Bundesländer, die sich sonst negativ auf das Wirtschaftswachstum des wiedervereinigten Deutschlands ausgewirkt hätten, wurden so beseitigt.

Warschau im Herbst 1945.

Die Zahlungen an die europäischen Länder, die am meisten unter der deutschen Besatzung gelitten haben, insbesondere an die sogenannten „kleinen Alliierten“, sollten daher kein Problem darstellen. Sie würden keine Krise in Deutschland auslösen.

Natürlich muss die Wiedergutmachung nicht ausschließlich finanzieller Art sein. Man kann sich Unterstützung für die von Deutschland zerstörten Städte vorstellen, Technologietransfer, Kapitalbeteiligung. Viele Opfer des Dritten Reiches leben heute in Armut. Der deutsche Staat sollte ihnen Renten zahlen.

Aber wir werden nur darüber reden können, wenn es uns gelingt, im Rahmen einer größeren europäischen oder internationalen Initiative Druck auf Berlin auszuüben. Polen braucht in diesem Kampf Verbündete. Andernfalls wird nichts geschehen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die derzeitige polnische Regierung, nach Ansicht der liberalen Elite, einschließlich der in Washington, die falsche ist. Die Polen fordern Reparationen, weil sie die Deutschen nicht mögen oder weil sie eine antideutsche Stimmung auslösen wollen, um in der Innenpolitik Land gut zu machen. Wie kann das überwunden werden?

Das ist es, was mir die Masse der deutschen und anderen Historiker vorwirft. Dass ich die polnischen Rechtspopulisten und ihre bösen Absichten unterstütze. Wenn man keine anderen Argumente hat, greift man zum politischen Knüppel. Und ich bin ein alter Linker. Das ist natürlich nur ein Vorwand, um den gerechten Forderungen Polens nicht nachgeben zu müssen. Ziemlich erbärmlich, um genau zu sein.

Warschau im Herbst 1945.

Gibt es ein Land, das Reparationen von Deutschland fordert und jetzt eine Chance, diese zu erhalten, wenn auch nur teilweise?

Griechenland. Die so genannte Zwangsanleihe, die Griechenland während des Krieges dem Dritten Reich gewähren musste, wird wahrscheinlich zurückgezahlt werden. Ich hoffe, das wird vom neuen Bundestag verabschiedet, weil die griechische Lobby bei den Grünen stark vertreten ist. Wahrscheinlich werden die Grünen versuchen, das auch in den Koalitionsvertrag zu bringen.

Das könnte die Frage der polnischen Ansprüche positiv beeinflussen, allerdings nur, wenn der Bericht über die polnischen Kriegsverluste veröffentlicht wird. Das Fenster ist schmal und kann sich ebenso schnell wieder schließen, wie es sich öffnet. Diese Gelegenheit darf nicht verpasst werden.

Das Interview erschien im Wochenmagazin „Sieci“ („Netzwerk“) vom 18.Oktober 2021.

Lesen Sie dazu auch:

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen“ Teil 1. Beweggründe, Argumente, Pläne.

„Deutsche Reparationen – polnische Positionen“ Teil 2. Akten, Aufstellungen, Analysen. Was hat Polen in der Hand.

„Deutsche Reparationen an Polen. Wie viel und wofür?

RdP




Deutsche Reparationen an Polen. Wie viel und wofür?

Die erste vollständige polnische Verlustbilanz ist fertig.

Das polnische Regierungslager wird nicht müde, die Kriegsreparationsfrage zu beleben. Nun liegen die polnischen Forderungen auf dem Tisch. Welches Denken und Handeln verbirgt sich dahinter?

Arkadiusz Mularczyk

Arkadiusz Mularczyk wurde 1971 in Racibórz/Ratibor geboren. Er ist von Beruf Rechtsanwalt, seit 2005 Sejm-Abgeordneter der Partei Recht und Gerechtigkeit. Seit September 2017 bekleidet er den Vorsitz eines fünfzehnköpfigen Gremiums, der Parlamentarischen Arbeitsgruppe zur Schätzung der Polen von Deutschland zustehenden Reparationen. Das Interview mit Arkadiusz Mularczyk erschien im Wochenmagazin „wSieci“ („imNetzwerk“) am 19. Mai 2019.

Frage: Die laufende Legislaturperiode des polnischen Parlaments geht im Oktober 2019 zu Ende. Sie leiten im Sejm ein Expertengremium, das sich mit dem Thema deutsche Reparationen beschäftigt. Wie weit sind Sie? Wird Polen seine Zerstörung während des  Zweiten Weltkrieges in Rechnung stellen?

Arkadiusz Mularczyk: Daran arbeiten wir seit September 2017. Damals entstand, auf Anregung von Jarosław Kaczyński, die „Parlamentarische Gruppe zur Bezifferung der Höhe der Polen zustehenden deutschen Reparationen für Schäden, die dem Land während des Zweiten Weltkrieges zugefügt wurden“. Der vollständige Name unseres Gremiums klingt zugegebenermaßen etwas umständlich, er umschreibt aber genau seine Aufgaben.

Es ging darum, einen Bericht über die Kriegsverluste zu erstellen und dadurch unser Wissen darüber zu vertiefen. Nach eineinhalb Jahren

Sechzig Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Polnische Briefmarke von 2005.

kann ich reinen Gewissens sagen, dass wir diese Aufgabe erfüllt haben.

Wann werden wir den Bericht lesen können?

Der Bericht ist fertig. Mitgewirkt an ihm haben sehr angesehene Wissenschaftler. Entstanden ist ein umfangreiches Papier, das die Berechnungen polnischer Kriegsverluste ausführlich darstellt,  oft  geht es um unterschiedliche Bereiche, die keine Berührungspunkte aufweisen.

Am Anfang steht ein historischer Abriss, den eine Historikergruppe vom Institut des Nationalen Gedenkens (entspricht in etwa der deutschen Gauck-Behörde – Anm. RdP) unter Leitung von Prof. Włodzimierz Suleja erstellt hat. Dann folgt ein Rechtsgutachten. Dr. habil. Robert Jastrzębski (fonetisch Jastschembski) und Dr. Przemysław Sobolewski vom Juristischen Dienst des Sejm beschreiben die Rechtsgrundlagen unserer Reparationsansprüche an Deutschland. Es geht weiter mit einem Kapitel, das die Geschichte der Reparationsfrage seit Kriegsende in den polnisch-deutschen Beziehungen behandelt. Dann folgt die Aufstellung der Schäden und ihrer Kosten. Entstanden ist ein vielschichtiger Bericht, ein guter Ausgangspunkt für unsere weiteren Bemühungen um Reparationen und weitere Forschungen.

Siebzig Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Polnischer Briefmarkenblock von 2015.

Wann wird der Bericht veröffentlicht?

Zuerst bekommen ihn die wichtigsten Personen im Staat: der Staatspräsident, der Premierminister, auch der Vorsitzende der Regierungspartei Jarosław Kaczyński. Sie werden entscheiden, wie weiter verfahren wird. Ich bin mir sicher, sie werden ihn nicht lange der Allgemeinheit vorenthalten. Keine schlechte Idee wäre es, den Bericht am 1. September 2019, zum achtzigsten Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, zu veröffentlichen.

Gedenkstätte Auschwitz. Polnische Briefmarke von 1967.

Auf wie hoch beziffern Sie die gesamten polnischen Verluste?

Der Bericht des Büros für Kriegsentschädigungen von 1947 schätzte die polnischen Verluste auf 48 Milliarden US-Dollar. Heute entspricht das einer Summe von mehr als 850 Milliarden US-Dollar. Ich möchte jetzt den Betrag, auf den wir gekommen sind, nicht nennen. Zuerst sollen ihn die erwähnten Führungspersonen erfahren. Ich kann jedoch sagen, dass unsere Schätzungen diesen Betrag deutlich übersteigen.

Dreiβig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Polnische Briefmarke von 1975.

Ist das mehr als eine Billion US-Dollar?

Sie sind nahe dran.

Was verbirgt sich hinter dieser Summe?

Vor allem Schäden, die durch Bevölkerungsverluste entstanden sind . Zwei Wissenschaftler von der Universität Łódź (Lodsch – Anm. RdP), Prof. Jan Sztaudynger und Dr. habil. Paweł Baranowski, untersuchten den Verlust an Bruttoinlandsprodukt (BIP) durch die  verlorenen Gehälter der Getöteten.

Wir haben einen präzisen Ausgangspunkt genommen: Wie war die durchschnittliche Lebenserwartung im Vorkriegspolen, wie lang die durchschnittliche Lebensarbeitszeit und wie hoch waren damals die durchschnittlichen Löhne und Gehälter. Hinzugerechnet haben wir die Verluste, die aufgrund der kriegsbedingten Invalidität entstanden sind. Weiter hinzu kamen die Verluste, die Polen erlitten hat, weil gut zwei Millionen seiner Bürger Zwangsarbeiter waren. Dann die 200.000 geraubten und germanisierten polnischen Kinder, von denen nach dem Krieg gerade mal 30.000 wiedergefunden wurden.

Das alles hatte einen Einfluss auf die Produktivität unserer Gesellschaft sowie das BIP.  Zuvor mussten natürlich die Bevölkerungsverluste berechnet werden.

Polnische Briefmarke von 2018. Auschwitz-Birkenau ca. 1,1 Millionen Opfer.

Wer hat das gemacht?

Prof. Konrad Wnęk (fonetisch Wnenck) von der Jagiellonen Universität in Kraków. Aus seinen Berechnungen geht hervor, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg 5,2 Millionen polnische Bürger ermordet haben.

Bisher war immer von sechs Millionen die Rede.

Diese Zahl kursiert seit kurz nach Kriegsende. Damals, im kommunistischen Polen, hat man aus politischen Gründen die Opfer sowjetischer Verbrechen den Deutschen angerechnet. Die von Prof. Wnęk ermittelte Zahl von 5,2 Millionen, das sind polnische Staatsbürger, die Deutsche ermordet haben. Von ihnen waren 150.000 Soldaten, der Rest Zivilisten.

Gedenkstätte Vernichtungslager Auschwitz.-Monowitz. Ungefähr 25.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Die Zahl von 5,2 Millionen Menschen umfasst nicht die ukrainischen Wolhynien-Morde an etwa 100.000 Polen von 1943-1944, obwohl sie ebenfalls den Deutschen zugerechnet werden könnten. Schlieβlich passierte dieser Völkermord in Gebieten, die das Dritte Reich als Besatzungsmacht verwaltete.

Darunter befinden sich auch nicht, die polnischen Opfer sowjetischer Massendeportationen zwischen 1939 und 1941 im sowjetisch besetzten Ostpolen, die irgendwo in Sibirien, Kasachstan usw. ermordet wurden oder diejenigen, die aufgrund der schrecklichen Lebensbedingungen gestorben sind. Ebenso wenig das für die etwa 22.000 in Katyn, Charkiw, Twer, Kiew und Minsk von den Sowjets ermordeten polnischen Offiziere und polnischen Opfer anderer sowjetischer Verbrechen.

Vernichtungslager Majdanek. Polnische Briefmarke von 1946.

Wie groβ waren die polnischen Bevölkerungsverluste im Zweiten Weltkrieg insgesamt?

Bei Ausbruch des Krieges zählte Polen 35,3 Millionen Einwohner. Im Jahr 1946 waren es nur noch 23,9 Millionen. Die Einwohnerzahl hatte sich also um 11,4 Millionen verringert, von denen ein Teil in Ostpolen verblieben war. Dieses Gebiet wurde von der Sowjetunion am 17. September 1939 besetzt und 1944-1945 endgültig von ihr annektiert. Heute ist es Teil von Litauen, Weiβrussland und der Ukraine.

Verstehen wir das richtig? Es geht um die Gesamtbevölkerung Polens, ohne Berücksichtigung der nationalen Herkunft.

Gedenkstätte Vernichtungslager Majdanek. Ungefähr 80.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1962.

Selbstverständlich. Ob Polen, Juden, Weiβrussen, Ukrainer, Armenier, sie alle waren polnische Staatsbürger. Während des Zweiten Weltkrieges verloren in Polen jeden Tag durchschnittlich etwa dreitausend dieser Menschen das Leben.

Gedenkstätte Vernichtungslager Majdanek. Polnische Briefmarke von 1968.

Bezogen auf die Bevölkerungsverluste haben sie sich auf den dadurch hervorgerufenen  Verlust an Bruttoinlandsprodukt konzentriert. Gibt es in ihren Berechnungen keinen festen Wiedergutmachungsbetrag für genommenes Leben?

Nein. Es gibt auch keinen Betrag für den Verlust nachfolgender Generationen, der Kinder und Enkelkinder der Ermordeten. Unser Ausgangspunkt war, möglichst präzise, wissenschaftliche Kriterien anzuwenden, auch wenn diese uns in Anbetracht der menschlichen Tragödien schrecklich technisch vorkommen müssen.

Gedenkstätte Vernichtungslager Treblinka. Ungefähr 800.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1964.

Die Verluste an entgangenem Einkommen der Ermordeten und Verwundeten machen etwa Dreiviertel der Gesamtsumme der polnischen Forderungen aus. Das ist eine andere Gewichtung als in dem Bericht des Büros für Kriegsentschädigungen von 1947, in dem diese Verluste nur 25 Prozent der Forderungen ausgemacht haben.

Woher kommt dieser Unterschied?

Heute können wir viel genauer messen, wie sich der Tod eines Einzelnen auf die Minderung des BIP ausgewirkt hat. Es gibt da inzwischen eine ziemlich präzise, leicht nachprüfbare wissenschaftliche Methode.

Haben sie Fachleute aus dem Versicherungswesen hinzugezogen?

Das wurde erwogen, aber letztendlich haben wir uns für die Berechnung entgangener Einkommen entschieden. Den objektiven Wert eines Menschenlebens kann man kaum anhand von, zum Beispiel, einer hypothetischen Versicherungspolice ermitteln, weil Versicherungspolicen in unterschiedlicher Höhe abgeschlossen werden, abhängig vom Vermögen, dem sozialen Status, dem Gesundheitszustand, dem Alter des Versicherten usw.

Soll das heiβen, dass sie selbständig eine neue Vorgehensweise entwickelt haben?

Das war eine Pionierarbeit, die auf der Analyse einer riesigen Zahl statistischer Angaben beruhte: der Lebenserwartung, der durchschnittlichen Einkommen, der damals erwarteten Wachstumsdynamik der polnischen Wirtschaft und der Einkommen. In unseren Annahmen, das möchte ich ganz stark unterstreichen, waren wir sehr zurückhaltend.

Zum Beispiel wuchs Polens Wirtschaft in den letzten Vorkriegsjahren um bis zu zehn Prozent pro Jahr. Vorher jedoch war das Wachstum deutlich niedriger. Wir haben den Mittelwert für 1919-1938 genommen, obwohl man davon ausgehen kann, dass die gute Konjunktur noch eine Zeitlang angehalten hätte. Auch haben wir zu diesem Thema Gegengutachten angefordert.

Gedenkstätte Vernichtungslager Chełmno/Kulmhof bei Łodź/Lodsch. Ungefähr 200.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1965.

Und die materiellen Verluste? Das zerstörte Warschau, Dutzende andere Städte schwer beschädigt, Hunderte niedergebrannte Dörfer.

Damit beschäftigte sich die gröβte Fachgruppe unter der Leitung von Prof. Mieczysław Prystupa von der Warschauer Technischen Hochschule. Ihr fiel die wohl schwierigste Aufgabe zu. Sie musste die Zerstörungen von und an Wohngebäuden, gewerblich genutzten Bauten, Architekturdenkmälern, Kirchen, ingenieurtechnischen Bauten schätzen. Hinzu kamen die Verluste im Energieversorgungswesen, in der Industrie und im Handwerk.

Wiederaufbau Warschaus. Polnische Briefmarke von 1950.

Ein weiterer Gegenstand waren vernichtete Agrarflächen, kriegsbedingtes Nichtbewirtschaften von Agrarland, Ernteeinbuβen, die Enteignung und Beschlagnahmung von Höfen und lebendem Inventar. Die erzwungene regelmäβige, unentgeltliche Ablieferung von Getreide, Fleisch und Milchkontingenten durch polnische Bauern. Aus dem Generalgouvernement wurden allein 1942 und 1943 auf diese Weise 663.000 Tonnen Getreide, 27.500 Tonnen Zucker usw. ins Reich geschafft. In dieser Kategorie haben wir auch die massenweisen Raubrodungen von polnischen Wäldern erfasst.

Berechnet wurden ebenso entfallene Einkommen (Mieten, Pachten) aus zerstörten Gebäuden. Wir haben auch versucht, die Verluste an Vermögen der polnischen Armee, der Eisenbahn, Post, der staatlichen Verwaltung, der Forstverwaltung, des Flugwesens usw. zu ermitteln. Es sind riesige Summen und dennoch machen sie am Ende weniger als zwanzig Prozent aller polnischen Verluste aus.

Gedenkstätte Gefängnis und Durchgangslager Łódź/Lodsch-Radogoszcz/Radegast. Ungefähr 3.500 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Weniger als zwanzig Prozent?

Wir haben alle Wertermittlungen sowohl aus dem Bericht von 1947 als auch aus anderen Quellen zusammengetragen. Auch wir waren erstaunt, dass die materiellen Verluste weniger als zwanzig Prozent der polnischen Kriegsschäden ausmachen, aber das ergibt sich aus objektiven Berechnungen. Einen viel höheren Wert hat das verlorengegangene menschliche Kapital.

Beinhaltet die Berechnung von weniger als zwanzig Prozent der materiellen Verluste zum Beispiel auch das Königsschloss in Warschau?

Selbstverständlich. Die Verluste von Kulturgütern sind in einem separaten Kapitel aufgeführt. Wir unterstreichen darin, dass die Deutschen mit aller Rücksichtslosigkeit planmäβig die Vernichtung des gesamten polnischen Kulturwesens durchgeführt haben. Sie zerstörten alles: das Bildungswesen, Museen, Archive, Bibliotheken, Kulturdenkmäler, Theater, das Musikwesen, die bildenden Künste.

Es genügt nur zu erwähnen, dass die deutschen Brand- und Sprengkommandos, nach der Kapitulation des Warschauer Aufstandes Anfang Oktober 1944, das menschenleere Warschau  bis Anfang Januar 1945 planmäβig ausraubten und zerstörten. Noch am 14. Januar 1945 hatten sie die Zeit gefunden die Warschauer Stadtbibliothek mit Flammenwerfern in Brand zu stecken. Das Königsschloss, das Nationalmuseum und fast alle anderen Kulturdenkmäler Warschaus waren bereits vernichtet. Zwei Tage später marschierten die Russen ein.

Alles in allem handelte es sich um eine systematische Aktion der Kulturvernichtung, die gegen alle Bestimmungen des Völkerrechts verstieβ. Diese Verluste zu schätzen war nicht einfach.

Welche Methode haben sie gewählt?

Wir gingen davon aus, dass Meisterwerke eigentlich unschätzbar sind. Alles andere lässt sich beziffern, und das haben wir getan.

„Westverschiebung“ Polens 1945.

Polen wurde 1945 nach Westen „verschoben“. Welche Gebiete werden eigentlich in ihrem Bericht berücksichtigt?

Ausschließlich das heutige polnische Kernland, also weder die an die Sowjets verlorenen polnischen Ostgebiete noch die ehemaligen deutschen Ostprovinzen, die heute zu Polen gehören.

Menschliche Verluste, materielle Verluste, Kulturgüter. Was noch haben sie in ihrem Bericht erfasst?

Die Verluste im Banken- und Versicherungswesen, welche Prof. Mirosław Kłusek von der Universität Łódź berechnet hat. Wir hatten vor dem Krieg in Polen einige gut aufgestellte Banken, ein entwickeltes Versicherungswesen und ein weitverzweigtes Sparkassennetz. Alle ihre Bestände wurden geraubt: Einlagen, Reserven, Obligationen, Gold, Devisen, sie gelangten in den deutschen Wirtschaftskreislauf.

Gedenkstätte Gefängnis und Durchgangslager in der Rotunde von Zamość. Ungefähr 10.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1968.

Und kreisen dort bis heute.

Ein Teil davon ganz sicher. Diese Verluste wurden im Bericht von 1947 nicht erwähnt. Wir haben das nachgeholt. In unserem Bericht beschreiben wir auch den Mechanismus der wirtschaftlichen Ausbeutung Polens unter deutscher Besatzung. Er bestand darin, dass die gesamten Besatzungs- und Ausbeutungskosten durch Steuern, Kontingente, Zwangsarbeit, Raub usw. auf die polnische Bevölkerung abgewälzt wurden.

Wir haben zudem eine ganze Reihe von neuen Unterlagen ans Licht gebracht. Hier sind weitere Untersuchungen notwendig.

Wer soll sie durchführen?

Der polnische Staat sollte dazu eine Forschungseinrichtung ins Leben rufen, z. B. ein Büro für Kriegsentschädigungen, das sich der Sache systematisch und professionell annimmt. Jedes Mal, wenn wir eine neue Tür geöffnet haben, sahen wir dahinter einige weitere.

Man könnte viele interessante Forschungsmethoden anwenden, Vergleiche anstellen. Man kann, das haben wir in unserem Bericht getan, z. B. Polen und Spanien nebeneinander stellen. Beide Länder hatten 1938 eine vergleichbare Bevölkerungszahl, eine vergleichbare territoriale Gröβe und befanden sich auf demselben Niveau der Wirtschaftsentwicklung. Spanien war weder vom Zweiten Weltkrieg noch vom Kommunismus unmittelbar betroffen. Die spanische Wirtschaft belegt heute den zwölften Platz auf der Weltrangliste, die polnische den dreiundzwanzigsten. Wir entwickeln uns schnell, aber unser Nachholbedarf ist immer noch enorm. Das ist auch eine Folge des Zweiten Weltkrieges.

Gedenkstätte Vernichtungslager Stutthof. Ungefähr 65.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Haben sie in ihrem Bericht anhand konkreter Beispiele das Ausmaβ der Verwüstungen verdeutlicht?

Ja, er enthält einige Fallstudien. Da ist zum einen Warschau, dessen Verluste Ingenieur Józef Menes dargestellt hat. Seine Arbeit ist nicht zu unterschätzen.

Wir haben auch den Fall Wieluń dargestellt (Am frühen Morgen des 1. September 1939 hat die deutsche Luftwaffe die militärisch unbedeutende Kleinstadt gröβtenteils zerstört. 1.200 Menschen kamen ums Leben – Anm. RdP).

Auβerdem erwähnen wir die südostpolnische Kleinstadt Nowy Wiśnicz, wo deutsche Besatzer die Karmeliterkirche dem Erdboden gleichgemacht haben. Im benachbarten Nowy Sącz (Neu Sandez) haben deutsche Truppen das gesamte prächtige Schloss der polnischen Könige in die Luft gesprengt.

Wir erwähnen auch die Gegend um die Stadt Zamość, hinter Lublin, in Ostpolen, von wo etwa 110.000 Polen vertrieben wurden, um deutschen Kolonisten aus Bessarabien, Bosnien, Serbien Platz zu machen. Allein dort haben die Besatzer an die dreiβigtausend Kinder ihren Eltern entrissen und zur Germanisierung nach Deutschland gebracht. Etwa ein Sechstel der von dort vertriebenen Polen gelangte nach Auschwitz. Die meisten überlebten nicht. Wir verdeutlichen diese Tragödie am Beispiel des Dorfes Sochy.

Nehmen sie in dem Bericht Stellung zu dem polnischen Verzicht auf deutsche Reparationen vom 19. August 1953, auf den sich Deutschland immer wieder beruft?

Wir führen sehr ernst zu nehmende Argumente an, die belegen, dass dieser von den Sowjets erzwungene Verzicht nicht bindend sein kann. Sowohl der Inhalt des Sitzungsprotokolls des Ministerrates, der eiligst an einem Sonntagabend einberufen wurde, als auch die
offizielle Verlautbarung, die am 23. August 1953 in den Medien erschien, berufen sich in einem fort auf die Sowjetunion: „Die Regierung der UdSSR schlägt vor“, „Die Regierung der UdSSR beabsichtigt“, „Die Regierung der Volksrepublik Polen schlieβt sich voll und ganz der Meinung der Regierung der UdSSR an“ usw., usf. Das damalige Polen mit seinem kolonialen Status musste das tun, was die Kolonialmacht Sowjetunion wollte.

Bolesław Bierut. Sowjetischer Statthalter in Polen. Polnische Briefmarke von 1952.

Zudem ist die Art, wie der Beschluss des Ministerrates zustande kam, geradezu kurios. Unterschrieben hat ihn nur Bolesław Bierut, Stalins Statthalter in Polen, ein NKWD-Agent, der damals an der Spitze der Regierung stand. Der Beschluss wurde weder im Gesetzblatt der Volksrepublik Polen noch im Amtsblatt der Regierung veröffentlicht und auch nicht in der UNO registriert.

Der deutsche Historiker Karl Heinz Roth, der unsere Position für richtig hält, hat uns darauf hingewiesen, dass ein polnischer Verzicht auf deutsche Reparationen eines Vertrages mit den vier Siegermächten bedurft hätte. Sie haben Polen im Juli-August 1945 deutsche Reparationen während ihrer Konferenz in Potsdam  zuerkannt.

Die deutsche Seite behauptet, sie habe Polen längst entschädigt.

In dieser Hinsicht hat die Bundesrepublik jahrzehntelang sehr erfolgreich eine Hinhalte- und Ausweichpolitik betrieben. Lange Jahre hieβ es in Bonn, man könne nichts tun, weil es keine diplomatischen Beziehungen mit Polen gebe. Zudem haben westdeutsche Gerichte Entschädigungsklagen von Polen bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts stets abgewiesen, mit dem Hinweis, dass der künftige Friedensvertrag alle Entschädigungsfragen regeln werde.

Nach der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages im Dezember 1970, in dem die Bundesrepublik die Oder-Neiβe-Grenze anerkannt hatte, und nach der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen 1973 hieβ es, die Entschädigungsforderungen seien verjährt.

Gedenkstätte Konzentrationslager Łambinowice/Lamsdorf. Ungefähr 45.000 Opfer. Polnische Briefmarke von 1967.

Dann folgte der Zwei-plus-Vier-Vertrag vom September 1990, der faktisch einen Friedensvertrag mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzt hat?

Er wurde von der Bundesrepublik Deutschland und der DDR mit den USA, Russland, Frankreich und Groβbritannien abgeschlossen. Die deutsche Bundesregierung beeilte sich im Nachhinein zu erklären, sie habe „diesen Vertrag in dem Verständnis abgeschlossen, dass damit auch die Reparationsfrage endgültig erledigt“ sei.

Nur, Polen war an diesem Vertrag nicht beteiligt. Der Verzicht Polens auf, genau genommen, Kriegsreparationen aus der DDR, wurde 1953 von den Sowjets erzwungen und ist damit nicht bindend.

Was besonders empört: Nur die Polen wurden so behandelt.
Kurz nach Kriegsende hat Westdeutschland, in Folge des Pariser Reparationsabkommens von 1946 (an sechzehn Staaten), des Luxemburger Abkommens von 1952 (an Israel) und des Londoner Schuldenabkommens von 1953 (an siebzig Staaten), Reparationen gezahlt. Polen war nicht dabei. Darüber hinaus gab es auch zahlreiche bilaterale Abkommen der Bundesrepublik mit weiteren betroffenen Staaten.

Seit Kriegsende hat die Bundesrepublik den Opfern des Dritten Reiches insgesamt 75,5 Milliarden Euro gezahlt, wovon Polen nicht ganze zwei Prozent (1,41 Milliarden Euro) bekam. Das meiste bekam Israel, und zwar 35 Milliarden Euro.

Und polnische Gerichte?

Dort hieβ es, der deutsche Staat sei durch die staatliche Immunität geschützt. Diese verbiete es Bürgern anderer Staaten ihn vor ausländischen Gerichten zu verklagen. Tatsächlich gibt es ein solches Prinzip, aber es gilt nicht uneingeschränkt.

Welche Ausnahmen gibt es?

Das italienische Verfassungsgericht hat zum Beispiel in einem Urteil seinen Bürgern das Recht zugestanden, den deutschen Staat vor italienischen Gerichten wegen Kriegsverbrechen zu verklagen. Solche Verfahren gab und gibt es in Italien.

Gedenkstätte Kriegsgefangenenlager Żagań/Sagan. Polnische Briefmarke von 1967.

Kann Polen diesen Weg beschreiten?

Ja. Am 26. Oktober 2017 habe ich einen Antrag beim polnischen Verfassungsgericht (VG) gestellt, unterschrieben von einhundert Sejm-Abgeordneten der Partei Recht und Gerechtigkeit. Demnach soll die Anwendung der Staatsimmunität zum Schutz anderer Staaten verfassungswidrig sein, wenn polnische Bürger oder Behörden andere Staaten auf Entschädigung wegen Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die auf polnischem Staatsgebiet verübt wurden, verklagen. Ein solches VG-Urteil würde polnischen Bürgern den Gerichtsweg in Polen für deutsche Kriegsentschädigungen öffnen.

Wird Deutschland die Entschädigungsurteile polnischer Gerichte respektieren und umsetzen?

Auf Anhieb eher nicht, aber solche Urteile schaffen nach und nach eine Wirklichkeit, gegen die man sich in der heutigen Welt auf Dauer nicht so ohne Weiteres blind und taub stellen kann.

Der Bericht ist fertig. Wird sich ihre parlamentarische Gruppe jetzt auflösen?

Nein. Es gibt weiterhin viel zu tun und so lange es, wie bereits gesagt, keine ständige Forschungseinrichtung gibt, die das Thema weiterverfolgt, müssen wir weitermachen.

Sowohl in Polen als auch in Deutschland erheben sich viele Stimmen, dass ihre Reparationsinitiative die polnisch-deutschen Beziehungen belasten wird.

Als 1962 de Gaulle und Adenauer in der Kathedrale von Reims die französisch-deutsche Aussöhnung gefeiert und ein halbes Jahr später den Élysée-Vertrag unterschrieben haben, zahlte die Bundesrepublik an Frankreich Reparationen für den Ersten und für den Zweiten Weltkrieg. Niemand kam damals auf die Idee, sie als eine Belastung für Aussöhnung und Zusammenarbeit zu bezeichnen.

Die deutsche Politik behauptet immer wieder, sie möchte das Verhältnis zu Polen genauso gestalten wie die Beziehungen zu Frankreich. Ich denke, dem steht in diesem Fall nichts im Wege.

Wird der Bericht Deutschland offiziell vorgelegt?

Ich hoffe, die deutsche Seite wird ihn als eine gut gemeinte Einladung zum Dialog auffassen. Wir sind offen für Gespräche,  fachliche Diskussionen, für Anmerkungen und Vorschläge.

Lesenswert auch:

Deutsche Reparationen. Polnische Positionen. Teil 1.  Beweggründe, Argumente, Pläne.

Deutsche Reparationen. Polnische Positionen. Teil 2. Akten, Aufstellungen, Analysen. Was hat Polen in der Hand.

© RdP




Nach der Sommerpause. Das Wichtigste aus Polen 29.Juli – 8. September 2018

Lesenswert: „Deutsche Reparationen – polnische Positionen. Teil 1“

Lesenswert: „Deutsche Reparationen – polnische Positionen.. Teil 2“

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen ♦ Kommunalwahlen. Erste Testwahl seit 2015 für die regierenden Nationalkonservativen und die Opposition ♦  Vor dem Besuch von Staatspräsident Andrzej Duda in Washington. Nord -Stream 2-Blockade, ständige US-Truppenpräsenz in Polen, mehr US-Investitionen. Donald Trump wird’s richten? ♦ Deutsche Kriegsreparationen für Polen. Der Dialog mit Deutschland kommt in Gang. ♦ Polen schaut auf die Ausschreitungen in Chemnitz.




Deutsche Reparationen – polnische Positionen. Teil 1

Beweggründe, Argumente, Pläne.

Das polnische Regierungslager hat sich entschieden die Kriegsreparationsfrage neu zu beleben. Was verbirgt sich dahinter? Ein Interview.

Arkadiusz Mularczyk

Arkadiusz Mularczyk wurde 1971 in Racibórz/Ratibor geboren. Er ist von Beruf Rechtsanwalt, seit 2005 Sejm-Abgeordneter der Partei Recht und Gerechtigkeit. Seit September 2017 bekleidet er den Vorsitz des fünfzehnköpfigen Gremiums „Parlamentarische Arbeitsgruppe zur Schätzung der Polen von Deutschland zustehenden Reparationen für die im Verlauf des Zweiten Weltkrieges angerichteten Schäden“. Das Interview mit Arkadiusz Mularczyk erschien im Wochenmagazin „wSieci“ („imNetzwerk“) am 5. November 2017.

Deutsche Reparationen für die polnischen Verluste im Zweiten Weltkrieg sind wieder ein Thema. Die parlamentarische Arbeitsgruppe, die Sie leiten hat die Aufgabe Tatsachen festzustellen und Rechtsgutachten einzuholen. Sie sollen bei der Festlegung künftiger offizieller polnischer Forderungen und Verhandlungspositionen helfen. Wie verläuft die Arbeit?

Wir kommen gut voran. Am 26. Oktober 2017 hatten wir ein wichtiges Treffen in der Kanzlei des Ministerpräsidenten (entspricht dem deutschen Bundeskanzleramt – Anm. RdP) mit Vertretern aller Behörden, die uns helfen können. Es kamen hochrangige Vertreter der Ministerien für Verteidigung, Kultur, Finanzen, Auswärtiges, der Staatlichen Sozialversicherungsanstalt (ZUS), des Statistischen Hauptamtes, des Instituts für Nationales Gedenken, der Staatlichen Archive und der Staatlichen Versicherungsanstalt (PZU) zusammen. Alle diese Institutionen wurden verpflichtet Archivrecherchen durchzuführen und unserer Arbeitsgruppe jede notwendige Unterstützung zu gewähren.

Polnisch-deutsche Reparationspolemik. Polnisches Plakat. Warschau, August 2017.

Seit Mitte 2014 ist bekannt, dass es keinen wirksamen Verzicht Polens auf deutsche Reparationen gibt.

Ja. Sehr wichtig in Bezug darauf war das Gutachten des Sejm-Analysenbüros vom September 2017, das unser Wissen systematisiert hat.

Lesen Sie das Gutachten des Sejm-Analysenbüros in deutscher Übersetzung hier.

Aus diesem Gutachten geht eindeutig hervor, dass Polen und die Polen seitens Deutschlands diskriminiert wurden. Deutsche Gerichte haben Entschädigungsklagen von Polen bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts stets abgewiesen, mit dem Hinweis, dass der künftige Friedensvertrag alle Entschädigungsfragen regeln werde. Nach der Unterzeichnung des Warschauer Vertrages im Dezember 1970, in dem die Bundesrepublik die Oder-Neiβe-Grenze anerkannt hat, und nach der Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen 1973 hieβ es, die Entschädigungsforderungen seien verjährt. Was besonders empört: nur die Polen wurden so behandelt.

Und polnische Gerichte?

Dort hieβ es, der deutsche Staat sei durch die staatliche Immunität geschützt. Diese verbiete es Bürgern anderer Staaten ihn vor ausländischen Gerichten zu verklagen. Tatsächlich gibt es ein solches Prinzip, aber es gilt nicht uneingeschränkt.

Welche Ausnahmen gibt es?

Das italienische Verfassungsgericht hat zum Beispiel in einem Urteil seinen Bürgern das Recht zugestanden, den deutschen Staat vor italienischen Gerichten wegen Kriegsverbrechen zu verklagen. Solche Verfahren gab und gibt es in Italien.

Kann Polen diesen Weg beschreiten?

Ja. Am 26. Oktober 2017 habe ich einen Antrag beim polnischen Verfassungsgericht (VG) gestellt, unterschrieben von einhundert Sejm-Abgeordneten der Partei Recht und Gerechtigkeit. Demnach soll die Anwendung der Staatsimmunität zum Schutz anderer Staaten verfassungswidrig sein, wenn polnische Bürger oder Behörden andere Staaten auf Entschädigung wegen Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die auf polnischem Staatsgebiet verübt wurden, verklagen. Ein solches VG-Urteil würde polnischen Bürgern den Gerichtsweg in Polen für deutsche Kriegsentschädigungen öffnen.

Wird Deutschland die Entschädigungsurteile polnischer Gerichte respektieren und umsetzen?

Auf Anhieb eher nicht, aber solche Urteile schaffen nach und nach eine Wirklichkeit, gegen die man sich in der heutigen Welt auf Dauer nicht so ohne weiteres taub stellen kann.

Polnisch-deutsche Reparationspolemik. Der polnische Graphiker Wojciech Korkuć zeigt im Fernsehen sein umstrittenes Plakat „Reparationen machen frei“, August 2017.

Der Rechtsweg ist wichtig, ausschlaggebend jedoch wäre die politische Entscheidung in Deutschland. Berlin müsste zugeben, dass das Problem nicht gelöst ist.

Ja. Von der politischen Entscheidung wird abhängen, ob sie zahlen werden oder nicht. Deutschland zahlte und zahlt Entschädigungen für die Verbrechen des Dritten Reiches an viele Staaten, am wenigsten jedoch an die Polen.

Kurz nach Kriegsende hat Deutschland, in Folge des Pariser Reparationsabkommens von 1946 (an sechzehn Staaten), des Luxemburger Abkommens (an Israel) und des Londoner Schuldenabkommens von 1953 (an siebzig Staaten), Reparationen gezahlt. Polen war nicht dabei. Darüber hinaus gab es auch zahlreiche bilaterale Abkommen.

In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts und im 21. Jahrhundert haben Israelis und US-Bürger auf deutsche Entschädigungen vor amerikanischen Gerichten geklagt und Deutschland hat gezahlt. Wir sehen, das Völkerrecht ist in dieser Hinsicht sehr dynamisch.

Welchen von diesen Wegen sollte Polen einschlagen?

Wir müssen uns alle Möglichkeiten offenhalten. Umso mehr, als es sowohl um staatliche Reparationen wie um private Entschädigungen geht. Wichtig ist einen Hebel zu schaffen, der bewirkt, dass Deutschland sich endlich mit uns an den Verhandlungstisch setzt und ernsthaft zu reden beginnt.

Warum hat man sich in Polen des Problems nicht unmittelbar nach dem Ende des Kommunismus angenommen, Anfang der neunziger Jahre?

Damals war vorrangig, das Entkommen aus der sowjetischen, und später, der russischen Einflusssphäre. Deutschland hat sich in jener Zeit Polen gegenüber einer „sanften Erpressung“ bedient. Es sollte der Eindruck entstehen, die Bedingung für den EU-Beitritt, für die Aufnahme in die westliche politische Gemeinschaft, sei die Aussöhnung mit Deutschland, und zwar, ungeachtet des Standes der Probleme, die sich aus dem Zweiten Weltkrieg ergeben hatten. Wir wenden uns der Zukunft zu und von der Vergangenheit ab, hieβ es, vom Krieg, von der Reparationsfrage, von der nicht beglichenen Rechnung des zugefügten Leids und Unrechts.

Deutsch-polnische Reparationspolemik. FAZ-Karikatur, September 2004.

Heute wissen wir, dass sogar zur Zeit der Volksrepublik Polen die Angelegenheit als nicht abgeschlossen galt. Sie haben in den Archiven die offizielle Antwort der polnischen Regierung von 1969 auf eine Anfrage der UNO gefunden. Dort heiβt es, Polen habe keinesfalls auf deutsche Reparationen verzichtet.

Trotz eingeschränkter Souveränität war damals die Erinnerung an die gigantischen menschlichen und materiellen Kriegsverluste Polens im allgemeinen Bewusstsein und sehr lebendig. Auch den polnischen Kommunisten fiel es schwer, hinnehmen zu müssen, dass die Sowjetunion Polen im August 1953 zwang auf Reparationen zu verzichten.

Lesen Sie Näheres dazu in „Deutsche Reparationen – polnische Positionen. Teil 2“

Heute, auf Reparationen angesprochen, blocken die deutschen Stellen sofort ab: die Sache sei erledigt und abgeschlossen.

Das wundert mich nicht. Immerhin waren sie jahrzehntelang darin erfolgreich sich vor den Reparationszahlungen für das, was sie in Polen angerichtet hatten zu drücken. Nur einige wenige Opfergruppen wurden entschädigt. Und jedes Mal gingen diesen Maβnahmen, teilweise an Peinlichkeit kaum zu überbietende, innenpolitische Debatten in der Bundesrepublik voraus.

Seit Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts bekamen die polnischen (letztendlich ca. fünftausendfünfhundert Personen) sowie die anderen osteuropäischen Opfer verbrecherischer medizinischer Experimente der Nazis Entschädigungen, ursprünglich auf heftigen Druck der USA hin und gegen den vehementen Widerstand damaliger bundesrepublikanischer Behörden und Politiker.

Es gab aber ehrenwerte Menschen und Gruppen in der Bundesrepublik, die sich durch ihre Taten der Jahrzehnte lang anhaltenden offiziellen deutschen Verzögerungstaktik widersetzten. Diese Verzögerungstaktik wurde bestimmt durch das Kalkül, dass sich das Problem „biologisch“, durch den Tod der Betroffenen, ohne Kosten, von alleine lösen würde. Solche Einrichtungen wie die „Zeichen der Hoffnung“ in Frankfurt am Main oder das „Maksymilian-Kolbe-Werk“ in Freiburg im Breisgau haben polnischen Opfern geholfen und so das Ansehen der alten Bundesrepublik gerettet. Es waren jedoch nur einzelne Tropfen auf den heiβen Stein.

Erst fünfundfünfzig Jahre nach Kriegsende, als ein Groβteil der Betroffenen nicht mehr lebte, begann Deutschland mit der Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter, von denen knapp zwei Millionen ursprünglich aus Polen kamen. Bundeskanzler Helmut Kohl widersetze sich lange Zeit heftig dieser Maβnahme.

Ende der 1990 Jahre, wiederum auf amerikanischen Druck hin, zahlten die deutsche Regierung und deutsche Unternehmen, die von der Zwangsarbeit profitiert hatten, Geld in einen Fonds ein, aus dem bis 2007 die mittlerweile greisen Opfer entschädigt wurden.

Alles in allem beträgt der polnische Anteil an den gesamten deutschen Entschädigungsleistungen nach 1945 gerade einmal zwei Prozent.

Ein Teil der polnischen Führungselite aus der unmittelbaren nachkommunistischen Zeit meinte damals, und teilt heute noch die deutsche Meinung, das Thema sei abgeschlossen und wer es aufgreift sei ein unverantwortlicher Störenfried.

Das sagen einige ehemalige polnische Ministerpräsidenten und Minister. Es ist nur ein Beleg für ihr neokoloniales, unterwürfiges Denken. Sie machten Politik zur Zeit einer eingeschränkten polnischen Souveränität, in der Endphase des Kommunismus und in der Anfangsphase danach. Dass Polen weniger Rechte hat als andere Staaten, galt und gilt für sie als selbstverständlich. Dieses Denken lehnen wir entschieden ab.

In der Reparationsfrage ist das Bild auf der polnischen und auf der deutschen Seite sehr unterschiedlich.

In Deutschland gibt es eine geschlossene Einheitsfront aus Politikern, Historikern, Politologen und Journalisten, die das polnische Ansinnen rundweg ablehnen. Die öffentliche Meinung, die durch sie geprägt wird, steht hinter ihnen. Hunderte von Lesermeinungen zu Medienberichten lassen im Internet keinen Zweifel daran.

Das ist ein grundlegender Unterschied zu Polen, wo uns, die wir Reparationsfrage auf die Tagesordnung bringen, viele Medien frontal angreifen und verhöhnen. Die deutschen Einflüsse in der polnischen Medienwelt, aber auch in der polnischen Wissenschaft sind sehr stark.

Deutsche Stipendien haben das ihre dazu beigetragen.

Auf jeden Fall. Ein Teil der Fachleute, die Polen jeden Anspruch auf Reparationen aberkennen, hat nicht selten ihr halbes Berufsleben auf deutsche Kosten jenseits der Oder verbracht. Ich sehe, dass ein Teil von ihnen schlicht und einfach Angst hat Stellung zu beziehen, ein Gutachten anzufertigen.

Wovor haben sie Angst?

Das sie Schwierigkeiten bekommen werden auch weiterhin deutsche Fördergelder, Stipendien, gut dotierte Preise und Auszeichnungen, Einladungen zu Forschungsaufenthalten, zu Vorlesungen und Vorträgen in Deutschland zu bekommen.

Hinzu kommt noch die geballte Kraft der deutschen Medien in Polen. Wird sie in der Reparationsfrage angewendet?

Ja. Die polnischsprachigen deutschen Medien messen dem Thema groβe Bedeutung bei. Sie versuchen uns dazu zu verleiten, am besten umgehend, unsere Forderungen verbindlich vorzubringen. Man sieht, es geht ihnen darum uns zur Eile und zu unbedachtem Handeln zu drängen, damit eine dadurch verursachte spektakuläre Niederlage dem Ganzen ein schnelles Ende bereitet.

Wenn mich deutsche Journalisten oder Journalisten polnischsprachiger deutscher Medien ansprechen, dann sehe ich, dass ihre Fragen nie das eigentliche Thema berühren: die furchtbaren Verbrechen und Verluste, die nicht entschädigt wurden.

Stattdessen stellen sie absurde Thesen auf, wie die, dass die Entschädigungsforderungen nun an die Stelle der Smolensk-Flugzeugkatastrophe treten und der „Mobilisierung“ der polnischen Öffentlichkeit im Sinne der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit dienen sollen, oder dass wir die auf der Versöhnung basierenden Beziehungen zu Deutschland ruinieren wollen. Mit einem Wort – Reparationsforderungen sind unsere Hirngespinste.

Wir lassen uns auf keinen Fall in diese Falle locken. Um das Thema offiziell vorzubringen bedarf es eines klugen, bedachten Handelns und so werden wir agieren.

Und die deutsche Diplomatie?

Die deutsche Botschaft beobachtet sehr genau unser Vorgehen, genauso wie die deutschen Medien das tun. Bis jetzt jedoch gibt es ihrerseits keine Bereitschaft zu einem ernsthaften Dialog. Sie achten sehr darauf, auf dem Laufenden zu sein und prüfen inwieweit wir das Thema tatsächlich aufgreifen wollen.

Amtlicher polnischer Bericht von 1947 über Verluste und Kriegsschäden im Zweiten Weltkrieg. Neuauflage von 2007.

Die Verluste müssen präzise belegt sein.

Ich habe inzwischen Aufstellungen bekommen über die Kriegsschäden in Poznań, Łodź, Jasło, Przemyśl und einigen anderen Städten. Wir wollen einen groβen Ausschuss ins Leben rufen, der alle schon verfügbaren Angaben zusammentragen und die fehlenden ergänzen soll. Heute verfügen wir über einen umfangreichen Bericht des Büros für Kriegsentschädigungen aus dem Jahr 1947 und viele Einzelberichte. Es gab noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts Stellen, die sich mit dieser Materie befassten.

Welche Beträge kommen in Frage? Man spricht von 845 Milliarden US-Dollar und wenn man die nichtmateriellen Verluste mitberechnet von 6 Billionen US-Dollar.

Das sind Angaben, die sich aus dem schon erwähnten Bericht von 1947 ergeben. Heute ist es zu früh um über irgendwelche Summen zu sprechen. Wir stehen vor vielen Fragen, wie der, wie man die Entschädigung für ein Menschenleben berechnen kann. Hier wollen wir die Fachleute von der Staatlichen Versicherungsanstalt (PZU) bitten uns dabei zu unterstützen.

Das wichtigste Gegenargument lautet, Deutschland habe an Polen seine Ostgebiete abgetreten, das sei Entschädigung genug.

Die Verschiebung der Grenzen haben die drei Siegermächte während der Potsdamer Konferenz von Juli bis August 1945 beschlossen. Weder Polen noch Deutschland saβen am Verhandlungstisch. Polen hat damals stillschweigend die Aneignung von achtundvierzig Prozent (knapp 180.000 Quadratkilometern) seines Staatsgebietes im Osten durch die Sowjetunion hinnehmen müssen. Im Gegenzug beschlossen die Siegermächte unser Land nach Westen zu „verschieben“, indem sie Polen knapp 110.000 Quadratkilometer deutschen Gebiets übergaben.

„Westverschiebung“ Polens 1945.

Aus keiner der damals getroffenen Vereinbarungen, aus keinem der Potsdamer Verhandlungsprotokolle geht hervor, dass die ehemaligen deutschen Ostgebiete als Reparationen gedacht gewesen seien. Im Potsdamer Abkommen wurde klar festgehalten, Deutschland sei verpflichtet alle Kriegsschäden und Kriegsverluste auszugleichen. Polen war davon nicht ausgenommen.

Und der Zwei-plus-Vier-Vertrag vom September 1990?

Er wurde von der Bundesrepublik Deutschland und der DDR mit den USA, Russland, Frankreich und Groβbritannien abgeschlossen. Die deutsche Bundesregierung hat im Nachhinein erklärt, sie habe „diesen Vertrag in dem Verständnis abgeschlossen, dass damit auch die Reparationsfrage endgültig erledigt“ sei.

Polen war an diesem Vertrag nicht beteiligt. Der Verzicht Polens auf, genau genommen, Kriegsreparationen aus der DDR, wurde 1953 von den Sowjets erzwungen und ist damit nicht bindend.

Wie geht es weiter?

Die parlamentarische Arbeitsgruppe untersucht die Angelegenheit. Sie sammelt Informationen, analysiert die juristischen, ökonomischen, historischen Zusammenhänge. Sie arbeitet eng zusammen mit anderen zuständigen Behörden. Diese Arbeit wollen wir in aller Ruhe bewältigen um ein solides Fundament für unsere Vorschläge zu schaffen. Dann werden politische Entscheidungen über den Fortgang des Geschehens bestimmen.

Wann werden sie fertig sein?

Spätestens in einem Jahr werden unsere endgültigen Empfehlungen vorliegen. Wir gehen zügig vor, aber mit Bedacht.

Deutsche Reparationen – polnische Positionen. Teil 2.

RdP




Deutsche Reparationen – polnische Positionen. Teil 2

Akten, Aufstellungen, Analysen. Was hat Polen in der Hand. Ein Interview.

Im Warschauer Archiv der Neuen Akten befinden sich die wichtigsten polnischen Unterlagen für eventuelle Reparationsverhandlungen mit Deutschland.

Mariusz Olczak.

Das Archiv der Neuen Akten (Archiwum Akt Nowych) besteht seit 1918, als Polen seine Unabhängigkeit wiedererlangte. Hier werden die Dokumente aller polnischen staatlichen Behörden seit dem Gründungsjahr des Archivs aufbewahrt. Es ist eines von drei zentralen polnischen Staatsarchiven, neben dem Archiv der Alten Akten (alle Staatsdokumente bis 1918) sowie dem Nationalen Digitalarchiv (Fotos, digitale Aufzeichnungen staatlicher Institutionen). Das Gespräch mit dem stellvertretenden Direktor des AAN Mariusz Olczak erschien in der Tageszeitung „Nasz Dziennik“ am 24. September 2017.

Archiv der Neuen Akten in Warschau.

Es heiβt, in Ihrem Archiv befinden sich die wichtigsten Akten, die Zeugnis darüber ablegen, was sich nach 1945 auf polnischer Seite in Bezug auf deutsche Kriegsreparationen abspielte.

Wir haben inzwischen eine Liste von Aktenbeständen zusammengestellt, die bei der Feststellung der Tatsachen hilfreich sein dürften. Das sind einige Hundert Meter an Dokumentation, die ausgewertet werden müssen.

Darunter befindet sich ein sehr wichtiges Dokument, und zwar das Sitzungsprotokoll des Ministerrates der Volksrepublik Polen (VRP) vom 19. August 1953.

Die Sitzung wurde geleitet von Bolesław Bierut, Stalins Statthalter in Polen, einem NKWD-Agenten, der damals an der Spitze der Regierung stand. Ebenfalls daran teilgenommen haben die stellvertretenden Ministerpräsidenten Taduesz Gede, Piotr Jaroszewicz, Hilary Minc, Zenon Nowak. Hinzugebeten wurden der Staatsratsvorsitzende Aleksander Zawadzki, der damalige Minister für staatliche Kontrolle Franciszek Jóżwiak, der stellvertretende Vorsitzende der Staatlichen Planungskommission Eugeniusz Szyr sowie der Chef des Amtes des Ministerpräsidenten Kazimierz Mijal.
In diesem Kreis wurde entschieden, dass die Volksrepublik Polen, auf Ersuchen der Regierung der UdSSR, auf Reparationszahlungen aus der DDR verzichten wird.

Bekannt gemacht wurde diese Entscheidung einige Tage später.

Verlautbarung der Regierung der Volksrepublik Polen, veröffentlicht im Parteiorgan „Trybuna Ludu“ vom 23. August 1953.

Ja, am 23. August 1953 in einer Verlautbarung der Regierung der VRP, verbreitet von der Polnischen Presseagentur PAP: „Die Regierung der Volksrepublik Polen begrüβt mit voller Anerkennung die Beschlüsse der Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken in der Deutschlandfrage“.

Gleichzeitig wurde mitgeteilt, die Regierung der VRP habe entschieden vom 1. Januar 1954 an auf Reparationszahlungen an Polen zu verzichten. Weiter hieβ es: „Diese Entscheidungen sind darauf ausgerichtet, einen dauerhaften Frieden in Europa zu gewährleisten, imperialistische Intrigen, die Deutschland in einen gefährlichen, neuen Kriegsherd verwandeln sollen, zu durchkreuzen und ein vereinigtes, demokratisches und friedliebendes Deutschland zu schaffen.“

Warschau vor und nach dem Krieg. Briefmarkenserie der Polnischen Post vom Herbst 1945. Das zerstörte Königsschloss.

Kann man anhand der beiden Dokumente davon ausgehen, dass es sich um eine souveräne Entscheidung gehandelt hat?

Sowohl der Inhalt als auch die gesamten damaligen politischen Begleitumstände lassen nur eine Schlussfolgerung zu: es war keine freie Entscheidung, der Verzicht geschah auf Geheiβ der Sowjets.
Das Sitzungsprotokoll sowie die Verlautbarung berufen sich in einem fort auf die Sowjetunion: „Die Regierung der UdSSR schlägt vor“, „Die Regierung der UdSSR beabsichtigt“, „Die Regierung der Volksrepublik Polen schlieβt sich voll und ganz der Meinung der Regierung der UdSSR an“ usw., usf. Das damalige Polen mit seinem kolonialen Status musste das tun, was die Kolonialmacht Sowjetunion wollte.

Der Verzicht betraf nur die DDR.

Das geht aus den beiden Dokumenten hervor.

Warschau. Die zerstörte Johannis-Kathedrale.

Die von den Deutschen während des Zweiten Weltkrieges in Polen angerichteten Schäden werden auf achthundert Milliarden US-Dollar geschätzt. Sind diese Schäden angemessen belegt?

Warschau. Das zerstörte Rathaus.

In unseren Beständen gibt es eine umfangreiche Dokumentation dazu. Beginnen wir damit, dass unser Archiv, das Archiv der Neuen Akten, selbst furchtbare Verluste erlitten hat. Während des Warschauer Aufstandes im August und September 1944 verbrannten fünfundneunzig Prozent unserer damaligen Archivsammlungen.

Warschau. Das zerstörte Hauptpostamt.

Einen der wichtigsten Aktenbestände zum Thema, stellen die Unterlagen des Büros für Kriegsentschädigungen dar, das kurz nach Kriegsende begann alle Informationen zusammenzutragen. Dokumentiert sind sämtliche Schäden und Verluste im Handwerk, in der Industrie, Forstwirtschaft und Staatsverwaltung.

Und auβerdem?

Einen groβen Bestand bilden die Akten des sogenannten Wiedererlangungsbüros (Biuro Rewindykacji). Es entstand 1945 und war damit beschäftigt polnisches Eigentum, das die Deutschen aus Polen geraubt und nach Deutschland oder in andere Teile des besetzten Europas verbracht hatten zurückzuführen. Oft jedoch war dieses Eigentum vernichtet oder nicht mehr auffindbar.

Des Weiteren beinhalten die Aktenbestände verschiedener Ministerien eine Vielzahl an Informationen. So zum Beispiel dokumentierte das Finanzministerium die Verluste des staatlichen Salz- und Streichholzmonopols, das im Vorkriegspolen existierte. Sehr akribisch haben nach 1945 das Post- und das Bildungsministerium die Verluste in ihren Bereichen aufgezeichnet.

Warschau. Das zerstörte Sächsische Palais.

Paradoxerweise haben die Deutschen selbst viele polnische Verluste belegt.

Die deutsche Verwaltung des Generalgouvernements führte genaue Listen über geraubte polnische Kunstgegenstände, bevor sie nach Deutschland gebracht wurden.

Befinden sich diese Verzeichnisse in Polen?

Einige ja, einen Teil haben wir auf den sogenannten Alexandrischen Mikrofilmen. Die Amerikaner haben bei Kriegsende groβe Bestände an Dokumenten der deutschen Heeresleitung und der Sicherheitspolizei erbeutet. Im Jahr 1953 wurden sie nach Alexandria bei Washington gebracht und dort auf Mikrofilm übertragen. Daher der Name. Wir haben in unserem Archiv etwa achttausend Mikrofilmrollen von dort.

Warschau. Die zerstörte Heiligkreuz-Kirche.

Gut dokumentiert sind auch die geraubten oder vernichteten Bibliotheksbestände.

Im Staatsarchiv von Jelenia Góra befinden sich die Verzeichnisse der Zweigstelle der deutschen Staatlichen Bibliothek im damaligen Hirschberg, wo es ein zentrales Register geraubter Buchbestände aus polnischen Bibliotheken gab. Dank diesen Aufzeichnungen wissen wir, welche geraubten polnischen Bücher an welche Zweigstellen der deutschen Staatlichen Bibliothek übergeben wurden.

Man müsste eigentlich alle diese Informationen zusammenfassen und in einer Art „Weiβbuch der polnische Kriegsverluste“ veröffentlichen.

Wenn jemand diese Absicht haben sollte, dann kann er bei uns auf eine sehr große Zahl von Akten zurückgreifen. Alle sind katalogisiert und leicht zugänglich.

RdP




Das Wichtigste aus Polen 20. August – 16. September 2017

Kommentatorin Olga Doleśniak-Harczuk und Janusz Tycner diskutieren die  wichtigsten Ereignisse der letzten Zeit in Polen. ♦ Polen wartet gespannt auf zwei Gesetzentwürfe des Staatspräsidenten zur Justizreform. Wie weit hat sich Andrzej Duda politisch von den Nationalkonservativen entfernt? ♦ Jean Claude Junckers neueste Europa-Visionen  stoβen auf wenig Gegenliebe in Polen. ♦ Kriegsreparationen von Deutschland sind ein  heiβes Eisen.

Lesen Sie das polnische Rechtsgutachten – deutscher Text.

♦ Der deutsche Bundestagswahlkampf mit polnischen Augen gesehen.