Polens Justizreform genau betrachtet 3. Das Oberste Gericht

Was wurde wie verändert.

Das Fundament der polnischen Justizreform bilden die Neufassungen von drei wichtigen Regelwerken: des Gerichtsverfassungsgesetzes sowie der Gesetze über den Landesjustizrat und das Oberste Gericht (OG). Wir stellen sie vor. 

Das Oberste Gericht in Warschau. Auβenansicht.

Mitte Dezember 2017 verabschiedete das Parlament die Gesetze über den Landesjustizrat und das Oberste Gericht. Es war der zweite Anlauf. Beim ersten Mal, im Juli 2017, wurden auch diese beiden Gesetze zwar vom Parlament verabschiedet, aber Staatspräsident Andrzej Duda brachte sie zu Fall, indem er seine Unterschrift verweigerte. Über die erforderliche Mehrheit von 3/5 der Stimmen im Parlament, um das Veto des Staatspräsidenten zu überstimmen, verfügt das Regierungsbündnis, mit Recht und Gerechtigkeit als stärkster Partei, nicht.

Staatspräsident Andrzej Duda war mit der rigorosen Art, in der die regierende Mehrheit den Landesjustizrat und das Oberste Gericht reformieren wollte nicht einverstanden. Er versprach, bis Ende September 2017 eigene Gesetzentwürfe im Parlament einzubringen.

Im August und September 2017 fanden daraufhin vier streng vertrauliche Konsultationen zwischen Staatspräsident Andrzej Duda und dem Parteichef von Recht und Gerechtigkeit, Jarosław Kaczynski, statt. Über Detailfragen einigten sich anschlieβend zwei bevollmächtigte Fachleute. Man wollte im Vorfeld alle Streitpunkte ausräumen, um dieses Mal eine reibungslose Verabschiedung der Gesetzesvorlagen zu gewährleisten. Die so vorbereiteten Entwürfe brachte der Staatspräsident Ende September 2017 im Parlament ein.

Sehr lesenswert hierzu: Polens Justizreform. Die andere Meinung. Warum Staatspräsident Duda unterschrieben hat.

Karyatiden vor dem Eingang zum Obersten Gericht in Warschau.

1. War die Reform des Obersten Gerichtes mit der polnischen Verfassung vereinbar?

Artikel 176.2 der polnischen Verfassung besagt: „Den Aufbau und die Zuständigkeit der Gerichte sowie das Verfahren vor den Gerichten regeln die Gesetze”.

Ein Gesetz über Veränderungen im Aufbau sowie über zwei neue Zuständigkeitsbereiche des Obersten Gerichtes wurde am 12. Dezember 2017 ordnungsgemäβ durch das Parlament verabschiedet.

Das Oberste Gericht in Warschau. Auβenansicht mit dem Denkmal des Warschauer Aufstandes von 1944.

2. Was ist das Oberste Gericht?

Es ist das höchste Gericht der Republik Polen für letztinstanzliche Entscheidungen in Verfahren der ordentlichen sowie der Militärgerichtsbarkeit.

3. Der Aufbau, die Aufgaben des Obersten Gerichtes (verändert)

Anders als in der Bundesrepublik, wo für die wichtigsten Rechtsgebiete in letzter Instanz fünf separate Bundesgerichte zuständig sind, gibt es in Polen nur zwei gesonderte höchste Gerichte. Das Oberste Verwaltungsgericht sowie das Oberste Gericht, das durch mehrere Kammern alle anderen Rechtsgebiete abgedeckt.

Neben den beiden Obersten Gerichten existiert in Polen, wie in Deutschland, das Verfassungsgericht, das, wenn es angerufen wird, Urteile der Fachgerichte dahingehend überprüft, ob diese im Einklang mit der Verfassung stehen. Eine Prüfung der korrekten Anwendung des jeweiligen Fachrechtes ist in beiden Ländern nicht Aufgabe des Verfassungsgerichtes, sondern der Obersten Gerichte.

Das Oberste Gericht in Warschau. Auβenansicht.

Das Oberste Gericht besteht aus folgenden Kammern:

● Strafkammer, ● Zivilkammer, ● Kammer für Arbeit, Sozialversicherungswesen und Öffentliche Angelegenheiten ● Kammer für Sonderkontrolle und Öffentliche Angelegenheiten (neu eingerichtet), ● Disziplinarkammer (neu eingerichtet) und ● Militärkammer (wird abgeschafft).

Die neue Kammer für Sonderkontrolle und Öffentliche Angelegenheiten des OG ist zuständig u. a. für:

die Feststellung der Gültigkeit von Wahlen und Volksbefragungen auf Antrag des Staatlichen Wahlausschusses;

die Prüfung von Einsprüchen gegen die Wahl (diese müssen spätestens sieben Tage nach Verkündung der Amtlichen Wahlergebnisse durch den Staatlichen Wahlausschuss eingereicht werden). Beide Zuständigkeiten oblagen bisher der Kammer für Arbeit, Sozialversicherungswesen und Öffentliche Angelegenheiten.

Kassationsklagen (Anfechtungsklagen) aus dem Bereich des Konkurrenz- und Verbraucherrechts.

Sowie:

Sonderrevisionsklagen.

Diese neue Einspruchsform, die Andrzej Duda in seinem Wahlkampf oft zur Sprache gebracht hat, ist auf ausdrücklichen Wunsch des heutigen Staatspräsidenten eingeführt worden. Es gehe ihm um mehr Bürgernähe und die Demokratisierung des Justizwesens.

„Ich bin fest davon überzeugt, dass dank dessen viele Bürger, die sich ungerecht behandelt fühlen, denen Unrecht widerfahren ist, den Glauben daran zurückerlangen werden, dass Polen ein ehrlicher und gerechter Staat ist, der sich um seine Bürger kümmert“, sagte Duda als er das neue Gesetz unterschrieb.

Die Sonderrevision soll für alle rechtskräftigen Urteilen gelten, „wenn diese die garantierten bürgerlichen und Freiheitsrechte einschränken, das geltende Recht offensichtlich falsch auslegen oder anwenden, bzw. im offensichtlichen Widerspruch zur festgestellten Beweislage stehen“, so Dudas Erläuterung.

Ausgenommen sind Scheidungsurteile, wenn eine oder beide Parteien neu geheiratet haben.

Das Oberste Gericht in Warschau. Der groβe Verhandlungssaal.

Der Sonderrevision werden Urteile unterliegen, die im Rahmen anderer Einspruchsverfahren nicht mehr abgeändert werden können. Sie dürfen nicht länger als fünf Jahre lang rechtskräftig sein.

Eine Sonderrevision dürfen, auf Antrag des betroffenen Bürgers und nach gründlicher Prüfung, beim OG beantragen: der Generalstaatsanwalt, der Bürgerbeauftragte des Parlaments, eine Gruppe von 30 Sejm-Abgeordneten oder 20 Senatoren und (in ihrem Zuständigkeitsbereich) der Beauftragte für Kinderrechte, der Beauftragte für Patientenrechte, der Chef der Staatlichen Finanzaufsicht, der Chef des Kartell- und Verbraucheramtes.

Wird der Sonderrevision vor dem OG stattgegeben, kann das Gericht in der Sache selbst ein Urteil fällen oder den Fall zur Wiederaufnahme an das zuständige Gericht weiterleiten. Bei Entscheidung des OG zugunsten einer Partei ist keine weitere Sonderrevision zulässig.

Wie die Sonderrevision in der Praxis funktionieren wird, muss abgewartet werden. Die Beurteilungen in Fachkreisen reichen von Lob und Zuversicht, dass Richter dadurch zu mehr Bedacht und Sorgfalt in der Rechtsprechung gezwungen werden, bis zu Horrorszenarien, die Anarchie, das Ende der Rechtssicherheit und sogar einen neuen Bolschewismus aufkommen sehen. In der Öffentlichkeit ist Dudas Vorstoβ mit viel Applaus aufgenommen worden.

Briefmarke der Polnischen Post von 2018 zum 100. Jahrestag der Gründung des polnischen Obersten Gerichtes.

Noch spannender wird es durch eine weitere Neuerung: an den Sonderrevisionsverfahren am Obersten Gericht sollen Beisitzer teilnehmen, die es bis jetzt nicht gab.

Sie werden von der oberen Parlamentskammer, dem Senat, für vier Jahre gewählt. Juristische Kenntnisse sind nicht zwingend vorgeschrieben. Kandidaten vorschlagen dürfen Verbände, Gewerkschaften oder Gruppen von mindestens einhundert Bürgern. Politische Parteien sind davon ausgeschlossen.

100 Jahre Oberstes Gericht. Ersttagsbrief der Polnischen Post von 2018.

Die neue Disziplinarkammer des OG

Zuständig für Disziplinarverfahren gegen Vertreter aller juristischen Berufe: Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Rechtsbeistände (in Polen, anders als in Deutschland, ein eingetragener, verbreiteter juristischer Beruf mit eigener Disziplinargerichtsbarkeit), Notare und Gerichtsvollzieher.

Es gilt die Zweiinstanzlichkeit. Die erste Instanz bilden die Disziplinargerichte der jeweiligen Gerichte, bzw. die Disziplinargerichte der oben erwähnten juristischen Berufe. Zweite Instanz ist die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts: bestehend aus zwei Richtern und einem Beisitzer.

Für Richter am OG besteht die erste Instanz aus einem Spruchkörper mit zwei Richtern und einem Beisitzer der Disziplinarkammer. Die zweite Instanz bilden drei Richter und zwei Beisitzer.

Ankläger in den Disziplinarverfahren vor dem OG sind die Disziplinarbeauftragten der jeweiligen Gerichte bzw. Berufe. Der Beschuldigte wird vertreten durch einen Verteidiger seiner Wahl (Anwalt, Richter, Staatsanwalt, Rechtsbeistand).

Mögliche Strafen: ● Abmahnung ● Verweis ● Gehaltsminderung zwischen fünf und fünfzig Prozent für mindestens sechs, maximal vierundzwanzig Monate ● Enthebung von der Funktion ● Entfernung aus dem Richterstand.

Die Disziplinarkammer wird am Obersten Gericht eine herausgehobene Position haben, mit einer eigenen Kanzlei und einem eigenen Kanzleichef. Sie ist jedoch Bestandteil der Kanzlei des OG-Präsidenten, die allen anderen Kammern verwaltungstechnisch zuarbeitet.

Das Oberste Gericht in Warschau. Auβenansicht.

Die Militärkammer des OG (abgeschafft)

War die höchste Instanz der Militärgerichtsbarkeit, zuständig u. a. für Kassationsklagen gegen Urteile der zwei Oberen Militärgerichte (Warschau, Poznań). Im Jahr 2016 hatte sie lediglich 65 Verfahren durchzuführen (im Vergleich arbeitete das gesamte OG im selben Zeitraum an 11.102 Verfahren).

Gründe: Abschaffung der Wehrpflicht 2009. Zudem wurden seit 2008 Soldaten von Militärgerichten nur noch für Straftaten, die unmittelbar mit dem Militärdienst im Zusammenhang standen verurteilt und nicht, wie früher, für alle Straftaten. Mangels Auslastung haben die sechs Militärrichter an der Strafkammer des Obersten Gerichts „ausgeholfen“. Sie werden jetzt alle (drei sind über 65) in den Ruhestand versetzt.

Die Aufgaben der Militärkammer übernimmt die Strafkammer des OG.

Das Ruhestandsalter

Artikel 180.4 der polnischen Verfassung besagt: „Das Gesetz regelt die Altersgrenzen für den Ruhestand der Richter”.

Der Artikel 180.5 der polnischen Verfassung besagt: „Der Richter darf im Falle der Änderung des Aufbaus der Gerichte oder der Änderung der Grenzen der Gerichtsbezirke an ein anderes Gericht oder, unter Beibehaltung seiner vollen Bezüge, in den Ruhestand versetzt werden“.

Beim Entwerfen des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht hat Staatpräsident Andrzej Duda von beiden Bestimmungen Gebrauch gemacht.

Das Eintrittsalter in den Ruhestand wurde auch für die Richter am OG von 70 auf 65 Jahre herabgesetzt und damit den allgemein in Polen, auch in der übrigen Gerichtsbarkeit, geltenden Regelungen angepasst: 65 Jahre für Männer und 60 Jahre für Frauen, wobei Richterinnen dieses Alters allein entscheiden, ob sie in den Ruhestand gehen möchten oder bis 65 weitermachen wollen.

Wer 65 wird und maximal noch drei Jahre länger als Richter arbeiten möchte, muss ein Gesuch an den Staatspräsidenten stellen und ein Arbeitstauglichkeitsattest beilegen. Die Entscheidung darüber (genauso wie bei Berufungen ins Richteramt und bei der Bestätigung von Beförderungen) liegt allein beim Staatspräsidenten und muss von ihm nicht begründet werden.

Präsidentin des Obersten Gerichtes, Małgorzata Gersdorf ist eine der Führungspersonen des Widerstandes gegen die Justizreform. Hier bei der Protestkundgebung in Warschau am 24. Juli 2017.

Das neue Gesetz über das Oberste Gericht trat am 3. Juli 2018 in Kraft. An diesem Tag arbeiteten am OG 73 Richter, von denen 27 unter die neue Ruhestandsregelung fallen.

Sechzehn von ihnen haben ein Gesuch um Verlängerung an den Staatspräsidenten gerichtet. Acht dieser Gesuche entsprechen nicht dem neuen OG-Gesetz, sondern berufen sich nur auf Art. 180.1 der Verfassung: „Die Richter sind unabsetzbar“, ignorieren also Ausnahmen (Art. 180.4 und 180.5), die die Verfassung vorsieht und auf die sich der Staatspräsident in seinem von der Parlamentsmehrheit verabschiedeten Gesetzentwurf beruft.

Nur acht der Verlängerungsgesuche der Richter am OG entsprechen dem neuen Gesetz und haben eine Chance darauf positiv beschieden zu werden.

Die Präsidentin des OG, Prof. Małgorzata Gersdorf (sie ist im November 2017 fünfundsechzig Jahre alt geworden) hat es abgelehnt ein Gesuch auf Verlängerung zu stellen. Die Amtszeit des OG-Präsidenten beträgt sechs Jahre, d. h. sie müsste/könnte als Gerichtspräsidentin noch bis 2020 amtieren.  Da sie aber kein  Gesuch auf Verlängerung gestellt hat, ist sie mit ihren knapp 66 Jahren ab dem 4. Juli 2018 automatisch Richterin im Ruhestand, und als solche kann sie nicht Gerichtspräsidentin sein.

Frau Gersdorf lehnt die Einhaltung des neuen OG-Gesetzes ab und will bis 2020 amtieren. Sie ist eine der Führungspersonen des Widerstandes gegen die Justizreform, woran sie mit ihren Auftritten bei Protestdemonstrationen und radikalen politischen Stellungnahmen keine Zweifel aufkommen lässt.

Geplant ist eine Aufstockung der Richterzahl am OG auf 120.

Ausführlich über die polnische Justizreform berichten wir in folgenden Beiträgen:

Polens Justizreform. Warum Staatspräsident Duda unterschrieben hat. 

Polens Justizreform genau betrachtet 1. Das Gerichtsverfassungsgesetz.

Polens Justizreform genau betrachtet 2. Der Landesjustizrat. 

Polens Justizreform. Der tiefe Fall der Richter. 

Polens Justizreform. Mythen und Fakten. 

© RdP